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Meerjungkind

Lottes aufregender Sommer auf Helgoland

Elke Brachtendorf & Antonella Lendi

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-512-1 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-155-8 - E-Book (2020)

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Inhalt

Teil 1

1. Alte Liebe

2. Betty

3. Chaiselongue

4. Düne

5. Entdeckung

6. Fragen über Fragen

7. Geheimnisse

8. Held

9. Interview

10. Jonny

11. Kummer

12. Loslassen

Teil 2

13. Mitgerissen

14. Nordozeanien

15. Onkel Karli

16. Panik

17. Quasi ahnungslos

18. Riesenechserei

19. Selbstvorwürfe

20. Tauchen

21. Unternehmen E. H.

22. Verdammnis

23. Wandlung

24. X-mal

25. Yeah ... yeah ... yeah!

26. Zurück

Teil 3

27. Übergabe

28. Honigbrunnen

29. Gedeih oder Verderb

30. Gegenüberstellung

31. Ineke Mar

32. Düne

33. Stockbrot

Die handelnden Personen Helgoland

Die handelnden Personen Nordozeanien

Ein kleines Nachwort

Die Autorin

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Teil 1

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1. Alte Liebe

Als wir mit Kapitän Flunder Halunder aufs offene Meer hinausfuhren, war wahrhaftig der Teufel los. Die Schiffsreise auf der Elbe war ja noch ganz passabel verlaufen. Aber nun, nachdem wir Cuxhaven verlassen hatten, setzte der Sturm der kleinen Fähre kräftig zu. Windstärken in Böen bis neun und zwei bis drei Meter hohe Wellen umtosten das Schiff. Schon bald krachten die ersten Brecher auf das Deck. Alle Passagiere wurden aufgefordert, sich unterdecks im Salon in Sicherheit zu bringen und der Mannschaft gefälligst nicht im Weg zu stehen.

Die Schiffsbesatzung hatte alle Hände voll zu tun. Über das Tosen des Sturmes hinweg konnten wir gelegentlich Wortfetzen der gebrüllten Kommandos bis hinunter in den Schiffsbauch hören. Halunder, der raubeinige Kapitän, war in seinem Element. Sein Schiff stürzte ein ums andere Mal in wilder Fahrt in ein Wellental hinunter, um gleich darauf wieder rasant emporgehoben zu werden. Dabei ächzte und knarzte die Alte Liebe, als wollte sie auseinanderbrechen.

Die wenigen Passagiere, die heute bei schwerer See die Überfahrt gewagt hatten, klammerten sich angstvoll aneinander. Sie stöhnten bei jeder neuen Kapriole, die das Meer mit dem Schiff trieb, jammervoll auf. Einige zeigten schon die ersten Anzeichen der Seekrankheit: aschfahle Gesichtsfarbe, sehr konzentrierter und sehr leidender Ausdruck. Nicht mehr lange und ihre geplagten Mägen würden all das herausschleudern, was sie morgens noch nichts ahnend gefrühstückt hatten.

Ich beobachtete, wie ein großer schwarzer Hund voller Panik auf den Schoß seines Herrchens sprang. Der Mann konnte das schwere Tier kaum halten, das zudem noch verzweifelt versuchte, seinen Kopf unter dessen Jacke zu stecken. Der Hund ließ sich absolut nicht beruhigen und gab ein klägliches Jaulen von sich. Die Szene hatte trotz der angespannten Lage beinahe etwas Komisches. Immerzu rutschte ein Stück Hund an irgendeiner Seite herunter, und der arme Mann kämpfte sichtlich ebenso verzweifelt wie sein Vierbeiner darum, nicht den chaotischen Bewegungen des Bootes zu unterliegen und zu Boden geschleudert zu werden.

In der Kajüte tanzte alles hin und her, was nicht niet- und nagelfest war. Sämtliche Koffer und Rucksäcke, die nicht vernünftig verstaut worden waren, rutschten auf den Holzdielen hin und her, was angesichts der Situation von niemandem groß beachtet wurde. Jeder war vollauf mit sich selbst und seinem rebellierenden Magen beschäftigt.

Der Blick durch die Bullaugen verhieß, ohne zu übertreiben, tatsächlich Unheilvolles. So verschwamm der Himmel mit dem Meer zu einer schwarzen, brodelnden und schäumenden Masse ohne Kontur und Horizont. So sehr ich mich auch anstrengte, meine Augen an irgendetwas da draußen heften zu können, um der nahenden Seekrankheit zuvorzukommen, es gab nichts. Nichts als das schwarze Meer, gekrönt durch die weiße Gischt auf den Wellenbergen, Meer- oder Regenwasser, das durch den Sturm waagerecht durch die Luft flog, eine Angst einflößende Szenerie.

Was mich betraf, ich war ja Seereisen bei Wind und Wetter gewöhnt und hatte das Meer schon auf so viele verschiedene Weisen erlebt. Als Vertreter für Fleisch- und Wurstwaren pendelte ich regelmäßig zwischen dem Festland und Helgoland hin und her. Denn meine Kunden, die Gastwirte und Hoteliers der Insel, bestellten über mich ihr Fleisch vom Festland. Fast immer reiste ich dabei mit der Alten Liebe – und Kapitän Halunder war über die Jahre so etwas wie ein Freund geworden. Man konnte seinem seemännischen Können wirklich vertrauen und ich bewunderte ihn rundheraus.

Bei dieser Fahrt war ich dennoch etwas in Sorge, denn ich reiste diesmal ja nicht allein. So fühlte ich mich verantwortlich für Lotte, das Kind meiner Cousine aus Hamburg. Ich hatte versprochen, die elfjährige Deern bei den St.-Pauli-Landungsbrücken in Empfang zu nehmen und mich während der Schiffsreise um sie zu kümmern. Normalerweise kein Problem. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass wir diese Reise miteinander unternahmen, aber nun, bei diesem Unwetter, war das ein ganz anderer Schnack.

Um ihr die Furcht zu nehmen, redete ich pausenlos drauflos. So plauderte ich in unverfänglichem Ton von irgendwelchen Belanglosigkeiten, so als wären wir an einem Sonntag unterwegs im Botanischen Garten: „Ja, den Kapitän Halunder kenne ich nun schon mein halbes Leben. Weißt du, er soll ja schon mit fünf Jahren bei seinem Vater auf dem Lotsenboot mitgefahren sein. Wenn sich einer auskennt auf dem Meer, na ja, dann der alte Seebär. Kannst du mir wirklich glauben, Lotte. Es wird auch nicht mehr lange dauern. Bestimmt sind wir bald da.“ So redete ich auf das arme Kind ein, und die Zeit verging trotz allem so zäh wie Kaugummi.

Lotte fuhr jedes Jahr für die Sommerferienzeit zu ihrer Wahlpatentante Betty auf die Insel. Die beiden, das war für jedermann klar, verstanden sich auf eine besondere Weise. So freute sich Lotte eben auch das ganze Jahr über auf diese Sommerwochen. Dann wurde es lustig und abenteuerlich, denn Betty, das darf ich sagen, ist ein verrücktes Huhn.

Die Helgoländer hatten anfangs, das erinnere ich noch gut, mit der Hinzugezogenen so ihre Schwierigkeiten. Hinter ihrem Rücken wurde nicht selten Anstoß genommen an ihren ausgeflippten Allüren. Ständig färbte sie sich ihre Strubbelhaare in grellen Farbtönen, mal neongelb, mal quietschgrün, mal schwarz mit roten Tigerstreifen. Von ihrem übrigen Outfit will ich hier gar nicht erst sprechen.

Betty ist die Freundin von Lottes Mutter Thea und ist eines guten Tages von Hamburg nach Helgoland gezogen. Jeder aus Bettys Umfeld dachte sich seinen Teil dazu: Einig waren sich jedoch alle in der Einschätzung, dass es sich hier um eine typisch spinnerte Betty-Idee handeln und sie über kurz oder lang wieder in Hamburg auftauchen würde.

Nichts dergleichen passierte und anscheinend hatte sie sich als Künstlerin dort im Laufe der Zeit einen Namen gemacht. Ab und zu las man sogar mal einen Artikel über die Vom Winde verwehte Hamburgerin im Abendblatt. Wenn man mich fragt, verstehe ich unter Kunst wirklich etwas anderes, aber die Welt ist ja voll von komischen Dingen. Na, immerhin ist Betty eine offene und gut gelaunte Person, sodass sie mit den meisten Helgoländern mittlerweile gut Freund geworden ist.

Lotte hatte sich während der Überfahrt alles in allem tapfer gehalten. Mit jeder Seemeile war sie jedoch ein kleines Stückchen näher an mich herangerückt. Als sie sah, dass selbst die beiden Männer uns gegenüber sich irgendwann angstvoll bei den Händen gefasst hielten, schlüpfte auch Lottes Hand unter meinen Arm. Ob sie irgendetwas von meinem Geplapper aufgenommen hatte, ich wusste es nicht. Jedenfalls ließ ich nicht nach, bis von oben das erlösende: „Helgoland voraus!“, erschallte.

„Ganz tapfer biste gewesen, min Seuten“, sagte ich, „nun haben wir es wirklich bald geschafft.“ Lotte blickte mich sichtlich erleichtert an. Etwas bleich um die Nase, aber sie lächelte schon wieder. „Meinst du, Onkel Karli, Tante Betty, holt uns vom Anleger ab?“

Kaum war die Alte Liebe in Sichtweite des Hafens angekommen, war unübersehbar die Gestalt Bettys auszumachen.

„Unverkennbar, meine Tante“, lachte Lotte.

Ehrlich gesagt, ich traute meinen Augen kaum. Der Sturmwind zerrte an den Leuten, die sich als versprengte kleine Gruppe an der Hafenmole versammelt hatte. Alle eingepackt in wetterfeste Kleidung, alle – bis auf eine Gestalt: Mit ihren 1,87 m ragte sie heraus, Betty, diesmal mit leuchtend roter Hochfrisur. Diesen kunstvollen Aufbau gegen den Wind zu schützen, war Betty ganz offensichtlich verzweifelt bemüht. Schwarze Lederjacke, Männergröße, geschätzte XXL, und darunter trug die Dame einen grün-gelb-karierten Minirock. Die Beine steckten in Netzstrümpfen ... und ließ man den Blick noch weiter nach unten gleiten, so entdeckte man nicht ohne Erstaunen eine Art Filzpantinen Marke Urgroßmutter.

„Irgendwie sieht sie aus wie ein Hippie-Leuchtturm“, raunte mir Lotte zu, während wir auf puddingweichen Beinen die Fähre verließen. Endlich hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen, der jedoch noch beträchtlich zu schwanken schien. Was für ein Abenteuer hatten wir da gerade hinter uns gebracht!

Wir gingen auf die Gruppe der Wartenden zu. Beim Näherkommen lachte uns ein knallroter Lippenstiftmund entgegen, der wie gewohnt, auf die oberen Schneidezähne abgefärbt hatte.

Das Schärfste aber war, und das sahen wir wirklich erst, als wir kurz davor waren, Betty zu umarmen: an einer echten Hundeleine befand sich, ebenfalls vom Sturmwind umtost, ein Plüschhund auf Rädern. Allem Anschein nach ein Dalmatiner, aber ich will mich da nicht festlegen.

„Da seid ihr ja endlich, ihr Bagaluten!“, begrüßte uns Betty fröhlich. „Das wurde aber auch Zeit. Roxana und ich warten hier schon seit ’ner Ewigkeit, was, meine Kleine?“ Und dabei beugte sie sich tatsächlich zu dem Hündchen am Ende der Leine herunter. „Mutti wird dir zu Hause ein schönes Leckerli geben!“

Ich glaube, ich muss nicht extra erwähnen, dass die umstehenden Leute, Sturm und allgemeines Begrüßungstrallala zum Trotz, den Mund nicht mehr zubekamen, als sie dieses ungewöhnliche Pärchen erst einmal entdeckt hatten.

Lotte flog ihrer Patentante in die Arme. Es folgten stürmische Umarmungen und Kussversuche der Tante, denen Lotte aber geschickt auszuweichen versuchte. „Moin, Moin, du liebes, gutes Tantchen“, flötete sie und duckte sich vorsichtshalber schon mal, weil sie ja wusste, was nun folgen würde: „Du, na warte, bei Sam Sullivan und seiner missratenen Brut, ich zieh dir die Ohren lang, wenn du mich noch ein Mal so nennst!“

Betty zog an der Hundeleine, das Hündchen rollte auf sie zu: „Komm. Roxana, meine Süße. Lass uns von hier verschwinden.“ Dann schaute sie uns augenzwinkernd an: „Zu Hause wartet übrigens eine große Schüssel mit Klabautergrütze auf mein Lieblingspatenkind.“

Für diejenigen, die’s nicht kennen, Klabautergrütze ist eine typische Betty-Spezialität, bestehend aus:

Grüner Götterspeise

mit Gummibärchen- und Lakritzschneckenbelag,

darüber ungefähr 20 Tüten Ahoi-Brause

verschiedenster Geschmacksrichtungen.

Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie garantiert frei ist von Naturstoffen wie etwa Vitaminen, Mineralien oder ähnlichem und scheint eher ein Gericht aus der Unterwelt zu sein. Überhaupt nicht mein Fall. Aber darauf kam es ja nun nicht an.

Da ich von der Überfahrt mit der Fähre doch angegriffener war, als ich zunächst geglaubt hatte, verabschiedete ich mich von den beiden am Fahrstuhl, der hinauf ins Oberland führte. Während der ganzen Zeit war dieser Hund hinter Betty hergerollt. „Roxylein, du musst keine Angst vor dem Fahrstuhl haben. Mutti nimmt dich auf den Arm.“

Spätestens da wurde es Zeit, die beiden zu verlassen und meine eigenen Wege zu gehen.

*

2. Betty

Ihr hättet das Gesicht von Onkel Karli sehen sollen! Und dann, wie er sich immer nervös umschaute, so besorgt war er, dass ihn irgendein Bekannter mit Tante Betty und ihrem süßen Roxylein zusammen sehen könnte. Ich hätte mich wegschmeißen können vor Lachen, ließ mir natürlich nichts anmerken, ist ja klar. Tante Betty und ihre Verrücktheiten kenne ich ja nun seit ich ein kleines Kind bin. Irgendwie find ich’s total cool, dass sie so anders ist als alle anderen Leute. Ich muss bei ihr immer an Pippi Langstrumpf denken, ein bisschen in die Jahre gekommen, aber genauso witzig und ungewöhnlich. Auch Tante Betty macht im Grunde, was sie will, und schert sich absolut nicht darum, was die anderen sagen. Sie hat Lust, so zu sein und ein irres Vergnügen daran, die Umgebung ein bisschen zu schocken. Die Nummer mit dem Dalmatiner auf Rädern … Ihr hättet die Leute am Anleger erleben müssen. Leibhaftig gewordene Fragezeichen. So gesehen ist Tante Betty ein ständiges Ausrufezeichen und immer für eine Überraschung gut.

Aber komisch ist das ja schon: Da finden alle Pippi Langstrumpf oder andere verrückte Gestalten aus irgendwelchen Kinderbüchern total toll, aber wehe, sie begegnen so einer Type mal leibhaftig. Da rümpfen sie dann die Nasen. „Nein, so was!“, sagen die Etepetetegesichter. Da fällt jemand ja ganz unangenehm auf. Versteht ihr das?

Ich gebe ja zu, das mit den Omapuschen müsste nicht unbedingt sein. Und wenn sie ihre High Heels aus Schlangenlederimitat trägt, habe ich immer Angst, dass sie sich auf der steilen Treppe vom Ober- ins Unterland eines Tages mal kräftig auf die Nase legen wird.

Das findet Mama übrigens auch. Und deshalb haben wir ihr in Hamburg lilafarbene Turnschuhe in Größe 45 1/2 besorgt. Na, ja, und dass der Lippenstift immer zur Hälfte an den Zähnen klebt … ist irgendwie auch nicht so der Hit. Daran müssen wir noch arbeiten.

Tante Betty wohnt in einem der typischen Helgoländer Nullachtfünfzighäuser. Es liegt ein wenig außerhalb des Ortes auf dem Oberland, ganz in der Nähe der lustigen, kleinen Schrebergärten. Von da aus kann man hinübersehen zur Düne, dem Schwesterinselchen, das in grauer Vorzeit mal mit der großen Hauptinsel verbunden war. Heutzutage musst du mit einer kleinen Fähre hinübergondeln, wenn du die Seehunde und Kegelrobben besuchen willst.

Letztes Jahr hatte Tante Betty ihr Haus in einem schwarzweißen Schachbrettmuster angemalt und große Plastikschachfiguren auf die Hauswand geklebt. Abgefahrene Idee!

Nun, während wir die letzten Schritte durch die kleinen Sträßchen gehen, Roxy hin und wieder mal die Nachbarshunde begrüßen muss, bin ich schon megamäßig gespannt, in welchem Outfit das Häuschen wohl diesmal erscheinen wird.

„Du siehst ja noch immer aus wie ’n Schluck Wasser in der Kurve, Lotte-Motte.“

„Ich bin kein bisschen seekrank geworden und Angst hatte ich auch nicht. Frag Onkel Karli!“

„Nee, lass mal stecken, ich glaube dir doch, meine Purpurschnecke. Weißt du eigentlich, was Käpten Halunders Leitspruch ist? Wir werden das Schiff schon schaukeln. Und, hat das wohl diesmal hingehauen? Was denkst du?“

Immer wieder begeistert mich das Gefühl, auf dem Oberland zu sein! Du stehst da wie auf einem Tafelberg mitten im Meer und siehst, wohin du auch schaust, nichts als Weite ohne Ende. Du beobachtest die Schiffe, die sich, klein wie Spielzeuge, auf den Weg in die sieben Weltmeere machen. Das beflügelt meine Fantasie jedes Mal und ich bekomme so ein richtig feierliches Gefühl irgendwie, von so einem unglaublichen Ort auf die Welt zu blicken. Den alten Helgoländern sagt man übrigens nach, vom vielen In-die-Ferne-Blicken, um zum Beispiel Feinde auszuspähen oder nach den eigenen Schiffen Ausschau zu halten, von jeher Adleraugen besessen zu haben.

Das kann ich mir hier oben ohne Weiteres vorstellen, während ich meinen Blick umherschweifen lasse. Doch für das, was ich nun zu sehen bekomme, brauche ich keine Adleraugen: vor uns – der Palast von Tante Betty.

In diesem Jahr hatte sie sich tatsächlich selbst übertroffen. Ihr müsst euch vorstellen: Auf der einen Seite ist das Brandenburger Tor abgebildet. Dieses große Säulenmonument, das mitten in Berlin steht, etwas verkleinert versteht sich, aber täuschend echt, wurde von Tante Betty auf die eine Hauswand gemalt. So richtig in 3-D-Technik, supercool. Dann siehst du auf der anderen Seite den Arc de Triomphe, den Triumphbogen aus Paris, wie er in meinem Französischbuch zu sehen ist. Auch er stark geschrumpft, damit er auf die Hauswand passt.

Jetzt gehen wir um das Haus herum. Auf der Wand, Paris sozusagen gegenüber, siehst du noch ein Tor, und als Marzipanfan erkennt man sofort die kleinen, dicken und schiefen Türme vom Lübecker Holstentor. Nun bin ich gespannt, was auf der Rückseite zu sehen ist. Klar, natürlich, ich hätte es mir denken können: Hamburg, Tante Bettys Geburtsort, darf ja nicht fehlen. Und so hat sie auf der Gartenseite ihres Hauses eine weitere Leidenschaft von ihr dargestellt: Den Eingang zum St.-Pauli- Stadion am Millerntor.

Das allein sieht schon alles wahnsinnig beeindruckend aus. Aber nun kommt’s: Überall stehen an den Toren Soldaten oder am Holstentor Ritter oder beim St.-Pauli-Stadion Polizisten herum. Sie alle tragen aber statt der üblichen Waffen wie Speere, Gummiknüppel, Lanzen oder Gewehre gigantische Riesenlollis, lange Stäbe mit rosa Zuckerwatte und bunte Zuckerstangen in Hab-Acht-Position.

Dabei schauen sie ernst und angriffslustig, so als hätten sie keine Idee davon, was sie eigentlich da in den Händen halten. Das sieht unglaublich komisch aus und natürlich könnte ich euch jetzt stundenlang einen Vortrag darüber halten, weil’s ja schließlich ein echtes Kunstwerk ist, mit Hintergedanken und so. Aber ich habe jetzt Lust auf Klabauterpudding und darauf, endlich das Haus zu begrüßen.

„Weeste, Kleene, ick hatte ma Lust auf Großstadt“, berlinert Tante Betty beim Begrüßungstee, „und wenn ick dann jezze uf mein Haus zuloofe, bin ick direkt in Berlin. Toll, wa?“

„Oui, Madame, où à Paris, n’est-ce pas?“, sagte ich.

„Ja, ist schon großartig, es ist eine Illusion, und trotzdem umgibt mich hier auf diesem roten Backstein im Meer so etwas wie Großstadtluft, wenn ich mein Häuschen anschaue. Jonny hat mir übrigens unheimlich viel geholfen“, fügte Tante Betty hinzu. „Er ist jetzt sehr oft bei mir, seit sein Vater auf dem Festland ist.“

„Ist seine Ooti immer noch so streng mit ihm?“

„Tja, mein Muschelchen, das ist eher noch schlimmer geworden. Sie schimpft immerzu über ihn, nennt ihn einen Nichtsnutz und gönnt Jonny kein freundliches Wort. Seit er jetzt noch den neuen Lehrer aus Pinneberg hat, den Oberstudienrat Meyer-Popanz, lach nicht, der heißt wirklich so, ist Jonny auch in der Schule so richtig abgestürzt. Eine Schande, dass Tine Brommer aufs Festland gegangen ist. Die kannte ihn seit der Grundschule und wusste, wie man den Jungen anpacken muss.“

Tante Betty macht ein betrübtes Gesicht, doch kurz darauf erscheint schon wieder ihr Grübchenlächeln auf dem Gesicht. „Jonny hat einen Platz in meinem Herzen – und in meinem Atelier.“ Sie zeigt auf eine Nische, wo sie früher eine kleine, antike Sitzbank aufbewahrt hatte, die sie irgendwann einmal aufarbeiten wollte. „Er hat sich dort seinen Schlafsack ausgebreitet und versorgt sich selbstständig in der kleinen Teeküche. Abends essen wir dann meistens zusammen. Seine Ooti weiß über das alles Bescheid und duldet diese Lösung, zähneknirschend allerdings nur. Sie ist ganz einfach total überfordert mit dem Jungen.“

„So, Tantchen, spendierst du noch eine Portion Klabauterpudding?“

„Klar doch, aber nur, wenn du mir dafür ein paar aufregende Großstadtstorys erzählst.“

„Dieser Deal gefällt mir. Wo fange ich an?“

Wir waren so eingetaucht ins Erzählen aller möglichen Geschichten, dass wir gar nicht bemerkt haben, wie spät es inzwischen geworden war. Da es nur wenige Tage nach Mittsommer ist, wird es ja auch erst gegen 23:00 Uhr ernsthaft dunkel.

„Hi, Ladies!“ Tante Betty und ich zucken zusammen. In der Tür zum Garten steht eine Gestalt: kurze Hosen, schwere Stiefel, ein T-Shirt, was allerdings nur bis kurz über den Bauchnabel reicht, mit der Aufschrift St.-Pauli-Retterin – ganz offensichtlich ein Exemplar aus Tante Bettys umfangreicher T-Shirt-Sammlung.

„Hast du ’n Knall, uns so zu erschrecken!“, flucht Tante Betty. „Jonny-Boy, ich bin über 40 und extrem herzinfarktgefährdet.“

„Sorry, Betty! Soll nicht wieder vorkommen.“ Und zu mir: „Da schass du di wunnern, das Einfache Lottchen! Moin, Moin.“ Hatte er das seit dem letzten Jahr nicht vergessen, der Lump. Als bekennender Erich Kästner Fan – „… ist für mich der Weltbeste“, O-Ton Jonny – denkt er bei Lotte natürlich immer gleich an das Doppelte Lottchen.

„Schickes T-Shirt“, kontere ich vielleicht eine Spur zu schnippisch. Tante Betty sieht mich von der Seite an. „Moin, Jonny, altes Haus!“, sage ich also in versöhnlichem Tonfall. „Was macht die Kunst?“ Das soll cool rüberkommen, aber es ist wie immer: Ich muss zugeben, dieser Jonny schüchtert mich noch immer ein. Alles, was ich sage, erscheint mir irgendwie unpassend, unecht, komisch. Statt selbstbewusst und witzig zu sein – so wie sonst–, verwandle ich mich augenblicklich in ein unsicheres, total gehemmtes Wesen – wie sonst nie. Das ist komplett bescheuert. Woran das liegt? Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Vielleicht weil ich mir vor Jonny wirklich wie ein halbes Lottchen vorkomme.

Und dann ist er eben auch ganz anders als die anderen Jungen aus meiner Schule – was allerdings nicht unbedingt ein Nachteil ist. Ich werde versuchen, euch Jonny zu beschreiben. Aber nun muss ich ihn ja selbst zuerst wieder kennenlernen.

„Was haltet ihr beiden von einem Picknick bei der Langen Anna?“, sagt Tante Betty in munterem Tonfall. „Zur Feier des Wiedersehens?“

„Kommt der Hund mit?“, fragt Jonny.

„Nee, du weißt doch, der macht mir die Heidschnucken ganz verrückt. Roxy bewacht die Hütte.“

„Na, denn ab in die Kombüse, damit wir auch was Ordentliches speisen können.“

Als wir mit unserem prall gefüllten Picknickkorb über die saftig grünen Weiden des Oberlandes wandern, dauert es nicht lange und wir treffen tatsächlich die Herde der zottelig bewollten Riesenschafe. Mit ihren geschwungenen Hörnern und den freundlichen, schwarzen Gesichtern sehen sie aus wie gesellige Urviecher. An den Klippen bei den Lummenfelsen sind einige besonders wagemutige Schafe unter der Abzäunung hindurch geklettert und rennen mit atemberaubender Geschwindigkeit direkt am Abhang hin und her.

„Sind die verrückt geworden? Die stürzen doch gleich ab!“ Ich beobachte voller Sorge, wie die Lämmer den Steilhang auf und ab jagen, gefolgt von den blökenden Muttertieren, die voller Panik versuchen, die Kleinen von den Klippen wegzutreiben. Ich kann gar nicht hinsehen.

Aber Jonny und Tante Betty scheint das Spektakel gar nicht weiter zu beunruhigen. „Keine Sorge, Lotte-Motte, die kennen sich hier aus.“

„Na, manchmal stürzt tatsächlich auch mal ein Schaf ins Meer, das kommt schon vor“, sagt Jonny.

Wie schrecklich!

Was für ein unglaubliches Schauspiel bietet sich dort am Lummenfelsen! Auf den sehr schmalen Felsvorsprüngen des roten Kliffs drängelt sich eine unübersehbar große Anzahl von Trottellummen auf engstem Raum in schwindelnder Höhe über dem Meer. Sie sehen aus wie kleine Pinguine und mich begeistern sie jedes Mal. Die Lummen teilen sich diesen Ort mit den Basstölpeln und den Dreizehenmöwen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen, wie in einem gigantischen Opernhaus mit vielen Tausend Rängen, die gefüllt sind mit Millionen von Zuschauern. Und dabei sehen die Lummen noch so elegant aus in ihren kleinen schwarzen Fräcken. Die Luft ist erfüllt von ihrem Kreischen, Schreien und Rufen. Ein Wahnsinnsspektakel! Die Bühne ist das Meer, die beleuchtet ist vom milden Abendlicht der untergehenden Sonne. Das Bild nimmt mich total gefangen.

Die Lange Anna ist ein Felsenturm, der losgelöst von der übrigen Insel allein und majestätisch aus dem Meer emporragt – das Wahrzeichen Helgolands und ebenfalls bevölkert von Brutvögeln. Rot und darüber weiß gesprenkelt vom Vogelkot steht die Lange Anna da, wie ein Hochhaus für Hochseebewohner. Hier herrscht das gleiche Spektakel wie auf dem Lummenfelsen.

Ein Mäuerchen, das im Halbkreis angelegt worden ist, scheint uns der ideale Platz zu sein für unser Sonnenuntergangs-Menü über dem Meer.

„Es ist einfach unbeschreiblich!“, rufe ich aus. Tante Betty lächelt ihr Grübchenlächeln. „Na, denn, meine beiden Lieblingskinder, lasst uns mal auftischen!“

Es schmeckt superköstlich. Das frische Brot, Oliven und Schafskäse, die Tomaten, reichlich verschrumpelt und komisch verwachsen, aber original aus Tante Bettys Gärtnerei, ihrem kleinen Schrebergärtchen über dem Meer. Dazu Schnittlauch und Quark und allerlei andere leckere Sachen. Zu Trinken reicht man Sanddornsirup, mit Wasser verdünnt, aus echten Kristallgläsern. Sehr vornehm das Ganze. Abgerundet wird das Menü durch eine Auswahl an hochfeinen Schokoladen, auf die Tante Betty aus Rücksicht auf ihre „Bikinifigur“, wie sie sagt, „zugunsten der Jugend“ verzichtet. Sie stopft sich stattdessen ihre kleine Meerschaumpfeife und pafft weiße Qualmwölkchen in die Abendluft. Jonny ist sehr still und in sich gekehrt, was sich nach und nach auch auf Tante Betty und mich auswirkt. Die Stimmung ist bezaubernd, fast ein bisschen feierlich. Schiffe, die in nördliche Richtung davonfahren, vollkommen lautlos, die Sonne, die langsam in eine Wolkenbank eintaucht und den Himmel mit zartesten Pastelltönen färbt, von Ferne das Rufen und Kreischen der Seevögel.

Tante Betty erhebt das Glas: „Ich freu mich auf eine vergnügliche Zeit mit euch!“

„Jou!“, sagt Jonny darauf und grinst, eine Spur verlegen vielleicht. In Wahrheit knuspern wir, glaube ich, beide an der Tatsache, von jetzt an Tante Betty mit jemandem teilen zu müssen. Ich zum Beispiel hatte Jonny überhaupt nicht auf dem Zettel, als ich mir über meine Ferien auf Helgoland Gedanken gemacht habe. Vielleicht habe ich, na ja, ein ganz kleines bisschen gehofft ….

Aber nein, eigentlich spielte Jonny bei meiner Vorfreude auf die Insel keine Rolle. Nein, echt nicht.

Nun wandern wir Stunden später von der Langen Anna zurück Richtung Brandenburger Tor. Der Picknickkorb ist fast leer und ich habe noch das schöne Bild vor mir, wie die Schiffe auf die ferne Wolkenbank zugefahren sind wie auf ein dunkles, unbekanntes Ufer in einer fremden Welt.

Schon lange schickt der Leuchtturm vom Oberland aus seine Strahlen über das Wasser. Leuchttürme sind was Magisches, finde ich. Seezeichen im Meer.

Kaum haben wir das Holstentor erreicht, sagt Jonny: „Na denn, ciao Ladys! Ich bin denn mal weg.“ Tante Betty schaut ihn verwirrt an. „Ich kuck mal, was Ooti so treibt!“

„Komm mal her“, und ehe er sich’s versieht, hat ihm Tante Betty einen Kuss auf die Stirn verpasst. Da leuchtet jetzt ein roter Lippenstiftmund, den sie ihm aber noch schnell mit dem Daumen abrubbelt. Und nun schlendert Jonny, jetzt auch verwirrt, von dannen. Bald hat ihn die Dunkelheit verschluckt und ich sehe nur noch die kreisenden Strahlen des Leuchtturms, die wie ein magisches Kettenkarussell rund und rund drehen.

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3. Chaiselongue