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Hans-Jürgen Perrey

Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch

Wie Neustadt an der Bille
die 60er Jahre erlebte

Roman

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2018

Lektorat: Markus Lorenz

Satz: Gaja Busch

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-26-0

eISBN 978-3-947373-44-4

www.dittrich-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Wirtschaftswunder ist wichtiger

Paula packt aus

Der die das Dingsda …

George hat Geburtstag

Die Lieder waren eine Revolution

Von leeren Brieftaschen und von Glück und Treue …

Im Hanseatischen Hof

Er zog aus und war weg

Der Aufstieg

Die SPD wird gesprächig

Auf dem Hof

Ein Professor kommt

Mit Rosalie im Kino

Pastor Riemer schlägt zurück

Das kleine Glück des Anselm Kirsche

Ewige Freundschaft

Der Name ist der Redaktion bekannt

Gespräch mit Konrad

Sit-in

Konferenz

Projektwoche

Jochen Schrotmüller

Der unsichtbare Gegner

Präsentation

Man geht ein wenig demonstrieren

Rosalie kuckt aus dem Fenster

Tremsbüttel

»War doch so!«

Professor Fritz Fischer, Hamburg

Hedda taucht auf und unter

Sex-Party als Schulveranstaltung

Haus am See

Hanna schreibt eine Fünf

Brenda hilft Hermann

Hanna wandert aus

Onkel, Freund und Vater

Dorothea

Tusculum

Knobel liest Zeitung

Einweihung

Vom Ende

Weder Chronik noch Roman

Das Ende vom Ende

Wirtschaftswunder ist wichtiger

Im Westen ein pompöser Abendhimmel, im Osten der aufgehende Mond. Um mein Büro, hier oben im dritten Stock, haben mich schon viele beneidet. Auch der, der gleich zu Besuch kommt. Er wird an die Tür klopfen, und sein Klopfen ist ein unverkennbares Signal: dreimal kurz und sanft, einmal hart und trocken.

Nie hat sich Henry Petersen anders angekündigt, wozu auch zählt, dass er mit dem letzten Schlag schon sein rundes Gesicht mit dem schelmischen, fast hätte ich gesagt listigen Lächeln durch den Türspalt schiebt. Atmet er heftig, ist das ein untrügliches Zeichen, dass er auf den Fahrstuhl verzichtet hat.

Meist wartet er mit einem Bonmot auf, das schon zu erkennen gibt, ob er in ernster Angelegenheit vorbeischaut oder ob es sich lediglich um einen jener Routinebesuche handelt, mit denen er lockeren Kontakt zu seiner Verwaltung hält.

»Guten Abend. Im Kreml brennt noch Licht?«

»Nehmen Sie Platz«, sage ich und zeige auf den Sessel, der mittlerweile sein Stammplatz geworden ist: mit dem Rücken zur Wand, so dass er meine Wirkungsstätte mühelos überblicken kann.

»Ich sah Sie kommen. Sie gingen unsere Shopping Mall entlang, ohne die Auslagen zu beachten, was der Einzelhandel Ihnen nachtragen wird. Sie hatten aber einen Neustädter Landboten unterm Arm, was zu einem geschäftigen Bürgermeister bestens passt.«

»Ich habe Ihnen die Postille mitgebracht, weil ich dachte, es wäre besser, wenn Sie’s heute Abend schon erfahren. Die SPD setzt Ihnen die Pistole auf die Brust. Sie sollen im Frühjahr fertig werden. Im Herbst soll Ihr Werk druckfrisch auf dem Tisch liegen. Das hat die Fraktion, ohne uns vorher in Kenntnis zu setzen, mir nichts, dir nichts auf die Tagesordnung gesetzt. Wie gesagt: ohne uns vorher zu fragen. Lesen Sie Seite drei. Wahrscheinlich sind die noch immer eingeschnappt, weil wir ihnen die Mittel für die Kindergartensanierung gekürzt haben. Dahinter steckt wieder mal Ihre Rote Cosima, die uns mit ihrer aufmüpfigen Berichterstattung die Weihnachtslaune verderben will. Ich rufe die morgen früh gleich an!«

»Wieso meine Rote Cosima? Ich pflege hier ein kollegiales Verhältnis, verstehe mich gut mit ihr. Wir haben in puncto Geschichtsschreibung eine gemeinsame Wellenlänge. Sie ist im weitesten Sinne eine gute Freundin. Offiziell spreche ich von meiner Bekannten. Im Übrigen arbeitet sie freiberuflich und liegt eher auf der Linie des Holsteiner Tageblatts als auf der des Landboten

Petersen lacht ein wenig zu laut. »Da gibt es aber auch andere Versionen, von wegen kollegiale Freundin …«

»… die Sie hoffentlich nicht sonderlich beeindrucken. Noch einmal: Ich habe ein Verhältnis zu ihr, nicht mit ihr. Wir sind befreundet, auch wenn Sie lachen! Doch zu meinem Werk. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das Erscheinen meiner Stadt-Chronik an einen bestimmten Termin gekoppelt haben. Als ich vor drei Jahren den Auftrag erhielt, hieß es auch auf Seiten der SPDler, lieber gründlich arbeiten als einen Schnellschuss abliefern. So eine Chronik, oder sagen wir besser: Stadtgeschichte, gönne man sich ohnehin nur einmal im Jahrhundert.«

Ich hatte die Zeitung aufgeschlagen, wo unter der Überschrift: Neustadt braucht endlich eine Chronik ziemlich nassforsch über meine bisherige Arbeit berichtet wurde. Da gäbe es die verschiedenen Hochzeiten, auf denen ich gleichzeitig tanzen würde. Die Chronik allerdings – teilte der SPD-Chef im Interview mit – sei man allein schon dem wachsenden Tourismus schuldig. Einige zehntausend Euro seien bisher in das Projekt geflossen, jetzt wolle man Ergebnisse sehen.

Petersen reibt sich die Nase: »Nun lassen Sie sich bloß nicht die Feierabendstimmung verhageln. Das Ganze ist doch ein durchsichtiges Manöver. In zwei Jahren haben wir Kommunalwahlen, da wollen sich die Sozen mit Ihrer Chronik in Szene setzen. Damals allerdings, als wir die Sache anschoben, waren sie strikt dagegen, auch nur einen Euro für solch ein Projekt zu bewilligen. Dabei lag die letzte Chronik über hundert Jahre zurück, hatte die Maße und das Gewicht einer Gehwegplatte und bejubelte unseren umtriebigen Kaiser, Wilhelm den Plötzlichen, auf jeder Seite mindestens einmal.«

»Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«

»Schnaps während der Dienstzeit. Sie bringen mich in Verlegenheit!«

»Von Schnaps habe ich nicht gesprochen. Ich habe auch Selters.«

»Sie schätzen mich richtig ein. Die Grünen haben uns seinerzeit zur rauchfreien Verwaltung gemacht. Vom alkoholfreien Rathaus war nie die Rede. Unsere dänische Partnerstadt versorgt uns regelmäßig mit Aalborg Aquavit. Den sollten wir im Geiste der Völkerverständigung nicht schlecht werden lassen.«

Ich stelle zwei Gläser auf den Tisch, schenke ein. Petersen schnüffelt und nickt mir zu. »Auf unsere dänischen Freunde!«

Er lacht ausgelassen. Dann holt er tief Luft. »Kennen Sie eigentlich die Geschichte von jener norddeutschen Gemeinde, die – weil es schließlich alle machten – sich eine Chronik spendieren wollte, einige Sponsoren ins Boot holte und schließlich einen angehenden Historiker fand, der seit Jahr und Tag über seiner Doktorarbeit brütete und froh war, endlich einmal für seine staubtrockenen Recherchen honoriert zu werden?«

Natürlich kenne ich die Geschichte. Deshalb antworte ich entgegenkommend: »Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Na, dann hören Sie!« Er füllt unsere Gläser nach und reibt sich die Hände. »Also, der Bürgermeister überweist ihm monatlich ein stattliches Sümmchen und freut sich über den tüchtigen jungen Mann, der überdies noch etliche Fahrten ins Landesarchiv und sonst wohin abrechnet. Die Aktenlage allerdings ist miserabel. Die Presseartikel der letzten hundert Jahre sind meist ebenso wenig aussagekräftig wie heute auch. Aus Amts- und Kreisblättern ist meist nur Belangloses herauszufischen. Amtliche Verlautbarungen spiegeln die Banalitäten eines längst vergangenen Alltags wider. Von einem wohlgeordneten Gemeindearchiv kann ohnehin nicht die Rede sein. Als der Geschichtsforscher im Landesarchiv nachfragt, ob es keine einschlägigen Quellen zur Kommunalgeschichte gebe, muss er sich die Gegenfrage gefallen lassen, ob die zuständigen Herrschaften denn jemals etwas abgegeben hätten. Schnell wird offenbar, dass die Verantwortlichen sich zwei Jahrhunderte lang nicht sonderlich für ihre eigene Geschichte interessiert hatten.

Doch die Uhr tickt, und als man bei dem geplagten Mann anfragt, wann mit der Chronik zu rechnen sei, erlebt er eine waschechte Panikattacke. Er hat wenig Schreiberfahrung, sieht man einmal von seiner Diplomarbeit ab, und hat folglich keine Zeile zu Papier gebracht. Unmengen von Kopien hat er anfertigen lassen oder selbst hergestellt, prallgefüllte Aktenordner angelegt. Aber wie wird daraus ein Buch?

In einer schlaflosen Nacht, die er neben seiner ahnungslosen Verlobten verbringt, sieht er die düstere Alternative auf sich zukommen: Entweder er fährt ins Rathaus und offenbart sich den lokalen Autoritäten, oder er übergibt sich dem nahegelegenen Baggersee und macht seiner bis dato ehrlichen, aber beruflich verkorksten Existenz ein Ende.

Morgens beim Frühstück bricht er in Tränen aus und gesteht seiner Verlobten die furchtbare Situation. Die junge Frau, eine Kindergärtnerin, weiß ihn zu trösten. Was er sich nur plage. Die Leute wollten am Ende ein Buch zum Verschenken oder als Zierde für das Regal haben, während andere gern in Büchern schmökerten, eben weil es unterhaltsam sei und immer aufs Neue zu der Einsicht verhelfe, dass früher doch nicht alles besser war. Nicht einmal die Sommer waren länger. Wenn er ihnen solche Einsichten liefere, werde sich keiner beschweren.

Gesagt, getan: Wenn man Bilder fälschen kann, dann erst recht Dokumente und Quellen aus der guten alten Zeit. Die beiden bringen ihre Laptops in Position und legen los. Manchmal biegen sie sich vor Lachen, wenn wieder ein historisches, bis dato unbekanntes Dokument auf der Festplatte Einzug gehalten hat.

Vor allem die junge Frau erweist sich als Talent. Da gab es vor zweihundert Jahren eine Feuersbrunst, viel gewaltiger als die bekannte, auf die in der Kirche eine Tafel verweist. Entsetzliche Szenen haben sich abgespielt, alles erinnert an Friedrich Schillers Lied von der Glocke. Die entsprechenden Verse werden zitiert, ältere Leserinnen und Leser werden sich erinnern, zumal die Urgroßeltern das literarische Ungetüm in der Schule auswendig lernen mussten. Und wieder sind zwei Druckseiten gefüllt.

Auswanderer schrieben über ihre bewegenden Eindrücke aus der Neuen Welt – und, vice versa, bisher völlig unbekannt: Es gibt auch Briefe aus der deutschen Heimat, die von den Lebensumständen der Landarbeiter packende Schilderungen liefern. Leider stammen viele Quellen aus Privatbesitz oder sind fatalerweise im Zuge einer Versteigerung oder Haushaltsauflösung in der Versenkung verschwunden. Sie sind – das wird zutiefst bedauert – nicht mehr verfügbar und wurden durch unsere Chronik gewissermaßen in letzter Minute konserviert.

Und so geht es weiter. Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg erzählen von dramatischen Vorstößen mitten hinein in die feindlichen Linien von Verdun. Die Revolution 1918/19 verläuft in unserem Städtchen besonders geschichtsbuchreif. Ganze Kapitel aus älteren Chroniken und dem süddeutschen Raum werden entsprechend umgeschrieben und finden Eingang in die rasant anwachsende Arbeit.

Weiter! Was sich irgendwo in Deutschland abgespielt hat, ereignete sich auch bei uns. Warum nicht! Hitler ist auf Wahlkampfreisen genau dreimal durch unseren Ort gefahren. Jetzt hat er sogar vor dem Rathaus eine Rede gehalten. Die hat er zwar anderswo auch gehalten, aber das schmälert die Bedeutung dieses historischen Ereignisses keineswegs. Und immer sind es faszinierende Menschen, die in der Geschichte und den dazugehörigen Geschichten aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortreten.

Dann kommt der Tag der Präsentation, mit Reden, Grußworten und einer Lesung des Verfassers. Der wird vom Bürgermeister ausführlich vorgestellt, wobei der Verwaltungschef es sich nicht nehmen lässt, die Entstehung des historischen Werks Revue passieren zu lassen. Er tut dies auf seine humorvolle Art, verweist aber auch darauf, wie viele Stunden harter Arbeit in diesem ansprechenden Werk steckten. Er zitiert Neil Postman, denn in keiner seiner Reden darf das erbauliche Zitat fehlen: Die Historiker wissen auch, dass sie ihre Geschichten zu einem bestimmten Zweck schreiben – nicht selten, um die Gegenwart entweder zu verherrlichen oder zu verdammen.

Ja, es ist rhetorisch die Stunde des Bürgermeisters, der sich von dieser Sentenz gar nicht losreißen kann, seine Gemeinde-Chronik als vorbildlich preist und die Nachbargemeinden ermuntert, Vergleichbares auf den Weg zu bringen. Dabei verrät er kein Geheimnis, wenn er hier und jetzt mitteilt: Es gebe schon Anfragen benachbarter Kommunen, ob der junge Forscher nicht für ähnliche Projekte zur Verfügung stünde. Der wird von der Presse umlagert, beantwortet Fragen, signiert Bücher und fährt gleich danach in den Urlaub.«

Ich habe geduldig zugehört und mich über Petersens Darstellung amüsiert. Mindestens dreimal habe ich sie schon aus seinem Munde vernommen, und jedes Mal bot er sie anders dar, weil er sie geschickt auf sein Publikum zuschnitt. Mir ist diese Methode schlecht bekommen. Hatten wir Besuch zuhause und die üblichen Geschichten aus Beruf und Freizeit und von der letzten Urlaubsreise waren an der Reihe, weil alles andere abgegrast war, pflegte meine Frau dazwischenzurufen: »Aber das hast du beim letzten Mal ganz anders erzählt. Außerdem war es so und so und nicht anders.«

»Der eigentliche Clou kommt ja erst noch«, werfe ich ein.

»Ja, ja! Sie kennen die Geschichte, vermute ich wenigstens. Unser Chronist ist mit unbekanntem Ziel verreist, hat zuvor allerdings alle belastenden Quellen durch den Schredder geschickt. Dann passiert einige Zeit nichts, bis ein pensionierter Realschullehrer beim Bürgermeister vorstellig wird. Der klassische Heimatforscher, der jeden Weg und Steg in seiner Gegend kennt, steht in der Tür: verschroben, kompetent, mit Trachtenjacke und Jägerhut und mit allen Wassern gewaschen.

Während der Bürgermeister die behutsam vorgetragenen Bedenken flott vom Tisch wischt, gibt der Heimatforscher hartnäckig zu bedenken, dass sein Spezialgebiet Stadtbrände im vorindustriellen Zeitalter seien, speziell im norddeutschen Raum, und dass es jenen ausführlich beschriebenen Brand vom 6. Juni 1799 definitiv nie gegeben habe.

Kurz und gut: Die Sache wird publik, der Heimatforscher zum gefragten Gesprächspartner von Kommunalpolitikern und Presseleuten. Schließlich kommt der Bürgermeister nicht daran vorbei, die Chronik einem Experten des Landesarchivs vorzulegen, der die Fälschung bestätigt. Der Eklat ist perfekt.«

»Noch nicht ganz«, wende ich ein. »In der örtlichen Buchhandlung findet die Chronik in den kommenden Monaten einen unerwartet großen Absatz, was die Presse zunächst damit begründet, dass eine solche Fälschung letztlich auch ihren Sammlerwert besitze. Doch das ist nicht die Erklärung. Die Chronik findet mehr und mehr Leser, die stolz berichten, sie hätten das Buch mit Gewinn gelesen. Endlich erfahre man, was sich die letzten Jahrhunderte im Ort ereignet habe. Und trotz aller Fehler (wo kämen die denn nicht vor) biete das gelungene Werk viele Informationen und sei spannender als der frühere Unterricht des besserwisserischen Realschulpaukers.«

Petersen kippt seinen Aalborg hinunter und sieht mich spöttisch an. »Ich hoffe, dass Sie nicht in einen solchen Konflikt von Dichtung und Wahrheit geraten. Ich wohne seit ewigen Zeiten in Neustadt. Mir würden Sie nichts vormachen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werfe ich vor der Drucklegung einen Blick ins Manuskript. Verstehen Sie das nicht als Misstrauen. Doch Kommunalgeschichtsschreibung ist manchmal schwieriger zu betreiben als die Geschichtsdarstellung auf nationaler Ebene.«

»Ich erwarte Ihre kritische Begutachtung mit klopfendem wie freudigem Herzen.«

»Vor allem behandeln Sie die letzten sechzig Jahre nicht so stiefmütterlich. Die Nazis dürfen nicht verschwiegen werden, das ist klar. Die haben sich mit ihren zwölf jämmerlichen Jahren einen festen Platz in der Geschichte der letzten tausend Jahre gesichert. Ebenso unverzichtbar ist das Kaiserreich. Ob Feuerwehr, Schützen-, Gesangs- oder Sportverein – sie haben alle ihre Wurzeln in der guten alten Zeit. Die Leute wollen Groß- und Urgroßvater in Uniform und Pickelhaube sehen. Was kucken Sie zur Tür? Haben Sie Angst, dass uns jemand hört?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich lausche Ihren Ausführungen, die ich an Ihrer Stelle bei der Präsentation meines Buches nicht wiederholen würde.«

»Wird schon nicht passieren, denn ich gehe davon aus, dass Sie mir die Rede schreiben werden. Oder ist das zu viel verlangt?«

»Abgemacht!«

»Prosit! Was ich aber sagen wollte: Ist der Wiederaufstieg nach 1949 nicht ebenso wichtig? Das, was man zu Recht als Wirtschaftswunder tituliert hat, waren doch ebenso verrückte wie erfolgreiche Jahre. Die kann nur einer schlechtreden, der sie nicht miterlebt hat. Die 60er sind mehr als APO, Rudi Dutschke, Vietnam-Krieg, Pille und Gruppensex.

Sie grinsen, aber Spaß beiseite. Manchmal denke ich, wir waren damals weiter. Wenn wir heute etwas von diesem 60er-Geist hätten: von der Aufbruchsstimmung, dem Glauben an die Zukunft und dem Vertrauen in Technik und Fortschritt! Wann sind die früher nicht zu befahrenden Feldwege asphaltiert worden? Wann wurde die Kanalisation für die gesamte Stadt fertig? Ebenso der Bau der Kläranlage. Vom Neubau des Gymnasiums will ich gar nicht reden. Wir haben drei Gewerbegebiete, fünf Neubaugebiete geschaffen. Das sind doch Errungenschaften, die irgendwie gewürdigt werden müssen.«

»Ich stimme Ihnen zu. Aber wo bleibt der Mensch bei so viel Daseinsvorsorge?«

»Das ist eine andere Frage. Da müssen Sie einzelne Familiengeschichten ausleuchten.«

»Die ewigen Großbauern- und Handwerkerdynastien.«

»Sind die etwa nicht erwähnenswert?«

»Ich meine die normalen Menschen, die hier lebten oder leben mussten. Die hier scheiterten oder von bestimmten Leuten zu Fall gebracht wurden. Für die Neustadt an der Bille nichts Erinnerungswürdiges hat. Wenn man auf eine bedrückende Jugend zurückblickt, ist das immer an eine Zeit wie an einen Raum gekoppelt. Das müsste der Geschichtsforscher freilegen. Einer unserer bedeutenden Kommunalhistoriker hat in diesem Zusammenhang von der Rückkehr des Menschen in die Geschichtsschreibung gesprochen. Das war 1993. – Mir fällt der Name Busch ein, der langjähriger Direktor des Gymnasiums war. Hat es seinerzeit nicht so etwas wie einen Fall Busch gegeben?«

»Mein lieber Schreiber, nun machen Sie bloß kein neues Fass auf. Das hat damals viel Wirbel gegeben, interessiert heute aber niemanden mehr. Lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Das Wirtschaftswunder ist wichtiger!«

»Und dann stößt man immer wieder auf den Namen Osswald …«

»… ist ein ehrenwerter Mann, hat als Unternehmer, Kommunalpolitiker und Investor viel für diese Stadt getan. Dabei sollte es bleiben. Treten Sie bloß keinem allzu doll auf die Füße. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von einflussreichen Politikern, die würden Sie lieber heute als morgen loswerden. Ein Chronist lässt sich gut einsparen. Das geht ratzfatz, und Sie sitzen wieder in der Schule, aus der ich Sie damals befreit habe.«

Petersen gegangen, die Aalborg-Flasche leer. Der Abendhimmel tiefschwarz, der Mond hinter Wolken verborgen – ich bin wahrscheinlich mal wieder der Letzte im Haus. Alles kein Grund, mich zu beneiden.

Paula packt aus

[NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]

Ich hielt am ersten Sonntag des Monats meinen üblichen Vortrag im großen Speisesaal des Seniorenstifts. Mittels einer Power-Point-Präsentation unternahm ich auch dieses Mal virtuelle Ausflüge in die Stadtgeschichte. Am Ende der gutbesuchten Historischen Matinee beantwortete ich Fragen und kommentierte ergänzende Bemerkungen, insbesondere die älterer Herren, die meine Veranstaltungen gern als Gelegenheit nutzten, sich einmal ungebremst reden zu hören.

Das alles erforderte viel Vorbereitung und ging zu Lasten meiner Chronik. Auf der anderen Seite war schon so manches historische Juwel zutage gefördert worden, das meine Arbeit bereicherte. Dieses Mal war mir eine ältere Frau aufgefallen, die mich kritisch zu mustern schien, sich aber an den Gesprächen nicht beteiligte. Erst als ich meine Sachen schnell zusammenpacken wollte, denn es roch schon nach Vorsuppe und die Tische um uns herum waren bereits eingedeckt, trat sie an mich heran.

Ob ich einen Augenblick Zeit hätte. Ihr Name sei Paula Adelstorff, sie könne mir wichtige Informationen über Direktor Traugott Busch liefern. Sie sei mit dessen Sohn Konrad verheiratet gewesen. Ich hätte Traugott zwei-, dreimal erwähnt. Da gäbe es noch sehr viel mehr zu sagen.

Ich hatte meine Packerei unterbrochen und teilte ihr mit, dass ich seit einiger Zeit auf der Suche nach einschlägigen Unterlagen sei. Wenn sie mir dabei helfen könne, käme ich einen großen Schritt weiter.

Wir verabredeten den kommenden Donnerstag. Ich stand pünktlich vor einer der Villen in der Bismarckallee, unserem Preußenviertel, das von Moltke, Roon, Wrangel und anderen Größen unserer Militärgeschichte kündete. Ich wurde von meiner Gastgeberin mit einer liebenswürdigen Geste hereingebeten. Wie es meine Art ist, nahm ich trotz einer freundlichen Aufforderung nicht gleich Platz, sondern sah mich um und entdeckte auf diese Weise im Bücherregal ein Foto, das einen Mann mittleren Alters zeigte.

»Das ist er!«, rief Frau Adelstorff. »Kennen Sie die Aufnahme? Es zeigt ihn gewissermaßen auf der Höhe der Macht, Mitte der Sechzigerjahre. Ich glaube allerdings, das Foto hat Seltenheitswert. Ich wüsste niemanden, der eine Kopie davon besitzt. Ja, wenn Hermann noch etwas dazu sagen könnte, Hermann Schrotmüller, der die Schule abbrach, um Fotograf zu werden. Das hing mit seinem Vater zusammen, der ganz plötzlich verhaftet wurde. Schreckliche Geschichte. Sollte man vielleicht gar nicht wieder aufrollen.«

»Erstaunlich«, fügte ich hinzu, wobei ich meiner Gastgeberin bis in die Küche gefolgt war.

»Ich glaube, es lag an seinem fehlenden Arm, den Traugott gern verdeckte. Er empfand das als Makel. Schöne Männer sind oft eitel. Es hat einige Jahre gedauert, bis er sich mit seinem Schicksal arrangiert hatte. Überhaupt liebte er das Leben. Trübsal blasen war seine Sache nicht. Er war ständig in Aktion. Stillstand verabscheute er.«

»War es eine Kriegsverletzung?«

»Ja, er kam armamputiert nach Hause und wurde zunächst von depressiven Stimmungen heimgesucht, die er aber schnell in den Griff bekam. Nehmen Sie doch Platz. Kuchen? Ich erhielt vor einigen Tagen einen Anruf von Konrad …«

»Ihrem geschiedenen Mann!«

»Ja, ich habe die Vermutung, das hängt mit Ihnen zusammen und dem, was über Sie in der Zeitung stand.«

»Was wollte er denn?«

»Konrad ist Eigentümer des Nachlasses. Er ist misstrauisch gegenüber jedem, der ihm in die Quere kommt. Er wollte immer die Geschichte seines Elternhauses schreiben, ist jedoch nicht weit gekommen. Zu viele Unterlagen sind im Laufe der Jahre verschwunden. Zudem schien Konrad der Auffassung zu sein, dass er sich im alleinigen Besitz der historischen Wahrheit befände. Er kann sehr brüsk werden, wenn man ihm zu nahe kommt.«

»Dann will ich ihn lieber nicht behelligen.«

»Gehen Sie nur! Er ist ein schwieriger Zeitgenosse, Künstler eben. Er wird sich am Ende über Ihren Besuch freuen. Er schwärmt leidenschaftlich für die Musik der Sechzigerjahre, ich meine natürlich die Popmusik. Wenn Sie da ein wenig mitschwärmen, haben Sie schnell einen neuen Freund gefunden.«

Wir sprachen ausführlich über ihren Schwiegervater, den sie nie richtig kennen gelernt hatte, dem sie aber eine unüberhörbare Verehrung entgegenbrachte. Die trat immer wieder hervor, wenn wir am Couchtisch über Eck Fotoalben durchblätterten und ich in den Dunstkreis ihres eleganten Parfüms geriet.

Meist waren es postkartengroße Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Viele Fotos zeigten den Neubau des Gymnasiums, ein modernes, dreistöckiges Flachdachgebäude, so dass ich mir die Bemerkung gestattete, das sei ja Bauhaus-Architektur in Reinkultur.

Frau Adelstorff stimmte lebhaft zu: »Er hat sich um alles selbst gekümmert. Als er hörte, dass in mehreren Städten Deutschlands solche Schulbauten existierten oder sich in der Planung befänden, sind die extra in den Sommerferien dorthin gefahren. Am liebsten wäre er wohl nach Dessau gereist, um sich ein Bild zu machen. Aber das war zu kompliziert. Stellen Sie sich vor: Ein westdeutscher Beamter in Führungsposition besucht die DDR. Wir sagten damals aber nur Zone und sprachen von Pankow, wenn wir die ostdeutsche Regierung meinten. Wir befanden uns noch mitten im Kalten Krieg. Die da drüben waren überhaupt nicht anerkannt. Man verdächtigte ihn ohnehin, ein Linker zu sein.«

»Sie sagten, die seien in den Sommerferien losgefahren.«

»Nun hören Sie mal! Das ist doch sonnenklar. Mit Brenda ist er los, und einige Klatsch- und Tratschtaschen sind auch dahintergekommen. Gleich ging es wieder hoch her in unserem schönen Neustadt. Ein Schulleiter, der ein außereheliches Verhältnis zu einer – sagen wir mal höflich – ungewöhnlichen Frau hat. Das war schon ein heißes Eisen. Es gibt nämlich auch Fälle, da wurden Schulleiter vom Dienst suspendiert, wenn sie gegen die Moral verstießen. Oder gegen das, was einflussreiche Kreise darunter verstanden. Ich erinnere Sie nur an den populärsten Showmaster dieser Jahre, den Holländer Lou van Burg, der siebzig Prozent Einschaltquoten mit seiner Unterhaltungssendung erreichte. Doch die ZDF-Größen stießen sich an seinem Privatleben. Van Burg lebte von seiner Frau getrennt, hatte mit seiner neuen Lebensgefährtin zwei Töchter und leistete sich eine Affäre mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau, die ein Kind von ihm erwartete. Das war den ZDF-Verantwortlichen zu viel, sie schmissen den Mann fristlos raus, weil er moralisch nicht mehr tragbar war.

Hier haben Sie eine Aufnahme vom Rohbau, den er akribisch überwacht hat. Viele Aufnahmen aus diesen Jahren stammen von Hermann – ein Name, wie gesagt, den Sie im Auge behalten sollten. Er hat später als Fotograf Karriere gemacht. Das Tusculum, das Restaurant an der Marktstraße, gehört der Familie noch heute.«

»Was ist das!«, rufe ich begeistert. »Ist das nicht das alte Schulgebäude, das nach dem Umzug in die Sachsenwaldstraße abgerissen wurde? Auch davon gibt es nur wenige Aufnahmen. Das war ehemals ein alter Kasernenbau, der mit Abzug der Garnison leer stand und zum Standort des alten Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums wurde. Hier hat Preußen sich nicht mit Ruhm bekleckert. Die Lichtverhältnisse waren katastrophal. Die Schüler haben sich in dem Gemäuer, das vom Schwamm befallen war, die Augen verdorben. Und die Knochen ebenso, denkt man nur an das Mobiliar. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden Forderungen laut, das Gebäude abzureißen. Traugott Busch brachte die Kraft auf, bei den zuständigen Landes- wie Kommunalbehörden, den Parteien und den einflussreichen Persönlichkeiten einen Neubau durchzusetzen. Es war ein Kampf, der seine Spuren hinterließ.« Ich warf einen Blick auf das Foto, das sie vom Regal genommen hatte. »Aber Sie beschreiben einen Helden, der sich große Verdienste um das Gemeinwohl erworben hat. Man müsste eine Straße nach ihm benennen.«

»Ist doch versucht worden. Die Sozialdemokraten in der Stadtversammlung haben mehrere Anläufe unternommen. Doch es reichte, dass der Vorstoß von der SPD kam. Schon hatten gewisse Kreise ihre Vorbehalte. Zur Not stocherte man in seinem Privatleben herum. Brenda lieferte den Stoff, der nötig war, einen hervorragenden Menschen zu desavouieren.«

Wir schwiegen einen Moment. Dann erhob sie sich, winkte aber ab, als ich ebenfalls aufstand.

»Warten Sie, ich bin gleich wieder zurück«, rief sie mir zu und verschwand im angrenzenden Raum, vermutlich dem Büro. Nach etlichen Minuten kehrte sie zurück. »Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ, aber ich glaube, Sie werden einigermaßen entschädigt.«

Sie hatte einen Karton dabei, in dem einst Schuhe gelagert haben mochten. Als sie den Deckel abnahm, kamen unzählige handgeschriebene Blätter zum Vorschein. Paula sah mich erwartungsvoll an: »Greifen Sie ruhig zu. Was Sie in Händen halten, ist nichts Geringeres als der Briefwechsel zwischen Traugott und Brenda.

Wenige Wochen vor unserer Scheidung, will sagen, dem damit verbundenen Auszug, hatten wir einen Wasserschaden im Keller. Wir – das heißt, vorrangig ich – trugen alles nach oben, was evakuiert werden konnte. Konrad war auf Konzertreise, während ich mit Hilfe einiger Nachbarn rettete, was zu retten war. Die Briefe waren teilweise in einem erbärmlichen Zustand. Ich trocknete die beschädigten Blätter und begann nach dieser mühevollen Behandlung mit dem Studium der Papiere.«

»Es geht doch nichts über Briefquellen«, sagte ich. »Damals hat man sich noch geschrieben, obwohl viele Haushalte schon einen Telefonanschluss hatten. Fasse Dich kurz, stand an jeder Telefonzelle. Das Telefon ist der größte Feind des Historikers. Heute kommen E-Mails und SMS hinzu. Sie verhindern das Generieren brauchbarer Texte, die noch in zweihundert Jahren von unserer Gegenwart künden.«

Sie sah mich mitleidig an. »Aber wenn wir den ganzen Blödsinn archivieren, den wir tagtäglich produzieren … Nehmen Sie den Krempel mit und werten Sie ihn meinetwegen aus.«

»Und was sagt Konrad dazu?«

»Er weiß nicht, dass ich die Briefe habe. Er geht davon aus, dass sie alle entsorgt wurden. Als er von seiner Tournee heimkehrte, waren sie jedenfalls weg. Hinzu kommt, dass er sich all die Jahre nicht sonderlich um den schriftlichen Nachlass seiner Eltern gekümmert hat. Ich bin froh, dass wir jetzt in Ihnen jemanden gefunden haben, der all den Geheimnissen einmal vorurteilsfrei auf den Grund geht. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand.«

Ich saß tagelang an der Entzifferung der Texte, deren Inhalt oft nur mit der Lupe erschlossen werden konnte. Ich hatte die Briefe eingescannt und konnte die Schrift entsprechend vergrößern, wodurch ebenfalls Unklarheiten beseitigt wurden. Zunächst erstellte ich Regesten, schrieb wichtige Informationen in eine Textdatei. Als die Sichtung abgeschlossen war, wollte ich einen Text schreiben, den ich als Baustein für eine mögliche Lebensgeschichte Traugott Buschs verstand, des Helden meiner Kommunalbiographie. Ich hatte die Geschichte vollständig vor Augen, sah die Bilder in mir wie die eines Films. Ich ließ den Film ablaufen, wenn ich nicht schlafen konnte, und überarbeitete ihn auf längeren Spaziergängen. Meine Geschichte war inhaltlich und stilistisch gelungen. Sie hatte nur den einen Nachteil: sie existierte allein im Kopf, ich hatte noch keinen einzigen Buchstaben zu Papier gebracht …

Der die das Dingsda …

[NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]

… Es klemmte, sträubte sich, wollte nicht hinaus. Es klang im nächsten Augenblick nicht, war banal, bedrückte mich, stellte mich infrage, forderte mich auf, es ein andermal zu versuchen. Dabei leuchtete es im Kopf hell und klar vor mir auf …

… Dann schrieb ich:

Rosalie saß auf dem alten Sofa und stopfte Strümpfe. Bisweilen unterbrach sie ihre Tätigkeit und streichelte den alten Kater, der neben ihr lag und sich eng an sie geschmiegt hatte. Streicheln und Kraulen hatten zur Folge, dass der alte Hinz – so hieß der Kater – noch heftiger schnurrte als sonst. Die alte Dame überlegte: Hier bin ich nun zur Ruhe gekommen. Vor ’33 habe ich in Berlin, Wien und Zürich auf der Bühne gestanden, da war an Ruhe oft nicht zu denken. Der brutalste Ruhestörer war dieser Hitler. Wo der auftauchte, war es vorbei mit der Ruhe. Erst kamen die Eroberungen, und als es mit denen nicht mehr ging, die Zerstörungen, wobei die Bomben aus heiterem Himmel das Schlimmste waren. Man muss ja bloß in die S-Bahn steigen und nach Hamburg hineinfahren. Sind doch keine zwanzig Minuten, und man ist mittendrin in der Zerstörung, in den Ruinen, unter den Trümmerhaufen. Es sollen Tausende sein, die da noch drunter liegen, angefressen von den Ratten, skelettiert, mumifiziert, eingeäschert.

Die Putzfrau, die jeden Mittwoch kam – mehr konnte sich Rosalie von Adelstorff nicht leisten –, meldete einen Besucher, einen Herrn Traugott Busch. Und kaum stand der in der Tür, dachte Rosalie: Mein Gott, wie schön er ist, und noch so jung. Er ist mindestes eins fünfundachtzig. Dazu das volle blonde Haar und die strahlend blauen Augen. Ein germanischer Recke. Den wird Brenda sich hoffentlich nicht entgehen lassen.

Traugott Busch machte eine knappe, korrekte Verbeugung und dankte für den Platz, den man ihm angeboten hatte, einen Sessel, der ebenso alt war wie das Sofa und den jungen Mann tief sinken ließ.

Der stellte sich vor: Jahrgang ’20, Teilnehmer am Westfeldzug, Verwundung. Die Verwundung musste er nicht ausführlicher erläutern. Dass der linke Arm fehlte, war leicht auszumachen. Besonders an Tagen wie dem heutigen, wenn es warm war und die Männer kurzärmlige Hemden trugen. Nach der Genesung wurde der junge Leutnant abkommandiert zum Heeresamt für Unterrichtsfragen. Nach Wiedereröffnung der Hamburger Universität begann er ein Studium der Germanistik und Geschichte sowie Philosophie. Geschichte vornehmlich bei Professor Fritz Fischer, den er ausführlich mit Lob bedachte. Er, Busch, würde auch weiterhin gern in Hamburg wohnen, aber da seien günstige Zimmer für Studenten oder angehende Lehrer nicht zu bekommen. Deshalb …

Rosalie nickte eifrig, insbesondere bei der Nennung von Namen, als wollte sie den Eindruck vermitteln, sie kenne all das und diesen und jenen obendrein. Kurzum, ihr sei es nicht viel besser ergangen: »Ja, ja, junger Mann, mir hat das Leben nichts geschenkt. Mit den Großen und am Ende mit den ganz Großen habe ich auf der Bühne gestanden, aber es sollte nicht sein.«

Sie ließ offen, was nicht sein sollte. Denn sie liebte das Vage, Geheimnisvolle und sprach, wenn ihr danach war, gern in Andeutungen und von schicksalsmächtigen Kräften, denen wir alle unterworfen wären.

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Brenda stand im Raum. Ihr Blick fiel auf Busch. Der sprang auf und lieferte seine korrekte Verbeugung ab. Dann standen sich beide gegenüber – Traugott fassungslos und glücklich. Denn das war die Frau, die er in vielen Träumen vor sich gesehen hatte. Eine innere Stimme verkündete: Das ist sie, du hast sie gefunden. Gott hat deine Träume nicht übersehen, auch wenn er es gerade in diesen Zeiten mit unendlich vielen Träumen zu tun hat. Aber Gott hat immer Zeit, das unterscheidet ihn von den Menschen.

Rosalie bat ihre Tochter, einige Minuten zu bleiben. Herr Busch sei auf der Suche nach einem Zimmer, und in Hamburg sei nichts zu bekommen. »Deshalb hat er auf unsere Anzeige hin angerufen …«

Busch räusperte sich. »Es hängt natürlich auch von der Höhe der Miete ab. Mir sind da enge Grenzen gesetzt.«

Brenda, ganz in Abwehrhaltung, denn auch sie war von dem Mann und der Begegnung auf eigenartige Weise berührt, sah ihn herausfordernd an: »Darüber machen Sie sich keinen Kopf. Uns liegt daran, ordentliche Leute ins Haus zu bekommen. Jungen Männern, die das Vaterland verteidigt haben, machen wir einen Sonderpreis. Den Garten dürfen Sie mitbenutzen …«

»Und keine Damenbesuche!«, rief Rosalie mit gequälter Stimme dazwischen. »Jetzt, wo wir einen Katholiken zum Bundeskanzler bekommen haben, wird wieder auf die Moral geachtet.«

Busch zuckte leicht zusammen, überlegte kurz, ob er gestehen sollte, dass er aus dem streng katholischen Münster stammte. Aber er zog es vor zu schweigen. Katholiken waren im lutherischen Holstein nicht beliebt. Es gab Schilder an Gartenpforten: An Flüchtlinge und Katholiken wird nicht vermietet. Auch Adenauer, dem es immerhin gelungen war, Protestanten und Katholiken in einer christlichen Partei zusammenzuführen, wurde zunächst argwöhnisch betrachtet.

Traugott sagte: »Wie ich im Radio hörte, ist er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt worden. Das wird seine eigene gewesen sein.«

Brenda schien es eilig zu haben. Rosalie erhielt ein Küsschen. Kater Hinz ebenfalls.

»Bleib ein wenig«, bettelte Rosalie und beobachtete Busch dabei genau. »Andauernd bist du unterwegs. Und abends bist du auch immer auf und davon. Das ziemt sich nicht für eine junge Dame.«

Brenda lachte. »Einer muss ja das Geld verdienen. Unterhalte dich mit unserem neuen Mieter ein bisschen und zeige ihm sein Zimmer.« Dann wandte sie sich an Busch: »Wo arbeiten Sie eigentlich?«

»Ich studiere, Fräulein von Adelstorff.«

»Das von können Sie getrost weglassen. Lediglich Mutter legt Wert auf den Adel, von dem niemand weiß, wie wir überhaupt dazu gekommen sind. Sie studieren also. Aber das macht nicht satt, und die Miete kann man davon erst recht nicht bezahlen.«

Traugott, der sich immer stärker in den Gedanken hineinschraubte, dass diese hinreißende junge Dame genau die Frau fürs weitere Leben sein könnte, appellierte an sein Selbstbewusstsein, dieses Verhör möglichst bald zu beenden. Er überlegte, ob er Brenda einen Spaziergang durch den bereits erwähnten Garten vorschlagen sollte. Doch kaum hatte er sich innerlich ein wenig in Position gebracht, schlug die nächste Frage ein.

»Was studieren Sie?«

Rosalie rief: »Aber das hat er doch schon erzählt! Germanistik bei Professor Fischer. Hörst du denn gar nicht zu!«

»Mir hat er das noch nicht erzählt, Mama, und ich habe ebenfalls ein Anrecht darauf, so wichtige Dinge zu erfahren.«

Traugott lächelte. »Geschichte und Deutsch, und zusätzlich noch Latein und Philosophie im Nebenfach. Aber angesichts der vielen gefallenen, verwundeten oder mit Berufsverboten belegten Lehrer wird es schwer sein, den Bedarf an Kollegen zu decken. Hinzu kommt die schlechte Bezahlung. Sie lässt die Gründung einer Familie kaum zu.«

»Um Gottes willen!«, rief Brenda, und Traugott musste davon ausgehen, dass die Empörung nicht gespielt war. »Da wird man ja zum Hungerleider. Wo arbeiten Sie denn richtig?«

»In einer Druckerei, Fräulein Adelstorff.«

Brenda sah ihn erstaunt an. »Und das geht mit diesem Dingsda?« Sie führte ihre rechte Hand zu ihrem linken Oberarm, etwa dahin, wo bei Busch der Armstumpf nur mühsam vom kurzärmligen Hemd verdeckt wurde. »Da laufen Sie ja nur mit halber Kraft.«

»Ich arbeite in einer Druckerei«, erklärte Traugott leicht gereizt. »Und zwar in der Redaktion. Meine Arbeit als Korrektor wird sehr geschätzt.«

»Interessant«, sagte Brenda, »alles sehr interessant, was Sie sagen. Ich glaube, ich zeige Ihnen mal den Garten. Wenn das Wetter besser wird, dürfen Sie sich gern einen Liegestuhl ausleihen. Ich habe früher fünfzig Pfennig dafür genommen. Man muss immer sehen, dass etwas in die Kasse kommt.« Sie sah ihn freundlich an. »Ich fahre heute Abend noch in die Stadt. Wenn ich Sie mitnehmen soll, sagen Sie nur Bescheid.«

»Sie haben einen Führerschein?«

»Wenn man einen Wagen besitzt, ist das durchaus sinnvoll.«

»Aber ist es überhaupt erlaubt, dass Sie als Frau, ich meine …«

»Onkel Tiberius hat mir eine besondere Fahrerlaubnis besorgt. In solchen Sachen ist er unschlagbar.«

»Entschuldigen Sie mein Erstaunen. Aber dass eine Frau mit einem Auto durch die Gegend fährt, ist doch ziemlich ungewöhnlich.«

»Da mögen Sie recht haben. Aber haben Sie bei der Wehrmacht keinen Führerschein gemacht?«

»Ich stand kurz vor der Fahrprüfung, als dieses Dingsda mein Leben gründlich veränderte.«

Beide lachten, und Traugott nahm an, das Eis sei nun gebrochen. Er sollte sich irren. Brenda erklärte ein wenig umständlich: »Nicht, dass ich Ihnen zu nahe treten möchte, aber als Frau – nehmen Sie das bitte nicht persönlich – könnte ich mich niemals an so ein Dingsda gewöhnen. Wenn Mann und Frau zusammen sind, ich meine richtig zusammen, im dunklen Schlafzimmer … Sie wissen, was ich meine … ich würde jedes Mal einen gehörigen Schreck kriegen, wenn der Dingsda mir zu nahe käme. Bitte nehmen Sie mir das nicht übel. Ich kenne Frauen, denen das gar nichts ausmacht und die auch keinen Aufschlag verlangen. Aber bei mir ist das anders.«

Traugott schluckte mehrere Male und sah Brenda tief in die Augen. »Sie haben einen sehr schönen Garten. Bitte teilen Sie Ihrer Frau Mutter mit, dass ich das Zimmer sofort mieten möchte. Ich zahle im Voraus. Ihr Angebot, mich im Auto mitzunehmen, nehme ich ebenfalls gern an, da ich den Bus nach Wandsbek nicht mehr bekommen werde.«

Mit einer gewissen Kälte fügte Brenda hinzu: »Sie können mir die Miete bar bezahlen. Sie erhalten umgehend eine Quittung. Oder Sie überweisen den Betrag auf mein Konto. Mutter besitzt sowas nicht.«

»Haben Sie denn ein eigenes Konto?«

»Ich habe freie Verfügungsgewalt über mein Konto, auch wenn es offiziell auf Onkel Tiberius’ Namen eingerichtet ist.«

Traugott sah die junge Frau länger an, als es geboten war. Sie hatte unglaublich flinke Augen, war überhaupt drahtig und machte einen sportlichen Eindruck. Dazu das Mädchengesicht, der schlanke, elastische Körper, und trotzdem diese volle Brust, die wie ein optischer Magnet wirkte.

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