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Natascha Honegger

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2012 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

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Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2012

Titelbild und Illustrationen: Natascha Honegger

ISBN: 978-3-86196-131-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-193-0 - E-Book (2020)

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Inhalt

1.Teil: Vier Elemente

Prolog: Element Luft

Alaista Karantan

Besuch im Waisenhaus

Unterwegs

Eine ungewöhnliche Begegnung

Eine unfaire Verhandlung

Meuterei auf hoher See

Rot wie Feuer, Grün wie Erde

Die Falle

Die alte Zauberin

Dentratan – Festung des Bösen

Beobachtet

Zentesas – Stadt der Magie

Die fünf Vulkane

Gedankenzauber

Neosis – Die Stadt unter der Asche

Das Nichts

Gefangen im Land der Ängste

Das Tor nach Nemsral

Nemsral – Die Hauptstadt der Unterwelt

Die geheimen Tagebücher des Arkamoor Salsar

Zurück nach Zentesas

Der Ankanzius

2.Teil: Die Schlacht um Dentratan

Soilera

Der Plan

Die Reise

Der Fluch der Göttin

Das Zeichen

Elferra

Das Geheimnis der Obiliuscenze-Mine

Der letzte Geheimgang

Wiedersehen auf feindlichem Boden

Die Gefangene

Der letzte Kampf

Epilog

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Wenn die Dunkelheit versucht, das Licht zu binden,

und der letzte Widerstand zu brechen scheint,

dann, ihr Magier, bedenket immer:

Ohne Gutes auch kein Böses sei.

Am Tag der letzten freien Insel Fall,

beginnt der Prophezeiung Hall.

Vier Kinder werden dann geboren sein:

das erste Grün, das zweite Rot, das dritte dunkles und das letzte helles Blau.

Doch erst, wenn sich alle Elemente einen

und die Fehler der Vergangenheit in klarem Licht erscheinen,

dann, sobald der letzte Schnee des Winters schwindet,

wird sich der Zauberer Heer bei der Alten Eich einfinden.

So entsteht ganz ohne Acht

zwischen Licht und Dunkel eine Schlacht.

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1.Teil: Vier Elemente

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Prolog: Element Luft

Ein Unwetter zog über eine kleine Stadt namens Merlina an der nördlichen Küste des Landes Aria. Es stürmte heftig und es goss wie aus Kübeln. Blitze tauchten alles in ein schauriges Licht und der Donner grollte wie ein wütendes Tier. Gewaltige Wassermassen schlugen unaufhaltsam gegen die steil abfallenden Klippen und versprühten einen salzigen Schauer, bevor sie zurück in die tobende Gischt fielen.

Bei diesem schrecklichen Wetter stand eine junge Frau auf dem höchsten Punkt der Küstenlinie und blickte mit wehendem Haar auf das offene Meer hinaus. Ein mächtiger Wasserzyklon suchte dort wirbelnd seinen Weg und der auffrischende Wind heulte und pfiff um die Ecken der nahegelegenen Häuser. Hätte es jemand gewagt, die schützenden Mauern der Stadt zu verlassen, so wäre er zweifellos in den Abgrund gerissen worden, an dessen Ende die aufgewühlte See tobte.

Nicht so die zierliche junge Frau, deren Schönheit man unter den wallenden Tüchern nur erahnen konnte. Einzig ein sanfter Lufthauch durchdrang die blaue Aura, die sie, ausgehend von einem kleinen Stoffbündel in ihren Armen, wie eine Hülle umgab. Es war ein Baby, fest eingewickelt in warme Decken, sodass nur das kleine, rundliche Gesicht sichtbar war. Das Mädchen schlief ruhig und völlig unbeeindruckt von dem Unwetter, das um es herum tobte, unwissend, welche Kräfte ihm angeboren waren.

Die junge Frau seufzte leise und wandte sich dann von den Klippen ab. In ihren blauen, freundlichen Augen glitzerten Tränen und sie schien dem Sturm ebenso wenig Beachtung zu schenken wie ihre Tochter.

Zielstrebig lief sie durch die vielen verwinkelten Gassen der Stadt bis zu einem alten, heruntergekommenen Haus, welches ein wenig abseits von Merlina stand. Die ehemals weiße Farbe war längst abgeblättert und der Wind peitschte die alten Fensterläden auf und zu. Immer wieder schlugen sie mit einem lauten Knall gegen die Wände, bis sie letztendlich aus den Angeln gerissen und weggeweht wurden.

Dieser trostlose Ort war nichts anderes als das örtliche Waisenhaus.

„Das ist die einzige Möglichkeit“, dachte die junge Frau. „Es ist besser, wenn sie weit weg von ihrem Geburtsort aufwächst, weit weg von allen Gefahren …“

Sie drückte das Baby an sich, gab ihm einen letzten Kuss auf die Stirn und legte es behutsam vor der Eingangstür des Gebäudes auf den Boden. Dann nahm sie vorsichtig das Bruchstück eines Amuletts aus ihrer Tasche hervor und legte es um den Hals des Kindes. Es war aus reinem Gold und mit hellblauen Steinen reich verziert, welche, als sie die Haut des Mädchens berührten, in einem so hellen Licht erstrahlten wie der Vollmond in wolkenlosen Sommernächten. Ein letztes Mal nahm der Sturm in seiner Heftigkeit zu, doch noch immer schlief das Kind so friedlich wie zuvor, und die junge Frau seufzte erleichtert.

Sie wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn das kleine Mädchen noch einmal seine magisch leuchtenden Augen öffnen und sie ansehen würde, mit seinem unschuldigen und unwissenden Blick.

„Hoffentlich werde ich dich irgendwann wieder sehen, meine Isalia“, dachte sie voller Liebe. „Vielleicht, ja vielleicht können wir dann gemeinsam ein normales Leben führen … Vielleicht ist dann alles vorbei …“

Sie legte einen kleinen Umschlag in den Umhang des Kindes. Sie wollte sicher sein, dass der Brief gefunden wurde, auch wenn er nicht mehr als einen einzigen Namen enthielt: Isalia. Das Kind sollte in diesem Namen erzogen werden, dem Namen, den seine Mutter für es bestimmt hatte.

Ein letztes Mal schaute sie auf das winzige Gesicht, das dem ihren schon jetzt ähnlich sah, dann erhob sie sich mit wehenden Tüchern.

Um ihr Kind machte sie sich keine Sorgen. Wind und Wetter, Blitze und Donnergrollen, dies alles gehörte zu seinem magisches Element. Dem Element der Luft.

Nach einem letzten schmerzvollen Blick zurück auf ihre Tochter verschwand die Frau in der Dunkelheit und der Sturm verschluckte das Geräusch ihrer Schritte.

Das kleine Mädchen blieb zurück, unwissend, dass seine Zukunft schon vor der Geburt bestimmt worden war, eine Zukunft, die ihm viel Ruhm oder aber den Untergang bringen würde.

*

Madame Seirone

Aufmerksam blickte sich Isalia, von allen nur Isa genannt, in der Dunkelheit um. Ihre blauen Augen leuchteten hell in der Schwärze der Nacht und suchten die Umgebung nach verdächtigen Bewegungen ab. Sie konnte alles so klar sehen wie am helllichten Tag: die Ziffern der Wanduhr, das alte, abgenutzte Sofa und auch die trüben Fenster, durch die das Mondlicht in milchigem Weiß fiel.

Still und verlassen lag die düstere Eingangshalle unter ihr. Die anderen Bewohner des Waisenhauses schliefen noch tief. So weit, so gut.

„Kommt“, flüsterte sie und drehte sich zu ihren beiden Freundinnen um, die angespannt im Schatten des Ganges warteten, wo sie niemand außer Isa entdeckt hätte. Vor allem eine von ihnen, Serilena, hätten wohl viele übersehen, denn ihre Haut war von dunkler Farbe und ihr Haar tiefschwarz. Nur das Weiße ihrer Augen wäre auch für Menschen ohne besondere Sehfähigkeiten sichtbar gewesen.

Das dritte Mädchen, das sich schüchtern an Serilena presste, nannten alle Pentrilla, doch im Grunde wusste niemand, wie sein richtiger Name lautete. Es hatte langes, braunes Haar, eine helle, fast schon durchscheinende Haut und braune, mandelförmige Augen. Serilena und Pentrilla waren Waisen – genau wie Isa –, aber in ihrer Art und ihrem Äußeren hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Trotzdem waren die drei Mädchen Freundinnen, beste Freundinnen sogar.

Serilenas Mutter, eine Fremde, die eines Nachts hochschwanger in Merlina aufgetaucht war, war bei ihrer Geburt gestorben. Ihre letzten Worte hatte niemand verstanden, denn sie sprach eine den Bewohnern von Merlina unbekannte Sprache. Nur den Namen des Babys hatte man herausfinden können: Serilena.

Pentrillas Geschichte war jedoch weit düsterer als Serilenas. Sie hätte niemals ihren ersten Geburtstag feiern können, wäre der Zufall ihr nicht zu Hilfe gekommen. Halb ausgehungert und bereits zu schwach, um zu schreien, war sie im nahen Wald von einer Gruppe Jäger gefunden und ins Waisenhaus gebracht worden. Ihre Eltern hatten das wehrlose Kind dort ausgesetzt, ob es Verzweiflung gewesen war oder nicht, das wusste niemand.

Was Isa selbst anbelangte, so hatte man ihr erzählt, dass man sie vor der Waisenhaustür gefunden habe. Die Tatsache, dass ihre Eltern gewollt hatten, dass sie weiterlebte, hatte Isa stets als beruhigend empfunden, auch wenn sie glaubte, ihnen niemals verzeihen zu können.

Irgendwo schlug eine Tür mit voller Wucht zu und Isa zuckte erschrocken zusammen. Von Pentrilla kam ein erschrockenes Keuchen.

Unbeweglich standen die drei Mädchen im Schatten und warteten darauf, entdeckt zu werden. Es verging eine Minute, dann zwei. Die Gänge und die Eingangshalle blieben leer. Isa beobachtete den Sekundenzeiger, der sich wie in Zeitlupe vorwärts bewegte, ehe er erneut die Zwölf überschritt. Noch immer keine Geräusche. Keine Schritte. Kein Rascheln von Stoff. Sie entspannte sich und gab ihren Freundinnen ein Zeichen. Die Luft war rein. Vorsichtig begann sie, die lange Treppe in die Eingangshalle hinabzusteigen und überstieg die dritte Stufe, da diese fürchterlichen Lärm machte, wenn man sie berührte. Alles ging gut, bis …

Padam, Padam, Padam. Das Mädchen erstarrte. Ein leises, beständiges Pulsieren drang an sein Ohr. Isa hatte es bereits in der vergangenen Nacht vernommen, das leise Klopfen, das sich wie ein pulsierendes Herz anhörte. Sie hatte wach im Bett gelegen, weil sie einfach das Gefühl nicht loswerden konnte, dass draußen in der Welt irgendetwas vor sich ging, das ihr Leben grundlegend verändern würde. Es war ein ungewöhnliches Kribbeln, irgendwo in ihrer Magengrube, wie die Ruhe vor dem Sturm. Doch sie konnte nicht sagen, ob es ein gutes oder schlechtes Gefühl war. Vielleicht ein bisschen von beidem.

Serilena war neben dem Mädchen stehen geblieben und sah es fragend an. „Was ist?“

„Hört ihr das auch?“, flüsterte Isa beunruhigt. „So ein merkwürdiges Geräusch, ein Pochen …“

„Ein Pochen?“, fragte Serilena erstaunt und hielt die Luft an, um zu lauschen. „Ich höre nichts.“

„Also ich auch nicht“, meinte Pentrilla gedämpft und fügte dann etwas hysterisch kichernd hinzu: „Hörst du vielleicht dein Herz? Hat die furchtlose Isa etwa Angst?“

Diese schüttelte den Kopf und murmelte ernst: „Nein, mein Herz ist es nicht.“

„Dann siehst du vielleicht nicht nur besser als wir, sondern hast auch ein besseres Gehör“, vermutete Serilena und legte den Kopf schief, während sie erneut mit angestrengtem Gesichtsausdruck in die Dunkelheit horchte.

„Kaum“, murmelte Isa und winkte ab, nachdem sie eine weitere Sekunde dem Geräusch gelauscht hatte. „Nicht so wichtig. Gehen wir lieber weiter, ehe wir erwischt werden.“

Langsam schoben sich die Mädchen voran, bis sie den Ausgang des Waisenhauses erreichten. Die alte hölzerne Tür quietschte in den Angeln, als Isa die Klinke mit beiden Händen nach unten drückte und sie vorsichtig aufschob. Dann traten sie in die Nacht hinaus.

Helles Mondlicht flutete die Landschaft und gab den Blick auf einen schmalen, mit Gras überwucherten Kiesweg frei. Einige verkümmerte Bäume streckten ihre kahlen Äste wie einen Baldachin über ihn und erinnerten an die einstige Pracht einer stolzen Allee. Doch diese Zeiten waren längst vorüber und nur die skelettartigen Überreste waren geblieben.

Doch statt dem Pfad zu folgen, verließen ihn die Kinder ohne Umschweife und huschten dann geräuschlos durch das feuchte Gras. Sie alle wussten, dass das eiserne Tor am anderen Ende des Weges zu dieser Zeit längst versperrt und unmöglich zu überwinden sein würde. Die drei gelangten zu einer hohen Mauer aus bröckelndem Gestein und folgten ihr bis zu einem Teil, der so weit in sich zusammengefallen war, dass man mühelos darüber hinwegsteigen konnte. Zeit und Witterung hatten beste Arbeit geleistet, doch das Waisenhaus hatte glücklicherweise nicht genug Geld, sie instand zu setzen.

Kaum hatten die Kinder die Mauer hinter sich gelassen, wich ihre bedrückte Stimmung und schlug in eine Art Vorfreude um. Ausgelassen, manchmal schlendernd, manchmal laufend, folgten sie der ungepflasterten Landstraße hinauf zur Stadt.

„Was denkt ihr? Wird uns Madam Seirone etwas aus unserer Zukunft offenbaren?“, flüsterte Pentrilla den anderen mit glitzernden Augen zu.

Madam Seirone war eine fahrende Wahrsagerin, die vor wenigen Tagen in Merlina haltgemacht hatte. Eigentlich war Magie in Aria bei Todesstrafe verboten, doch der Herrscher hatte die alte Frau bisher unbehelligt ihrer Wege ziehen lassen, sei es, weil sie keine echte Wahrsagerin war oder aber weil sie sich sehr geschickt seinen Schergen zu entziehen wusste. Hier in Merlina war allerdings noch niemals jemand wegen Magie hingerichtet worden. Zu abgelegen und unwichtig war die Stadt.

„Zum Glück“, dachte Isa bei sich, denn ihre magisch leuchtenden Augen hätten ihr in anderen Städten zweifellos zum Verhängnis werden können. Dass sie noch ein Kind war, spielte da keine Rolle.

„Isa?“ Ihre beiden Freundinnen starrten sie fragend an und holten sie in die Gegenwart zurück.

„Ja?“

Serilena tätschelte ihre Hand und lächelte. „Wir haben dich gefragt, was du denkst, dass sie in deiner Zukunft sieht?“

Isa runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich so erpicht darauf bin, zu sehen, wie übel meine Zukunft aussieht. Ihr solltet euch da besser auch keine zu großen Hoffnungen machen.“

Pentrilla verzog das Gesicht und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. „Ach komm schon“, murrte sie. „Sei keine Spielverderberin!“

Isa schwieg, konnte ein Lächeln jedoch nicht ganz unterdrücken. Pentrilla dachte in ihrer vor Energie stets übersprudelnden Art immer positiv. Nur wenige Dinge konnten ihre Stimmung trüben oder ihre Beherrschung ins Wanken bringen.

Die Mädchen hatten Merlina erreicht und traten an das südwestlich gelegene Stadttor heran. Die zwei Wachen in den ausgeblichenen, blauen Uniformen arianischer Soldaten, die dieses eigentlich bewachen sollten, waren nirgendwo zu sehen. Vermutlich saßen sie ihren Wachdienst in einer der nahen Tavernen ab und gaben sich dem Rausch des Alkohols hin. Schließlich war um diese nächtliche Stunde sowieso nur selten etwas los.

„Diese Dummköpfe!“, dachte Isa. Sollte es jemals wieder zu einem Angriff auf die Stadt kommen, waren die Bürger diesem schutzlos ausgeliefert.

Nicht einmal das Tor hatten sie geschlossen. So betraten die Kinder unbehelligt die Stadt und folgten der gepflasterten Hauptstraße zum anderen Ende von Merlina. Irgendwo miaute eine Katze und ein Hund bellte laut, bis ihn eine wütende Frauenstimme ermahnte, endlich still zu sein. Ratten und Mäuse huschten kreuz und quer über den Weg und verschwanden dann zwischen den Häusern.

„Und du bist dir sicher, dass wir Madame Seirone in den Höhlen finden?“, fragte Pentrilla Serilena gerade zweifelnd. „Wäre es in der Stadt nicht viel gemütlicher für sie?“

„Sie ist eine Einzelgängerin“, kam Isa ihrer Freundin zuvor. „Und falls sie tatsächlich im Besitz von magischen Kräften sein sollte, ist das womöglich der Grund, wieso sie überhaupt noch lebt.“

„Glaubst du, dass sie eine Magierin ist?“, fragte Pentrilla und ihre Augen weiteten sich. „Eine echte, wie man sie aus den Sagen kennt?“

Isa zuckte die Schultern. Woher sollte sie das denn wissen? Sie war schließlich keine Hellseherin.

Endlich passierten die Kinder das Haus des Schreiners und ließen Merlina durch ein weiteres Tor hinter sich.

Als die Mädchen durch das hohe Gras zum Rand der Klippen hochstiegen, verschwand der Mond ganz plötzlich hinter den Wolken. Isas Freundinnen blieben abrupt stehen und warfen einen unsicheren Blick in den Himmel.

„Wenn der Mond nicht bald wieder kommt, dann können wir unmöglich zur Höhle der Wahrsagerin hinabsteigen“, meinte Pentrilla besorgt, und Isa glaubte, ein leichtes Zittern darin zu vernehmen. „Wenn wir auf dem Weg einen Fehltritt machen, stürzen wir die Klippe hinunter.“

Isa nickte. Es gab nur einen einzigen Ort, an dem man die steil abfallende Küste hinabsteigen und so Madame Seirones Unterschlupf erreichen konnte: einen schmalen Pfad, ungefähr drei Fuß breit und steinig. Man hatte ihn zu jener Zeit erbaut, da Merlina noch nicht durch eine Stadtmauer geschützt gewesen war und die Höhle als Zufluchtsort für die Menschen gedient hatte. Der Pfad war damals jedoch fast dreimal so breit gewesen, sodass ihn auch Kutschen hatten befahren können.

Isa warf wie ihre Freundinnen einen kurzen, prüfenden Blick zum Himmel, ehe sie diese beruhigte. Die Wolke, die den Mond verdeckte, war nicht besonders groß und würde bald vorübergezogen sein.

Die seltsame Gabe, auch des Nachts sehen zu können, hatte das Mädchen schon lange. Mit fünf Jahren hatte es begonnen und seit jenen Tagen war seine nächtliche Sicht immer ein wenig besser geworden. Auch jenes magische Leuchten seiner Augen, das es seit seiner Geburt von allen anderen Menschen unterschied, war stärker geworden. Mittlerweile funkelten sie so hell wie die Sterne am dunklen Himmelszelt. Die Tatsache, dass Isas Augen magisch waren, war auch der Grund, weshalb sie sehr sorgsam darauf achtgab, dass nicht allzu viele Leute von ihnen wussten. Es war nun nicht so, dass sie niemals unter die Menschen ging, nein, denn sie mochte die Stadt sehr, doch sie vermied es, wenn möglich, ihnen direkt in die Augen zu blicken oder im Schatten zu stehen.

Auch verließ sie das Haus normalerweise nur tagsüber bei Sonnenschein und versuchte, fremden Leuten aus dem Weg zu gehen. Nur heute hatte sie sich dazu entschlossen, bei Dunkelheit zu Madame Seirone zu gehen. Denn die Waisenhausleiterin sah es nicht gerne, dass ihre Schützlinge Wahrsagerinnen besuchten.

In diesem Augenblick kam der Mond wieder zum Vorschein und die Mädchen, die den Rand der Klippe erreicht hatten, konnten den Abstieg zur Höhle wagen. Isa übernahm die Führung, Serilena und Pentrilla folgten ihr.

Der Pfad war steil abfallend und wand sich in mehreren Schlaufen die fast senkrechte Klippe hinunter.

Als sie etwa die Hälfte der rund siebzig Meter hohen Felswand hinter sich gebracht hatten, tauchte vor ihnen ein schmaler Spalt im Gestein auf. Dieser war der Eingang zur Höhle, die im Augenblick Madame Seirones Unterschlupf war.

Vorsichtig betraten die Mädchen die Eingeweide der Klippe. Hinter dem Felsenriss führte ein Gang in eine riesige Halle voller Stalaktiten und Stalagmiten. Das ständige Tropfen von Wasser erfüllte die Höhle und es roch ein wenig modrig.

Und dort, in der Mitte der Felsenhalle, erleuchtet vom Schein Hunderter Kerzen, stand ein farbenfrohes Zelt aus Tüchern. Der starke Geruch nach Räucherstäbchen und leise, fremdartige Klänge wie von hölzernen Flöten drangen daraus hervor.

Die Freundinnen näherten sich langsam dem Zelt und fühlten sich wie in eine andere Welt versetzt. Alles hier wirkte so magisch und geheimnisvoll. Die Kerzen warfen Schatten wie lebendige Wesen an die Wände und die Flötenmusik schien von verschiedenen kleineren Holzröhrchen auszugehen, die durch die Luftströme in der Höhle Töne erzeugten.

Endlich hatten die Mädchen Madame Seirones Behausung erreicht und schoben die Tücher am Eingang beiseite. Fast bedächtig traten sie in den kleinen Raum, der dahinter lag. Durch diese Bewegung wurden verschiedene gläserne Glöckchen geläutet, die der alten Frau den ankommenden Besuch ankündigten.

„Madam Seirone heißt euch herzlich willkommen“, erklang eine leise, ein wenig raue Stimme und die alte Wahrsagerin trat durch einen Perlenvorhang aus dem hinteren Teil des Zeltes heraus. Ihr langes, weißes Haar war mit einem Schleier bedeckt. An den Rändern hingen kleine, silberne Münzen, die bei jeder ihrer Bewegungen leise klimperten. Hoheitsvoll ließ sie sich auf ein Kissen sinken, vor dem ein Tisch mit einer Kristallkugel stand. „Ich habe euch erwartet.“

„Es tut uns leid, dass wir so spät kommen, aber …“, begann Isa.

„Ihr müsst mir nichts erklären und auch Entschuldigungen könnt ihr euch sparen. Lasst uns lieber mit dem beginnen, was ihr wissen wollt. Du!“, sagte die Wahrsagerin und deutete plötzlich auf Isa. „Mit dir möchte ich beginnen. Deine Aura ist außergewöhnlich stark. So etwas habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr erlebt. Nicht mehr seit …“

Die Frau hielt inne und nahm sie genauer in Augenschein. Plötzlich zuckte sie zusammen und ihre Augen weiteten sich. „Ich kann es nicht glauben. Das ist unmöglich“, flüsterte sie.

Isa war verwirrt. Sie wusste nicht, was sie auf die seltsame Reaktion der Frau erwidern sollte. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit mir?“, fragte sie deshalb mit schnell schlagendem Herzen.

„Nein, überhaupt nicht. Es ist alles in bester Ordnung. Ich war nur etwas überrascht, dich hier zu treffen. Komm, setz dich.“

Vorsichtig ließ Isa sich auf einem der weichen Kissen gegenüber der Wahrsagerin nieder. Die anderen beiden Mädchen nahmen ebenfalls Platz. Isa konnte spüren, wie diese sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen.

Doch nun konzentrierte sie sich wieder auf die Wahrsagerin. Was würde sie ihr wohl über ihre Zukunft sagen? Würde sie ihr vielleicht erklären, wieso sie so seltsam auf sie, Isa, reagiert hatte? Als würde sie sie bereits kennen?

Madam Seirone beugte sich zur Kugel hinab. Bläulicher Nebel bildete sich darin und nach einiger Zeit wurde der Blick der Frau trüb. Es schien, als würde ihr Geist den Körper zurücklassen und in eine andere Welt übertreten, die Welt der Zukunft.

Als sie zu sprechen begann, kam ihre Stimme von weit her, als komme sie aus dem Jenseits. „Ich sehe eine Prophezeiung, die schon vor deiner Geburt gesprochen wurde, und ich sehe drei andere Kinder, deren Geschichten dicht mit der deinen verstrickt sind. In eurer Hand liegt das Schicksal Arias und eure Zukunft steht in Verbindung mit eurer Vergangenheit“, hauchte die alte Frau geheimnisvoll. „Krieg steht bevor, schon bald.“ Ihre Worte hallten noch sekundenlang durch den Raum und lagen wie ein geheimnisumwobener Bann über dem Mädchen.

Dann kehrte die Wahrsagerin mit einem Schlag in die Gegenwart zurück, gab einen erschrockenen Aufschrei von sich und riss die Augen auf.

„Mögen dir alle guten Geister gnädig sein“, hauchte sie leise. „Unser Schicksal liegt in deiner Hand, Hoffnungsträgerin.“

Dann blickte sie sie aus tiefblauen Augen an, und Isa hätte schwören können, ganz plötzlich das zu spüren, was sie auch immer in sich selbst gespürt hatte: Magie, geheimnisvolle, uralte Magie.

*

Das Goldene Amulett

Es war die Nacht vor Isas 13. Geburtstag, an dem sich alles ändern sollte. Die Nacht, die ihr bisheriges Leben völlig auf den Kopf stellte.

Seit der Vorhersage waren bereits zwei Wochen vergangen. Madame Seirone war noch in derselben Nacht wie vom Erdboden verschwunden und zu allem Überfluss hatte man Isa nun auch ihre beiden Freundinnen Serilena und Pentrilla genommen: Eine reiche, unfreundliche Familie, die weit weg von Merlina in der Stadt Menserza lebte, hatte sie vor wenigen Tagen aufgenommen und war mit ihnen in einer protzigen Kutsche fortgefahren.

Beim Essen am Vorabend ihres Geburtstags war Isa so ruhig und verschlossen wie noch nie zuvor. Sie fühlte sich schrecklich alleine und in ihrem Kopf dröhnte das unheimliche Pulsieren, das sie mittlerweile ununterbrochen, Tag und Nacht, verfolgte. So laut wie Paukenschläge dröhnte es in ihren Ohren und ihr Kopf drohte, zu bersten. Padam. Padam. Padam.

Sie wollte einfach nur ihre Ruhe, doch die anderen Mädchen plapperten und plapperten und wollten einfach nicht still sein.

„Du bist bestimmt schon sehr aufgeregt wegen deines Geburtstags“, kommentierte ein blondes Mädchen, dessen Namen Isa nicht einmal kannte. Syrillia? Syria? Oder doch Syra? Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Padam. Padam. Padam.

„Nein“, erklärte Isa wahrheitsgetreu und fürchtete, ihr Kopf würde explodieren.

„Aber warum denn nicht?“, fragte ein anderes Mädchen mit schwarzen Locken.

„Keine Ahnung.“ Isa musste sich zurückhalten, das Mädchen nicht wütend anzuschreien und zu schütteln. Am liebsten hätte sie ihre Hände auf die Ohren gepresst und wäre aus dem Speisesaal gestürmt.

„Also ich verstehe dich, mir geht es an meinen Geburtstagen auch so“, meinte ein drittes und ließ Isa vom Stuhl aufspringen.

„Ihr versteht gar nichts“, schrie sie und die anderen blickten sie erschrocken an. Als sie die entsetzten Blicke sah, bereute sie ihre hitzige Reaktion sofort und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. „Ich habe seit Tagen Kopfschmerzen“, fügte sie rasch hinzu und sah, dass sich die Mädchen wieder entspannten.

„Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen“, meinte eines von ihnen mitfühlend.

Isa nickte ihr zu, erhob sich dann erneut und quälte sich in das Zimmer, das sie mit zehn anderen Mädchen teilte. Wenn nur dieses Pochen aufhören würde …

Mit offenen Augen lag Isa in ihrem Bett und lauschte auf das Atmen der anderen. Sie konnte es kaum hören durch den Aufruhr in ihrem Kopf, doch solange sie sich darauf konzentrierte, war der Schmerz nicht ganz so schlimm.

Während das Mädchen wach im Bett lag, ohne dass es seinen dringend benötigten Schlaf fand, fasste es schließlich einen Plan: Es würde die Quelle dieser grauenhaften Tortur suchen und unschädlich machen. Koste es, was es wolle!

Isa wartete noch eine Weile, dann erhob sie sich langsam aus ihrem Bett. Die anderen Waisenkinder schliefen tief und fest. Darauf bedacht, keinen Laut zu machen, stand sie auf und durchquerte das Zimmer.

Dann schlich das Mädchen leise zur Treppe und hinab in die Eingangshalle. Schnellen Schrittes durchquerte es den Raum, als die Wanduhr eben begann, zwölf Uhr zu schlagen.

„Mitternacht. Jetzt bin ich 13!“, dachte Isa.

Doch die Freude musste warten. Erst musste sie dafür sorgen, dass dieses seltsame Hämmern aufhörte.

PADAM. PADAM. PADAM.

Noch lauter, noch schmerzvoller als jemals zuvor. Isas ganzer Körper schien zu vibrieren.

PADAM. PADAM. PADAM.

Ihr Blick fiel auf eine hölzerne Tür, auf der ein Schild mit den Worten Zutritt verboten prangte.

Die Wohnung der Waisenhausleiterin.

Langsam näherte sie sich dem schwarz gestrichenen Holz und drückte die Klinke nach unten. Abgeschlossen.

„Mist!“, dachte sie. „Was soll ich jetzt tun?“

Das Pulsieren war mittlerweile so laut, dass sie nur noch an eines denken konnte: Weg hier! Doch innerlich wollte sie etwas anderes. Sie wollte dem hämmernden Geräusch folgen und seine Quelle finden. Sie ausschalten.

Mechanisch strich Isas Hand über das Türschloss. Es gab einen bläulichen Blitz, dann ein Klicken und das Schloss war offen.

Der Mund des Mädchens klappte verblüfft auf, doch es hatte seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle: Wie von selbst schoben seine blassen Hände die Tür auf und seine Beine traten in den Raum. Es war, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt, das ihm ganz und gar nicht gefiel.

Ein kleiner Wandschrank kam in Isas Blickfeld. Soweit sie das beurteilen konnte, war er die Quelle des Lärms, doch ihr Kopf dröhnte nun so heftig, dass sie kaum mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Hilflos musste sie mit ansehen, wie sie an das Schränkchen herantrat und erneut mit ihren Fingern über das Schloss fuhr.

Ein Blitz, ein Klicken.

Isa stöhnte und wollte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn die Waisenhausleiterin sie bei ihrem Einbruch erwischte. Doch was hätte sie denn tun sollen? Sie war machtlos gegen die Kräfte, die hier am Werk waren …

Vorsichtig stellte sich das Mädchen auf die Zehenspitzen und linste ins Innere. Sein Blick glitt über glitzernden Schmuck, goldene und silberne Münzen und sogar einige wenige Edelsteine. Ein Schatz, wie es ihn noch niemals zuvor gesehen hatte. Doch der Anblick ließ Isa seltsamerweise so kalt wie Eis. Sie war nicht hergekommen, um etwas zu stehlen, nein. Sie war hergekommen, um sich etwas zurückzuholen. Ihr Eigentum.

Und dort lag es, jenes Stück, das Isa begehrte: ein Amulett aus purem Gold, geschmückt mit Edelsteinen von der Farbe des blauen Himmels an klaren Sommertagen. Es wurde von einer ebenso blauen Aura umgeben, die so hell leuchtete, dass vermutlich jeder normale Mensch auf der Stelle erblindet wäre. Doch Isas Blick wurde davon magisch angezogen und ein warmer Strom aus purer Energie erfasste und liebkoste sie.

Wie in einem Rausch streckte das Waisenmädchen die Hand danach aus und berührte es. Seine Hände hoben es heraus und strichen darüber wie über einen längst verloren geglaubten Schatz.

Und in jenem Augenblick, in dem Isas Haut das Schmuckstück nach langen Jahren zum ersten Mal wieder berührte, verschwand das Pochen in ihrem Kopf und machte einer leisen, wunderschönen Melodie Platz.

Und da war noch etwas, das Isa viele Jahre nicht mehr gespürt hatte: das Gefühl vollständig zu sein.

Nach unzähligen Minuten begann ihr Gehirn, ganz langsam wieder zu arbeiten, und sie betrachtete zum ersten Mal bewusst, was sie da in der Hand hielt.

Es war ein fein gearbeitetes Schmuckstück, einer Adligen würdig, und vermutlich Teil eines größeren Amuletts. Wie Isa bereits zuvor festgestellt hatte, schien es aus purem Gold zu bestehen, verziert mit mehreren hellblauen Edelsteinen. Diese waren es auch, von denen das strahlend blaue Leuchten ausging. Es hatte den Anschein, als hätte jemand eine bläuliche Flüssigkeit hinter Kristallglas gesperrt, in ihrer Konsistenz der von Nebel ähnlich.

Das Gold war in einer außergewöhnlichen Struktur gearbeitet worden, die so aussah, als wären zwei Stränge aus Edelmetallen miteinander zu einem Ganzen verflochten worden. Es war ein Kunstwerk, keine Frage.

Isa fuhr fasziniert über das wertvolle Stück und hörte weder die Tür noch die schnellen Schritte, die sich ihr näherten.

„Was tust du da?!“, rief eine wütende Stimme und riss das Mädchen aus seinem tranceähnlichen Zustand. Erschrocken wirbelte es herum und stand ganz plötzlich der Waisenhausleiterin gegenüber, die sich wie ein bedrohlicher Schatten hinter ihm aufgebaut hatte. „Wie kannst du es wagen, hier einzudringen?!“

„Ich …“, begann Isa und überlegte sich bereits fieberhaft eine Ausrede. „Ich wollte nicht …“

Da fiel der Blick der Frau auf das leuchtende Amulett in Isas Hand und sie taumelte erschrocken zurück. Blankes Entsetzen flammte in ihren Augen auf und sie zeigte stumm auf das Schmuckstück.

„Wie … Was …“, stotterte sie, dann durchschnitt ihr Schrei die Stille und ließ Isa zusammenzucken. „Nein!“ Die Frau begann, am ganzen Körper zu zittern und zu zucken, als würde sie Höllenqualen leiden. Doch Isa konnte nicht erkennen, was die Ursache dafür war. Das Amulett vielleicht?

Die Augen der Waisenhausleiterin nahmen einen wahnsinnigen Ausdruck an. Speichel troff aus ihrem Mundwinkel. „Du!“, keuchte sie und zeigte anklagend auf Isa. Dann brach sie zusammen. Mit einem dumpfen Schlag traf ihr lebloser Körper auf dem Boden auf.

Isa rannte. Ihre Beine trugen sie so schnell wie der Wind und hielten nicht inne, ehe sie die Klippen erreichten. Keuchend stützte sie ihre Hände auf die Knie und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.

Was hatte sie nur getan? Was war geschehen?

Verwirrung und Verzweiflung wechselten sich in rascher Folge ab und heiße Tränen rannen in Strömen über ihre Wagen. Immer wieder flimmerte das Bild der Toten vor ihr auf: die blicklosen Augen, die niemals wieder sehen würden, der geöffnete Mund …

Isa wurde speiübel und sie konnte nur mühsam den Brechreiz unterdrücken, der in ihr aufstieg. Mörderin! Der Gedanke war so schrecklich, dass er sie in die Knie zwang. Zitternd kauerte sie im weichen Gras, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie hatte getötet. Sie war schuld daran, dass …

„Nein!“, schrie Isa und stieß diese Gedanken grob von sich. „Ich trage keine Schuld an dem, was eben passiert ist! Ich habe nichts getan!“ In ihre Augen war ein kämpferischer Ausdruck getreten. „Aber du!“ Sie holte das Amulett aus ihrer Tasche und musterte es voller Abscheu. „Du bist schuld an ihrem Tod!“ Und mit diesen Worten schleuderte Isa es ins Meer hinaus. „Verschwinde!“, schrie sie ihm hinterher. „Lass mich in Ruhe!“

Dann erhob sie sich und lief weinend zurück ins Waisenhaus. Aber ein ganz kleiner Teil von ihr bereute bereits, dass sie das Amulett fortgeworfen hatte …

*

Alaista Karantan

Es war kein normaler Traum, jedenfalls keiner von der Art, wie ihn Isa jemals zuvor erlebt hatte. Alles schien so wirklich zu sein: die Umgebung, die Geräusche, selbst der Geruch …

Sie befand sich in einem ihr unbekannten Raum. Von den Wänden bröckelte bereits der Putz und der Schein mehrerer Fackeln ließ Licht und Schatten unruhig über das unebene Gestein tanzen. Es schien, als wären sie zu lebendigen Wesen erwacht, dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit um die Vorherrschaft zu kämpfen.

Isa beobachtete dieses Spiel eine Weile länger, ehe sie sich von dem Anblick abwandte. Der Geruch nach Staub und Zerfall lag in der trockenen Luft und rief ein unangenehmes Durstgefühl in Isas Hals hervor. Sie schluckte und fuhr mit der Zunge über ihre spröden Lippen. Dann schaute sie sich vorsichtig um.

Das Gewölbe musste Jahrhunderte alt sein, wenn nicht noch älter. An den Wänden reihten sich mehrere schwarz getünchte Regale, in denen verschiedene Objekte standen. Da gab es alte, in Leder gebundene Bücher, verschiedene, mit gefährlich aussehenden Essenzen gefüllte Fläschchen und eine Auswahl von Tontöpfen unterschiedlicher Größe.

All dies wäre an sich schon beunruhigend genug gewesen, doch Isa spürte zu allem Überfluss auch noch die bedrohliche Präsenz eines Fremden in ihrer Nähe.

Sie hielt nach ihm Ausschau, konnte ihn jedoch erst entdecken, als sie sich einige Schritte weiter in den Raum hineinwagte.

Die Gestalt hatte Isalia den Rücken zugekehrt und beugte sich über einen eisernen Kessel. Ein dunkler Kapuzenmantel umhüllte sie und Isa konnte nur die langen, dürren Finger sehen, die aus den weiten Ärmeln hervorlugten.

Ein brodelndes Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit des Mädchens auf den Kessel, der zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Isa vermutete, dass es Wasser war, doch sicher war sie sich nicht.

Die Gestalt griff nach einer Phiole, wog sie kurz in den Händen und schraubte schließlich den Deckel ab. Isa sah, wie sie daran roch und dann zufrieden nickte. Kurz darauf ergoss sich ein feines, dunkelrotes Rinnsal in den Kessel. Dunkelrot wie Blut …

Isa schreckte zurück und musste ein Stöhnen unterdrücken. War das wirklich Blut? Oder täuschte sie sich? Alle ihre Härchen stellten sich zu Berge und sie spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Halt suchend tastete sie nach der Wand und lehnte sich dagegen. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Der Mann hatte Blut in den Trank geschüttet, da war sie sich sicher!

Das Geräusch von Flüssigkeit, die auf Flüssigkeit traf, ließ sie zusammenzucken. Ein Zischen erklang und roter Dampf erfüllte die Luft. Isa hatte Mühe, sich nicht von der Szene abzuwenden. Doch sie musste wissen, was hier vor sich ging! Wieder fasste die Gestalt, die zweifellos ein Magier war, in einen der Tontöpfe auf dem Regal. Dieses Mal brachte sie einige kleine schwarze Steine von der Größe einer Haselnuss zum Vorschein.

Das Mädchen sog scharf die Luft ein.

„Höllensteine!“, dachte es. Isa hatte von diesen sagenumwobenen Steinen schon oft gehört. Es wurde gesagt, dass sie großes Unglück über all jene bringen, die sie mit reinem Herzen berühren. Und wenn man einen von ihnen aufbreche, so trete eine schwarze Flüssigkeit heraus, die die Haut verbrenne.

Mit einem durchdringenden Zischen und der Bildung einer tiefschwarzen Dunstwolke versanken auch die Steine im Kessel.

Nun begann sich die Farbe der Substanz zu verdunkeln. Die Luft im Raum schien dicker zu werden und Isa konnte kaum noch atmen. Die Gläser auf den Regalen begannen, zu klimpern, und alles schwankte, als würde die Erde beben. Eine unerklärliche Panik ergriff von Isa Besitz.

Sie wollte, dass der Traum endete, wollte so schnell wie möglich von dieser Gestalt weg. Warum erwachte sie nicht?! War es vielleicht gar kein Traum? Aber wie sollte sie hierher gekommen sein, wenn nicht im Schlaf?

Der Magier ging weiter seinen dunklen Machenschaften nach, warf Zutaten in den Kessel und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Erste Gläser krachten klirrend zu Boden und zerbrachen in tausend Stücke. Steine lösten sich aus den Wänden und von der Decke.

Isa nährte sich dem Mann. Was machte er da bloß? Er begann, Worte in einer fremden Sprache zu murmeln. Es waren düstere, längst vergessene Worte. Zuerst so leise, dass man es kaum hören konnte, dann immer lauter und lauter, bis er schrie.

Vermutlich war es eine magische Formel, eine Beschwörung, ein Zauber. Die Stimme war kräftig und tief und voll unbändigem Hass, und all dies schienen die Worte wiederzugeben.

Dann gab es einen lauten Knall, der die letzten, heil gebliebenen Glasgefäße zerspringen ließ. Gelbe Wolken stiegen aus dem Kessel empor und wirbelten durcheinander.

Und dann sah Isa es zum ersten Mal im Dunst dieses teuflischen Ortes: das Dunkle Amulett, genannt Alaista Karantan, ein tiefschwarzer, magischer Gegenstand mit blutroten Steinen. Wie ein dunkles Omen schwebte es über dem Kessel und ließ Isa Böses erahnen.

Sie wich zurück und zwickte sich hysterisch in den Arm. Sie wollte endlich aus diesem Albtraum erwachen, doch es ging nicht.

Der Mann griff das Amulett aus der Luft und begann, schaurig zu lachen. „Dreißig Jahre hat es gedauert, um herauszufinden, wie ich dich erschaffen kann, doch jetzt gehörst du mir, Alaista Karantan, mir ganz alleine.“ In diesem Augenblick drehte er sich um und starrte das Mädchen mit seinen blutroten, erbarmungslosen Augen an, die selbst unter der Kapuze noch deutlich zu sehen waren. Isa erstarrte vor Schreck und wich dann langsam zurück.

Sie wusste, wer dieser Mann war! Bisher hatte sie erst von einem einzigen Menschen gehört, der rote Augen hatte: Arkamoor Salsar, seines Zeichens König von Aria.

Er war der Mann, der vor fast 13 Jahren das ganze Land in einem einzigen blutigen Feldzug unter seine Herrschaft gezwungen hatte und jegliche Anwendung von Magie mit dem Tode bestrafen ließ. Und das, obwohl er selbst ein Magier war! Er war blutrünstig, brutal und rücksichtslos.

Da schreckte Isa endlich aus dem Schlaf hoch. Sie lag schweißgebadet in ihrem Bett und ihre Hand klammerte sich so fest in ihre Decke, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten bereits das Zimmer und die meisten Betten waren schon leer, doch ihre Gedanken waren zu weit entfernt, um dies alles wahrzunehmen. Bruchstückhafte Erinnerungen an ihren Albtraum flatterten durch ihre Gedanken. Blut, ein dunkles Amulett, diese roten Augen …

Sie schauderte. Zum Glück hatte sich dies alles nur in ihrem Kopf abgespielt!

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Besuch im Waisenhaus