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Der Nicht-tot-Mord

Eine Kriminalgeschichte

Lena M. Grimm

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Impressum

Alle handelnden Personen, Orte sowie die Handlung selbst sind frei erfunden. Mögliche Ähnlichkeiten mit Personen, Orten oder Situationen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Erstauflage 2017

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

Coverbild: © lorabarra – lizenziert Adobe Stock

ISBN: 978-3-86196-727-9 - Taschenbuch

IS´BN: 978-3-96074-203-6 - E-Book

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

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Prolog

Eine dunkle Gestalt lief die Gasse entlang. Sie ließ sich Zeit. Um diese Uhrzeit war niemand mehr auf der Straße. Alles schlief tief und fest. Außer der Verabredung. Vermutlich stand sie da und wippte nervös mit den Füßen auf und ab, einerseits aus Angst, erwischt zu werden, andererseits, weil es in ihr eine nervöse Aufregung verursachte, sich zu treffen.

„Wo warst du denn so lange?“, fragte sie, als diese sie endlich erreichte.

„Ich musste warten, bis alle im Bett waren. Hast du es?“

„Natürlich, sonst wäre ich nicht hier.“

„Und es wirkt auch ganz sicher?“

„Ja, jeden Tag zwölf Tropfen. Am besten abends.“

„Gut, danke.“

„Warte. Was ist mit meiner Bezahlung?“

Die Gestalt griff in die Tasche und zog ein ledernes Beutelchen hervor. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Heimweg. Als sie um die Ecke gebogen war, wurde das Lederbeutelchen geöffnet. Darin befand sich nichts außer einem parfümierten Taschentuch. Sie nahm es heraus und sog den Duft tief ein.

*

Kapitel 1

Betty klopfte um sieben Uhr an die Tür. Merkwürdig. Normalerweise weckte sie ihn erst um halb neun. Und so war es auch abgemacht. Er legte sich in Gedanken schon eine Strafpredigt zurecht, während er sich seinen Morgenmantel überstreifte und zur Tür lief. Wenn er etwas verabscheute, dann war es, zu früh geweckt zu werden. Was das anging, war er etwas empfindlich.

„Betty, ich hatte Ihnen doch gesagt, erst um halb neun!“, sagte er gereizt, als er die Tür öffnete.

„Verzeihung, Inspector, aber das hier kam gerade per Eilpost, ein Brief für Sie, es scheint dringend zu sein.“

Er seufzte. Vermutlich war es ein neuer Fall. Oder sein Vater, der ihn daran erinnerte, dass sein Onkel Harry Geburtstag hatte. Allerdings hatte Onkel Harry erst vor drei Monaten Geburtstag gehabt. Oder die Nachricht war von Isaac, der ihn zu einem Besuch überreden wollte.

Er hasste die Stadt. Alles war vollkommen überfüllt, ständig wurde man zu irgendwelchen langweiligen Teepartys eingeladen und man musste sich siebenmal im Jahr eine komplett neue Garderobe zulegen, weil die vorherige schon wieder als altbacken galt. Und wenn man sie trotzdem in der Öffentlichkeit trug, riskierte man einen Aufstand oder theatralische Ohnmachtsanfälle einiger feiner Londoner Damen, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatten, als literweise Tee zu trinken, über Miss Langweilig und die Lady von Uninteressant zu tratschen und Flaschen von französischem Parfum in die Luft zu sprühen. Nein, der Inspector hasste die Stadt. Er hoffte inständig, es war ein Fall.

„Betty, wären Sie so lieb und machen mir mein Frühstück jetzt schon?“

„Natürlich, es ist in 15 Minuten bei Ihnen.“

„Danke“, sagte er und schloss die Tür. Dann machte er sich auf zu seinem Schreibtisch und öffnete den Brief.

Sehr geehrter Herr Inspector,

auf Sutherten hat sich vor wenigen Augenblicken eine fürchterliche Tragödie abgespielt. Der jungen Lady Berrington ist etwas Schreckliches zugestoßen. Man sagte mir, Sie wären einer der besten Ermittler in der gesamten Grafschaft. Wir bitten Sie inständig, diesen Vorfall so schnell wie möglich aufzuklären. Wie Sie sicherlich wissen, ist die Familie Berrington eine der einflussreichsten des ganzen Landes.

Wir hoffen daher auf Ihre Diskretion. Sobald der Täter gefasst ist, wird die Familie ihn privat angemessen bestrafen. Diese Sache sollte möglichst nicht in der Öffentlichkeit breitgetreten werden.

Hochachtungsvoll

Charles Sawlt

Verwalter

Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück in das Kuvert. Dann nahm er ein Blatt Papier und schrieb seinerseits eine Nachricht.

Isaac,

entschuldige diesen unordentlichen Brief. Wir haben einen Fall. Bitte, komm so schnell wie möglich.

Dein guter Freund Jonathan

Er adressierte ihn vollständig und fing dann an, sich gesellschaftsfein zu machen. Gerade als er den letzten Knopf seines Mantels zugemacht hatte, klopfte Betty mit dem Frühstück.

Betty Monroe war eine Dame Anfang 60. Sie war eine rundliche Person mit blondem, schon von vielen weißen Strähnen durchgezogenem, immer ordentlich hochgestecktem Haar. Sie war die Besitzerin des Gasthofs in Sutherten Hill. Ihr Mann war schon vor über zehn Jahren bei einem Feuer umgekommen und seitdem leitete sie das Geschäft alleine.

Nun stellte sie das Tablett auf den Schreibtisch.

„Betty, wären Sie so gut und schicken diesen Brief so schnell wie möglich nach London?“ Wenn er Glück hatte, würde die Nachricht bereits heute Mittag dort sein. London war nur zwei Stunden von Sutherten Hill entfernt, vielleicht würde Isaac Drew schon am Nachmittag hier eintreffen. „Ach ja, wie komme ich von hier so schnell wie möglich nach Sutherten?“

Betty riss ihre Augen auf. „Sagen Sie bloß, es gab einen Mord auf Sutherten? Wer ist es? Lord Berrington?“

„Tut mir leid, Sie wissen doch, dass ich dazu nichts sagen darf. Aber sagen Sie mir bitte trotzdem, wie ich dort hinkomme.“

„Ja, natürlich, Sie gehen die Straße entlang in Richtung Wald, dann müssen Sie ein Stück am Waldrand entlang, etwa 200 Meter. Sie überqueren den Fluss, ehe Sie rechts abbiegen und bereits das Eingangstor zum Gut sehen.“

„Vielen Dank, Betty, ich denke, ich bin zum Mittagessen wieder da.“

Hastig trank er zwei Schlucke seines Tees und biss ein Stück seines Toasts ab. Auf dem Weg zur Tür nahm er seinen Hut vom Haken und setzte ihn auf. Als er nach draußen trat, peitschte ihm ein eiskalter Wind ins Gesicht. Vermutlich würde es Regen geben. Er sah sich kurz um, um sich zu orientieren, bevor er sich auf den Weg in Richtung Wald machte.

Schließlich stand der Inspector vor dem großen Eisentor. Es war über drei Meter hoch und wurde von zwei großen, steinernen Löwen bewacht. Er drückte die Klinke hinunter und rüttelte daran. Verschlossen. Er sah sich nach einer Klingel um. Als er keine entdeckte, war er schon kurz davor, wieder umzudrehen und ins Dorf zurückzukehren, doch mit einem Mal hörte er eine Stimme hinter sich.

„Verzeihung, sind Sie Inspector Clarkson?“

„Der bin ich.“

„Bitte entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, aber im ganzen Haus herrscht ein einziges Chaos, alle sind in heller Aufregung. Ich habe sie kontaktiert. Charles Sawlt, der Verwalter. Bitte“, der Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche und drehte ihn im Schloss herum, „folgen Sie mir.“ Charles Sawlt war ein älterer Herr mit schütterem Haar, aber wachen, lebendigen Augen. Er erinnerte Inspector Jonathan Clarkson an seinen Mathelehrer aus der dritten Klasse.

Gemeinsam liefen die beiden über einen Kiesweg ein Stück den Hügel hinauf. Als sie oben angelangt waren, standen sie vor einem imposanten Herrenhaus. Das Eingangsportal war aus massivem Holz, vermutlich Eiche, und mit zwei mächtigen Türklopfern ausgestattet. Sie waren fast so groß wie Suppenteller.

„Mr Sawlt, können Sie mir eventuell Genaueres über den Vorfall berichten?“, fragte Jonathan, nachdem der andere Mann einen der beeindruckenden Türklopfer betätigt hatte.

„Heute Morgen fand Miss Dunham die junge Lady Julia reglos in ihrem Bett. Sie versuchte, sie aufzuwecken, doch vergebens. Sie kontaktierte mich umgehend und ich habe meinerseits probiert, die Lady aufzuwecken. Auch mir gelang es nicht. Als Letztes kippten wir der jungen Lady eine Schale Wasser ins Gesicht. Als dies ebenfalls nichts bewirkte, entschloss ich mich, ihre Eltern zu alarmieren. Und anschließend kontaktierte ich Sie.“

Die Tür wurde von innen geöffnet. Ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, lugte vorsichtig durch den Spalt. „Mr Sawlt, Sir, Lady Julia ist noch nicht aufgewacht. Sir.“ Vermutlich war die Kleine noch nicht lange hier. Ihr Kleid war zu groß und ihr Gesicht war vor Schreck ganz bleich. Jonathan vermutete, dass es eigentlich gar nicht ihre Aufgabe war, die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich war sie eine Küchenhilfe. Aber er wusste aus Erfahrung, dass bei solchen Vorkommnissen alles drunter und drüber ging. Hastig steckte das Mädchen eine Strähne rotes Haar unter sein Häubchen, das ein wenig verrutscht war.

„Danke, Katie, das ist Inspector Clarkson, er wird den Vorfall untersuchen und baldmöglichst aufklären. Sei so lieb und sag Mrs Bright, sie soll uns eine Tasse Tee und einen kleinen Imbiss zubereiten.“

Das Mädchen, Katie, knickste unbeholfen und ging schnurstracks auf eine fast unscheinbare Tür zu, die vermutlich nach unten in die Küche führte.

„Inspector, ich werde mich auf die Suche nach der Familie machen“, verkündete der Verwalter.

Nun hatte Jonathan Zeit, den Eingangsbereich des vornehmen Gutshauses genauer zu betrachten. Hinter ihm befand sich die Tür, durch die sie eingetreten waren. Ein paar Stufen führten nach unten in die Eingangshalle. Sie war riesig, erstreckte sich vermutlich über die gesamte Breite des Hauses. An den Wänden waren hohe Bogenfenster mit schweren roten Samtvorhängen, die zurückgezogen waren, damit das Tageslicht ungehindert hindurchfallen konnte. Am Ende des Raums war eine große Treppe, die sich auf halber Höhe teilte und dann in den Nord-beziehungsweise Südflügel führte. Auf der linken Seite gab es einige Terrassentüren.

Clarkson lief die Stufen nach unten. Seine Schritte hallten im ganzen Saal wider. Hier hatten gut und gerne 300 Personen Platz.

„Inspector, die Herrschaften erwarten Sie in der Bibliothek.“ Charles Sawlt war zurückgekehrt und winkte ihn die Treppe nach oben in den Südflügel.

Sie liefen Stufen hinauf und hinab, bogen nach rechts und nach links ab, gingen durch Türen und durchquerten ganze Räume. Es war das reinste Labyrinth. Der Erbauer hatte wohl keinen Sinn für Logik gehabt. Es kam Jonathan so vor, als ob sie bereits durch zehn verschiedene Häuser gewandert wären. Sawlt schien es nichts auszumachen. Wahrscheinlich kannte er dieses Wirrwarr besser als sich selbst.

Sie standen gerade neben dem riesigen Gemälde eines ehemaligen Berrington (er war furchtbar dick gewesen und posierte neben einem Tisch mit einer Ananas und einem ausgestopften Fasan darauf, und sein Schnurrbart reichte von einem Ohr bis zum anderen), als der Inspector Musik hörte. Sie stammte von einer Harfe, eine hübsche Melodie, allerdings sehr ermüdend. Es war die Sorte von Lied, die man kleinen Kindern vorspielte, damit sie einschliefen.

Charles Sawlt klopfte an eine kunstvoll geschnitzte Tür und sie traten ein. Der Raum dahinter erstreckte sich über zwei Stockwerke. Die Wände waren voller Bücherregale und durch die hohe Fensterfront strömte Sonnenlicht, was dem Raum eine angenehme Temperatur verschaffte. Die Harfenmusik erklang aus der rechten Ecke des Saales. Ein Mädchen, etwa 18 Jahre alt mit blondem, kunstvoll hochgestecktem Haar, saß direkt vor der Fensterfront und spielte sie. Es trug ein prächtiges eisblaues Kleid, das mit weißen Rosen bestickt war, und war wirklich hübsch.

Vor dem Kamin am gegenüberliegenden Raumende saßen ein Mann, vermutlich Lord Berrington, und eine sehr blass aussehende Frau, schätzungsweise Lady Berrington. Er hielt ihre Hand. Obwohl Clarkson fast 50 Meter entfernt war, konnte er erkennen, dass Lady Berrington am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub.

„Lord und Lady Berrington, Miss Helena, dies ist Inspector Jonathan Clarkson. Inspector, dies sind Lady Mary Elizabeth Berrington, Lord George Berrington und ihre älteste Tochter, Miss Helena Joanna Berrington.“

„Sehr erfreut, Lord und Lady Berrington“, Clarkson deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an, „Miss Helena, ebenfalls sehr erfreut.“

Doch Letztere schien ihn gar nicht bemerkt zu haben, sie war offenbar zu vertieft in ihr Musikspiel.

„Bitte entschuldigen Sie, sie spielt immer, wenn sie aufgebracht ist“, entschuldigte sich Lord Berrington für seine Tochter.

„Nun, ich denke, wir sollten keine Zeit verschwenden. Ich weiß, es ist schwer, aber schildern Sie mir doch bitte den Vorfall.“ Clarkson lief in Richtung des lodernden Kaminfeuers und nahm gegenüber Lord und Lady Berrington Platz.

„Inspector, bitte entschuldigen Sie, aber meine Frau fühlt sich momentan kaum imstande, eine Aussage zu tätigen. Uns alle hat das sehr hart getroffen.“

„Selbstverständlich, Lord Berrington. Wenn sich ihre Ladyschaft nicht wohlfühlt, steht es ihr natürlich frei, sich zu entfernen.“

Lady Berrington stand von ihrem Mann gestützt auf. „Inspector, ich bitte Sie, klären Sie diesen Albtraum so schnell wie möglich auf“, bat sie ihn noch, ehe sie den Arm ergriff, den ihr Charles Sawlt anbot, und mit ihm durch eine Tür neben dem Kamin verschwand. Ihre Tochter schien von alledem nichts mitzubekommen, sie zupfte immer noch hingebungsvoll die Saiten ihrer Harfe.

„Nun, Lord Berrington, schildern Sie doch bitte den Vorfall, wie Sie ihn erlebt haben“, bat Jonathan erneut.

„Ich fürchte, Inspector, ich bin genauso ratlos wie Sie. Nun denn, heute Morgen, so gegen halb sieben, wurde ich von der sehr aufgebrachten Miss Dunham, Julias Amme, geweckt. Sie berichtete mir, dass meine Tochter nicht aufzuwecken wäre, selbst nachdem man ihr eine Schale Wasser über den Kopf gekippt hatte. Ich habe natürlich sofort meine Frau verständigt und wir haben uns selbst von dieser ungeheuerlichen Tatsache überzeugt. Meine Frau ist daraufhin zusammengebrochen und wir mussten sie auf die Couch im Nebenzimmer betten. Ich selbst habe ebenfalls versucht, meine Tochter aufzuwecken, allerdings vergebens. Inspector, Sie hätten sie sehen müssen, so blass und schlaff ... es war grausam. Mein Verwalter, Charles Sawlt, Sie haben ihn ja bereits kennen gelernt, schrieb Ihnen umgehend. Wir haben sofort einen Boten zu Ihnen geschickt.“

„Wissen Sie, was merkwürdig ist?“, fiel Jonathan auf. Lord Berrington sah ihn verwirrt an und schüttelte den Kopf. „Ihre Frau kann sich kaum auf den Beinen halten und Sie wirken im Gegensatz dazu sehr ... entspannt. Das soll keine Anschuldigung sein, es ist mir nur aufgefallen.“

„Ich denke, der Melissengeist meiner Urgroßmutter tut endlich seine Wirkung.“

„Ist Ihnen am Abend zuvor oder heute Morgen etwas Ungewöhnliches an Ihrer Tochter oder generell aufgefallen?“, hakte Jonathan nach.

„Nein, Inspector, alles war wie immer. Am Abend haben Julia und ich noch Pläne für die Jagd am Wochenende gemacht. Wir haben darüber gesprochen, was Mrs Bright zum Lunch vorbereiten sollte. Nach dem Dessert, es gab Pflaumenkompott mit Vanillecreme, wünschten wir uns eine gute Nacht und gingen umgehend zu Bett.“

„Nun gut, Lord Berrington, wäre es möglich, mit Ihrer Tochter Helena zu sprechen und dem Hauspersonal ebenfalls?“

„Selbstverständlich, Inspector, alles, was Sie brauchen, sagen Sie einfach Bescheid.“

„Vielen Dank, Lord Berrington. Ach ja, da wäre noch etwas. Ich würde mir gerne Ihre Tochter Julia ansehen. Ich habe bereits einen guten Freund kontaktiert, er ist Professor für Medizin an der Universität in London und seine Fachkenntnisse haben mir schon oft weitergeholfen. Eventuell trifft er bereits heute Nachmittag hier ein.“

„Nun, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, alles, was Sie brauchen und was Ihnen hilft, die Umstände aufzuklären.“

„Vielen Dank, Lord Berrington, das wäre alles. Richten Sie Ihrer Frau meine besten Genesungswünsche aus.“

„Vielen Dank, Inspector.“ Mit diesen Worten verschwand Lord Berrington durch die gleiche Tür wie ein paar Minuten vorher schon seine Frau und Charles Sawlt.

Clarkson marschierte daraufhin in die andere Ecke des Raumes, um die älteste und nun wohl auch einzige Tochter von Lord und Lady Berrington zu vernehmen.

„Entschuldigen Sie, Miss Helena, ich bin Inspector Jonathan Clarkson und untersuche den Fall Ihrer Schwester, wäre es Ihnen möglich, einige meiner Fragen zu beantworten?“

Das Mädchen blickte auf und unterbrach sein Harfenspiel. Jetzt konnte Jonathan Clarkson die Augen der Musikerin sehen. Sie waren vom gleichen Blau wie ihr Kleid und stachen ungewöhnlich aus ihrem Gesicht hervor. Er wusste nicht, wieso, aber er hatte das Gefühl, diese Augen schon einmal gesehen zu haben.

Helena Berrington stellte ihre Harfe auf, drehte sich vollständig zu Clarkson um und sah ihn abwartend an.

„Könnten Sie bitte den Vorfall mit Ihrer Schwester schildern, wie Sie ihn erlebt haben?“, fragte er sie wie vorhin schon ihren Vater.

„Heute Morgen um ungefähr Viertel vor sieben wurde ich von Miss Dunham, unserer Amme, geweckt. Sie war sehr aufgebracht. Als sie mir schilderte, was geschehen war, ging ich natürlich sofort zum Zimmer meiner Schwester. Und da lag sie, regungslos uns blasser als das Laken. Ich konnte den Anblick kaum ertragen, ich musste mich abwenden und bin nach draußen gegangen. Miss Dunham sah nach mir und brachte mir eine Tasse heiße Schokolade, die mich etwas beruhigen sollte. Sie war sehr schockiert, ihre Hände haben so sehr gezittert, dass sie fast den Kakao verschüttet hätte. Ich bat sie, mich einen Moment allein zu lassen, und sie ging wieder, vermutlich zurück zu Julia. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, entschied ich, nach meinen Eltern zu sehen. Ich fand sie hier in der Bibliothek. Der Anblick meiner aufgewühlten Mutter erinnerte mich an die grausame Wahrheit, und um mich abzulenken, fing ich an, Julias Lieblingsstück auf der Harfe zu spielen. Nach einer Weile kam dann Mr Sawlt mit der Ankündigung, Sie seien eingetroffen, und ein paar Minuten später schritten Sie selbst durch diese Tür.“ Sie deutete auf den Eingang zum Salon.

„Und ist Ihnen irgendetwas Merkwürdiges an Ihrer Schwester oder generell aufgefallen?“

„Nein, alles war so wie immer, während des Abendessens plauderten Vater und Julia über das Jagdfest, das am Wochenende stattfinden sollte, danach gingen wir zu Bett.“

„Vielen Dank, Miss Helena, ich denke, das wäre erst mal alles. Ich werde Sie wieder spielen lassen. Ich gehe nach unten und vernehme das Hauspersonal. Auf Wiedersehen.“

Helena Berrington drehte sich wieder zu ihrer Harfe um und fing erneut an zu spielen, eine andere Melodie als zuvor, eher etwas Dramatisches. Fast konnte Jonathan Clarkson die Opernsängerin dazu hören. Er schloss leise die Tür hinter sich und überlegte, wie er in diesem Wirrwarr von Gängen nach unten finden sollte.

Nachdem er einige Male in einer Sackgasse gelandet war, begegnete er Charles Sawlt, der ihn nach unten in die Eingangshalle geleitete, wo schon das gesamte Personal auf ihn wartete.

Die Vernehmung ergab keine neuen Ergebnisse. Er stellte allen Bediensteten die gleichen Fragen und bekam immer die gleichen Antworten. Nein, ihnen wäre nichts Außergewöhnliches aufgefallen, sie seien alle sehr verstört wegen des Vorfalls und könnten sich nicht vorstellen, was mit der jungen Lady geschehen sei. Sie wäre ein so nettes und zartes Mädchen gewesen, das keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

Ohne den geringsten Verdacht zu haben, machte der Inspector sich um halb elf auf den Weg zurück nach Sutherten Hill. Um Punkt zwölf Uhr gab es bei Betty Mittagessen und heute war Schmorbraten mit Bratkartoffeln und Gemüse dran. Das wollte Jonathan Clarkson sich nicht entgehen lassen.

*

Kapitel 2