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Nina und Tom, beide mitten im Leben stehend, verlieben sich Hals über Kopf. Gemeinsam durchleben sie eine turbulente Zeit mit allen Facetten, die ein frisch verliebtes Paar unter dem Mantel der Verschwiegenheit erlebt: der Zauber des Kennenlernens, die Intensität der Vertrautheit, die Kraft der Gefühle, der Mut, alte Muster aufzubrechen, aber genauso die Gegenwirkung äußerer Hindernisse sowie der Wunsch, sich selber treu zu bleiben.

Tanja Schmelzer

[wi-wi-käm]

Eine Liebesgeschichte

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Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2018

Lektorat: Astrid Treusch, Berlin

Satz: Gaja Busch

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Umschlagfoto (hinten) »vvcam Neon-Installation«,

© by Ralf Daab

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-14-7
eISBN 978-3-947373-25-3

Wie viel gute Zeit möchtest du der schlechten noch hinterherwerfen?

R. H.

Inhalt

1. Plötzlich verliebt

2. Alles geht

3. Der Moment

Wie es weiterging…

Danksagung

Über die Autorin

1. Plötzlich verliebt

07.06.2014, 03:01, Tom

07.06.2014, 03:01, Tom: Schade, dass Du schon gegangen bist.

Es ist Samstag, 3.01 Uhr, gefühlt noch Freitagnacht und ich bin wieder zu Hause. Ich halte mein Handy unverändert in meinen Händen und staune nicht schlecht – über mich. So etwas habe ich noch nie gemacht, zumindest in den letzten 17 Jahren nicht. Die Gedanken an die letzten 17 Jahre sind im Augenblick aber auch nicht wirklich wichtig. Viel lieber denke ich an den heutigen Abend zurück und erinnere mich an die Begegnung. Warum musste sie denn auch schon gehen? Ich wäre so gerne mit ihr noch richtig ausgegangen. Ins Cage, ein bisschen laute Musik, Wodka Tonic, ich hätte sie reden hören und sehen können und vielleicht hätten wir ja noch getanzt? Ich tanze so gerne und hole mir mal gerade meine Kopfhörer. Dann tanze ich eben hier, in der Wohnung, alleine, nur für mich, mit Kopfhörern, damit ich die anderen nicht wecke… und stelle mir vor, wie es gewesen sein könnte, mit ihr zu tanzen. Ich wollte ihr im Salon Schmitz noch vorschlagen, zusammen ins Cage zu gehen. Doch dann kam sie mir zuvor und verabschiedete sich. Nein, nicht gehen, dachte ich mir. Aber anstatt das zu sagen, erinnere ich sie daran, doch mal zu schauen, ob sie zu unserer Veranstaltung kommen kann. Das wäre cool. Das wird eine super Sache. Jetzt ist sie erst mal weg, aber aus meinen Gedanken gerade nicht wegzudenken. Was für eine tolle Frau…

Ich schmunzle ein bisschen. Wirklich witzig, dass wir uns heute schon wieder zufällig getroffen haben. Zum gefühlt zehnten Mal im letzten halben Jahr. Vorher nie. Und heute wieder – mit Neuigkeiten.

Das erste Mal haben wir uns Ende Januar bei Parkett Dietrich gesehen. Wir hatten eine tolle Veranstaltung, während der PASSAGEN parallel zur Möbelmesse hier in Köln. Neben der Ausstellung von Holzkunst haben wir noch einen Talk zum Thema »Die Kunst des Wohnens und das Wohnen mit Kunst« organisiert. Unsere Bücher haben wir auch ausgestellt. Der Abend war wirklich gelungen. Und plötzlich steht sie mir gegenüber und wir werden einander vorgestellt. Das war es aber auch schon. Etwas später stehe ich bei unseren Büchern, die auf einem riesigen langen, massiven Holztisch ausgelegt waren, als ich plötzlich im Rücken etwas spüre. Eine Art Energie, die mich dazu brachte, mich umzudrehen. Und da steht sie wieder vor mir und lächelt mich direkt an. »Ich kenne das Buch hier«, sagt sie und zeigt auf eines unserer Bücher. Woher, werde ich später erfahren. Sie erzählt, dass ihr Mann Designer sei und selber ein Buch in Eigenregie gemacht habe, aber eben nicht verlegt, ob so etwas für den Verlag auch interessant sei… Ja, sicher, und unsere Visitenkarten wechselten die Hände.

Dann kam Karneval und der Lumpenball im Kölnischen Kunstverein. Dort sind wir uns auch über den Weg gelaufen, aber nicht länger als ein paar zufällige Zigarettenlängen und etwas netten Small Talk über die Kostüme. An diesem Abend war sie mit ihrem Mann da und ich habe später stundenlang mit einer anderen getanzt. Das war auch nicht schlecht.

Die nächsten Karnevalspartys und die nächsten Zufallstreffen folgten. Beim MSC, beim Rot-Weiß – und nach Karneval waren wieder der normale Alltag und die üblichen Alltagsveranstaltungen eingekehrt. Ich stand also eines Abends in einer Galerie mit sehr schöner Kunst, als erst er und dann sie die Räume betraten. Er ging vorweg, sie hinterher mit einem Gang, so gerade, so schön, dass ich dieses Bild nie vergessen werde. Wahnsinn. In dem Augenblick, als ich sie so sah, hatte es mich gepackt. Sie sah mich nicht sofort, sondern betrachtete zunächst die Kunst, entdeckte mich dann aber doch noch auf dem Weg zurück nach draußen. »Hallo Tom, wie schön. Darf ich dir meinen Mann vorstellen?« Sie stellte uns einander vor und sein Gesicht platzte fast vor Desinteresse. »Doch! Ich habe dir doch von Tom erzählt, der Verleger, wegen deines Buchs… Nun gut, vielleicht sollten wir uns darüber mal unterhalten«, sie blickte dabei zu mir, verabschiedete sich dann aber auch schon und wünschte mir noch einen schönen Abend. Dann gingen die beiden Richtung Friesenplatz und ich machte mich in die entgegengesetzte Richtung auf.

Tja, dass ausgerechnet die nettesten Frauen immer so… naja, da habe ich schon mein halbes Leben drüber philosophiert. Brachte mich aber auch nicht wirklich weiter.

Im Mai sah ich sie dann mit Freunden, ohne Ehemann, in der Bar Schmitz, beim Essen. Ab und zu kam sie mal raus zum Rauchen, aber auch immer in Begleitung. Von dort aus konnte ich sie dann etwas länger beobachten, weil ich draußen saß. Sie hatte mich aber, glaube ich, nicht gesehen. Es war schön, wie sie da so stand und erzählte, lachte und aufmerksam zuhörte. Als ich mal reinmusste, kam ich direkt an ihr vorbei und begrüßte sie, sehr nett, Küsschen rechts und Küsschen links, mit der Feststellung, dass wir uns jetzt aber echt häufig sähen… haha. Sie erwiderte mein haha. Ja, das stimmt.

Und dann kam gestern Abend. Sie stand plötzlich vor einer Bar wieder vor mir, so groß, so schön, ich bin ihr quasi direkt in die Arme gelaufen, was ich sofort für eine freundschaftliche Begrüßung mit Umarmung genutzt habe. Und für ein »Wie gut, dass ich dich sehe, denn ich wollte dir eine Einladung zu unserer nächsten Veranstaltung mailen«. Und schon vernehme ich von einer der begleitenden Freundinnen ein sehr betontes »Oh-oh, aber nicht an die alte E-Mail-Adresse«. »Wieso?« »Na, die alte E-Mail-Adresse gibt es nicht mehr bzw. gibt es noch, aber dann antwortet ihr Ex-Mann.« »Ex-Mann?« »Ja, ich habe mich getrennt. Daher gebe ich dir besser meine Uralt-E-Mail. Hast du etwas zu schreiben? Nein? Ich auch nicht. Die Handynummer ist geblieben. Hast du WhatsApp? Gut. Dann machen wir’s so.« Sie lächelte und ging mit ihren Freundinnen wieder rein zu ihrem Tisch und ich wurde, ehe ich mich versah, von Bekannten zu einem anderen Tisch mitgezogen. Dafür konnte ich sie von meinem Platz aus sehen. Ich wollte wieder zu ihr, kam aber nicht weg. Sie ist getrennt… Interessant. Good News, finde ich. Da sah ich sie aufstehen und direkt auf mich zukommen. Sie verabschiedete sich. »…Wir lesen voneinander…« Nein! Nicht gehen…

Heute höre ich alte Disco-Songs. Ich liebe Musik, am liebsten ganz laut. Ich höre quasi aktiv Musik. Von Kurtis Blow »The Breaks« über »Lovemachine« von Supermax, »Summertime« von Will Smith alias DJ Jazzy Jeff & The Fresh Prince bis zu der neuen Daft Punk mit Pharrell Williams und, ganz groß, Gregory Porter mit »Liquid Spirit«. Und dann tanze ich so vor mich hin und bekomme keine Antwort. Dann halt nicht, denke ich mir und tanze weiter, bis ich erschöpft aufs Sofa falle und sofort einschlafe.

Gekläffe weckt mich. Morgen früh gehe ich joggen. Das schöne Wetter hält sich. Der Sommer kommt, die Sonne scheint. Heute muss ich aber noch mal ins Büro. Die nächste Veranstaltung will ja gut vorbereitet sein. Kaum sitze ich am Schreibtisch, holen mich wieder die Gedanken an meine WhatsApp-Nachricht von gestern Nacht ein. Mein Handy behauptet, dass ich keine Antwort bekommen habe. Obwohl Nina schon online war. Ich gehe noch mal die Unterlagen für die Halle durch, in der wir in drei Wochen Kunst ausstellen, Skulpturen und Installationen, Künstler werden da sein, Sammler und Kunstinteressierte. Ein DJ kommt auch und ein 12-Gänge-Menü sorgt für das Wohl aller. Mann, die soll mal zusehen, dass sie kommt. Und ehe ich mich versehe, schnappen meine Hände das Handy und meine Finger schreiben eine Nachricht an sie und fragen nach ihrer aktuellen E-Mail-Adresse.

07.06.2014, 13:10, Tom: Hi Nina, schick mir mal Deine E-Mail-Adresse… LG, Tom

Schick doch mal… Und, wer sagt’s? Ich bekomme plötzlich Antwort auf allen Kanälen. Erst per E-Mail – sie kann nicht kommen. Dann aber noch per WhatsApp eine Nachricht hinterher: Eine spontane Einladung zum Essen. Übermorgen. An mich und meine Frau…

19.06.2014, 2:45, Nina

Noch ganz durcheinander von den vielen Eindrücken stehe ich im Badezimmer vor dem Spiegel, putze mir die Zähne. Und während mein Kopf leicht hin- und hergerüttelt wird, schaue ich mein Gesicht an. Wenn ich könnte, würde ich jetzt eine Augenbraue hochziehen, aber ich kann das nur mit beiden. Ich bin noch ganz benommen von dem Abend, von der Berührung, den Armen und Küssen. Hallo?? Was war das denn?, frage ich mein Spiegelbild. Das muss etwas Biologisches sein. Diese Anziehung ist enorm. Pling… Nachricht von Tom. Ich bin überrascht. Angenehm. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, aber es ist ein sehr schönes Gefühl zu wissen, dass er an mich denkt. Schnell ziehe ich mir etwas über und lege mich mit dem Handy gemütlich ins Bett. Mir wird ganz warm.

Dabei hatte ich mich heute mit ihm nur getroffen, um über ein Kunstprojekt zu reden, bzw. ich wollte ihn dazu etwas fragen. Seine Einladung zum Kunstsalon hätte mich durchaus interessiert, da ich doch mit Esther, einer jungen Kuratorin, vorhatte, verstärkt Skulpturen und Installationen unter die Leute zu bringen. Das Projekt hatte mich begeistert und die ersten Ideen wurden bereits zusammengetragen. Und da dachte ich mir, ihn könnte ich mal dazu befragen, wenn ich schon nicht kommen kann. Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, was er genau macht. Dass er Verleger ist, wusste ich bereits. Aber um was für eine Veranstaltung mit Kunst und Künstlern es sich handeln sollte, war mir nicht klar. Als Galerist wird er wohl nicht auftreten. Einen aufgeschlossenen und freundlichen Eindruck machte er auf jeden Fall. Dass er dann überhaupt Zeit hatte, mitten in der Woche und vor einem Feiertag, hatte mich etwas überrascht, noch dazu während der Fußball-WM. Aber es war sein Vorschlag, nur fürs Protokoll.

Ich hatte extra ein Restaurant mit einer super Bar und WM-Leinwand ausgesucht und einen Platz reserviert. Nicht einen der üblichen überlaufenen Hotspots der Stadt, damit wir auch in Ruhe sprechen können. Viel wusste ich ja, wie gesagt, nicht von ihm. Eigentlich fast gar nichts. Ich habe ihn immer alleine gesehen, er trägt aber einen Ehering. Ich hatte mir vorgestellt, dass er Familie hat, vielleicht noch kleine Kinder, sodass ich seine Zusage sehr entgegenkommend fand und ihn auch nicht lange aufhalten wollte. Wie gesagt, ich wollte ihm nur ein paar kurze Fragen stellen.

»Wann bist du denn wieder zu Hause?«, fragte mich meine Tochter Jona, bevor ich losfuhr. »Also, ich fahre jetzt eine halbe Stunde hin, dann sitzen wir da und reden, so ungefähr eine Stunde und dann muss ich ja noch eine halbe Stunde wieder zurückfahren. Also allerspätestens um neun.« »Okay…«, erwiderte Jona und stiefelte die Treppe hoch in ihr Zimmer. »Mein Handy habe ich ja daba-heiii!!«, rief ich ihr noch hinterher und verließ das Haus. Ich war wieder auf den letzten Drücker, sprang in den nächsten DriveNow-Mini und bekam von Tom kurz nachdem ich losfuhr die Nachricht, dass er in 15 Minuten da sei. Also auch nicht ganz pünktlich. Herrlich! Diese Information ließ mich dann etwas entspannter fahren. Als ich im Restaurant ankam, saß er schon da. Und kaum saßen wir dort zusammen auf der Terrasse, war es so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Von Anfang an verlief das Gespräch mindestens so vertraut wie unter Kollegen, die bereits mehrere Jahre zusammenarbeiten und sich gut leiden können. Der Ort war wie für ein ruhiges Gespräch gemacht. Eine Terrasse, mitten in der Altstadt-Nord, umgeben von hohen Bäumen und schönen alten Gebäuden. Breite Straßen, schönes Wetter… Nach ein paar Minuten waren wir mitten im Gespräch, mitten im Leben, sprachen über unsere Kinder, wir haben beide ein Kind, er einen Sohn, der ein Jahr älter ist als meine Tochter, und wir erzählten und erzählten. Doch, doch, über die Kunst wurde auch gesprochen. Aber das Thema war nach 20 Minuten abgehandelt. Zumindest für uns, jetzt.

Puh, was soll ich sagen? Der Grad der Vertrautheit erweiterte sich automatisch. Fotos der Kinder wurden gezeigt, wir beide mächtig, prächtig stolz. Ich habe natürlich gewonnen, haha, und die Sommerferien stehen bevor und die Pläne für den Urlaub stehen schon fest: er fährt mit seinem Sohn nach Südfrankreich an die Atlantikküste zum Surfen, ich mit Jona und dem Rest meiner Familie, also meiner Mutter und meinen Brüdern und deren Familien, zu meiner Schwester in die Schweiz. »Das finde ich ja toll, so ein reiner Jungs-Urlaub. Den ganzen Tag auf dem Wasser, surfen«, meinte ich und bemerkte noch, dass das manchmal sinnvoll sei, weil ich auch die ein oder andere Frau kenne, die sich alleine am Strand auf Dauer langweilen würde. Bevor es da Ärger im Urlaub gibt. Immerhin konnte ich auf eigene Surfurlaubserfahrungen zurückgreifen, wohlgemerkt als Surferin. Aber am Strand war durchaus die ein oder andere einsame, wartende Seele mit sehnsüchtigem oder auch gelangweiltem Blick auf das Wasser anzutreffen… »Nein, nein. Ich fahre mit meinem Sohn schon das zweite Jahr alleine dorthin. Meine Frau und ich haben uns letztes Jahr an Weihnachten getrennt.« Mein erstauntes Gesicht brachte ihn dann wohl dazu, mir die Hintergründe zu schildern, wobei – den Ehering trug er ja noch. Immerhin wohnten alle drei noch unter einem Dach und ich meinte daraufhin zu ihm, es könne nicht schaden, vielleicht doch noch mal als Paar genauer auf die gemeinsame Verbindung zu blicken, wenn man ein halbes Jahr nach der eigentlichen Trennung noch den Ehering trägt und unter einem Dach wohnt. Da wird doch irgendetwas sein, was diesen Zustand aufrechterhält. Und das könnten zigtausend Gründe sein: oftmals gibt es Gründe, die man vielleicht einfach nicht erzählt? Die man selber nicht richtig in Worte fassen kann? Gründe, die andere nichts angehen oder die vielleicht auch ganz gerne unter den Tisch gekehrt werden? Und manchmal wird einem vielleicht erst durch ein Gespräch mit einer Person, die außerhalb dieser Sphäre steht, bewusst, was man da eigentlich die ganze Zeit treibt. Ein bisschen Glück gehört eben auch dazu…

»Darf ich Ihnen die Speisekarte bringen?«, wurden wir höflich von einem der netten jungen Kellner unterbrochen. »Ja, oder?«, fragte mich Tom. »Hast du denn überhaupt Zeit?«, fragte ich zurück. »Den ganzen Abend.« Wir beide grinsten, ließen uns die Speisekarte geben und bestellten. Das Gespräch lief weiter und weiter und weiter und schließlich entschuldigte er sich kurz. In der Zwischenzeit ließ ich meinen Blick in der Umgebung umherwandern. Sehr schön ist es hier, stellte ich für mich fest und schwelgte in der Idee an eine großzügige Wohnung für Jona und mich, mitten in der Stadt, als mich nach einiger Zeit und ganz kurz sanft seine Hand an meiner Schulter berührte. Ich schaute zu ihm hoch, wir lächelten uns an und erzählten weiter.

Ich wurde erst kürzlich daran erinnert, wieder mehr auf mein Bauchgefühl zu achten. Zu lange hatte ich versucht, mir immer wieder Dinge rational zu erklären, weil ich gespürt hatte, dass etwas nicht stimmt. Und anstatt einfach meinem Gespür zu folgen und für mich festzustellen, dass mir dieses und jenes nicht guttut, bin ich weiter auf die Suche nach Erklärungen gegangen, obwohl mir mein Bauchgefühl schon lange vorher eindeutige Warnsignale gesendet hatte. Und hier, Gott sei Dank in einem völlig anderen Zusammenhang, stellte ich einfach so aus dem Bauch heraus fest, dass ich mich wohlfühlte, in dieser Umgebung und in seiner Gegenwart.

Ich stellte meinen Kopf etwas schräg und schaute mir mein Gegenüber an, wie er sein Glas Grauburgunder hielt und schließlich seine Trüffelnudeln genüsslich und achtsam aß. Das Gespräch blieb lebendig – und weiter ging es. Das Essen wurde gegenseitig gekostet und ausgetauscht, mein Wienerschnitzel war definitiv für mich alleine zu groß, also wanderte ganz selbstverständlich ein großes Stück Schnitzel auf seinen Teller. Lecker, nicht wahr?

Mein Handy klingelte. Es war 21.30 Uhr und meine Tochter rief an. Oh Gott. War es denn schon so spät? Rasch ging ich an mein Handy, vertröstete mein Kind und versuchte, es mit Informationen über Toms Sohn etwas abzulenken. Die Kinder kennen sich doch sicher über Facebook oder so, und das Angebot, sich schon mal in mein Bett zu legen, war dann für Jona auch okay. So lange werde ich sicher nicht mehr bleiben.

Es wurde etwas kühler und ich zog mir meinen Strickmantel über. Der Abend verflog, Jona rief noch dreimal an und auf einmal standen die jungen Kellner um uns herum, alles war bereits aufgeräumt, und warteten… und warteten… und vermutlich viel zu spät bekamen auch wir das mit, zahlten und bestellten ein Taxi. Schon halb eins. Wir mussten, wie wir nun wussten, in dieselbe Richtung. »Das war ein sehr schöner Abend, vielen Dank«, sagte ich und hörte mich weiter sagen, dass ich mich mit ihm sehr wohlgefühlt habe. »Komm, noch einen letzten Absacker auf dem Weg, okay?«, fragte er erwartungsvoll und ich stimmte mit einem »Aber wirklich nur kurz« zu. Jetzt kam es auf zwanzig Minuten auch nicht mehr an.

Die Taxifahrt zur kleinen Bar in der Maastrichter Straße machte riesigen Spaß. Im Radio lief »Love Never Felt So Good« von Michael Jackson und Justin Timberlake und ich schwärmte von diesem Disco-Hit, er sei so schön beschwingt. Wie wir… Also, langweilig ist es mit ihm nicht. Mit Tom. Zum Pferdestehlen. Außerdem findet er das Lied auch gut, was per se Pluspunkte zu dieser Stunde erzielte, und die Einladung zu seiner Geburtstagsparty im Oktober, zu seinem 50., wurde direkt hinterhergeschoben. »Du musst unbedingt kommen. Das wird eine richtig coole Party. Im Cage. Wie früher in den Clubs.« Ich nahm die Einladung gerne an und schwupp, standen wir vor der Bar.

Was schreibt er denn? Mir wird ganz warm…

19.06.2014, 3:04, Tom: Bin zu Hause, hab mir noch ein Glas Wein eingeschenkt, höre Love never felt so good, tanze und denke an Dich und den wunderbaren Abend.

19.06.2014, 3:06, Nina: Herrlich!! Tanz bitte für mich eine Runde mit!! Es war wirklich schön mit Dir. Morgen lade ich mir auch erst mal das super Lied runter. Also, Du, hab noch schöne Gedanken und genieße Deine Zeit.

19.06.2014, 3:09, Tom: Das mache ich. Glücksmomente muss man genießen.

19.06.2014, 3:11, Nina: Hmmmmmhhh… schööön. Ich tanze in Gedanken mit Dir und sende Dir noch ein Lächeln. Schlaf später gut!

19.06.2014, 3:14, Tom: ? Schlaf auch gut, werde noch etwas aufbleiben.

19.06.2014, 3:16, Nina: ?? Frage offen?

19.06.2014, 3:17, Tom: Nee, keine Fragen offen. Tippfehler, aber doch eine Frage: Lust auf Surfen in Hossegor?

Und schon rieselt es Fotos von Hossegor: sein Sohn auf den Wellen, der Ort, das Ferienhaus, das Café de Paris, DIE Institution in Hossegor seit mindestens 30 Jahren, wenn nicht länger, der Marktplatz, die Austernbude, Austern für einen Euro usw. usw.

Niedlich. Was ist da eigentlich passiert vor zwei Stunden?

Ja, doch, dass er mich mochte, konnte sogar ich erkennen. Und ein bisschen Flirten macht ja auch Spaß. Die beiden Flaschen Grauburgunder, die wir im Restaurant getrunken hatten, übrigens auch. Und so landeten wir, nachdem wir aus dem Taxi ausgestiegen waren, in dieser netten kleinen Bar. Rappelvoll war es und wir hatten Glück, gerade noch so, etwas eingequetscht, einen Stehplatz an der Theke zu ergattern.

Witzige kleine Bar, denke ich mir. Hier war ich vorher noch nie. Ich halte mich an meinem Drink fest. Und das war weise, denn irgendwo hätte ich mich ohnehin festhalten müssen, als mich auf einmal Toms Hand an meinem Unterarm berührt. OMG!! Ein Kribbeln macht sich in mir breit und mir scheint, als befinden sich zigtausend klitzekleine Funken, die leicht kitzeln, unter meiner Haut. Darauf folgt ein heftiger Adrenalinschub, mir wird ganz heiß, und im nächsten Augenblick bekomme ich etwas Panik, denn ausgerechnet die Hand mit dem Ehering am Ringfinger springt mir in diesem Augenblick ins Auge. »Das geht nicht«, meine ich und schaue in seine Augen, dann wieder auf seine Hand. »Sowas habe ich noch nie gemacht«, sagt Tom. Und, warum auch immer, glaube ich ihm das auch noch. Dennoch: ich muss gehen, denke ich mir… Ich muss gehen. Ich muss hier raus. Ich werde jetzt draußen noch eine rauchen, mich für den wirklich super schönen Abend bedanken, werde mich verabschieden und in ein Taxi steigen. Und natürlich kommt er mit raus, eine rauchen, und auf dem Weg nach draußen gehe ich brav meinen Text durch, der durchkreuzt wird von zigtausend anderen Gedanken. Was war das denn? Das geht doch wirklich nicht. Und eigentlich will ich das auch nicht. Ein verheirateter Mann. Ein so netter Mann. So ein lustiger Mann, so ein interessanter Mann, so ein geerdeter Mann, so ein rundum angenehmer Mann, so ein immer noch nicht richtig getrennter Mann… Draußen vor der Bar stehen wir uns gegenüber, kramen unsere Zigaretten aus den Jacken, zünden sie an und schauen uns in die Augen. Ich muss lachen. Eine ganze Zigarettenlänge schaffe ich es tatsächlich, noch über irgendetwas zu plaudern und anschließend auch noch die mir ins Kurzzeitgedächtnis gehämmerte Verabschiedung aufzusagen. Ich lobe also den mehr als gelungenen Abend, möchte ihn zum Abschied kurz umarmen, mache das auch, aber nicht kurz, weil ich festgehalten werde. Okay, dann Küsschen links und Küsschen rechts, und noch mal, wie in der Schweiz? Und was passiert? Er küsst mich, wir küssen uns, auf den Mund, nicht kurz, ganz lang, ganz sanft, ganz vorsichtig tasten wir uns heran, halten uns fest, fühlen dabei unsere Rücken, unsere Arme, unsere Hände und ich bin überrascht, wie unwahrscheinlich gut er sich anfühlt. Seine breiten Schultern, seine starken, festen Oberarme. Dabei ist er doch relativ klein. Also nicht wirklich klein. Aber eben nicht größer als ich mit meinen hohen Absätzen, und wir küssen uns weiter und unsere Umarmungen werden fester, als ob sie uns sagen wollen, ihr beide gehört zusammen. Und ehrlich gesagt, fühlte es sich in diesem Augenblick auch genauso an. Das ist sicher etwas Biologisches, denke ich mir und genieße es dennoch, ihm so nahe zu sein. Spricht da die Alchemie? Was ist da los? Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis wir, zwar immer noch eng umschlungen, mitten auf dem Bürgersteig, uns ansehen, zulächeln und wissen, dass wir jetzt nach Hause müssen.

20.06.2014, 17:56, Nina

Die letzten Wochen hatten wir nur schönes Wetter. Ein richtiges Sommergefühl hat sich in der Stadt ausgebreitet, getragen vom WM-Hype und mitfiebernden Fans, die meist vor den Kneipen sitzen und gebannt auf große Leinwände starren. Der warme Asphalt duftet zwischen den alten Häusern in der Südstadt und endlich können alle ihre leichten Sommerklamotten tragen. Die Stadt ist wirklich hübsch anzusehen. Und mittendrin gehe auch ich durch die Straßen Kölns, um mich mit einer Freundin zu treffen.

So eine Verabredung mit einer Freundin ist herrlich und man kann über alles reden, alles ist Thema: der Mann oder auch der Ex-Mann, die Kinder, der Job, das Haus, der Flirt, das Restaurant, die neue Bar, die neue Ausstellung, das Theater, das Buch, die Bücher, das Parfum, die Fingernägel, die Handtasche, die Haare, der Flirt, ach so, hatte ich ja schon. Aber macht ja nix.

Und es ist auch wohltuend, sich mit einer Freundin zu besprechen. Ein reger Austausch, einem langen Tauchgang gleich, am liebsten stundenlang. Wie ein eingespieltes Team, wenn da nicht der Babysitter wäre, oder die Familie, oder die Arbeit oder sonstige Verpflichtungen, wie Fahrdienste zum Hockey, Tennis, Hip-Hop, Flöte und zurück, könnten wir durchaus länger weitererzählen. Ein Thema gibt es immer.

Heute Abend treffe ich mich mit Katharina. Und kaum sehen wir uns, geht es auch rege los. Wir hatten uns längere Zeit nicht mehr gesehen und da gibt es wirklich viel zu erzählen. Und sicher erzähle ich auch von Tom, von vorgestern Abend und gestern und heute.

Nach dem Abend im Nada und unserem nächtlichen Chat, bekam ich gestern Vormittag wieder eine Nachricht von ihm. Dass der Vorabend noch nachschwinge und es ein schönes Gefühl sei. Wir chatteten kurz weiter, neue Fotos wurden ausgetauscht. Heute Nachmittag kam dann die Frage, ob ich abends noch was machen würde. Er sei in der Stadt unterwegs. Ja, ich auch, ich treffe mich mit einer Freundin. Und Katharina und ich sind gerade ins Gespräch eingetaucht, da entdecke ich Toms Nachricht.

20.06.2014, 21:47, Tom: Bin jetzt im Balthasar in Sülz und gucke Fußball, machst Du später noch was?

Ich greife kurz zum Handy und schreibe zurück:

20.06.2014, 22:27, Nina: Sitze noch in der Südstadt. Tja, mache ich noch was? Wolltest Du mich noch zu ’nem Drink einladen?

20.06.2014, 22:59, Tom: Ja.

20.06.2014, 23:02, Tom: Salon Schmitz?

Okay, denke ich mir, dann weiß ich ja Bescheid. Und wie das so ist, ins Gespräch vertieft, deshalb haben Katharina und ich uns ja auch verabredet, vergehen Zeit und noch mehr Worte so schnell wie ein Wimpernschlag. Mein Handy vibriert. Lautlos. Tom ruft an. »Und? Wie sieht es aus? Bist du noch in der Südstadt?« Und ich antworte kurz und wir verabreden uns für später im Salon Schmitz. Ich schreibe Dir dann, wenn ich im Taxi sitze, schicke ich noch hinterher.

Gesagt, getan. Wie schön der Sommer ist, solange die Sonne scheint. Aber abends kühlt es sich dann doch etwas ab. Erst als ich im Taxi sitze merke ich, wie kalt mir geworden ist. Ich bibbere richtig. Als ich im Salon Schmitz ankomme, als Erste von uns beiden, bestelle ich mir erst einmal einen Tee, zum Auftauen.

21.06.2014, 00:15, Tom

Ich springe schnell ins Taxi. Jetzt sehe ich sie tatsächlich noch. Gott sei Dank habe ich einen guten Taxifahrer. Nicht so eine Schnarchnase. Oh Gott, das wär’s ja jetzt. Nein, ich habe Glück und der Taxifahrer fährt angenehm zügig. An der Aachener Straße angekommen, bezahle ich und springe aus dem Wagen. Ist ja dann doch ein bisschen aufregend. Als ich durch die Scheiben gucke, sehe ich Nina dort schon sitzen. Schön! Und kaum betrete ich den Salon, schaut sie zu mir rüber und begrüßt mich mit ihrem Lächeln. Es sind auch noch andere Leute da, die ich kenne oder die sie kennt, aber ich habe jetzt nur Augen für sie. Die Zeit vergeht wie im Flug und ewig können wir leider, wie schade, nicht bleiben. Wir zahlen und gehen auf die Straße, um nach einem Taxi Ausschau zu halten. Es kommt aber keins. »Lass uns mal zur Ecke Brüsseler gehen. Da kommen immer Taxen«, schlage ich vor und greife nach ihrer Hand. Also gehen wir Hand in Hand mitten auf der Aachener Straße Richtung Brüsseler und ich kann nicht anders, als sie zu mir zu drehen, in den Arm zu nehmen und sie zu küssen. Und wir küssen uns und es ist der Wahnsinn. Wir schauen uns an und gehen noch ein Stückchen weiter. An der Ecke Brüsseler warten wir dann doch noch ein paar Minuten. »Jetzt haben wir uns viel erzählt. Aber eigentlich weiß ich trotzdem nichts von dir. Ich glaube, ich müsste mal Josef Matula auf dich ansetzen«, meint Nina zu mir, während ich sie in meinen Armen halte. Es wird nachts doch ganz schön frisch. »Kannst du gerne machen. Ich habe keine Geheimnisse.« Ein Taxi kommt, wir steigen ein und kennen die Route, es ist dieselbe wie vorgestern: erst raus nach Junkersdorf, Nina absetzen, dann weiter nach Lindenthal zu mir, nach Hause.

Das Taxi wird für die knapp 15-minütige Fahrt unser kleiner privater Kosmos. Ich nehme Nina in den Arm, ziehe sie ganz nah an mich und es fühlt sich harmonisch und vertraut an, so, wie es sein soll, so richtig. Wir küssen uns zwischendurch und erzählen. Hauptsache nah beieinander. Und schon ist die Fahrt wieder zu Ende. Nina steigt aus und ich muss weiterfahren. Jetzt also wieder zurück nach Lindenthal. Nach Hause… Und ich merke, dass es heute nicht ganz so schlimm ist wie sonst, weil ich so schöne Gedanken habe und die Situation zu Hause in den Hintergrund gerückt ist. Es werden sowie schon alle schlafen, sogar der Hund. Wenn ich bedenke, wie oft ich mich nachts noch herumgetrieben habe, um bloß noch nicht nach Hause zu müssen. Da gab es Stammtischabende mit meinen Jungs, die ohnehin schon länger gehen. Aber nicht mehr so lange wie früher, wir werden ja alle langsam älter. Und ich wollte partout noch nicht nach Hause. Andere Kneipen auf dem Weg waren dann auch schon zu und so ging ich lange Umwege, bis ich schließlich doch nicht umhinkam, schlussendlich heimzugehen. Vor der Haustür zu stehen und es dreht sich fast der Magen um, ist kein angenehmes Gefühl. Dann die zwei Stockwerke hoch, Wohnungstür auf. Tja, der eisige Wind, der hier herrscht, selbst wenn alles schläft, ist ätzend. Aber heute kann mich der eisige Wind mal kreuzweise. Schön ist es natürlich dann immer noch nicht, und am nächsten Morgen sind dann ja auch alle wieder wach. Auch der Hund. Aber egal.

Oben in der Wohnung angekommen, gieße ich mir noch ein Gläschen Wein ein, setze mir die Kopfhörer auf und höre noch etwas Musik. Ich kann gar nicht anders, als an Nina zu denken und schreibe ihr noch ein paar Zeilen. Ich fühle noch immer die Berührungen und finde es einfach unglaublich, wie vertraut wir miteinander umgehen. Ich bekomme auch schnell eine Antwort und schlafe später ganz entspannt und ruhig ein. Wie immer an solchen Abenden, auf dem Sofa.

Das Wochenende vergeht dann auch irgendwie. Gott sei Dank ist WM und wir sind bei Freunden zum Fußballgucken. Dann geht es sowieso um die Sache, um das Quatschen mit Freunden und vor allem darum, das Spiel zu gucken.

Trotz aller Ablenkung sind meine Gedanken bei Nina. Wie gerne würde ich sie jetzt sehen. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass sie mir nicht zwischendurch geschrieben hat. Ich ihr aber auch nicht. Ich möchte mich ja auch nicht aufdrängen oder so…