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Wolfgang Mock

Der Mitläufer

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Sämtliche Figuren und Handlungen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2019

Lektorat: Markus Lorenz

Satz: Gaja Busch

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-43-7

eISBN 978-3-947373-48-2

www.dittrich-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten, es war ein Zeitalter voller Weisheit und eines des Irrsinns, es war eine Epoche des Glaubens und eine Epoche der Skepsis, es war eine Jahreszeit des Lichts und zugleich eine der Dunkelheit, es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung.
Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten

Da lag man, zwanzig Jahre alt, halbnackt im Freibad, ließ sich von der Sonne bescheinen, rauchte Peter Stuyvesant, schaute die Mädchen an, las – und wusste ohne jede Anfechtung durch einen Zweifel, dass die Welt vollkommen in Unordnung ist.
Michael Rutschky, Erinnerungen an die Gesellschaftskritik

Für Ines

Inhalt

Prolog

Achtundsechziger und so

Nach all den Jahren

Morgens um fünf

Nichts hat mehr Bestand

Auf der Suche nach mehr Leichtigkeit

In A Gadda Da Vida

This Old Heart of Mine

Die Revolution kommt in die Stadt

Nebelkerzen zünden

Déjeuner sur l’herbe

Mother’s Little Helper

Dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen

Ein Vertrag fürs Leben

Auf ein Eis

Der große Sprung

Ein nicht besonders empfehlenswertes chinesisches Restaurant

»Das Fleisch ist trostlos, ach, und ich hab alle Bücher gelesen«

Auf der Mauer

Prolog

Die Welt brannte. Und ich mit. Vor Zuversicht. Die Welt, so sah es aus, war im Begriff sich neu zu erfinden. Aufregende Zeiten. Baader war gerade von Ensslin und Meinhof aus der Haft befreit worden, die RAF überfiel Banken, warf Bomben und machte täglich von sich reden. Mich faszinierte das. Mein Vater sagte: »Wir stehen am Abgrund.« Dann fragte ich ihn, ob er das 1933 auch gesagt habe. Was zwangsweise im Streit endete. Ich lachte ihn aus und schrieb mich an der Uni ein.

Und abends ging ich ins Creamcheese.

Da ging man hin, wenn man ganz vorn mitschwimmen wollte und einigermaßen gut aussah. Eine echte Hürde war noch der ganz in Leder gekleidete Türsteher. Aber dann. Kilometerlange Theke mit Spiegellamellen an der Thekenwand, tief im Raum eine erhöhte Tanzfläche. Projektionen an den Wänden, flackernde Stroboblitze, eine Wand von Fernsehgeräten, auf denen Bilder von der Tanzfläche und aus dem Creamcheese liefen. Ein Inferno. Nicht nur einmal mussten sie jemanden halb ausgeknockt zum Abkühlen auf die Straße stellen. Meistens Frauen. Was natürlich auch am Qualm der fetten Joints gelegen haben mag, den auch ich nicht wirklich gut vertrug. Wenn man zwischen zwei solcher Joints an der Bar saß, musste man echt aufpassen, nicht vor lauter Albernheit vom Hocker zu fallen. Dazu lief Can, gern vor allem Tago Mago, oder Atomic Rooster, Birth Control, ansonsten musste ich passen, viele der Platten kannte ich einfach nicht. Wildes Zeug.

Oft hing der Qualm im Creamcheese so tief, dass man von den Tänzern die Oberkörper kaum mehr sah. Wenn dann noch die Frau hinter der Theke hin- und herlief, ich meine, sie hieß Mora, und über die Spiegel hinter der Bar flatterte, dann sorgte ich mich manchmal schon, ob ich das alles heil überstehen würde.

Da kam dann A Day in the Life von den Beatles ganz recht, das der DJ am Ende des Abends auflegte, eine Art Rausschmeißer. Manches Mal war das eine kleine Erlösung.

Ab und zu endete so ein Abend auch mit einer Überraschung. Gerade tönten noch die letzten schrillen Akkorde von A Day in the Life aus den Lautsprechern, da war aus Richtung Tür der Ruf »Bullen« zu hören. Von innen schien jemand die Tür zuzuhalten, während es weiter hinten etwas hektischer wurde und ein paar Tütchen mit Gras oder Haschisch in die dunklen Ecken flogen. Benebelt, wie ich war, dachte ich, es sei ein eher freundschaftliches Gerangel, bis die Polizisten an der Bar und an der Tanzfläche auftauchten, Taschen durchwühlten und sich die Ausweise zeigen ließen.

Ich hatte keinen dabei. Nicht einmal meinen neuen Studentenausweis.

Die mit Ausweisen konnten gehen, die ohne wurden im Gänsemarsch zur Wache gebracht, die nur ein paar Schritte entfernt lag. Schweigend lief ich neben einem Typ in Jeans und schwarzer Jacke her, kurze Haare, Bart um Kinn und Oberlippe. Er fiel schon ein bisschen ab, verglichen mit mir: weiße Hose, Plateausohlen und die ausrangierte Persianerjacke meiner Großmutter.

Auf der Wache hockten wir uns auf die verfügbaren Bänke, der Typ mit dem Bärtchen setzte sich neben mich und zog ein zerlesenes rotes Suhrkamp-Bändchen mit Gedichten aus der Tasche. Ich schaute ein paarmal unauffällig zu ihm rüber, bis ich den Titel entziffern konnte: Die Verteidigung der Wölfe von Enzensberger.

Ich holte mein Zigarettenetui hervor, steckte mir eine Zigarette in den Mund und bot ihm eine an. »Ist nichts drin, nur Chesterfield.«

Bevor er zugreifen konnte, fiel ein Schatten über uns, ein Polizist riss mir die Zigarette aus dem Mund und das Etui aus der Hand. Ich schoss in die Höhe, der Typ neben mir fiel mir in den Arm, bevor ich zuschlagen konnte, drückte mich wieder auf den Sitz. Unversehens war es still geworden in der Wache. Alle schauten zu uns herüber.

»Der reine Bullenterror«, sagte eine Stimme in die Stille hinein.

Der Polizist stand vor uns und schien darauf zu warten, dass ich mich doch hinreißen ließe, aber der Typ, der um einiges kräftiger war als ich, hielt mich fest, bis der Polizist zurück zu seinen Kollegen ging.

»Danke«, sagte ich und zog meine Persianerjacke aus. Ich zitterte vor Wut. Wortlos hob ich den Enzensberger-Band auf, der runtergefallen war, und blätterte ihn durch.

»Lyrik ist so gar nicht mein Ding.«

»Beruhigt aber«, gab er zurück. Leicht von oben herab, wie ich fand.

Ich betrachtete den zerfledderten Band.

»So sieht bei mir zu Hause das Kommunistische Manifest aus«, sagte ich. Er schaute mich an, mit seinem Bart sah er schon nach Landei aus. Und das mit dem Kommunistischen Manifest schien ihn zu schockieren. Ich grinste.

»Wir haben einen Hund. Der liebt das Buch.«

Verunsichert hatte ich ihn schon.

»Frank«, sagte ich nach einer Weile.

»Alexander«, antwortete er und reichte mir die Hand. Also doch ein Landei.

Klar, dass sie uns stundenlang warten ließen. Steckten Betrunkene in Ausnüchterungszellen, nahmen Anzeigen von Bestohlenen auf, ein Auge dabei immer in unsere Richtung. Zwischendurch notierten sie unsere Namen, dann wieder nichts.

So gegen drei Uhr, als die Ersten von uns aneinandergelehnt eingeschlafen waren, bauten sich zwei Polizisten vor uns auf. »Kann Sie jemand abholen und Ihre Identität bestätigen?«

Ich sah, wie Alexander den Kopf schüttelte, und sagte schnell: »Ja, klar, meine Mutter. Sie kennt dich doch auch.« Und gab dem Polizisten unsere Telefonnummer. Mein Vater, welch ein Glück, war auf Dienstreise.

Eine halbe Stunde später tauchte meine Mutter auf, in ein schwarzes Cape gehüllt, die Locken einwandfrei; unfrisiert verließ sie nie das Haus. Trotzdem sah man ihr an, dass halb vier Uhr morgens nicht ihre bevorzugte Zeit war. Sie hatte uns sofort gesehen, ich zeigte auf den Typ neben mir und sagte: »Alexander kennst du ja.« Sie verdrehte die Augen, reichte einem der Polizisten ihren Ausweis, schob das Kinn in Richtung Alexander und sagte: »Den nehmen wir auch mit.«

»Sie kennen ihn?«

»Seit ewig.«

Der Polizist reichte ihr mein Zigarettenetui und den Ausweis und straffte sich. »Wir haben die beiden in einem Lokal aufgegriffen, in dem, wie wir vermuten, mit Drogen gehandelt wird. Nimmt Ihr Sohn Drogen«?

»Soweit ich weiß, nicht«, sagte meine Mutter, laut genug, dass es alle hören konnten, »aber das kommt sicher noch. Es wäre der erste Blödsinn, dem er aus dem Weg ginge.«

Als wir die Wache verließen, wandte ich mich noch einmal um. Irgendwann würde ich denen allen den Arsch aufreißen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Und ich sah das Bild von Ulrike Meinhof vor mir und das von Andreas Baader.

Schließlich standen wir in der frischen Nachtluft vor dem VW Käfer meiner Mutter.

»Lass uns Kontakt halten. Ich fange in diesem Semester hier an der Uni an«, sagte Alexander.

»Das passt. Ich auch.«

Er gab meiner Mutter die Hand. »Danke.«

Wir stiegen in den VW und fuhren los, ich sah ihn im Rückspiegel unschlüssig auf der Straße stehen, rief »Halt mal!«, und meine Mutter trat mit einem »Dachte schon, du lässt ihn mit Absicht auf der Straße stehen« auf die Bremse. Ich sprang raus.

»Wo musst du eigentlich hin?«

»Nach Benrath.«

»Ja dann.« Ich zeigte auf den Rücksitz.

Alexander stieg ein.

Achtundsechziger und so

Das unnatürlich schwüle Hoch hing seit Tagen wie eine Glocke über der Republik, und ein Ende der Hitze war, glaubte man den Wetterpropheten, nicht abzusehen. Mal milchiger Himmel, mal ein, zwei Wolken, morgens vor allem Kondensstreifen. Am Tag über dreißig Grad, nachts kaum kühler.

Mit geschlossenen Augen blieb Meta im Bett liegen, der Vorhang hielt die Mittagssonne aus dem Zimmer. Nur am Rand fiel etwas Licht in das Halbdunkel. Benommen schob sie den Arm des Jungen von ihrem Bauch.

Die Menschen waren nicht zu halten bei diesem Wetter, holten alles aus den Tagen und Nächten raus. Sie sah ihnen dabei zu, es waren gute Nächte für sie, es wurde viel getrunken. Wer keinen Platz an einem Tisch fand, saß auf dem Bordstein oder einer Bierkiste. Wen der Alkohol lauter werden ließ, der wurde von den Gästen flüsternd zurechtgewiesen, um die Nachbarn, die hinter weit geöffneten Fenstern Schlaf suchten, nicht zu stören.

Abend für Abend besuchte Meta mit dem Fahrrad ihre drei Lokale. Sie liebte es, wenn die Hitze des Tages aus dem Asphalt aufstieg; ihr war dann, als könne sie fliegen. Vielleicht nicht bis zu den Sternen, aber doch bis zu den Warnleuchten oben auf den Pfeilern der Rheinbrücken.

Sie beobachtete ihre Kellnerinnen, die sich wie nachtaktive Echsen durch die Menschen schlängelten. Nur selten machte sie eine Bemerkung; es lief von selbst, nicht ohne Grund hatte sie in diesem Geschäft so lange überlebt. Und das besser als die meisten. Sie trank keinen Alkohol mehr, nur ab und zu rauchte sie mit Freunden ein wenig Gras. Espresso war die einzige Droge, die ihr geblieben war. Dafür machte sie jetzt regelmäßig Urlaub in der eigenen Sechs-Zimmer-Finca am Hang bei Selva. Vor Jahrzehnten hatte sie schon einmal am Fuß dieses Hangs gestanden und sich gedacht, es müsse schön sein, dort oben zu wohnen. Das war das Einzige, woran sie sich nach Wochen Alkohol und Sex auf Mallorca noch erinnern konnte. Daran und an Alexander, mit dem sie zusammen auf die Insel geflogen war und mit dem sie sich dauernd gestritten hatte.

Sie hörte das leise Atmen des Jungen neben sich. Bisweilen verlangte die Hitze der Nacht ihren Tribut. Daran hatte das Alter nichts geändert. Jetzt kam noch dazu, dass sie die vergangenen Tage vergessen wollte, die Stunden an Alexanders Totenbett, die Angst auf Franks Gesicht.

Sie hatte ihrem neuen DJ einen Gin Tonic hingestellt, dann noch einen und sich selbst Eiswürfel und Zitronenscheiben in ihren Sprudel getan, damit er aussah wie Gin Tonic. Aber er war nicht mehr so grün, wie sie vermutet hatte. In letzter Zeit vertat sie sich häufiger mal.

»Willst du mich betrunken manchen?«, fragte er.

»Nicht völlig.«

»Kannst du auch preiswerter haben.«

»Kostet mich ohnehin nichts hier.«

Er verstand, die Verhältnisse waren klar.

Er klappte seinen Laptop zu, im Osten wurde der Himmel bereits heller, sie schlossen ihre Fahrräder auf. Mitten auf der Brücke, über dem dunklen Fluss, hielt sie an und starrte nach unten. »Seltsam, nicht wahr?« Ein pulsierender Schimmer schien vom Fluss aufzusteigen.

Es war wirklich seltsam. Alexander hatte sie oft nachts abgeholt, wenn sie in einer der Kneipen auf der anderen Rheinseite gearbeitet hatte. Und immer verlangsamten sich ihre Schritte zur Mitte der Brücke hin. »Das ist der Fluss unserer Erinnerungen«, hatte Alexander gesagt, und seitdem musste sie an diesen Satz denken, wenn sie über die Brücke kam.

»Irgendwelche Spielregeln?«, wollte er wissen, als sie in ihrer Wohnung waren und er sich das durchgeschwitzte T-Shirt auszog.

»Warum fragst du?«

»Ich bin Grieche.«

Sie lachte. »Und ich über sechzig.«

»Unglaublich«, sagte er, als sie unter der Dusche standen.

Noch vor wenigen Jahren hatte sie die jungen Männer vor Anbruch des Morgens fortgeschickt, jetzt war es ihr egal, wenn sie ihren Körper und ihr Gesicht im Morgenlicht sahen. Sie brauchte ihre Gesellschaft.

Meta sah auf die Uhr: kurz nach zehn, es wurde Zeit. Mit Schwung zog sie die Vorhänge zur Seite. Geblendet von der Sonne, richtete sich der Junge auf und hielt sich die Hände vor die Augen.

»Ich muss los«, sagte Meta.

»So früh?«

»Eine Beerdigung.« Sie ging ins Bad.

Als sie zurückkam, war er so gut wie angezogen, lächelte sie an.

»Sehr schlimm?«

»Mein Mann«, sagte sie gedankenverloren. »Ist ewig her.«

Fast vierzig Jahre. Sie hatte sich von Alexander scheiden lassen, kurz nachdem sie aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war und die Stadt verlassen hatte. Sie spürte noch heute, wie Doris und Frank sie zum Abschied umarmten. Gelitten hatte sie, gelitten wie ein Hund. Dabei war sie nur sechs Jahre mit Alexander verheiratet gewesen.

In den vergangenen Wochen war das alles wieder nah gewesen, diese gemeinsame Zeit mit Alexander und die Jahre in der Wohngemeinschaft. Sie hatten sich in seinen letzten Monaten um ihn gekümmert, weniger aus Sentimentalität, eher aus einer Selbstverständlichkeit heraus. Sie hatten alle mit ihm zusammengelebt.

»Tut mir leid, dass ich gefragt habe«, sagte der Junge, »ich verschwinde besser.«

»Für einen Saft ist Zeit.« Was sie nicht gesagt hätte, wenn sie nicht einen Stich, eine plötzliche Angst vor der Einsamkeit gespürt hätte. Die sie aber schnell unterdrückte. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und stellte sich vor die verspiegelte Tür. Die Sonne fiel auf ihren Körper, kein einziges Körperhaar, sie hatte diese dicken, dunklen Haare immer gehasst, ausgezupft und weggewachst, sobald eins auftauchte. Zweimal hatte sie sich ihre Brüste machen lassen, die Haut schien dort etwas glänzender und straffer als am Körper, aber das war auch alles, keine Narben.

Super, sagte sie sich, sah die kleine weiße Ecke hinter dem Spiegel hervorlugen und zog mit den Fingernägeln ein altes Bild hervor, mehr als postkartengroß. Jahre mussten vergangen sein, seit sie dies Bild zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte. Es war eine Nachstellung des Frühstücks im Grünen von Manet. Frank und Alexander angezogen im Vordergrund, vor ihnen, im Zentrum und völlig nackt, Chrissie, die Augen fest auf den Betrachter gerichtet; im Hintergrund, in einem kleinen See, ebenfalls so gut wie nackt, sie selbst und Doris. Es stammte aus den ersten Monaten ihrer Zeit in der Wohngemeinschaft.

Vor Jahren noch hatte sie sich das Bild häufiger angesehen, eine eigenartige Kraft ging von ihm aus. Es zeigte einen Aufbruch und ein Ende zugleich. Frühling vielleicht. Doch wie sie jetzt so dastand in der Morgensonne und ihren gebräunten Körper im Spiegel betrachtete, überfiel sie das peinigende Gefühl von Herbst, von Vergänglichkeit. Aus und vorbei. Herbst eben. Sie wusste es nicht anders zu beschreiben. Alexander war tot. Der Erste von ihnen.

Als sie in die Küche kam, presste der Junge gerade den zweiten Saft. Sie sah sofort, dass er sich Alexanders Todesanzeige angesehen hatte, die auf dem Küchentisch lag. Sie setzte sich in ihrem Kostüm an den Tisch, spielte nachdenklich mit der schwarz geränderten Karte.

»Wir waren Studenten«, sagte sie und ärgerte sich, dass sie dem Jungen das erzählte.

»Achtundsechziger und so?«

»Ein bisschen später.«

»1977? Deutscher Herbst?«

Das hat er sich angelesen, dachte Meta und nickte zögernd.

Neugierig blickte er sie an. »Muss spannend gewesen sein, die Zeit damals. Was man so hört.«

»Wo hört man das denn?«

»Grundkurs Zeitgeschichte an der Uni. Ich will nicht als DJ enden.«

So begegnet man seiner eigenen Vergangenheit. Ihre Hand mit der Karte zitterte leicht. Plötzlich wollte sie ihn loswerden.

Bevor sie in ihren Mini stieg, klappte sie das Verdeck hoch. Ihre Haare würden völlig ruiniert sein, wenn sie am Friedhof ankam, dachte sie, aber sie brauchte Luft, ihr war eng um die Brust geworden. Wer wohl da sein würde, auf der Beerdigung? Alle, die zählten. Da war sie sich sicher. Eine plötzliche Aufregung ließ sie im warmen Fahrtwind frösteln.

Nach all den Jahren

Auch Chrissie fröstelte trotz brütender Hitze. Sie stand am Fenster und suchte nach dem Wort für die Farbe des Himmels. Es lag ihr auf der Zunge, nein, eigentlich lag ihr überhaupt nichts auf der Zunge. Ihr Kopf war völlig leer und sie bekam es mit der Angst zu tun. Dann die Erlösung. Schweflig. Schweflig, das hatte sie gesucht. Sie waren ihr aufgefallen in letzter Zeit, diese Wortfindungsprobleme. Bei Stress vor allem. Aber sie verdrängte das schnell. Der Himmel sah wirklich schwefelig aus. Trotz Willy Brandts Diktum »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden«. Der Spruch hatte lange über ihrem Schreibtisch gehangen. Und es wurde auch besser, jetzt hatten die Schatten wieder scharfe Konturen. Ein bisschen auch wegen Brandt war sie ins Ruhrgebiet gegangen. Sie wollte beim Strukturwandel dabei sein, Unternehmen beraten, den Himmel etwas blauer machen. Es lief nicht so gut wie geplant, zumal in den letzten Jahren, aber sie hatte sich eingerichtet, ein paar große Namen waren unter ihren Klienten wie Ford, RWE und Opel, doch von ihren einst sechs Angestellten blieben nur einer und zwei Halbtags-Assistentinnen übrig.

Wahrscheinlich, sagte sich Chrissie, war es auch nur ihre Unruhe, die den Himmel heute so schwefelig aussehen ließ.

Die Todesanzeige lag auf dem Schreibtisch unter einem faustgroßen Glasdiamanten. Sie ließ die Jalousien herunter, zu grell war das Sonnenlicht. Aber es half nichts, sie konnte sich nicht konzentrieren, zwei Projekte, jede Menge Arbeit lagen vor ihr, doch es ging nicht.

Chrissie zog die Karte unter dem Glasdiamanten hervor. Sie war der Schlussstrich unter den letzten Monaten, als sie sich um Alexander gekümmert hatten und sich zeitweise so nah waren wie vor fast vier Jahrzehnten.

»Das Leben ist eine ewige Gegenwart.« Das hatte Meta gern gesagt. Für ein paar Jahre schien ihr das richtig, damals, als sie so gut wie unsterblich waren, da hätte sie diesen Satz unterschrieben. Auch danach noch, als sie die Wohngemeinschaft verließ. Bis sie Nicki, ihr zweites Kind, verlor, kurz nach der Geburt. Danach war Schluss mit Unsterblichkeit.

Chrissie räumte die Seminarkonzepte und Tabellen zur Seite, blickte auf die Uhr, etwas Zeit war noch.

Die Beerdigung würde der endgültige Abschied von Alexander sein. Fast ein halbes Jahr hatte sich dieser Abschied hingezogen. Ihr war dabei eine unerwartete Rolle zugefallen und sie war sich überrumpelt vorgekommen.

Sie sah die junge Frau noch vor sich, wie sie in ihrem Büro aufgetaucht und unangekündigt in ein Meeting geplatzt war. Sie hatte sie bitten müssen zu warten, spürte aber, dass sie nicht mehr bei der Sache war, und beendete das Meeting schnell.

»Chloe«, sagte die Frau, als Chrissie aus dem Besprechungszimmer kam, und, als Chrissie nicht reagierte: »Chloe. Alexanders Tochter«. Blond, schlank, modisch gekleidet, die Beine übereinandergeschlagen, etwas Unberechenbares lag in ihren Augen, unterdrückte Aggressivität ging von ihr aus. Alexander, erzählte sie, gehe es sehr schlecht, ein rapide zunehmendes Lungenversagen, er könne das Bett kaum noch verlassen, wolle aber um keinen Preis ins Krankenhaus. Ob sie, Chrissie, und die anderen Alexander denn mal besuchen würden? Er würde sich freuen, auch wenn er es nicht zeigte.

Nach all den Jahren. Einfach so. »Hast du schon mit den anderen gesprochen?«, erkundigte sie sich nach einer Weile, während der sie einander betrachtet hatten, Chloe mit einer Kälte, die schon unhöflich wirkte. Sie will nicht als Bittstellerin kommen, vermutete Chrissie.

»Nein. Wie ich meinen Vater verstanden habe, bist du damals als Erste aus der Wohngemeinschaft ausgezogen. Ich dachte mir, wenn du zusagst, können Meta und die anderen nicht ablehnen.« Mit Meta war Alexander immerhin verheiratet gewesen.

So hatte sie zugestimmt, obwohl noch der Moment kam, als sie fast ihre Zusage zurückgenommen hätte. Ein paar Worte hatten sie gewechselt. Sie war neugierig geworden angesichts der Phillip-Lim-Handtasche, die unter Chloes Stuhl stand. Doch Fragen, womit sie ihr Geld verdiene, war Chloe ausgewichen. Selbst bei der Frage, ob Alexander denn von ihrem Vorhaben wisse, blieb sie vage, nahm unvermittelt fünf Paar Schlüssel aus der Handtasche und reichte sie Chrissie. »Mein Vater kann das Bett nicht mehr verlassen. Außerdem geht er nicht mehr ans Telefon. Der Schlüssel mit dem runden Kopf ist für die Wohnungstür, der eckige für den Hauseingang.« Die Adresse stand auf einem kleinen Schlüsselanhänger.

Von ihrer Assistentin hatte sie sich die Telefonnummern heraussuchen lassen, dann Meta, Doris und Thomas angerufen. Bei Frank hatte sie gezögert, und es hatte gedauert, bis sie ihn in seiner Redaktion erreichte. Als er abhob, war seine Stimme kühl, ablehnend, man spürte die Routine, die er im Abwimmeln von Menschen besaß.

Aber dann.

»Chrissie, bist du das?« Fast ein Jubelschrei.

Über eine Stunde telefonierten sie, kramten in Erinnerungen. Kein einziges Wort darüber, dass sie ihn damals verlassen hatte, Hals über Kopf aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war.

»Schön, dass du angerufen hast. Hat mich wirklich sehr gefreut. Sehr«, hatte Frank gesagt, bevor sie auflegten.

Wie die anderen, so war auch Frank einverstanden gewesen. Seitdem hatten sie Alexander in regelmäßigen Abständen besucht, an seinem Bett gesessen, ihm Geschichten erzählt und seinem rasselnden Atem und dem Schnaufen der Beatmungsgeräte zugehört.

Bis zu seinem Tod. Der zwar abzusehen war, sie dann aber doch überraschte. Er hatte etwas Unvermitteltes gehabt. Am nächsten Tag hätte Alexander ins Krankenhaus kommen sollen.

Chrissie schloss die Bürotür hinter sich, lief die Treppe zu ihrer darüber liegenden Wohnung hinauf und zog sich um. Obwohl die Hitze durch die offenen Fenster der kleinen Villa drückte, war ihre Haut völlig trocken. Sie liebte die Hitze, so wie sie Schnee und Kälte mied. Ihre Haare waren dicht und gelockt wie vor vierzig Jahren, nur fast weiß. Sie nahm einige schwarze Kleider aus dem Schrank, hielt sie vor den Körper, entschied sich schnell für eins mit weiten, halblangen Ärmeln, damit die Arme nicht so nackt waren auf dem Friedhof. Dabei fiel ihr Blick in das Dunkel des Schranks. Einen Augenblick zögerte sie, dann kniete sie sich hin, drückte die Jacken und Kostüme auseinander, verschwand mit dem Oberkörper zwischen ihnen und tauchte schließlich wieder auf, in der Hand ein Paar schwarze, hochhackige Schuhe mit enormen Plateausohlen. Klein wie sie war, hatten ihr die Schuhe ein Gefühl der Größe vermittelt, von Unbesiegbarkeit. Jahrzehnte schon hatte sie sie nicht mehr getragen, sie waren tückisch. Selbst nachdem sie so schwer damit umgeknickt war, dass sie zwei Monate einen Gips um ihren Knöchel tragen musste, hatte sie sich nicht überwinden können, die Schuhe wegzuwerfen. Noch heute schmerzte der Knöchel gelegentlich. Sie zog die Schuhe an, sie passten. Sie würde vorsichtig sein.

Das Kleid über dem Arm, die Schuhe an den Füßen, ging sie ins Nebenzimmer, fuhr ihren Laptop hoch, schloss für einen Moment die Augen, atmete durch und begann, eine lange Mail an ihre beiden Söhne zu schreiben, eine Mail für beide, lieber Felix, lieber Marcus.

Mit den Gedanken war sie nicht bei der Sache. Hin und wieder, was sie selbst überraschte, hatte sie sich nach dem Telefonat mit Frank und auch später noch, als sie sich bei Alexander über den Weg liefen, bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie ihn damals nicht verlassen. Wie es heute wäre mit Frank.

Sie zog das Kleid über, schminkte sich und ging wieder hinunter ins Büro. Anne, ihre treueste Mitarbeiterin, wartete schon auf sie. Zügig gingen sie durch, was für heute anstand, vor allem die Beratungsangebote an eine Handvoll Startups und zwei Forschungseinrichtungen.

»Die Schuhe sehen sexy aus«, sagte Anne, »Plateausohlen sind schwer im Kommen.«

»Die stammen aus den Siebzigern.«

»Neid«, lachte Anne.

»Zu übertrieben für eine Beerdigung?«

»Ach wo.«

Chrissie nahm die Trauerkarte von ihrem Schreibtisch, schaute auf die Adresse des Friedhofs und verließ das Büro. Auf dem Weg durch den Vorgarten dachte sie noch, dass die Pflanzen Wasser brauchten. Als sie sich am Tor zu der kleinen Gründervilla mit ihrem Büro und ihrer Wohnung umwandte, war ihr einen Augenblick, als verabschiede sie sich von dem Haus. Dann verscheuchte sie den Gedanken, stieg in ihren Alfa, klemmte die Todesanzeige hinter die Sonnenblende und machte sich auf den Weg.

Für einen Augenblick fragte sie sich, ob wohl Moretti auf dem Friedhof sein würde. Aber warum sollte er?

Morgens um fünf

Ich hatte mich gefreut, als Chrissie anrief. Wirklich gefreut. Nach so langer Zeit. Und ich war auch sofort dabei, als es um die Betreuung von Alexander ging. Obwohl ich mehr als genug Termine hatte. Aber ich war gern dabei. Nicht nur, weil ich so Chrissie wiedersehen konnte, auch wegen Alexander. Vor allem wegen Alexander.

Ich blinzelte und hörte den Vögeln zu. Mit dem ersten Licht hatten sie angefangen zu lärmen. Die Vorhänge wehten leicht vor den offenen Fenstern. In ein, zwei Stunden würde die Wärme kaum mehr erträglich sein. Schrecklich, dachte ich, schrecklich, das einmal nicht mehr erleben zu können. Ich streckte mich, und für einen Moment kam ich dem alten Gefühl, bis ich vierzig wurde, nah: dem Gefühl, unsterblich zu sein. Das Kreischen der in den Hinterhöfen um ihr Revier kämpfenden Vögel wurde lauter, ich warf die dünne Bettdecke zur Seite. Entsetzlich, dass das einmal vorbei sein sollte.

Malcolm McLaren, überlegte ich faul, oder Messiaen? Walking with Satie oder Réveil des Oiseaux? Ich stieg aus dem Bett, entschied mich für McLarens Walking with Satie und legte mich wieder hin. Leise summte ich das Lied mit, während McLaren durch das frühlingsbelebte Paris streunte.

Ach, Chrissie.

Ich dämmerte wieder ein, aber gegen den Lärm der Vögel kam ich nicht an. Ein Zeichen, sagte ich mir, stand auf, stellte mich ans Fenster, wunderte mich, wie wenig Vögel überhaupt zu sehen waren, freute mich über die Andeutungen einer Erektion und ließ meine Gedanken von der Leine. Sie sprinteten direkt zu Cheyenne. Cheyenne. Stolze Indianerin. Von wegen. Brotverkäuferin auf dem Markt. Die letzten Wochen, als mich die Hitze früh aus dem Bett trieb, hatte ich immer, wenn Zeit war, mein Brot bei ihr gekauft. Ich ließ mir immer eine besondere Frischhaltetüte geben, die extra kostete und in einem Regal tief unten hinter ihr lag. Wenn Cheyenne sich danach bückte, flatterte ein Tattoo von geflügelten Schlangen aus ihrer knappen Hose. So eine Schlange, das wär’s. Zumal sich bei mir die Überzeugung festgesetzt hatte, dass Cheyenne sich besonders lange bückte, um den geflügelten Fabelwesen alle Zeit der Welt zu lassen, aus ihrer Hose unter das Hemdchen zu flattern. Ich glaubte, einen gewissen Spott in ihren Augen zu sehen, als sie sich aufrichtete und ich ihrem Blick etwas fahrig auswich.

Ich hielt den Kopf unter die Dusche und zog mein Fahrradtrikot an. Was mir schon jetzt zu warm vorkam. Ich goss lauwarme Milch und Ahornsirup über eine Schale mit Dinkel-Cornflakes. Dann holte ich Alexanders Todesanzeige, lehnte sie an die Sirupflasche und aß meine Cornflakes.

Alexander war gestorben, wie er es wollte. Sein Ende hatte er selbst bestimmt. Mich hatte das viel Kraft gekostet, Panikattacken, schweißgebadete Träume – bis heute. Die Beerdigung würde dem ein Ende machen. Meine Angst war verschwunden. Beerdigung hieß auch, dass sie den Leichnam freigegeben hatten. Wenn es auch gedauert hatte, was meine Nerven erheblich strapazierte. Metas wohl auch. »Frank«, hatte sie gestern noch am Telefon gesagt, »Frank, es ist vorbei.« Danach war mir so leicht wie lange nicht.

Ich nahm noch einen Schluck warmen Roibos-Tee, was mir einen Schweißausbruch bescherte. Alle würden sie da sein. Gemeinsam hatten wir Alexander für die Zeit, die ihm noch geblieben war, begleitet. Jetzt würden wir uns auch gemeinsam von ihm verabschieden. Wahrscheinlich würde es das letzte Mal sein, dass die Wohngemeinschaft vollzählig war. Selbst wenn einer nur als Toter dabei war.

Ich füllte die Trinkflasche mit Apfelschorle, warf noch eine Magnesium-Tablette hinein und steckte mir die Flasche ins Trikot. Mein Mountainbike, das ich im vergangenen Jahr in einem dieser hypermodernen Fahrradgeschäfte gegen einen ordentlichen Haufen Geld eingetauscht hatte, hing eins a geputzt im Flur an der Wand. Ich fuhr mit dem Finger über die Kette, wischte ein paar Ölreste ab. Dann zog ich die Fahrradschuhe an; die harten Sohlen machten ein klackendes Geräusch auf dem Parkett, als ich das Fahrrad vom Haken nahm und die Treppe runterlief.

Auf der Straße war die Hitze des Tages schon zu ahnen. Die Uhr zeigte kurz vor fünf. Kein Mensch zu sehen. Die Stille wurde verstärkt durch das ferne Echo von Schritten. Ich hatte Zeit. Gegen zwölf würde sowieso alles vorbei sein. Alexander hatte immer einen Riesenkult um dieses »fünf vor zwölf« gemacht. Für ihn war es eigentlich immer »fünf vor zwölf« gewesen.