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Andrea Camilleri

Der vertauschte Sohn

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel
Biografia del figlio cambiato bei Rizzoli in Mailand.

E-Book-Ausgabe 2015

© 2000 RCS Libri S.p.A., Milano
© 2001 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten.
Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4172 9
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3159 6

VOM GLEICHEN AUTOR

König ZosimoRoman

Ein vergnüglicher Roman über den Bauern Zosimo, der im Jahre 1718 in Agrigent nach dem Willen des sizilianischen Volkes zum König gekrönt wird. Komisch, fantasievoll, verschroben, deftig, spannend wie nur Camilleri erzählen kann.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Quartbuch. Gebunden. 368 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Die Ermittlungen des Commissario ColluraAcht Kriminalgeschichten

Commissario Cecé Collura muss als Bordkommissar die wunderlichsten Fälle lösen. Ein sehr vergnügliches Buch über seltsame Gäste auf einem großen Schiff.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
WAT 476. Broschiert. 96 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Die Mühlen des HerrnRoman

Die Mühlen des Herrn mahlen langsam. Und ein gewisser sizilianischer Mafioso, der sich an den Mühlen bereichert hat, gerät in arge Bedrängnis.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Quartbuch. Gebunden. 224 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Der unschickliche AntragRoman

Ein höchst komischer Roman aus Sizilien über die Wirren, Intrigen, Verhaftungen, Morde und Liebesdramen, die ein einfacher Antrag auf ein Telefon auslöst.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Quartbuch. Gebunden. 280 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

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Camilleris Sizilien ist auch die Heimat eines der bedeutendsten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts: Luigi Pirandello, der Erneuerer des Theaters und große Erzähler, war wie Camilleri in Porto Empedocle zu Hause.

Kunstvoll ineinandergefügt erzählt Andrea Camilleri von Pirandellos und seiner eigenen Kindheit und Jugend zwischen Agrigent und Porto Empedocle, von schrulligen Verwandten, komischen Dorfbewohnern, sizilianischen Märchen.

»Ich schreibe über das Leben von Luigi Pirandello von einem durch und durch persönlichen Standpunkt aus«, sagt Camilleri. Auf höchst unterhaltsame Weise erfahren wir bislang Unbekanntes über Pirandellos Leben und Werk und natürlich viel über Andrea Camilleri, der erst bei den Recherchen zum Buch von seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Pirandello erfuhr.

»Ein Schriftsteller, der seine Leser verzaubert.«

Giuseppe Conte, Il Giornale

ERSTER TEIL

Ein OrtDie GeburtDie Milch

Der Vater, die Mutter

Die Erinnerung an das Dunkel

Porto Empedocle, Girgenti

Über das Verriegeln von Fenstern

Maria StellaDer vertauschte Sohn

Luigi, der vertauschte SohnDas Sakrileg

Die Kirche als FamilieDie Frage

Die ÜbertretungDas Brandmal

SchulwechselDie imaginierte Flucht

Eine Variante»Barbar«

Palermo – Porta di CastroGiovanna

Ende der FerienDie tödliche Krankheit

Die FundamentierungDie Gekränkte

Der Zweikampf

Der Wahnsinn im richtigen Augenblick

ZWEITER TEIL

Sizilianische FreundschaftLina

Der SchwefelDie LoslösungRom

Die UniversitätDie beiden Krankheiten

ComoBonnJenny

Ein Altar im HerzenDie Promotion

Rückkehr und Abreise

Ich bin nicht klein geboren

Das GeschäftKurz, das glückliche Leben

Der Sommer 1899Herr Professor

Das verfluchte Jahr 1903

Ich hieß Mattia Pascal

DRITTER TEIL

Der grauenvolle Abgrund

Das Schlafzimmer

Der Wahnsinn meiner Frau bin ich

Der stechende VerdachtWarum?

Stefano, Lietta, Fausto1915

Noch einmal KriegLietta will heiraten

Don Stefano kommtDer Vergleich

Das große Puzzle

Der Abend der UraufführungViele Tränen

Der wiedergefundene Vater

Die griechische VaseDie Veränderung

Die Wiederholung: Lietta

Die Wiederholung: Fausto

Die Wiederholung: Stefano

Kurze Geschichte des »Märchens«

Lächelnde Glückseligkeit

Was ist denn wahr? Doch nichts

Ich muß um Entschuldigung bitten

Der Sarazenen-Ölbaum

Anmerkungen

»Luigi schreibt nur ziemlich selten, und ich finde keinen Frieden, weil ich weiß, daß sein Lebensweg mit Dornen gesät ist, aber ich sehe auch, daß es kein Hilfsmittel gibt, denn so ist nun einmal sein Wesen. Wieviel zufriedener wäre ich, wenn er weniger intelligent wäre und ein Leben der Lebenden führen könnte!«

Aus einem Brief der Mutter Luigi Pirandellos an die Tochter Lina, datiert »Porto Empedocle, 21. Januar 1889«.

ERSTER TEIL

An einem farbigen Morgen des Monats September 1866 wurden der Adel, die Wohlhabenden, die Bürgerlichen, die Groß- und die Einzelhändler, die Herren mit Hut und die mit Schiebermütze, die Garnisonen und ihre Kommandanten, die Angestellten in den Büros, den Nebenbüros und Unterbüros der Behörden, die nach der Einigung Italiens wütender über Sizilien hereingebrochen waren als ein Heuschreckenschwarm, plötzlich und ziemlich unwirsch von einem grauenhaften Stimmengewirr, von Schüssen, Wagengerassel, schnaubenden Tieren, Laufschritten und Hilferufen aufgescheucht.

Drei- bis viertausend bewaffnete Bauern der Landstriche um Palermo, die zum großen Teil von ehemaligen Anführern militärischer Abteilungen des Garibaldinischen Feldzugs kommandiert wurden, stürmten die Stadt. Im Handumdrehen kapitulierte Palermo, fast ohne Widerstand: den Bauern schloß sich dann noch das einfache Volk an, und gemeinsam brachen sie einen Aufstand los, der zunächst unbezähmbar schien.

Doch nicht alle Bewohner von Palermo waren überrascht. Die ganze Nacht über waren diejenigen aufgeblieben und hatten Wache gehalten, die darauf warteten, daß sich ereignen würde, was sich ereignen mußte: die Priester in den Sakristeien, die Mönche und Nonnen in den Klöstern, ein paar nostalgische, reaktionäre Herren von Adel in ihren reichen Stadtpalais. Sie waren es, die diesen Aufstand ausgelöst hatten, den sie »republikanisch« nannten. Die Sizilianer aber nannten den Aufstand, mit der Ironie, die oft auch noch ihre tragischsten Geschichten salzt, den der »Siebeneinhalb«, weil diese Erhebung siebeneinhalb Tage gedauert hatte. Und es soll daran erinnert werden, daß »Siebeneinhalb« auch ein harmloses, vergnügliches Kartenspiel ist, das sogar die Kleinen bei den weihnachtlichen Spielrunden mitspielen dürfen.

General Raffaele Cadorna – mit einer Kugel an langer Leine auf die Insel geschossen – schreibt an seine Vorgesetzten, daß der Aufstand unter anderem aufgrund »der beinahe völligen Versiegung der Ressourcen des Öffentlichen Vermögens« entstehe, wobei dieses »beinahe« eine warme Windel ist, ein winziges bißchen Vaseline, um das grundlegende, das stillschweigend gemeinte Konzept einzuführen, daß, wenn die Ressourcen versiegt sind, dies ganz gewiß nicht die Schuld der Ureinwohner sei, sondern die einer unsinnigen Wirtschaftspolitik gegenüber dem Mezzogiorno Italiens.

Für Marchese Torrearsa hingegen, einen Mann der gemäßigten Rechten, sind die Gründe »in der gründlichen Demoralisierung der Massen« zu suchen.

Mazzini, der diese Revolte zwar als »republikanisch« bezeichnete, war zu ihr bereits auf Distanz gegangen: ausgestattet mit einem feinen Gespür für alles, was nach Kirche und Klöstern roch, hatte er seit langem die Überzeugung gewonnen, daß es besser sei, sich von jedem Aufruhr fernzuhalten, der von Weihrauch umwölkt wird.

Aber »du kannst ihn drehen, wie du willst, es bleibt doch immer derselbe Kürbis«, sagt man bei uns in Sizilien. Und tatsächlich antwortet die Regierung mit dem einzigen Wort, das sie seit der Einigung für jeden Aufruhr im Süden anwendet, sei er gerechtfertigt oder nicht: Unterdrückung.

So kommen, wenn auch mit einiger Verspätung, die Truppen, um die Revolte zu unterdrücken. Zwar waren sie mit vernünftigen Waffen ausgestattet, das schon, aber ohne es zu wissen, schleppten sie eine Waffe mit sich, die furchtbarer war als Gewehre und Kanonen, eine schreckliche, eine unsichtbare Waffe.

Mit den Soldaten ging auf der Insel die Cholera an Land, die ihre Ansteckungsherde bereits in anderen Teilen Italiens hatte.

Bis zu diesem Augenblick war man in der Lage gewesen, durch strenge Hafenkontrollen die Übertragungsgefahr fernzuhalten, doch militärische Notwendigkeiten machten diese Kontrollen weniger unerbittlich. Tatsache ist, daß die Cholera im Gleichschritt mit den Truppen vorwärtsdrängte, und auf der Insel fand sie Gelegenheit, sich spannen- und ellenweise auszubreiten: von Oktober 1866 bis August 1867 fanden ungefähr fünfundfünfzigtausend Menschen den Tod.

Dieses Zusammentreffen inspirierte den einen und anderen genialen antiunitarischen Aktivisten auf goebbelsche Weise. Man erfand das gleich für bare Münze gehaltene Gerücht, die Regierung selbst habe diese Ansteckung verbreitet, und zwar in der eindeutigen Absicht, die Sizilianer umzubringen, die den hohen Herren mit ihren Revolten und Forderungen gehörig auf den Geist gingen, und auch, weil, wenn die Erbschaftssteuer nur ein ganz klein wenig angehoben würde, diese Herren mit all diesen Toten einen schönen Batzen Steuergelder einnehmen könnten.

Ein Gutteil der Bevölkerung, die seit der Einigung eine gehörige Unzufriedenheit mit sich herumschleppte, glaubte an diese Version so fest, daß Nino Martoglio sich verpflichtet fühlte, eine zauberhafte Dialektkomödie zu schreiben, ‘U Contra (Das Gegengift), mit einer genialen erfundenen Figur, Don Cosimo Ballaccheri, der hingegen erklärte, warum die Regierung überhaupt nichts damit zu tun habe und seine eigene schrullige Theorie über diese Angelegenheit darlegte.

Die Reichen, die Wohlhabenden, die Adeligen verschwanden innerhalb von so kurzer Zeit von der Insel, wie es einundfünfzig Jahre später nicht einmal die Revolution in Rußland fertig gebracht hatte: einige von ihnen landeten gar in London oder in Konstantinopel. Wer nicht das nötige Kleingeld hatte, um sich davonzumachen, mußte gezwungenermaßen zurückbleiben und sich durch Dörfer und Städte schlagen, unter der ständigen Bedrohung einer Ansteckung.

Wer Bekannte hatte, brachte Frau und Kinder in Häuser von Bauern oder Freunden auf dem Land. Wer dagegen das Glück hatte, ein Landhaus sein eigen zu nennen, war dort verhältnismäßig sicher.

EIN ORT

An der Südküste Siziliens gibt es eine Ortschaft, die heißt Porto Empedocle. Bevor sie eine eigenständige Gemeinde wurde, war sie ein Ortsteil von Girgenti (Agrigent): die sogenannte »Borgata Molo« (Mole-Vorstadt) mit annähernd dreitausend Einwohnern, die allesamt von den blühenden, lautstarken Handelsgeschäften im Hafen mit Schwefel, Salz, Weizen und anderem Getreide lebten, Erzeugnissen, die aus dem Inneren der Insel kamen.

»Unterort Molo«, so nannten ihn die Girgentaner, die die Autonomiebestrebungen dieses kleinen Ortsteils belächelten. Welcher, um es ganz offen zu sagen, sich von Girgenti einigermaßen unterschied, denn Girgenti hatte über sechzehntausend Einwohner, davon 237 Priester, 211 Mönche und 203 Nonnen. Die »Borgata Molo« hatte lediglich zwei Priester, keinen Mönch und keine Nonne.

Das letzte Wort in diesem ständigen Streit zwischen »Girgentanern« und »Marinisern« (das heißt den Bewohnern der Meeresortschaft) sprach Ferdinand II. in Person, welcher, per Königlichem Dekret, erlassen auf Ischia am 18. August 1852, festlegte, daß »mit dem 1sten Januar 1853 die Borgata del Molo von Girgenti von der Gemeindeverwaltung dieser Stadt losgelöst und ein eigenständiges Gemeinwesen mit eigener und unabhängiger Verwaltung bilden wird«. Dadurch wurde es notwendig, eine Liste der wählbaren Männer aufzustellen. Diese mußten mindestens zwei unverzichtbare Erfordernisse erfüllen: sie mußten lesen und schreiben können und in der Liste der Steuerzahler aufgeführt sein. Auf dreitausend Einwohner kamen siebzig Namen zusammen.

Und so entstand Porto Empedocle, zu Ehren des Philosophen und Arztes Empedokles, des Ruhms und des Stolzes von Akragas, wie Girgenti damals, in der griechischen Antike, genannt wurde.

An einer unvorteilhaften Stelle in die Welt zu treten, ist kein ausschließliches Vorrecht der Menschen. Auch ein Ortsteil entsteht nicht wie oder wo er es gerne hätte, sondern dort, wo aus dem einen oder anderen natürlichen Bedürfnis das Leben es verlangt. Und wenn zu viele Menschen, von derlei Bedürfnissen gezwungen, sich an dieser Stelle zusammenfinden und zu viele dort geboren werden und die Stelle zu eng ist, muß ein Ortsteil mit vielen Nachteilen entstehen. Wenn Nisia sich ausdehnen wollte, mußte es in die Höhe klettern, ein Haus über dem anderen, an den Mergelhängen des angrenzenden Hochplateaus, das, nur wenig hinter dem Ortskern, bedrohlich zum Meer hin abfällt. Frei und uneingeschränkt hätte der Ortsteil sich auf diesem weiten luftigen Hochplateau ausdehnen können; aber damit hätte er sich auch vom Meeresufer entfernt. Vielleicht würde man ja eines Tages ein Haus, notgedrungen dort oben hingebaut, unter dem Hut seiner Dachziegel und eingehüllt in den Schal seines Verputzes wie eine Ente zum Ufer hinunterwatscheln sehen. Denn da unten, am Ufer, da pulsierte das Leben.

So erzählt Pirandello in einer Novelle das Entstehen von Porto Empedocle, das er hier Nisia nennt. Und wirklich pulsierte hier das Leben, wenn der kleine Ort, wie man im Dizionario topografico della Sicilia von 1859 nachlesen kann, eine große Schwefelraffinerie und einen Telegrafen besaß, der Sitz zahlreicher ausländischer Konsulate war, sehr fortschrittlich wirkte und in ständiger Ausdehnung begriffen war.

Die Grenzlinie zwischen beiden Gemeinden längs der Küstenstraße wurde in Höhe der Mündung eines seit Urzeiten ausgetrockneten Flußbetts festgelegt, das ein Gemeindegebiet in zwei Teile zertrennte, das »‘u Càvusu« oder auch »‘u Càusu« hieß und so dicht von Bäumen bewachsen war, daß man denken konnte, es sei ein Wald.

Nun bedeutet im sizilianischen Dialekt sowohl »càvusu« als auch »càusu« das gleiche, nämlich: Hose. Und tatsächlich mußte diese durch das ausgetrocknete, ausgedörrte Flußbett in zwei Teile gespaltene Hochebene auf jemanden, der sich vom Meer her näherte, wie eine Hose gewirkt haben.

Und nun gehörte eine Hälfte dieses Càvusu zur neuen Gemeinde von Porto Empedocle und die andere zur Gemeinde von Girgenti.

Eines schönen Tages sagte sich ein Beamter des Einwohnermeldeamtes, es könne nicht angehen, ins Geburtsregister zu schreiben, daß das Kind eines Bauern in einer Hose zur Welt gekommen sei, und änderte das volkssprachliche »Càusu« in »Caos«.

Und seitdem heißt dieses Gemeindegebiet Caos.

DIE GEBURT

Signora Caterina Ricci Gramitto, verheiratet mit Stefano Pirandello, Schwefelhändler, bewohnt das große Haus in Porto Empedocle mit ihrer Erstgeborenen Rosolina (so getauft zu Ehren von Rosolino Pilo, dem General unter Garibaldi), kurz Lina genannt.

Als die Cholera ausbricht, ist Signora Caterina wieder schwanger und hat das Zimmer herrichten lassen, in dem schon Lina zur Welt gekommen ist und in dem nun auch das neue Kind das Licht der Welt erblicken soll.

Doch die Angst vor einer Ansteckung ist groß. Der Gatte bringt sie zusammen mit der Tochter in ein kleines Haus auf dem Land, das fast am Abhang des ausgetrockneten Flußbettes steht, und von wo aus man das Meer sehen kann. Das Haus befindet sich genau an der Stelle, wo das Gemeindegebiet von Girgenti beginnt. Don Stefano ist kein häuslicher Typ: zum einen, weil er wirklich viel zwischen Palermo und den Schwefelminen im Inneren der Insel zu tun hat; zum anderen, weil er ein richtiger Mann ist, und ein richtiger Mann hält sich nicht in den Wänden seines Hauses bei Frau und Kindern auf.

Caterina leistet er vor allem abends und in der Nacht Gesellschaft, allerdings nur, wenn er kann. Einer seiner Brüder ist Junggeselle und hat keine familiären Verpflichtungen.

An schönen Vormittagen, wenn die Hausdienerin, eine Bäuerin aus der Umgebung, das Haus reinigt oder die Wäsche wäscht, geht Signora Caterina langsam die achthundert Meter, die das Haus von dem Steilhang trennen, unterhalb dessen sich der wie Kupfer schimmernde Strand und das Blau des Meeres ausdehnen.

Da steht eine jahrhundertealte Pinie, in deren Schatten ein flacher Stein aufgestellt worden ist, der als Sitz dient. Da verbringt Signora Caterina ein paar Stunden, während Lina, die noch nicht laufen kann, zusammengekauert an ihrer Brust schläft. Um die Zeit zu verbringen, klöppelt sie, die Klöppelröllchen hat sie immer dabei. Wenn sie zurückkommt, hat das Hausmädchen schon den Tisch gedeckt und das Essen vorbereitet und möglicherweise auch bereits das Abendessen gekocht. Nach dem Mittagessen schläft sie ein bißchen. Dann kommt bei Einbruch der Dunkelheit, wenn sie die Lampen anzündet, der Bruder. Signora Caterina fühlt sich zuversichtlich: immerhin kann sie ein paar Worte wechseln. Die Schwangerschaft verläuft ruhig.

Sie weiß nicht, daß ihr Gatte Stefano sich aufgrund seines Herumreisens mit der Cholera angesteckt hat. Sie weiß es nicht, weil ihr Gatte es ihr nicht sagen will, und er hat auch alle Mitglieder der Familie seiner Frau schwören lassen, daß sie schweigen würden: er hat Angst vor dem Gefühlsausbruch seiner Frau, die ja zudem schwanger ist. Als er beim Ehemann einer ihrer Schwestern zu Gast ist, schickt Don Stefano ein paar kurze Zeilen an Caterina und gibt vor, in Palermo zu sein und von Geschäften völlig in Anspruch genommen zu werden.

Es mußte sich um eine leichtere Form der Erkrankung handeln, denn Don Stefano überlebte, und war nach etwas über einem Monat sogar in der Lage, sich wieder auf den Beinen zu halten.

So präsentierte er sich eines Tages seiner Gattin. Allerdings hatte er nicht bedacht, daß die Krankheit seinen Körper ausgetrocknet und Veränderungen in seinem Gesicht nach sich gezogen hatte: als er vor sie hintrat, hätte Donna Caterina fast der Schlag getroffen. Und so, wie er plötzlich aufgetaucht war, hatte Don Stefano sich gleich am folgenden Tag wieder seinen Geschäften gewidmet. Fünf Tage später, gegen zwei Uhr nachts, wurde Donna Caterina vor der Zeit von Geburtswehen befallen.

In dieser Nacht schlief der Bruder im Haus, der, notdürftig angezogen und mit einer Lampe in der Hand, über die Felder eilte, auf der verzweifelten Suche nach einer Bäuerin, die als Hebamme helfen konnte. Zu dieser Nachtzeit jedoch hatte niemand den Mut, ihm die Haustüre zu öffnen. Als er gegen halb vier völlig verzweifelt heimkehrte, hatte seine Schwester ganz alleine einen Jungen zur Welt gebracht, ein Siebenmonatskind, während Töchterchen Lina glücklicherweise ungestört weitergeschlafen hatte.

Dem Kleinen wurde der Name Luigi gegeben.

Sobald er in der Lage ist zu verstehen (und das ist er schon bald), was die Mutter ihm erzählt, begreift der kleine Luigi, daß er an einem Ort und an einem Tag zur Welt gekommen ist, die anders waren, als man ursprünglich geplant hatte. Eine doppelte Niete.

Die Tatsache, daß er im siebten Schwangerschaftsmonat geboren ist, müßte in gewisser Hinsicht, wenn man einer Bauernweisheit Glauben schenken will, ein eindeutiges signum individuationis darstellen, ein Brandmal, wie bei Pferden. »Figliu settiminu/o diavulu o parrinu«, heißt es im Sizilianischen: Alternativen gibt es keine für ein Siebenmonatskind, entweder gehört es dem Teufel oder der Kirche.

Der nicht geplante Ort wird für Luigi später einmal Anlaß zu besonderem Stolz sein.

In einem Brief an einen Freund wird er schreiben:

Ich bin nämlich ein Sohn des Chaos; und das nicht im allegorischen Sinne, sondern tatsächlich, denn ich bin auf einem Landgut geboren, das in der Nähe eines dichten Waldes liegt, den die Bewohner von Girgenti in ihrem Dialekt Càvusu, Chaos, nennen … eine dialektale Korrumpierung des ursprünglichen altgriechischen Wortes Xáos …

Von Càvusu zu Caos und von Caos zu Xáos wird die Nobilitierung des Ortsnamens notwendig: »Namen sind die Folge von Dingen, aber Dinge sind auch die Folge von Namen«, wird Leonardo Sciascia einmal bemerken.

Die räumliche Niete dagegen verursacht bei ihm einige Sprach- und Ratlosigkeit, auch einige Zweifel, und das nicht aus dem lokalpatriotischen Grund, zufällig auf dem Gebiet von Girgenti geboren zu sein, statt auf dem von Porto Empedocle. Nein, keineswegs! Das Problem ist ein ganz anderes.

Es handelt sich um allgemein bekannte Beschreibungen, die wir hier aber durchaus noch einmal lesen wollen.

In einer Nacht im Juni stürzte ich wie ein Glühwürmchen unter eine große einsame Pinie in einem Landstrich mit sarazenischen Olivenbäumen, am Rande einer Hochfläche aus bläulichem Lehm, die sich über dem afrikanischen Meer erhebt. Man weiß ja, wie Glühwürmchen so sind. Die Nacht, scheint ihr Schwarz gerade für sie auszubreiten, wenn sie, weiß Gott wohin fliegend, da und dort für einen Augenblick ihre sehnsüchtig blitzende grüne Lichtspur durch sie ziehen. Immer wieder fällt eines herab, und dann sieht man gerade so ein bißchen diesen seinen grünen Lichtseufzer zur Erde huschen, der so unerreichbar fern erscheint. So bin ich auch in dieser Juninacht herabgefallen

Und daher:

Ich glaube jedoch, für die anderen wird es eine Gewißheit gewesen sein, daß ich dort und nicht anderswo zur Welt kommen mußte und daß ich weder früher noch später geboren werden konnte; aber ich gestehe offen, von all diesen Dingen habe ich mir noch keinen Begriff gemacht und werde mir wohl auch nie einen machen können.

Ehrlich gesagt, glauben wir nicht, daß sich die Dinge so verhalten, wie Pirandello sie uns mitteilt: eine Vorstellung davon, weshalb sein unfreiwilliger Aufenthalt auf Erden von einer zweifachen Spur gekennzeichnet worden ist, hatte er sich ganz fraglos gemacht.

Und wenn schon keine klare Vorstellung, dann doch wenigstens die Feststellung eines Unbehagens.

Aufgeschreckt aus dem Schlaf, vielleicht auf Grund eines Irrtums, und in einem Durchgangsbahnhof aus dem Zug gezerrt. Nachtzeit; und ich ohne alles Gepäck.

Ich habe Mühe, mich von meiner Betäubung zu erholen

Ich stehe auf dem Bahnsteig, allein, in der Finsternis einer einsamen Station; und weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, um zu erfahren, was mit mir geschehen ist, wo ich bin.

Und dann: Warum als Mensch geboren werden, als fröstelnder, verlorener Transitreisender?

Man wird auf viele Weisen und in vielen Formen zum Leben geboren: Baum oder Stein, Wasser oder Falter … oder Frau, und nur ein einziges Mal und in dieser bestimmten Form, denn niemals waren zwei Formen identisch, und so für eine geringe Zeit, manchmal nur für einen Tag und auf einem äußerst kleinen Raum, während man um sich herum und unbekannt die ganze weite Welt hat, die riesige, undurchdringliche Leere der Existenz. Als Ameise wird man geboren, als Schnake, als Grashalm.

Tja. Und wieso nicht Vierbeiner?

Ich weiß, welche Anstrengung ich in manchen Augenblicken auf mich nehme, um mich lediglich auf zwei Pfoten zu halten. Glaub mir, mein Freund: wenn es der Natur nachginge, wären wir alle aus Neigung Vierbeiner. Das wäre das Beste! Bequemer, angenehm bedächtig, immer ausgeglichen … Wie oft würde ich mich hinwerfen und auf der Erde gehen wollen, so, mit aufgestützten Fingern, auf allen Vieren! Diese verdammte Zivilisation ruiniert uns! Vierbeiner, ich würde ein schönes wildes Tier sein; Vierbeiner, ich würde dir ein paar Tritte in den Bauch versetzen, wegen der Grobheiten und Ungereimtheiten, die du von dir gegeben hast; Vierbeiner, ich hätte keine Frau, keine Schulden, keine Sorgen.

Aber nun ist er eben als Mensch geboren, er ist klein, ein Junge, der den Namen Luigi trägt.

DIE MILCH

In der Zeit, als der kleine Luigi Muttermilch bekam, diktierte im Umland von Girgenti ein Ex-Sträfling das Gesetz, der in den Tagen der Landung Garibaldis befreit worden war. In seinem Einakter Der andere Sohn zitiert Luigi Pirandello ihn mit Vor- und Familiennamen, und so läßt er durch den Mund einer anderen Person, der alten Maragrazia, dessen Taten erzählen:

Sämtliche Gefängnisse sämtlicher Orte wurden geöffnet, mein junger Herr. Und Sie können sich kaum vorstellen, was für ein gewaltiger Zorn überall losbrach! Die gemeinsten Diebe, die gemeinsten Mörder, wilde, blutrünstige, wütende Bestien, die durch viele Jahre in Ketten so geworden waren! Unter diesen war einer: ein gewisser Cola Camizzi. Der schrecklichste von allen. Ein Anführer von Briganten. Der brachte die armen Geschöpfe Gottes um, einfach so, aus Lust, als wären es Fliegen. Um das Pulver auszuprobieren – sagte er –, um zu sehen, ob der Karabiner auch gut geputzt war. Der stürzte sich auf die Landstriche unserer Gegend … Er hatte schon eine Bande aus Bauern zusammengestellt, aber damit war er noch nicht zufrieden, er wollte weitere, und er brachte jeden um, der ihm nicht folgen wollte.

Als die garibaldinische Grille vorüber ist, hört Cola Camizzi mit den aufsehenerregenden Bluttaten auf und verwandelt sich in einen gefürchteten Mafiaboß dieser Gegend. Er mordet zwar weiter, tut es aber in aller Heimlichkeit, lautlos, ohne Aufsehen zu erregen, wenn sich jemand seinem Willen widersetzt oder sich weigert, Schutzgeld zu bezahlen.

Kaum ist der kleine Luigi geboren, hat Don Stefano eine Schwefelmine gepachtet, die anfängt, Erträge abzuwerfen. Als er eines Tages nach Porto Empedocle zurückkehrt, wird er von Cola Camizzi gestellt. Die Straße ist, wie immer, auch in diesem Augenblick menschenleer, außer den beiden Männern gibt es niemanden, nicht einmal ein Hund streunt vorüber.

»Lieber Pirandello, um mit Schwefelminen Glück zu haben, braucht es …«, haute Cola ihn an und ließ seinen Worten eine vielsagende Bewegung folgen, indem er sich an den Hintern faßte.

Nardelli, Pirandellos Biograph, der diese Episode ausführlich erzählt hat, schreibt, daß Don Stefano »auf eine derart plump unliebenswürdige Kontaktaufnahme ohne viel Geplänkel reagierte«.

Wir glauben kaum, daß Don Stefano wegen mangelnder Liebenswürdigkeit seitens des ehemaligen Briganten und jetzigen Mafioso indigniert war und reagieren mußte. Vielmehr standen sich hier zwei Sizilianer gegenüber, Aug in Aug, und erfaßten ganz genau den unterschwelligen Diskurs eines jeden Satzes. Für Stefano Pirandello war absolut klar: es ging um eine Schutzgeldforderung.

Und er versetzte Cola einen solchen Schlag ins Gesicht, daß der zu torkeln anfing.

Cola war verwirrt und benommen, vor allem aber überrascht: noch nie hatte eine Menschenseele es gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben. Und als wollte er ganz sichergehen, fragte er drohend:

»Eine Backpfeife? Für Cola Camizzi?«

»Eine? Hundert!« gab Don Stefano zur Antwort.

Er ließ ganze Salven von Backpfeifen und Faustschlägen links und rechts auf ihn niedergehen, unter denen Camizzi zur Erde stürzte und ein Gesicht wie ein weicher, gerade aus dem Backofen gehobener Brotlaib machte.

Ein paar Stunden später befand sich Don Stefano in seinem Schwefellager am Strand und besprach gerade mit einem Kunden, der mit Nachnamen Veronica hieß, den Preis für die Einlagerung einer bestimmten Menge Schwefels, da hörte er von ferne Schüsse aus einer Flinte. Er schickte einen der Lagerburschen, um nachzusehen, was los war. Kurz darauf kam der Bursche wieder zurück und berichtete, daß Cola Camizzi in der Nähe sei und seine Waffe ausprobiere.

Die ständige Kontrolle der Flinte mußte wohl ein fixe Idee des Mafioso gewesen sein, wenn Maragrazia in der bereits zitierten Dialogpassage erzählte, daß der Brigant gewöhnlich nur deshalb auf einen geschossen hätte, um auszuprobieren, ob seine Flinte noch gut funktionierte. Doch Stefano Pirandello hatte auch diesmal die Bedeutung der Probeübung durchaus begriffen. Ohne daß sein Kunde es bemerkte, nahm er den Revolver, den er immer im Gürtel bei sich trug, und steckte ihn in die rechte Jackentasche.

Es war sinnlos. Denn Camizzi war im Schutz der Schwefelhaufen gefährlich nahe an ihn herangekommen.

»Weg da! Weg da!« rief Camizzi, der offensichtlich wollte, daß der Kunde sich entfernte.

Der verzog sich. Dann geschah alles in Sekundenschnelle. Don Stefano hatte gerade noch Zeit, sich die Brust mit einem Arm zu schützen und sank, von zwei Kugeln getroffen, auf die Knie. Daraufhin warf Cola die Flinte weit weg und kam langsam auf Don Stefano zu, um ihn mit einem Revolverschuß zu erledigen.

Doch er beging einen Fehler. Der Bursche, der vorher geschickt worden war, um zu sehen, wer da geschossen hatte, bemächtigt sich nämlich der leeren Waffe, hält sie am Lauf fest und versetzt dem Mafioso von hinten einen gewaltigen Schlag auf den Kopf. Der wankt und macht sich davon. Don Stefano steht auf, ihm hinterher und feuert ein ganzes Magazin auf ihn ab. Dann kann er nicht mehr, er sinkt hin und verliert das Bewußtsein.

Blutend wird er nach Hause gebracht, der Arzt stellt zwei ernste Verletzungen fest. Eine Kugel hat den Knochen getroffen und die Sehnen der Hand zertrennt, mit der er das Herz geschützt hatte. Die andere hat die Brust durchbohrt und eine Rippe zerschmettert.

Von den beiden Verletzungen ist die an Hand und Arm die schwerere, man spricht sogar von Amputation. Doch die wird nicht nötig sein, allerdings wird Don Stefano aufgrund dieses Schußwechsels einen Finger nicht mehr gebrauchen können.

Beim Anblick der Szene, wie ihr Mann, am Arm von Freunden gestützt, nach Hause zurückgebracht wird und eine breite Blutspur hinter sich läßt, fühlt sich Signora Caterina erstarren.

Ihre Milch versiegt auf der Stelle.

Und so wird Luigino einer Amme anvertraut.

Die Geschichte soll noch zu Ende erzählt werden. Cola Camizzi, der auf Pirandellos Anzeige hin verhaftet worden war, wurde zu sieben Jahren wegen versuchten Mordes verurteilt. Doch als er nach Verbüßung seiner Strafe wieder nach Girgenti zurückkehren wollte, haben »Freunde« ihm geraten, es sei besser für ihn, seine Luft anderswo zu atmen: Don Stefano habe nämlich geschworen, ihn, sobald er ihn sehen würde, zu erschießen. Und Don Stefano galt als ein Mann, der sein Wort hielt. Cola verschwand aus girgentinischem Gebiet und tauchte in den fernen Schwefelminen eines gewissen Di Giovanni unter, und dort, schreibt Nardelli, »ging sein Leben in Düsternis zu Ende«.

Was versteht der kleine Luigi von den Worten der Mutter, als sie ihm die Geschichte seiner Geburt und seiner ersten Annäherung ans Leben erzählt?

Er versteht, daß er ein Siebenmonatskind war, geboren vor seiner Zeit, weil der Vater der Mutter entsetzliche Angst eingejagt hatte.

Er versteht, daß er nicht von seiner Mutter gesäugt werden konnte, weil der Vater ihr noch einmal entsetzliche Angst eingejagt hatte.

Gewiß hat sich im elementaren Mechanismus des Kopfes des Kleinen ein Prinzip von Ursache und Wirkung herausgebildet: jedesmal, wenn der Vater seiner Mutter eine entsetzliche Angst einjagt, widerfährt auch ihm ein Unglück.

Ja, denn der Verlust der Muttermilch stellt ganz sicher eine Behinderung dar: »Großgezogen wird man nicht vom Vater / sondern durch die Brust der Mutter«, sagt ein sizilianisches Sprichwort.

Und er fragt sich möglicherweise, ob die Tatsache, daß der Vater ihn daran gehindert hat, mit dieser Milch groß zu werden, nicht ein Versuch war, ihm, Luigi, eine Familienidentität, eine Zugehörigkeit zu verweigern.

Und so fängt auch er an, vor dem Vater Angst zu bekommen.

Er schreibt, daß er als Kind sogar Schwierigkeiten hatte, mit der Mutter zu kommunizieren, obwohl er ein bewegendes Vertrauen in Worte hatte, und bei meinem Vater kam es mir unmöglich vor, doch nicht etwa, während ich mich darauf vorbereitete, sondern im Augenblick des Sich-Beweisens, was meistens furchtbar endete.

DER VATER, DIE MUTTER

»Bei den Sizilianern ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie stark ausgeprägt. Der Vater übt die absolute, nicht in Frage stehende Herrschaft über sie aus; die Mutter besorgt das Haus, sie legt darin größtes Interesse an den Tag und gebietet über die Kinder, gewissermaßen stellvertretend für den Gatten, dem sie gehorcht und den sie liebt, auch wenn er es nicht verdient hat. An seiner Statt flößt sie den Kindern Liebe und Verehrung für ihn ein, nicht nur, weil er der Vater ist, sondern auch die Stütze des Hauses: ›Ein Haus ohne Mütze / ist schon bald ohne Stütze‹.« So schreibt Giuseppe Pitrè.

Ein Haus, in dem der Mann nicht herrscht (und der Mann wird hier durch die Mütze, das heißt die sizilianische Schiebermütze symbolisiert), kann nur zusammenbrechen.

Noch 1945 hat Sebastiano Aglianò in einer glänzenden Arbeit über Sizilien geschrieben, daß »das Zusammenspiel in der Familie zwar instinktmäßig entsteht, doch nur selten von gegenseitigem Vertrauen, von Freundschaft zwischen den Ehegatten gestützt wird, was die Blutsbindung betonen könnte.«

Die Schiebermütze des Vaters von unserem kleinen Luigi ist im Haus immer gegenwärtig, und wohl erst recht dann, wenn er physisch nicht anwesend ist. Wie gesagt, Don Stefano ist selten oder nie zu Hause, er ist wegen seiner Handelsgeschäfte ständig in Sizilien unterwegs. Wenn er in den Heimatort zurückkehrt, zieht er es vor, seine freien Augenblicke außerhalb des Hauses mit Freunden zu verbringen. So ist es Brauch.

Die Gesellschaft des Mannes sind andere Männer, die der Frauen andere Frauen. Und so bemerkt Aglianò, daß »die Freunde des Ehegatten auch aufrichtige, herzliche Freunde der Gattin werden, ist äußerst selten«.

Don Stefano gibt kein Blut weiter, das immer schon Inselblut gewesen wäre. In gewisser Weise ist er nur ein halber Sizilianer, aber diese Hälfte genügt, um aus ihm einen hundertfünfzigprozentigen Sizilianer zu machen.

Die Pirandellos war Ligurer, die im 18. Jahrhundert nach Sizilien gekommen waren und sich durch geschickten, umsichtigen Handel schon bald ein Vermögen erworben hatten.

Don Stefanos Vater Andrea war mit sechsundvierzig Jahren während einer Choleraepidemie gestorben. Er hatte Zeit, mit seiner sizilianischen Frau ganze vierundzwanzig Kinder zu zeugen, deren Zahl wohl noch gewachsen wäre, wenn der Tod die Fließbandproduktion nicht unterbrochen hätte.

Stefano war das achtzehnte Kind.

Als Andrea sich mit der Krankheit angesteckt hatte, wurde er im Haus des Erstgeborenen aufgenommen, der Felice hieß. Dem wurde sehr früh klar, daß sein Vater nicht überleben würde. In dem Maß, in dem die Kräfte des Vaters allmählich schwanden, rieben sich in seinem Kopf die Probleme, die mit der Erbschaft im Zusammenhang standen. Sie waren zwar reich, das schon, doch ein Erbe, das durch vierundzwanzig (einschließlich der Mutter) geteilt werden mußte, bedeutete Armut für alle.

Und so hatte er einen genialen Einfall.

Als der Vater gestorben war, machte er keinem Mitteilung davon. Statt dessen lief er von einem Rechtsanwalt zum anderen, von einer Notarskanzlei zur nächsten, um dafür zu sorgen, daß er den besten Teil überschrieben bekam. Ergebnis: vier Tage nach dem Tod (die Leiche befand sich immer noch in seinem Haus) erfuhren Andreas Frau und die anderen dreiundzwanzig Kinder auf einen Schlag zwei Dinge: das erste war, daß der Gatte der einen und der Vater der anderen in ein glücklicheres Leben eingegangen war, und das zweite, daß er ihnen keinen Cent hinterlassen hatte, alles war an Felice gegangen.

Stefano mußte sich also alleine durchkämpfen, und es gab Augenblicke von großem Reichtum und von wirtschaftlichen Engpässen. Ausgestattet mit starkem Temperament, mit Abenteuersinn, versehen mit körperlichem Mut, oftmals hart und voller Verachtung, hatte er in seinem Leben sieben Auseinandersetzungen mit der Schußwaffe und ein halbes Dutzend Duelle bestanden.

Gleich nach Garibaldis Ankunft auf Sizilien meldete er sich bei den garibaldinischen Freiwilligenverbänden. Er machte alle Schlachten mit, angefangen mit der an der Admiralsbrücke in Palermo und alle weiteren, und hatte sich, fünfundzwanzigjährig, bereits den Ruhm eines Helden erworben. In der Via Papireto in Palermo befand er sich völlig alleine und schutzlos im Kugelhagel der bourbonischen Füsiliere. Er bewegte sich nicht, er suchte keinen Schutz: unerschrocken schoß er zurück. Garibaldi wurde auf den mutigen jungen Mann aufmerksam, der sich in diesem irrwitzigen Scharmützel engagiert hatte, lief ihm selbst zu Hilfe und brachte ihn in Sicherheit.

Nach dieser Begebenheit trat Stefano den garibaldinischen Truppen dauerhaft bei und folgte dem General bis zur Schlacht bei Volturno. Zwei Jahre später war er am Aspromonte erneut an dessen Seite, wollte sich aber nicht gefangennehmen lassen und zog es vor, wieder nach Sizilien zurückzukehren.

Sein Waffenbruder und Freund (eine Freundschaft, die während der garibaldinischen Unternehmungen entstanden war) Rocco Ricci Gramitto, ein Girgentaner, ergab sich dagegen am Aspromonte lieber den Königlich Savoyischen Truppen. Er wurde nach San Benigno überführt, wo er sechs Monate Gefängnis verbüßte. Rocco war der zukünftige Schwager von Stefano.

Die Ricci Gramittos waren mit Sicherheit die antibourbonischste Familie im Girgentanischen.

Giovanni Ricci Gramitto war ein hervorragender Rechtsanwalt, einer der Organisatoren der Erhebungen von 1848 in Palermo, Separatist, Minister in der Regierung Ruggiero Settimo.

Als der König von Neapel die Macht wieder zurückerlangt hatte, wurde Giovanni Ricci Gramitto von der Amnestie ausgeschlossen und, mit Zustimmung des Herrschers, auf die Proskriptionslisten gesetzt. Jeglichen Vermögens beraubt, muße er nach Malta fliehen. Er hatte vier Jungen (Francesco, Rocco, Vincenzo und Innocenzo) und drei Mädchen (Rosalia, Caterina und Adriana). Caterina, die zukünftige Mutter Luigi Pirandellos, war damals dreizehn Jahre alt. Kurz darauf folgte Giovannis Frau mit den Kindern ihm auf einer Tartane von Porto Empedocle aus ins Exil nach. Und Pirandello schreibt 1915 über diese Reise und die Zeit im Exil aufgrund der Erzählung der Mutter. Sie lebten von der Unterstützung eines Onkels, eines Bruders von Giovanni, der Kanonikus war, völlig gegenteilige Ideen vertrat und in der Kathedrale das Te Deum anläßlich der Rückkehr von König Ferdinand II. von Bourbon sang, und zwar am gleichen Tag, an dem Giovanni sich nach Malta aufmacht.

In Bùrmula auf Malta stirbt Giovanni im Alter von sechsundvierzig Jahren, aufgezehrt von der Verzweiflung und der Ferne von seiner heimatlichen Erde. Bevor er den letzten Atemzug macht, versammelt er an seinem Bett seine Frau und seine Kinder und läßt sie schwören, daß sie ihre ganze Kraft, ja sogar ihr Leben für die Befreiung von den Bourbonen einsetzen werden. Die Familie kehrt nach Sizilien zurück, der Onkel Kanonikus nimmt sie auf, erfährt wegen dieser Verwandten, die er liebt, Demütigungen und Hausdurchsuchungen, ohne sich jemals darüber zu beklagen. Außerdem hatten Giovannis Familienangehörige sich gleich daran gemacht, Verschwörerisches vorzubereiten: Caterina nähte italienische Fähnchen, die sie in einem Kabuff unter der Treppe versteckte. Die gleichen Fähnchen, die ihr Bruder Vincenzo, der vom Onkel in ein Priesterseminar gesteckt worden war, aus dem er aber ausbüchste, bei sich trug, als er auf die bourbonischen Wachen in Girgenti losstürmte. Francesco und Rocco wurden Rechtsanwälte, auch ihre Ausbildung bezahlte der Onkel. Innocenzo schlug die militärische Laufbahn bei den Bersaglieri ein. Rocco und Vincenzo schlossen sich den Truppen von Rosolino Pilo an und folgten dann Garibaldi. Am Aspromonte nahm Rocco, der Leutnant unter Garibaldi war, den blutigen Stiefel seines Generals an sich und brachte ihn nach Girgenti.

Den schenkte er später Luigi Pirandello, der ihn wiederum dem Rathaus von Rom vermachte. Wie bereits gesagt, ergab sich Rocco Ricci Gramitto, anders als sein Freund Stefano Pirandello, den Königlichen Bersaglieri. Unter diesen war – und das mag wie eine schlechte Erfindung klingen – sein Bruder Innocenzo, der, dem militärischen Befehl gehorchend, auf seinen Bruder und auf dessen künftigen Schwager schoß. Als Donna Anna von dieser Geschichte erfuhr, wollte sie ihren Sohn Innocenzo lange Zeit nicht mehr sehen.

Rocco wurde in den ersten Oktobertagen des Jahres 1862 endlich freigelassen, kehrte nach Girgenti zurück und wurde dort triumphal empfangen. Bei dieser Gelegenheit trafen sich Rocco und Stefano nach der Schlacht am Aspromonte wieder, und so kam es, daß Stefano Pirandello und Caterina Ricci Gramitto sich zum ersten Mal begegneten.

Sein Enkel Stefano, Luigis Sohn, schreibt 1936:

»Er war schön, sie nicht, außer den Augen. Und außerdem kam sie sich im Alter von achtundzwanzig Jahren bereits wie eine alte Jungfer vor. Ihre Jugend hatte sie dem Vaterland hingegeben. Als Stefano Hals über Kopf um ihre Hand anhielt, glaubte sie, er würde sich einen Scherz erlauben. Es war eine patriotische Ehe.«

Wenn irgendein Gegenstand, und war er auch von geringem Wert, für den man vermutlich im Ort keinen Ersatz bekam, beschädigt oder zerbrochen wurde, versank das ganze Haus in Trauer und tiefste Betroffenheit … Aber man mußte eben berücksichtigen, was jene Beschädigungen oder jener Bruch für den Mann bedeuteten: Er erblickte darin einen Mangel an Respekt, nicht etwa gegenüber dem Gegenstand, der wenig oder nichts wert war, sondern ihm gegenüber, ihm, der ihn gekauft hatte. Ob er geizig war? Nein, nicht einmal im Traum. Er war imstande, wegen irgendeiner Kleinigkeit, die ein paar Lire gekostet hatte, den halben Hausrat kurz und klein zu schlagen

Doch genügte manchmal ein Nichts, ihn zu den wüstesten Ausbrüchen zu veranlassen. Vielleicht tat es ihm gleich darauf schon wieder leid. Er wollte oder konnte es jedoch nicht eingestehen. Das wäre ihm so vorgekommen, als hätte er sich erniedrigt oder geschlagen gegeben. Er wünschte, daß die anderen es errieten. Aber weil niemand in seinem Schrecken auch nur zu atmen wagte, schloß er sich für ganze Wochen in einen schwarzen, stummen Zorn ein.

Dies ist das Porträt von Francesco Ajala, einer Figur aus Pirandellos Roman Die Ausgestoßene. Nur, daß diese Figur keine Phantasiegestalt ist, sondern das Porträt des Vaters, und diese furchtbaren Zornesausbrüche sind nur die realistische Darstellung dessen, was bei ihm zu Hause vorgeht, bei diesem stattlichen cholerischen Vater. Der seine Kinder ganz sicher liebt, aber nicht weiß, wie er seine Liebe offen zeigen kann.

Der kleine Luigi ist feingliedrig, mager, nur seine Augen wachsen, er hat ein fieberndes Verlangen nach liebevoller Wärme, die ihm der hünenhafte brüllende Vater nicht geben kann. Und fast immer gerät sein kindlicher Glaube, alles und jedes allen und jedem mitteilen zu können, angesichts der granitenen Realität des Vaters ins Wanken und verliert sich.

Als Jugendlicher vertraut er seinen Freunden an, daß sein Vater für ihn ein unverständlicher Mann ist, einer, mit dem man nicht vernünftig reden kann.

Daher entwickelte sich zwischen ihnen weder eine Gefühlsäußerung noch die Möglichkeit einer vernunftbestimmten Beziehung.

So entsteht zwischen den beiden also schon in Luigis früher Kindheit das, was Gaspare Giudice eine »gläserne Mauer« nannte, eine Mauer, die »sich niemals auflöste, im Gegenteil, sie wuchs in Dicke und Höhe und wurde im Lauf der Jahre schließlich unüberwindbar«.

DIE ERINNERUNG AN DAS DUNKEL

Eines Tages, als er etwa sechs Jahre alt ist und mit der Mutter spricht, beginnt der kleine Luigi ein Haus in Porto Empedocle zu beschreiben. Er erinnert sich an das Eßzimmer, das durch eine Trennwand mit zwei Bullaugen geteilt ist, hinter der sich das Zimmer der beiden Hausmädchen befindet. Er erinnert sich, daß eines Morgens zu einer bestimmten Stunde, als das Hausmädchen Filippa ihn auf den Armen trug, Finsternis aufzog, und es so dunkel wurde, daß eine Lampe angezündet werden mußte.

Das stimmte. In den ersten Februartagen des Jahres 1868 gab es eine Sonnenfinsternis.

Aber wie konnte sich der kleine Luigi nur daran erinnern, wenn er zu dieser Zeit gerade erst einmal knappe acht Monate alt war?

Durch etwas nicht Übereinstimmendes, nicht Logisches war sein Erinnerungsvermögen als neugeborenes Kind unauslöschlich geprägt worden: Wie konnte es geschehen, daß es am Tag so nachtschwarz wurde, daß man eine Lampe anzünden mußte?

PORTO EMPEDOCLE, GIRGENTI