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Lutz O. Korndörfer

Gulaschpuzzle

Roman

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2019

Lektorat: Markus Lorenz

Satz: Gaja Busch

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-41-3
eISBN 978-3-947373-46-8

www.dittrich-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
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Inhalt

1. Mach sitz!

2. Startup Relation Management

3. Honecker, Hrubesch, Hölderlin

4. Die Furzferkel

5. Hier gab’s doch immer Rinderroulade

6. Coco & Schlampi

7. Wer ist Tom?

8. Hirnflucht

9. Detektei Hasenclever

10. Logen-Peepshow

11. Neues vom Kuppel-Komplott

12. Gonzo

13. Tessa

14. Bon ohne Eimer

15. AEIU ohne O

16. Die Blut-Marie

17. Im Land der Riesenmücken

18. Wer ist Tessa?

19. Little Joe schnappt zu

20. … dann waren es Aliens

21. Norbert Pawliczeks edle Spende

22. Martha, der Engel

23. Ein schöner Traum

1. Mach sitz!

Alles ist grün.

Nun, bei einer Wiese ist das nichts Außergewöhnliches. Aber bei Mozzarellabäumen? Da sollten doch wohl nur die Blätter grün sein, nicht der Stamm und die Äste. Also nicht der ganze Baum. Das finde ich eigenartig.

Ich weiß nicht einmal, warum die Bäume so heißen. Es hängt schließlich kein Mozzarella dran, noch nicht mal verpackt, in Tüten. Überhaupt habe ich noch nie irgendetwas daran hängen sehen. Wieso also dann dieser Name? Ein einsamer Reiter hat ihn mir einmal genannt, seitdem weiß ich ihn. Präziseres Wissen hatte der Reiter allerdings nicht. Vielleicht ist das auch alles Unsinn. Typen, die ständig allein auf einem Pferd sitzen, reden viel, wenn der Tag lang ist.

Was? Oh, Entschuldigung. Habe ich nicht gesagt, dass ich träume? Ja, ich träume gelegentlich, und zwar fast immer von meiner Wiese und den Bäumen. Den grünen Mozzarellabäumen. Manchmal klettere ich auf einen rauf und schaue in die Ferne.

Man sagt ja, Träume seien das Spiegelbild der Seele. Oder sogar des Lebens. Ich glaube mittlerweile, das Leben ist vielmehr ein Spiegelbild unserer Träume. Und wir müssen aufpassen, dass wir uns auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Realität zurechtfinden. Dass wir nicht das schmale Band verlieren, die Grenze, an der das eine aufhört und das andere anfängt.

Lange Zeit habe ich gedacht, das ganze Traum-mit-Baum-Ding wäre langweiliger Käse. Ich hätte nicht geglaubt, jemals in eine Lage zu geraten, in der ich froh wäre, von nichts weiter als einer langweiligen grünen Wiese zu träumen, oder ruhig auf einem Baum zu sitzen, von dem es heißt, es wüchsen Molkereiprodukte daran.

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»Pass doch auf, du Muschi!«

Ich schreckte hoch. Durch die regennasse Scheibe sah ich Schemen von roten und weißen Lichtern in der Dunkelheit und rekonstruierte nur mühsam die dazugehörigen Automobile, Amöben, deren Umrisse miteinander verschmolzen. Nur kurz waren sie trennscharf auszumachen, wenn der Scheibenwischer eine gebirgsseegroße Menge Wasser zur Seite geschaufelt hatte, um sogleich erneut flickernd ineinander zu verbreien. Ich erkannte Menschen, die versuchten, den gallertartigen Amöbenhüllen ihre Richtung aufzuzwingen.

»Was ist los?«, krächzte ich.

»Der bremst! Macht hier Stadtrundfahrt auf der Autobahn und bremst. Der Sepp! Unsere Klamotten! Die sind fast durch die Scheibe gerauscht.«

Boris war richtig sauer. Schwerfällig drehte ich meinen Kopf und blickte in den hinteren Teil des Kleinlasters. In der Tat war uns das Transportgut bedrohlich nahe gekommen. Einige Umzugskisten waren umgestürzt und ihr Inhalt nicht mehr aufgabengemäß interniert.

›Inkontinente Kartonagen‹, durchfuhr es mich. »Hier herrscht die pure Anarchie der Verpackungseinheiten.«

»Hä?«

»Die Meuterei hat begonnen. Mein Kapitän, ich bleibe bis zum bitteren Untergang an Eurer Seite.«

»Hör auf zu schwallen, schau lieber mal nach den Flaschen!«

Verschlafen kroch ich über die Sitzbank und tastete mich durch den Laderaum. Die Möbel und Kisten hatten sich selbständig gemacht und wahllos neue Kontaktpunkte gesucht. Ein leises Klirren verriet mir, dass ich mich an der richtigen Kiste zu schaffen machte. Behutsam wie ein Gehirnchirurg befreite ich das wertvolle Objekt aus der Umklammerung des aufsässigen Möbel-Pappe-Matsches.

»Bei der Krombacher Armee keine Verluste!«, rief ich nach vorne.

Boris gab einen Laut der Erleichterung von sich, um gleich einen weiteren Verkehrsteilnehmer auf eine Verfehlung aufmerksam zu machen.

»… blublublu … Arschgesicht!«

Leider hatte ich den Beginn dieser verkehrspädagogischen Supervision nicht mitbekommen, da mir gerade in diesem Augenblick eine Umzugskiste mit Töpfen von oben auf den Kopf gekracht war.

»Tom, alles in Ordnung?« Boris klang besorgt.

»Jajaja«, maulte ich und gab der renitenten Kiste einen Tritt, worauf sich ein Rudel Töpfe scheppernd im hinteren Teil des Transporters verlor.

»Wo sind wir eigentlich?« Mit einem Hechtsprung gelangte ich zurück auf den Beifahrersitz.

»200 Kilometer.«

Boris war, außer es betraf Autofahrer, Politessen oder kleine kläffende Hunde, ein eher wortkarger Kollege. Nicht nur war dies die kürzestmögliche Antwort – sie beantwortete auch gleich meine nächste Frage. Leute, die uns nicht kannten, waren manchmal etwas verwirrt, wenn sie unserer Konversation folgten. Aber so war Boris: schnörkellos, direkt, auf den Punkt. Man könnte auch sagen: maulfaul. An seinem Körper hatte die Gemütlichkeit bereits erste Spuren hinterlassen. Die Haut spannte sich an den üblichen Problemstellen. Zusammen mit seinen halblangen schwarzen Haaren, die strähnig wie ein Topf Schnittlauch aus seinem großen Schädel herauswucherten, gab ihm das einen gewissen alternativen Touch. Die Second-Hand-Militärklamotten verliehen ihm jedoch die notwendige Portion Rambo, um nicht gleich mit Körnerstampfern und Saftpressern ethnisch vermischt zu werden.

»Da häng ich mich ran.«

Boris war auf einen orangefarbenen LKW aufgefahren. Und zwar so knapp, dass ich den etwa briefmarkengroßen Aufkleber mit dem Spruch »Ich bremse auch für Frauen« ohne Sehhilfe lesen konnte. Respekt. Feminist alter Schule.

»Ist das nicht ein bisschen knapp?«

»Windschatten fahr’n. Müssen Sprit spar’n.«

»Und wenn der bremst?«

»Der bremst nicht!«

»Ach nein?«

»Nein.«

Boris’ Zuversicht beruhigte mich nicht wirklich. Beifahrenderweise mit der Nase an einer orangeroten Wand zu kleben, machte mich nervös. Ich schloss die Augen und versuchte mich aus dem Wagen hinauszudenken. Versuchte mir vorzustellen, was mich in Berlin erwarten würde.

Ich war erst einmal dort gewesen, 1983 mit meinen Eltern. Da stand die Mauer noch, und ich fragte mich, warum die uniformierten Männer in den Grenzhäuschen so komische Frisuren trugen. Mein Vater war wenig begeistert, als ich diese Frage von der Rückbank aus laut und vernehmlich ausformulierte und sein Wagen daraufhin komplett zerlegt wurde. Jetzt, 25 Jahre später, wollte ich in Berlin meinen Beitrag zur Marktwirtschaft leisten. Wurde auch Zeit, dass ich mich nach zwei abgebrochenen Ausbildungen und Jahren des konstruktiven Müßigganges in das Bataillon der redlichen Arbeitnehmer einreihte.

Ich hatte gerade einen Aushilfsjob als – Pause – »Target Promotor« eines Süßwarenherstellers geschmissen. »Target Promotor« hört sich zwar fast so urban trendy und nach massenweise Schotter an wie »Creative Director« oder »Head of Human Resources«, bestand aber in meinem Fall zumeist aus dem Auftragen lustiger Tierverkleidungen in Lebensgröße, um von der minderjährigen Target-Gruppe in Ladenpassagen verspottet zu werden. So zuletzt auf dem Parkplatz des REAL-Marktes in Bottrop und in Gestalt eines für Nussnougatriegel Reklame laufenden Drei-Meter-Bären (weil die ja so gerne Haselnüsse fressen!) mit 60 Grad Körpertemperatur, als Boris mit dem – Originalton – »Brüllerjob« um die Ecke kam.

Boris und ich kannten uns schon seit der Schulzeit in Duisburg. Die Lehre zum Groß- und Einzelhandelskaufmann hatten wir noch gemeinsam abgebrochen, dann hatte ich es in der Gastronomie versucht und war dem Ruhrgebiet treu geblieben, während er nach Berlin gegangen war, um Masseur und/oder medizinischer Bademeister zu werden. Zu seinem Glück kam der IT-Boom dazwischen, so dass er seine Leidenschaft für die Computer-Daddelei mit Hilfe aufgeblähter Aktiengesellschaften in aberwitzige virtuelle Geldmengen, Porsche und Ferienhaus verwandeln konnte. Dummerweise waren Aktien nur bedrucktes Papier und kurze Zeit später nicht einmal mehr dieses wert. Aus den materiell noch vorhandenen Zertifikaten rollte er sich ab und zu riesige Joints – die »New-Economy-Droge«, wie er es nannte.

Seit ein paar Jahren war er nun, laut Selbstauskunft, als freier Mitarbeiter der Import-Export-Branche, sprich Transporte, Entrümpelungen, Umzüge und so weiter, im Einsatz. Und so kam es, dass sich gegenwärtig mein kompletter Hausrat und ich in seinem Mercedes-Kleinlaster befanden, um in ein neues Leben voller richtiger Arbeit aufzubrechen.

Der Feminist vor uns verließ die Autobahn und steuerte die Zapfanlage eines Autobahnrastplatzes an. Boris blieb zentimeterdicht hinter ihm und hielt an.

»Was ist jetzt? Warum halten wir hier?«

»Der macht gutes Tempo, genau richtig, da bleib ich dran.«

»Du hast doch gesagt, wir hätten wenig Sprit. Tank doch was, dann können wir auch wieder ohne den Kasten da fahren.« Ich deutete auf den LKW.

»Noch Geld?«

Ich kramte in meinen Hosentaschen. 300 Euro. Die brauchte ich aber morgen früh als Kaution für die Wohnung, die Boris angemietet hatte. Da er aus seiner alten rausmusste, hatte er freundlicherweise angeboten, gleich für uns beide eine neue zu suchen.

»Ich hab noch acht Euro. Det lohnt doch nich«, bilanzierte Boris.

»Und jetzt?«

»Weiterfahr’n. Windschatten.«

»Und wenn der Sprit nicht reicht?«

»Der reicht schon.«

»Sicher?«

»Ja doch.«

Die orangefarbene Wand bewegte sich wieder und saugte uns zurück auf die Autobahn.

»Gib mal ’n Saft!«, verlangte Boris.

»Saft« war seit der Schulzeit unser Codewort für alkoholische Getränke, mit dem wir vor unseren Erzeugern das Ausmaß unseres Spirituosenkonsums verharmlosten. Das hatte eigentlich immer recht passabel funktioniert, bis zu dem Tag, als ich nach dem Genuss diverser Säfte nicht mehr in der Lage war, das Bett meines Jugendzimmers zu verlassen. Meine besorgte Mutter empfing den herbeigerufenen Arzt mit den Worten: »Der hat doch nur Saft getrunken.« Der Medizinmann war nicht auf den Kopf gefallen und diagnostizierte eine ausgewachsene Alkoholvergiftung, besaß aber die Größe, Mutter diese lediglich als Magen-Darm-Verstimmung zu verkaufen.

»Der hat doch nur Saft getrunken« wurde anschließend als Synonym für Vollrausch mit schwerer Übelkeit und/oder Erbrechen in unseren Sprachgebrauch übernommen.

Ich öffnete zwei Krombacher-Säfte und reichte Boris einen davon. Stumm salutierten wir und benetzten unsere durstigen Kehlen. Der Regen hatte nachgelassen. Ich öffnete das Seitenfenster und atmete die kalte Herbstluft ein. Es roch nach nassem Wald.

Plötzlich musste ich niesen und bemerkte ein unangenehmes Kratzen in meinem Hals. Ich schloss das Fenster und fluchte. Wie ich diese Erkältungen hasste! Wenn wir schon in der Lage waren, komplette Menschen zu klonen, warum hatte es noch keiner der armseligen Forscher geschafft, diesen lächerlichen Schnupfen auszurotten. Da müsste man doch nur ein bisschen am Erbgut dieser Erreger rumschrauben, und schon könnten denen kleine Popeye-Ärmchen mit Fäustchen wachsen, mit denen sie sich dann selbst gegenseitig so lange ins Gesichtchen schlugen, bis sie platzten. Ich grinste böse. Genau, das sollten diese Pfuscher machen, und nicht wehrloses Obst und Gemüse genmanipulieren oder Menschen in Reagenzgläsern vervielfältigen, um am Ende vielleicht sämtliche Zeugungsvorgänge abzuschaffen …

»Scheiße!«

»Was ist los?«

»Sprit ist alle.«

»Aber wir fahren doch noch.«

»Wir rollen.«

»Das ist doch scheiße jetzt!«

»Sag ich doch.«

Der Windschatten spendende Feministentransporter entfernte sich langsam wie ein großes orangefarbenes Schiff, das uns auf hoher See in einem Ruderboot zurückließ. Unser Wagen hoppelte auf den Standstreifen und kam mit einem hämischen Knirschlaut zum Stehen. Boris tippte genervt auf seinem Navigationsgerät herum und stieß unappetitliche Flüche aus.

»Vier Kilometer zur nächsten Tanke! Kommste mit?«

»Und wenn jemand die Sachen klaut?«, versuchte ich mich billig zu drücken.

»Klaut keiner!«

»Ja richtig. Genauso, wie der Sprit reicht.«

Boris warf mir einen vernichtenden Blick zu.

»Is’ ja gut, brauch das meiste davon sowieso nicht mehr«, seufzte ich.

Mit zwei Kanistern und diversen Säften bestückt machten wir uns auf den Weg. Es war halb elf Ende Oktober, dunkel und kalt. Die vorbeifahrenden Autos hatten offensichtlich ihren Spaß daran, uns mit Wasser vollzuspritzen. Ich hasste Laufen. Schon immer. Und heute besonders. Je länger wir marschierten, umso idiotischer kam mir dieser ganze Umzug mal wieder vor.

»Mitarbeiter bis 35 Jahre für außergewöhnliche Partnerschaftsagentur in Berlin gesucht. Voraussetzung: Gepflegtes und ansprechendes Äußeres, gute Umgangsformen und Führerschein Klasse drei«, hatte auf dem gescannten Ausschnitt aus dem Tipp gestanden, den mir Boris gemailt hatte. Ich hatte mich lange gefragt, ob sich dahinter wohl ein geheimes Programm verbarg, Menschenware in eine Stadt zu treiben, die sich in der letzten Zeit doch mächtig übernommen zu haben schien. Eine obskure Maklervereinigung, die, kaum dass ich meine Bewerbung geschickt hätte, schon mehrere tausend Euro Kopfgeld für mich einstreichen würde. Unnötig, zu erwähnen, dass ich Makler mochte wie Erkältungen. Allen Verschwörungstheorien zum Trotz siegte schließlich meine Neugier, und ich schickte meine Unterlagen in Sachen »Brüllerjob« in die Hauptstadt.

Die Altersanforderungen konnte ich mit 34,8 Lebensjahren ebenso knapp erfüllen wie die verlangten Umgangsformen. Mein Äußeres war überwiegend gepflegt, wenn ich es denn so weit kommen ließ, und mein Bewerbungsfoto ließ mich durchaus ansehnlich erscheinen. Schulterlange dunkelblonde Haare, deren Fransen ich mit Klebeband hinten an den Hals geklebt hatte, um ein seriöseres Bild abzugeben. Mit der Mode hatte ich es nicht so, das war mir zu anstrengend. Getreu dem Motto »Natürliche Schönheit kann durch nichts zerstört werden«, zehrte ich von meinen braunen Augen, den sportlichen ein Meter 90 mit Schuhgröße 45 und diesen Grübchen. Weiß der Henker, warum Frauen so was gut finden. Das waren doch nur Falten am Mund. Ich hatte schon überlegt, Schönheitschirurg zu werden und mich auf Grübchenimplantate zu spezialisieren. Zu guter Letzt: Den Führerschein hatte ich auch gerade wiederbekommen.

Dieses Leistungspaket, so hoffte ich, würde mir die gewünschte Aufmerksamkeit verschaffen. Und in der Tat: In einem knappen Telefonat schrie mir ein gewisser Norbert Pawliczek meine neue Bestimmung in die Gehörgänge.

»Komm’ Se her! Ick find Se sympathisch, junger Mann! Den Rest besprechen wa späta, wenn Se hier sin.«

Er erzählte noch einiges wirre Zeug und fragte, ob »er denn Montag in eener Woche« anfangen könne. Berliner nutzen gerne die dritte Person Singular, wenn sie zum Siezen zu cool und zum Duzen zu spießig sind. Klar könne »er«. Und als zwei Tage später der Vertragsentwurf im Briefkasten lag, ertappte ich mich dabei, ob der doch relativ fürstlichen Entlohnung für einen, sagen wir Branchenfremden, wieder die wildesten Schleppertheorien zu entwickeln.

So zog ich also mit Sack und Pack ins geweihte Land meines Gurus Norbert Pawliczek, um stinkreich zu werden – oder mir zumindest zu beweisen, dass all dies einen Haken haben musste.

Nach fast einer Stunde und kurz bevor sich meine Schuhe aufgelöst hatten, erreichten wir die Tankstelle. Den Ballast der Säfte hatten wir derweil absorbiert und abgeworfen, mit sechs Euro Diesel und zwei Euro neuem Saft traten wir den Rückweg an.

»Wat ist dat denn? Wat zum Henker is hier los?«

Boris echauffierte sich fürchterlich. Ich zog zwei Säcke mit Wäsche hinter mir her und setzte sie auf dem letzten Treppenabsatz vor dem dritten Stock ab.

»Was ist los?«

»Jetzt guck dir die Veranstaltung an!«

Ich sprang die Stufen nach oben und sah Boris, der sich abmühte, die Eingangstür zu unserer Wohnung zu öffnen. Leider war dies nicht ohne weiteres möglich. Ein Berg von Pappschachteln und anderen undefinierbaren Gegenständen war im Flur gestapelt und verhinderte das vollständige Zurückschwingen des Türblattes. Wir quetschten uns durch den schmalen Spalt in unseren Wohnstall.

»Tolle Bude«, bemerkte ich anerkennend.

»Hätt’ sie mir mal ansehn soll’n«, grummelte Boris.

»Du hast sie dir nicht angesehn?«

»Nee, hatte keene Zeit. Stress, weeßte?«

»Na toll. Du geiler Makler, du!«

»Streber! Wohnungen vorher anschaun is doch für Bausparer.«

Wir grinsten uns an.

»Was ist hier eigentlich los, wohnt hier ein Aktionskünstler?«

»Messiwohnung vom Feinsten. Wie aus’m Fernseher.«

Wir hatten uns durch den Türspalt hindurchgezwängt und versuchten, das aufgetürmte Gerümpel einer konkreten Anwendung zuzuordnen. Alte Aktenschränke, Kaffeekannen, Lampen in diversen Farben und Formen, ein Rasenmäher (Benziner), Stahlhelme, leere Korbflaschen, alte Klamotten und mindestens dreißig Plastikgiraffen verstopften zusammen mit unzähligen weiteren Gegenständen den langgestreckten Flur, der in einem unsäglichen Gelbton gehalten war. Es roch nach einer Mischung aus Sprit, Moder und Mottenkugeln. Wir wateten langsam vorwärts und passierten die Türen zur Küche (mäßig vermüllt), zum Bad (komplett vermüllt) und standen schließlich vor zwei Türen, die das Ende des Flures spitz zulaufen ließen. Jetzt stand uns das komplizierte Ritual der Zimmeraufteilung bevor. Wir blickten einander herausfordernd wie zwei Gladiatoren an. Dann stürmte Boris unvermittelt auf die rechte Tür zu.

»Mach sitz!«, rief ich hastig, riss blitzschnell die Türen beider Zimmer auf, blickte kurz in jedes hinein und baute mich triumphierend vor dem linken auf. »Nö, nö, nöö, das gilt nicht«, lamentierte Boris.

»Doch, das gilt.«

»Das machen wir doch gar nicht mehr.«

»Doch, und ob wir das noch machen!«

Mach sitz! war ein uralter Brauch unserer Jugendclique. Nach Ausruf der Formel war der Empfänger des Befehls zum augenblicklichen Verharren verdammt, während der Befehlende fünf Sekunden lang alles ringsherum nach Belieben verändern durfte, einschließlich des Zwangsgelähmten selber. Der Ausruf eignete sich bestens, um ein letztes Bier zu erhaschen, Schläge zu vermeiden oder einfach nur derbe Streiche zu spielen. Der Klassiker: Beim Hinsetzen den Stuhl wegziehen. Und da der Geschädigte genau da weitermachen musste, wo er aufgehört hatte, musste auch jede Bewegung fortgeführt werden. Ein großer Spaß. Es war streng verboten, sich dem Spruch zu widersetzen oder ihn innerhalb der nächsten fünf Stunden gegen den Ausrufer seinerseits zu benutzen – durch diese Regelung sollten direkte Racheakte ausgeschlossen und Pattsituationen verhindert werden. Wer dagegen verstieß, musste für den Rest des Tages für alle Getränkekosten aufkommen.

Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass die Welt ein ganzes Stück besser wäre, wenn sich alle Menschen am Mach sitz!-Ritual beteiligen würden.

Ich hatte das kleinere der beiden Übel gewählt. Mein Zimmer ging zum Hof hinaus, es standen lediglich Flaschen darin und es roch nach Suff; in Boris’ Zimmer standen Pflanzen und alte Matratzen, es roch nach abgelaufenen Lebensmitteln und es war laut – sogar noch jetzt um ein Uhr nachts. Allerdings war der Fußboden in meinem Zimmer wirklich voll. Durch einen schmalen Trampelpfad von der Tür zum Fenster lugten die Dielen Hilfe suchend hervor, ansonsten deckten die Flaschen die Bodenfläche komplett ab, an den Rändern sogar in zwei bis drei Ebenen übereinander. Ich vermutete, dass ich von der Pfandrückgabe bequem ein halbes Jahr den Mietzins bestreiten konnte. Die Wände meines Zimmers verhöhnten mich mit einem unfassbaren Aggro-Türkis.

Boris hatte sich seinem Schicksal gefügt und suchte das Bad auf.

»Tom, das geht gar nich, inner Badewanne liegen Leichenteile, glaub ich, und ich muss duschen. Bin am Stinken und muss morgen früh weiter.«

»Na, einer ausladen, einer Leichen bergen.«

»Ausknobeln!«, entschied Boris nach einer kurzen Pause. »Der Verlierer macht den Profilerjob im Bad.«

Derartige Battles wurden durch das gute alte Schnick-Schnack-Schnuck im »Best of five«-Modus entschieden. Zur Kampfausrüstung zählten nur Stein, Schere, Papier. Den Brunnen verachteten wir, da er die Ausgeglichenheit der drei anderen Spielfiguren aushebelte, eine unangemessene Gewinnwahrscheinlichkeit von zwei zu eins besaß und parallel die Chancen des – bei uns nicht sonderlich beliebten – Papiers steigerte. Stattdessen erweiterten wir die Palette um »Kettensäge« und »Tütü«. Die »Kettensäge«-Geste – fünf ausgestreckte Finger senkrecht übereinander – zermetzelte standesgemäß alles. Die »Tütü«-Geste – Daumen zwischen Mittel- und Ringfinger – eliminierte die Kettensäge, verlor aber gegen alles andere.

Ich wählte die »Duisburg-Rheinhausen«-Eröffnung, einen Klassiker: zweimal Kettensäge, wurde aber von Boris durchschaut und lag prompt, durch »Tütüs« ausgekontert, aussichtslos im Hintertreffen. Es gelang mir zwar noch, den Anschluss herzustellen, ausgerechnet mit dem blöden Papier gegen Stein. Dann jedoch machte Boris nach zwei Remis mit einer fiesen Finte den Sack zu. Wir hatten die Finger-Augen-Hirn-Koordination schon so perfektioniert, dass ich Papier und Stein ausschließen konnte, dann aber fälschlicherweise Kettensäge zu erkennen glaubte, Boris aber in den letzten zwei Tausendstelsekunden drei Finger zurückzog und mich und mein Tütü übelst auflaufen ließ.

Hämisch lachend schnappte er sich die Autoschlüssel und lief pfeifend die Treppen hinunter, während ich mich zögerlich der Badewanne näherte. Als ich den schleimigen, mit undefinierbaren Inhaltsstoffen versetzten Morast mit einer verrosteten Schöpfkelle (aus der Küche) in einen oben aufgeschnittenen Wasserkanister (aus dem Flur) umfüllte, fragte ich mich, ob ich wegen des Vernichtens von Beweisstücken bei einem Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden könnte. Das Aufrühren der Ekel-Emulsion setzte brechreizerzeugende Dämpfe frei. Bevor ich den Boden der Wanne erkennen konnte, musste ich 17 Mal nach unten zu den Müllcontainern laufen. Jedes Mal, wenn mir Boris auf der Treppe entgegenkam, zischte er »Mörder!« und verzog sein Gesicht zu einer Horrorfilmfratze. Als die Biotonne voll war, kippte ich den Rest ins Altpapier.

»So, ist alles oben, ich fahr mal. Komm dann übermorgen mit meinem Gerümpel.«

Es war drei Uhr durch, die Wohnung mit meinen Sachen jetzt hoffnungslos überfüllt, die Badewanne aber blitzblank.

»Ich denke, du wolltest noch duschen.«

»Haha, wollte dich nur mal putzen sehen, du heiße Schnitte, du. Tschö Tom!«

Weg war er, und ich stand allein in einer kontaminierten Zweizimmerwohnung in Berlin, Prenzlauer Berg. Ich wuchtete meine Matratze in mein Zimmer und legte sie vorsichtig auf den gläsernen Bodenbelag. Toll. Ich hatte noch nie auf Flaschen geschlafen. Wie ein richtiger Bier-Fakir.

Aus einem meiner Kartons fischte ich einen Berlin-Stadtführer und legte mich auf meine provisorische Schlafstätte. Helen hatte mir die nützliche Lektüre geschickt, als feststand, dass ich nach Berlin ziehen würde. Helen war eine alte Schulfreundin von mir, die schon vor vielen Jahren nach Berlin gegangen war und sich hier im sagenumwobenen Medienbereich tummelte. Außer Boris war sie der einzige Mensch, den ich hier kannte. Früher war sie ziemlich hübsch gewesen, und ich fragte mich, ob sie immer noch ihre langen, lockigen roten Haare hatte. Ich würde das prüfen.

Die Wiese sah irgendwie anders aus. Ich lief zwar wie gewohnt zwischen all den grünen Bäumen herum, aber das Grün war nun eher ein Graugrün. Ein Farbschleier hatte alles überzogen, wie in einer bekloppten Waschmittelwerbung. Irritiert stolperte ich fast über meine eigenen Beine. Nach einiger Zeit konnte ich kaum noch etwas sehen, aus dem Farbschleier war ein dichter Nebel geworden. Wie in Watte gepackt tastete ich mich vorwärts. Bis ich plötzlich mit dem Kopf ziemlich hart gegen einen der Mozzarellabäume knallte.

Der nächste Morgen war bereits der besagte »Montag in eener Woche« und wurde von unserem Vermieter eingeläutet. Mein Schädel brummte: Rührte das vom Aufprall gegen den Mozzarellabaum her, oder war die unmenschliche Uhrzeit die Ursache? Es war 7 Uhr 30.

»Na, da erwisch ich Sie doch noch«, frohlockte der gut gekleidete Wohnblockbesitzer.

»Na, da ham wir aber Glück«, grummelte ich.

Ich war froh, dass ich schon in der Lage war, meinen Namen auf das Übergabeprotokoll zu schreiben, und dass die 300 Euro für die Kaution noch vollständig beisammen waren.

»Was ist eigentlich mit den Sachen hier? Von möbliert war nicht die Rede.«

»Ach, das ist nicht von Ihnen?«

Witzbold, ich hatte ja nichts Besseres zu tun, als meinen Rasenmäher nach Berlin zu verfrachten. »Nein, nicht wirklich. Das alles hier nicht.«

»Tja, keine Ahnung. Laut Übergabeprotokoll wurde die Wohnung besenrein übergeben. Naja, das haben Sie jetzt auch unterschrieben. Auf Wiedersehn, Herr Ullmann.«

Besenrein. Ich wollte dem Vermieterarsch eigentlich direkt eine ballern, sah davon aber doch ab, bedankte mich artig dafür, dass jetzt all die tollen Sachen mir gehörten, und wünschte ihm einen schönen Tag.

Besenrein. Dreckige Meschpoke!

Ich schaute aus dem mit grünen Aufklebeblumen dekorierten Badezimmerfenster in ein graues, sinnloses Nichts von Wetter. Dabei erinnerte ich mich an Helens Worte, warum ich denn unbedingt im Winter in diese Stadt ziehen wolle, da könne man so schnell depressiv werden.

Hätte man werden können, aber ich hatte schließlich eine Lebensaufgabe.

Das Wasser aus der Dusche war kalt. Wieder etwas, was ich nicht mochte. Ich betropfte mich mit schaurig kaltem Wasser und tappte frierend zur Küche. Im Schrank fand ich etwas Müsli, und da sich noch keine Tiere darin vergnügten, aß ich davon. Würde heute mal einkaufen und einen Hausmeister finden müssen.

Ich nahm die U-Bahn und starrte aus dem Fenster ins Dunkel des Tunnels. Trotz der aufgeheizten Luft fröstelte ich zwischen all den Menschen. Irgendetwas schien mit einer hässlichen Fratze zu mir hereinzuschauen. Plötzlich musste ich an letzte Nacht denken, an meinen Traum und daran, dass sich da etwas an meiner Wiese verändert hatte. Ich fand das gar nicht schlecht. Es war doch klischeehaft genug, überhaupt von einer Wiese mit Bäumen zu träumen, also hätte ich jede Veränderung in meiner Traummonotonie willkommen heißen sollen. Aber so richtig wohl war mir nicht dabei.

Ein stiller Anfang im dezenten Grauschleier.

2. Startup Relation Management

Nach einer knappen halben Stunde erreichte ich den Bürokomplex, in dem die Love Land-Partnerschafts-Agentur ihre Räumlichkeiten besaß, und betrat die verschwenderisch proportionierte Empfangshalle. Es war sehr viel grauer Marmor verbaut worden, der dem ganzen Ambiente eine protzige Atmosphäre verlieh. Vorder- und Rückseite waren vollverglast, so dass es innen relativ hell war. In der Mitte, gegenüber den beiden Aufzügen, stand ein wuchtiger Tresen, hinter dem recht verloren eine einzelne Person saß. Ich fragte nach Norbert Pawliczek.

Die nette Empfangsdame hatte einen viel zu engen Pulli an, und um zu vermeiden, dass ich dies unter Umständen hätte übersehen können, strich sie mit der freien Hand ihre üppigen Konturen nach, während sie nach Pawliczek telefonierte.

»Fahren Sie mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock, Herr Pawliczek holt Sie dort ab«, säuselte sie mir zu.

»Danke, Frau Hennich«, sagte ich nach einem verstohlenen Blick zum Namensschild auf der mir zugewandten Erhebung ihres Pullis.

»Frollein Hennich«, flötete sie.

Ich lächelte beschwichtigend und suchte umgehend das Weite.

Als ich den siebten Stock erreichte, war Pawliczek noch nicht da. Ich setzte mich auf einen unbequemen Designerstuhl und blickte durch die Scheiben der Großraumbüros. Es ging gemächlich zu bei der Love Land-Partnerschafts-Agentur, zumindest an diesem Montagmorgen. Und bis Norbert Pawliczek auftauchte. Pawliczek redete schon von ferne lauthals auf mich ein, obwohl noch zwei Glastüren zwischen uns lagen. Er fuchtelte mit den Händen und schien sich enorm zu freuen, mich zu sehen. Die Mitarbeiter, an denen er vorbeidröhnte, blickten teils irritiert, teils gelangweilt auf, um sich kurz darauf wieder ihrer Arbeit zu widmen.

»Ick hätte ja nich jedacht, dass du kommst!«, schrie er mich an, während er mir die Hand schüttelte. Nur ganz allmählich pegelte er seine Lautstärke auf die geringe physische Distanz zwischen uns ein.

»Sach Norbert zu mir. Det tun hier alle.«

»Thomas«, sagte ich, »Tom nennen mich die meisten.«

»Denn kommste mal mit in mein Büro.«

Norberts Büro war aufregend wie zwei Seiten Steuererklärung. Ein Schreibtisch, drei Stühle, ein Aktenschrank und drei Bilder, die aus verschiedenen Blickwinkeln ein und dasselbe Segelboot zeigten.

»Det is meine Lisa«, erklärte Norbert. »Schon mal gesegelt?«

»Äh, nein«, sagte ich schnell und schluckte die Bemerkung hinunter, dass Segeln in meinen Augen die absolut langweiligste aller Sportarten war. Neben Angeln. Und dass Anhänger beider Freizeitbetätigungen wohl einen argen Sprung im Genom …

»Det und Angeln, det entspannt!«, brüllte Norbert und stieß sich somit selbst polternd vom Sockel des Messias herab.

»Ach«, grinste ich verlegen und fragte mich, ob Segel-Norbert meine Gedanken erraten konnte.

»Det machen wir denn mal im Sommer zusammen«, drohte Pawliczek, und ich sah mich schon beim ersten Betriebsausflug auf der Lisa mit einem gemütlich angelnden Agenturchef, während ich keuchend die Segel setzte, Essen kochte und mir die Seele aus dem Leib kotzte. Ich versuchte, mich zu entspannen und das Gespräch auf die Arbeitsinhalte zu lenken.

»Was soll ich denn nun hier machen?«, wollte ich wissen.

»Weeßte Tom«, er beugte sich über den Schreibtisch, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen, senkte aber seine Lautstärke keineswegs, »wat wir hier machen, is ja nix Neuet. Früher jabs die jute Kontaktanzeige inne Zeitung. Und jetze, schau dir ma um!«

Ich blickte auf weiße Wände und die drei Bilder.

»Äh, angeln?«, fragte ich verwirrt.

»Jenau!«, schrie Norbert. »Heute fischen doch alle im Netz, im Internetz.« Er lachte glucksend über seinen Witz. »Det is det neuje Jahrtausend. Verstehste?« Seine Stimme war kurz davor zu kollabieren. »Et jibt doch Millionen von den Seiten im Internet. Jeder kann sich heute seinen Traumpartner virtuell zusammenbasteln. Aber wer will det? Willst du dir 10.000 Bilda ankieken? Sieste! Det überfordart die armen Menschen. Deswejen heißt det Zaubawort immer noch: Vermittlung! Wir sieben det persönlich aus und helfen den Leutchen zueinander. Dann passt det ooch!«

Mit deutlich leiserer Stimme fuhr er fort: »Und noch ’n Zaubawort: Spezialisierung! Wir arbeeten altersklassenübergreifend. Junger Kerl, altes Mädchen. Junges Mädchen, alter Kerl. Die Agentur für die großen Unterschiede. Zumindest beim Alta, hahaha. Und wie du dir sicher denken kannst, jibts da auf der Junge-Kerle-Seite einige Defizite. Und da kommst du ins Spiel.«

Ich blickte ihn verstört an.

»Na, jetzt schau nich wie ’n Elch! Du bist unser Startup-Relation-Manager«, rief er und schlug bei jedem Wort auf die Tischplatte.

Na super, schon wieder so eine übertemperierte Tätigkeitsbeschreibung! Vermutlich sollte ich abends die Geschäftsräume feucht durchwischen.

»Also. Du jehst mit ’n Mädels weg, bist nett, damit se wissen, det se bei uns richtig sind. Und du sagst uns denn, wie die so ticken, Hobbys, Interessen, tralala, damit wir sie an den Richtigen vermitteln können. Also easy money, Kolleje. Bisschen wegjehn, quatschen, trinken, wat essen, tralala. Aber«, er hob die Augenbrauen, »nix Versautet.« Nix Versautet. Aha. Pawliczek machte mir Angst. Da holte er mich aus weiter Ferne und gab mir reichlich Geld dafür, damit ich das Gleiche machen sollte wie die letzten 20 Jahre in Duisburg: weggehen, quatschen und trinken. Und im Nix-Versautes-Machen hatte ich in letzter Zeit auch einige Übung. Wie viele »Mädels« waren wohl bei der Agentur gemeldet? Musste ich jeden Abend professionell trinken? Und wer bezahlte mir danach den Entzug?

»So wie du arbeeten noch paar andere.« Pawliczek schien meine Zweifel erraten zu haben. »Allet so schicke Jungens wie du, haha. Kolleginnen jibt es och«, zwinkerte er mir zu.

»Und dafür zahlen Sie, äh, deine Firma, mir 3.800 Euro im Monat …?« Zögerlich wollte ich mich nochmals vergewissern, dass es wirklich Geld für diese Tätigkeit gäbe.

»Plus Spesen!«, jubelte Pawliczek. »Natürlich sollten es nicht mehr als vier, fünf Bierchen am Abend werden.«

»Natürlich«, murmelte ich. Langsam erschien Pawliczek wieder im Glanz des Messias. In Gedanken rutschte ich vor ihm auf den Knien und huldigte seiner Gabe, mich gegen fetteste Bezahlung zum Weggehen und Trinken zu nötigen. Diese kleine Segel- und Angelbagatelle konnte dem im Nachhinein nichts anhaben. Gar nichts. Norbert Pawliczek war der Messias.

Es folgte ein Rundgang durch die heiligen Hallen der Love Land-Gemeinde. Überwiegend bestand die Belegschaft aus Programmierern, die sich um den »Content« und den »Workflow« der Website kümmerten. Typische Computer-Nerds, die, statt Industrie-Großrechner zu hacken oder World of Warcraft zu spielen, vermutlich ebenfalls mit hoch dotierten Arbeitsverträgen aus ihren mit Pizzakartons vermüllten Muffbuden rausgelockt wurden. Ich musste an unsere Wohnung denken. Neben der üblichen Buchhaltungs- und Personalbelegschaft gab es noch die Abteilung »Relationship & Statistics«. Hier wurden die Mitgliedsdaten verwaltet und das Kerngeschäft »Partnervermittlung« betreut und optimiert. Hier also sollte zusammenfinden, was zusammengehörte.

Pawliczek verstand es, Belangloses als absolute Weltsensation zu verkaufen. Entsprechend beeindruckt stand ich im Flur, in dem zwischen jeder Tür pausbäckige weiße Gipsengel mit Pfeil und Bogen auf Holzplatten geklebt an der Wand hingen. Gar nicht kitschig. Pawliczek schien einen speziellen Sinn für Romantik zu haben.

Er gab mir noch einen Stapel Unterlagen und den Hinweis mit auf den Weg, die Sache nicht allzu publik zu machen. Er murmelte etwas von »Konkurrenz schläft nicht« und ließ mich dann allein in der Empfangshalle zurück.

Wobei Konkurrenz ein gutes Stichwort war. Eigentlich hatte ich noch gar keine Vergleichsangebote eingeholt. Vielleicht gab es da ja noch viel mehr Kuppelagenturen, die nur darauf warteten, meiner gegen jegliche Art der Gegenleistung habhaft zu werden. Möglicherweise folgten diesem Auftrag bereits gut dotierte Jobs im Ausland: »Blue Banana – die Agentur mit Niveau auf den Bahamas« (6.500 Euro plus Spesen). So waren meinen Einsatzorten auf lange Sicht keine Grenzen gesetzt. Ich beschloss jedoch, nicht gleich vollständig abzuheben und erst einmal für Love Land mein Bestes zu geben.

Zweimal in der Woche, montags und donnerstags, sollte ich in die Love Land-Räume einschweben, um meine Arbeit zu dokumentieren und mit den übrigen Kolleginnen und Kollegen das weitere Vorgehen (Zechgelage) zu koordinieren.

Um 12 Uhr saß ich wieder in der U-Bahn und fuhr nach Hause. Meine Laune war bestens, und ich rief Helen an, um ein kleines Danke-für-den-Reiseführer-Treffen zu arrangieren. Außerdem musste ich jemandem diese ganze Love Land-Geschichte erzählen, und die Meinung einer Frau, die schon lange in dem Irrenhaus Großstadt lebte, konnte hier keinesfalls schaden.

Helen war im Stress, denn sie hatte noch zwei Sendungen vorzubereiten. Sie arbeitete und moderierte bei einem dieser neuen Internet-Fernsehsender. Art und Umfang der Inhalte standen unter dem Motto: billig, trashig und schnell. Es gab unter anderem Talk-, Kopfgeldjäger-, Baumarkt- und Autotuningshows. Wir verabredeten uns lose für den nächsten Abend und beendeten das Gespräch sehr abrupt. Schnelle Show, schnelle Gespräche.

Zuhause angekommen, begann ich die Sachen unseres Messi-Vormieters aus dem Flur in den Kellerverschlag zu räumen. Zumindest jene, die man ohne fremde Hilfe von der Stelle bewegen konnte. Am liebsten hätte ich den ganzen Krempel angezündet, oder in Nachnahme-Paketen jedes Einzelteil dem Vermieterarsch geschickt, oder den Kram einfach aus dem Fenster geschmissen, aber ich wollte es mir mit meinen schönen neuen Mitberlinern nicht gleich verscherzen. Ich merkte schnell, dass unser Flur deutlich größer war als der Keller. Nach 25 Treppengängen war die Wohnung zwar wieder einigermaßen begehbar, aber die alten Aktenschränke und der Rasenmäher waren nicht gerade aus dem Designerladen. Das eintönige Geschleppe machte mich richtig fertig. Ich legte mich auf mein Bett, um ein wenig zu entspannen.

Ich erwachte von einem dumpfen Schlag aus der Wohnung über mir. Es war stockdunkel, und eine geraume Zeit lang wusste ich nicht, wo ich mich befand. Ich hatte wüstes Zeug geträumt und schleppte mich träge durch den Flur. Es war halb neun. Beim Betreten des Badezimmers fiel mir die mangelnde Warmwasserversorgung wieder ein. Ich drehte den Hahn auf, in der Hoffnung, das Problem wäre durch schlichte Ignoranz einfach wieder verschwunden. Aber nichts dergleichen. Kaltes Wasser platschte in die Badewanne. Furchtbar, furchtbar. Es wurde Zeit, hier zivilisierten Wohnstandard in Form von stufenlos temperierbarem Wasser einkehren zu lassen, was auch meinem optischen Standard durchaus zugutekommen würde. Eine Kernsäuberung meiner Körperhülle war dringend notwendig. Also machte ich mich auf die Suche nach dem Hausmeister.

Hausmeister wohnen immer im Erdgeschoss, sind schlecht gelaunt und haben Feinripp-Unterhemden an, sagte ich mir, als ich die Treppen nach unten schlurfte. Und ich hoffte inständig, mich jetzt nicht mit einem übellaunigen Feinrippträger herumärgern zu müssen.

Im Erdgeschoss gab es drei Wohnungen. Ich klingelte an allen Eingangstüren, aber nur eine wurde geöffnet. Eine ältere Frau, freundlich und ohne Feinripp. Sie entpuppte sich zwar nicht als Hausmeisterin, erteilte mir aber die gewünschte Auskunft.

»Da müssen Sie vorne in die Gaststätte gehen, zu Giovanni. Der kümmert sich hier um alles.«

Ich bedankte mich und trat aus dem Seiteneingang in den Hof, dann durch das große Tor auf die Straße, um über den Gehsteig das Vorderhaus zu betreten. Ehrlich gesagt, war mir der Laden noch gar nicht aufgefallen. Ein unscheinbares italienisches Geschäft, wo es allerhand Essenszutaten, Öle, Weine und Nudeln gab. Mich wunderte, dass der Kollege noch geöffnet hatte, es musste schon nach 21 Uhr sein. In dem Laden sah ich neben der ganzen Palette an italienischen Lebensmitteln einige Tische, an denen ein paar Leute aßen, und grüßte freundlich.

Am Tresen stand einer, der wie ein Giovanni aussah. Ich fragte ihn.

»Hallo, ich bin Tom, sind Sie Giovanni?«

»Scusi, ich bin Rafaele, Giovanni ist hinten.« Er deutete auf den angrenzenden Raum. »Giovanni, komm bitte, Besuch!«, rief er nach hinten und fragte mich: »Wollen eine Grappa?«

»Si«, willigte ich ein.

Mit dem Grappa kam Giovanni, ein kräftiger, charmant grinsender Rasse-Italiener, um die 45 Jahre, die Haare von der Farbe und Struktur des berühmten Ebenholzes. Strahlend begrüßte er mich. Ich schilderte ihm mein Problem in kurzen Worten.

»Ahh, du wohnst in die dritte Stock. Is scheiss Wasser schon wieder kaputt?«

Ich nickte.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte er, anstatt weiter auf das technische Problem einzugehen. Ich schüttelte den Kopf. Seit dem trockenen Müsli heute Morgen hatte ich nichts wirklich Nahrhaftes zu mir genommen. Giovanni pfiff schrill und machte einige wilde Handbewegungen, und schon saß ich an einem der Tische und wurde mit Salat, Brot, Nudeln und Wein ausgestattet.

Es schmeckte vorzüglich. Aber leider, immer noch in Sorge um meine Reinlichkeit, sah ich Giovanni lediglich mit der Weinflasche von Tisch zu Tisch eilen, nicht jedoch mit der Rohrzange in unsere Wohnung. Egal. Ich genoss das Essen und ließ meine Blicke schweifen. Es mochten sich etwa acht Personen in dem kleinen Laden aufhalten. Es gab fünf Tische und den von meinem Tisch aus nicht einsehbaren Raum, aus dem Giovanni gekommen war. Vermutlich saßen dort weitere Gäste. Mir gegenüber, an einem anderen Tisch, hockte ein hagerer Mann mit langen blonden Haaren und bemalte vor ihm liegende Glasscheiben. Bei der Art und Weise, wie er das tat, hoffte ich, dass er nicht davon leben müsse. Mit merkwürdig ungelenken Bewegungen schwang er den Pinsel über das Glas und genehmigte sich in regelmäßigen Intervallen einen großen Schluck Wein. Auch Rafaele, als er dem Gast nachfüllte, schien mit dessen Kunst nicht zufrieden:

»Was soll das sein, eh? Eine Thunfisch im Gras?«

»Ach Rafaele, du hast keine Ahnung von Kunst. Ich werde das am Wochenende verkaufen«, sagte der Freak trotzig.

Amüsiert sah ich mich schon als Beobachter der Berliner Kunstszene in erster Reihe. Diese Verrückten hatten mir in Duisburg gefehlt. Da gab es auch Verrückte. Aber nicht solche.

»Wie findest du das?«, fragte er mich unvermittelt.

Ich zuckte zusammen. Das ›Bild‹ sah aus wie eine grüne Wiese mit Bäumen.

»Nu ja, äh, wird das ein Weihnachtsgeschenk?«

Etwas Dämlicheres war mir nicht eingefallen. Ob meines mangelnden Kunstsachverstandes blickte der Freak mich verständnislos an. Da musste ich nachlegen:

»Weißt du, die grünen Schattierungen sind sehr ausdrucksstark, aber der fehlende Kontrast zum Hintergrund verleiht dem Ganzen eine eher entmutigende Note.«

Das saß. Ich spülte einen Happen Penne mit einem großen Schluck Wein herunter und beobachtete die zerstörerische Wirkung meiner sinnfreien Worte. Der Freak blickte minutenlang schweigend auf sein Werk, und gerade, als ich bei Giovanni neuen Wein orderte, warf er es ohne Vorwarnung gegen die Wand. Die Gäste erschraken, als die Scherben klirrend zu Boden fielen.

»Du hast Recht«, sagte er nur und trank seinen Wein aus. Giovanni und ich blickten uns kurz entgeistert an, bevor wir gleichzeitig in lautes Gelächter ausbrachen.

»Du bist neu in der Stadt?«, fragte Giovanni und setzte sich mit einer neuen Flasche Wein zu mir.

Wir becherten fröhlich, und als ich zwei Stunden später gut abgedichtet die beschwerliche Heimreise in den dritten Stock antrat, rief er mir noch zu:

»Ich komme morgen früh zu dir hoch. Du machst Frühstück, ich repariere Wasser.«

»Alles klaro!«, röhrte ich.

Mit einem tiefen Grunzen und nahezu vollständig bekleidet fiel ich auf mein Bett, nicht ohne meinen ersten Arbeitstag erschöpft, aber bestimmt zu resümieren:

»Giovannis Pasteria – volle Punktzahl!«

Das Geräusch der Türklingel war fürchterlich. Außerdem schien sie direkt an der Innenseite meiner Schädeldecke angeschlossen zu sein. Ein lupenreiner Fall von »Der hat doch nur Saft getrunken«. Betäubt vor Schmerz torkelte ich zum Eingang und öffnete. Giovanni. Au shit, der Herr über Warmwasser und Wein! Er grinste mich an. Erst jetzt bemerkte ich mein wenig gesellschaftstaugliches Äußeres: körpergebügelte Klamotten und eine aus Nicht-geduscht-Haben und reichlich Ethanolzufuhr resultierende Körperausdünstung.

»Na, kennst meinen Vino noch nicht?!«

»Jetzt schon«, stöhnte ich und tastete hilfesuchend nach Kaffee im Küchenschrank. Da war natürlich keiner, ich hatte ja noch kein bisschen eingekauft.

»Giovanni, ich habe nix zu frühstücken«, murmelte ich verlegen.

»Waas? Muss ich rufe Padrone, kriegst du Beton an die Füß’, und ab in die Spree, incredibile!«

Er schnappte sich sein Handy und wählte. Mich durchfuhr ein fürchterlicher Schreck. Da ich nach einem »Der hat doch nur Saft getrunken«-Ereignis immer einen ganz kleinlauten Kreislauf hatte, fing ich an zu zittern und rang nach Luft.

Giovanni, selbst überrascht von der Wirkung seines Spaßes, brüllte vor Lachen.

»Nix dich wolle versenke, rufe nur meine Frau an, die bringt uns was Leckeres.«

Ich war restlos fertig, aber immerhin wach.