image

Anne Dorn
Spiegelungen

image

Anne Dorn

Spiegelungen

Roman

image

Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung der

KUNSTSTIFTUNG image NRW

Autorin und Verlag danken für das Arbeitsstipendium, mit dem die Kunststiftung NRW dieses Projekt unterstützt hat.

Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-937717-42-5
eISBN 978-3-943941-26-5

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010
Lektorat: Christian Döring
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

www.dittrich-verlag.de

Meinen vier Kindern

»Des Menschen Engel ist die Zeit.«
Friedrich Schiller

I

M I N Z A

1

Sie war damals gerade so groß, dass ihr Kopf unter die Achselhöhle der Mutter reichte. Die konnte Minza unter den Arm nehmen, und wenn sie den Arm hochhob, um ihr Kind seitlich an die Brust zu drücken, roch Minza den Dunst, der aus dem feuchten Flecken unter dem Ärmel schlug.

Das war auf dem Schiff, einem Schaufelraddampfer. Der Vater hatte sie zur Anlegestelle gebracht. Minza hatte sich, so weit es ging, über die Brüstung des Schiffes gebeugt, damit der Vater ihr noch irgendetwas zurufen konnte, und genau gesehen, dass er lächelte – er hatte traurig gelächelt, mit sehr strammer Haltung, und das sah bei seiner kleinen Figur komisch aus. Er winkte. Die Mutter hatte ihren rechten Arm warm und schwer auf Minzas Kopf liegen, sie winkte dem Vater zurück, nur mit der linken Hand. Minza nahm auch die Hand hoch, ihre Hand hing wie an einem Laternenstock neben ihrem linken Auge. Sie winkte nur mit den Fingern, ganz klein.

Das war an einem gewöhnlichen Sonntag im Frühjahr. Die Elbwiesen trugen schon Wiesenschaumkraut und noch Himmelsschlüssel. Solange die Stadt, die richtige Stadt vorbeizog, blieb Minza neben der Mutter. Regelmäßig, wie die Namen der Kalendermonate, tauchte in ihrer Familie die Rede auf, dass Dresden schön sei. Minza wurde schon als kleines Mädchen genötigt, dieses Schöne zu sehen. Bei dieser Dampferfahrt sah sie dicke und dünne Türme, Fenster, Treppen und breite, leere Flächen mit einem Menschen in der Mitte, der in irgendeiner Geste erstarrt war, und dann auch lebendige Kinder und Erwachsene und Hunde auf den Wiesen. Deutlich im Gras Himmelsschlüssel.

Das Schiff mahlte Wasser. Es war das erste Schiff am Morgen. Sobald die Stadt in gewöhnlichen Häusern verebbte, fand Minza es kalt. Die Mutter wollte nicht mit den anderen Passagieren in den Schiffsbauch. Sie nahm Minza an die Hand und setzte sich mit ihr an einen Tisch auf das offene Heck.

Minza hätte lieber am Bug gesessen. Zuerst spielte sie mit den grünen und weißen Baumwollfransen der Tischdecke. Ein Karomuster ließ die Fäden frei und fing sie wieder ein. Genau solche Tischdecken besaß Minzas Großmutter. Sie spielte mit der vertrauten Decke. Die Mutter trank Kaffee aus einer dicken Tasse, an der Minza naschen durfte. Immer wenn sie ihren Hals langmachte und den Mund über den Tisch hin der Tasse entgegenstreckte, sah sie das blaue Kleid groß und flächig hinter deren Händen. Es war ein zauberisches Blau, taubenblau; ein gar zu starker, blauer Ton war mit einem Hauch Weiß abgebremst worden. Um den Hals und die Ärmelbündchen des Kleides liefen schmale Borten aus schwarzen und roten Glasperlen – genau an den Stellen, die auch an Minzas Kinderkleid mit Baumwollborte geschmückt waren. Nur um die Hüften der Mutter kroch eine zusätzliche, vierspurige Perlenraupe. Dazu hatte sie noch eine lange, verschlungene Elfenbeinkette über ihrer Brust hängen. Minza kugelte gern die gelblichweißen Perlen zwischen den Fingern, es knirschte etwas, wenn man sie zu rasch drehte, und dann hatte sie immer Lust, in die Kette hineinzubeißen.

Die Mutter wehrte Minza mit einer Armbewegung ab, drückte sie weg. Minza stand auf und ging zur Mitte des Schiffes. Das Schaufelrad warf regelmäßig einen Regen von Wassertropfen in den Fluss. Es war immer wieder derselbe Ablauf von Wirbeln und Gegenwirbeln in der grünlichbraunen Flüssigkeit und scheinbar dieselbe Stelle, auf die der Tropfenregen niederschlug.

Minza fing an zu singen oder zu zählen. Sie genoss den Stoß des Geländers an ihre Rippen. Das war, als würde sie wer kitzeln. Die Mutter blieb hinter der grün-weiß karierten Tischdecke, saß da und schaute. Minza hatte das Gefühl, die Mutter dürfe nicht merken, wie gern sie am Geländer stand und wie genau das feine Gezitter der Eisenstäbe auf ihre Rippen oder ihren Rücken traf. Die Mutter sah auch manchmal zu ihr hin. Dabei blähte der Wind ihr Haar um den Kopf auf wie eine Pelzkappe, und eine von ihren Händen kam unter dem Tisch vor und vor das taubenblaue Kleid. Minza winkte zurück, drehte sich wieder weg und blieb stehen, direkt über dem Schaufelrad.

Ab und zu legte der Dampfer an. Meist standen Erwachsene auf den Holzpontons. Minza besah die Leute nicht – nur ihre Füße, die der Bordkante näher schwebten und dann – plötzlich – in einer Reihe standen: Frauenbeine mit fleischfarbenen Strümpfen und schwarzen Spangenschuhen, die Minza in Gedanken mit dem Schuhknöpfer aufknöpfte und wieder zuknöpfte – bis sie zu laufen anfingen und auf das Schiff kamen. Das Schiff ließ stets einen Rest Menschen auf den Pontons zurück. Die wippten dann über kurze Holzbrücken in die Wiesen.

Minzas Mutter saß weiter hinter der grün-weißen Tischdecke. Immer legte sich ihre helle Hand vor ihr Kleid, jedes Mal wenn Minza den Kopf drehte und ihr zunickte. Danach fiel diese Mutterhand wieder unter den Tisch. Minza wusste, dort unten standen der Mutter Beine. Dort waren die Makostrümpfe und die Spangenschuhe, die sie wirklich anfassen und aufknöpfen durfte. Sie lief aber nicht zu ihr hin. Die Mutter saß so sehr still hinter dem Tisch, ihre Elfenbeinkette hing unbewegt über der blauen Brust, ihre Augen sahen noch dunkler aus als gewöhnlich, wenn sie Minza ansah – meist sah sie nur in die Luft. Minza biss sich in ihren Zopf. Ihr Haar rutschte zwischen den Zähnen hin und her, sie behielt den Geschmack von Talg, von talgiger Luft im Mund.

Mitunter ging sie in den Maschinenraum oder vielmehr vor das Fenster, durch das man den Maschinenraum sah. Die flitzenden Kolben regten sie auf, mehr noch als das Zittern im Geländer sie aufgeregt hatte. Es war eine schöne Aufregung. Einmal musste es doch genug sein! Dann wollte sie ausatmen, aber die Kolben tauchten wieder und wieder in ihren Stahlmantel ein und schossen wieder daraus hervor. Ein großes Schwungrad flirrte. Draußen, in der Mitte des Schiffes, links und rechts am Schiffsbauch, schäumten und tropften die Schaufelräder. Minza lief hin und her zwischen ihren Schaupunkten und sah auf dem halben Weg flüchtig zum blauen Kleid. Die Mutter saß da noch immer auf demselben Stuhl in derselben Haltung. Ihre Hand bewegte sich, manchmal.

Minza stand wieder vor dem Fenster zum Maschinenraum. Die Glocken schlugen an, auf dem Deck und im Maschinenraum und an einer anderen Stelle, die sie nicht erraten konnte, sie hatte anderswo keine Glocke gesehen. Durch das ganze Schiff fuhr ein heftiges Krachen – und die Kolben standen still – sekundenlang – dann tauchten sie wieder in ihre fettigen Mäntel. Einen Augenblick lang hatte das Schwungrad dicke, feste Speichen. Rückwärts drehte es an – und sofort flimmerten wieder silbrighelle Kreise zwischen dem blanken Knopf in der Mitte des Rades und seinem äußeren, breiten Band aus Stahl. Minza hörte die Leute trappeln. Aus dem Schiffsbauch rannten sie die Treppe hoch auf das Deck. Minza lief zum Schaufelrad und schaute von da aus wieder zum Heck. Eine feste Wand aus Kleidern, Rucksäcken und Beinen verstellte ihr die gewöhnliche Aussicht. Vielleicht hatte sie zur falschen Seite gesehen – aber am leeren Bug stiegen nur stille Felsen links und rechts vom Wasser auf in den Himmel. »Sind wir da?«, fragte Minza, sie wollte ihre Mutter fragen. Ein Schiffsoffizier in blauer Uniform schickte die Leute zurück auf ihre Plätze, Richtung Mitte des Schiffes. Minza wollte zu ihrer Mutter. Merkwürdigerweise schimpfte der Offizier nicht mit ihr, nur mit den anderen Leuten – obwohl sie in Gegenrichtung durch den Menschenhaufen kroch. Sie bückte sich unter die Jacken, Kleider und Hände mit Taschen und suchte nach den weißen Makostrümpfen und den schwarzen Spangenschuhen. Ein Rucksackhaken fuhr in ihren Zopf und hielt sie fest, sie weinte. Und dann sah sie plötzlich durch die Beine und Taschen hindurch die Begrenzungsschnur am Schiffsrand, sah hell das Wasser, vom Himmel her sehr hell, Schaum war da, und, aufgeblasen wie ein märchenhaftes Tier, das blaue Kleid. Viel blauer als blau! Das Weiß war ganz daraus verschwunden. Der Offizier bückte sich zu ihr, hielt ihr die Augen zu. Seine Hand war groß und warm, sie reichte von Minzas Stirn über ihre Nase bis auf ihren Mund. Minza drückte Stirn und Mund und Nase in seinen Handteller, verkroch sich darin. Er hob sie hoch, seine Uniformknöpfe rutschten über ihre kleine, platte Brust und über ihren Bauch. Er trug sie in einen mit hellem Holz getäfelten, fast leeren Raum mit Fenstern ganz oben unter der Decke. Da weinte Minza und kratzte in seine Schulterpolster. Sie schmierte ihm Schleim auf den Kragen, ein rotziger Schlier klebte auf dem dunkelblauen Tuch. Weil der Mann sie ruhig weiter auf dem Arm hielt, wischte sie den Glibber mit den Fingern breit. Sie sah, weil sie auf dem Arm des großen Mannes saß, durch die Fensterlöcher hinaus, und ganz nahe standen da wieder braune, feuchte Felsen. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Schiffsoffiziers, hielt sich an ihm fest. Jetzt öffnete wer von außen die Tür und sprach mit ihm. Er trat mit Minza auf dem Arm einen Schritt näher: Minzas Mutter war da – in schrägen Falten hing das blaue Kleid von einer Tischplatte herunter. Ein Bein mit schmutziggelbem, faltigem Strumpf und schwarzem Spangenschuh baumelte schlaff.

Der Offizier redete, und Minza horchte mit fest zugepressten Augen nur auf die Glucks- und Fauchgeräusche in dem Manne unter dem weichen Tuch. Seine Stimme war gut und friedlich und passte zu seinem Geruch.

Nach einer Weile öffnete er eine andere Tür. Die Metallklinke drückte in Minzas Kniekehle. Und dann war es ganz still. Minza wusste, dass sie den Mann loslassen musste. Er stellte sie auf den Boden. In diesen Raum drang Tagesdämmerlicht, er befand sich hinter anderen Aufbauten in der Mitte des Schiffes. Minzas Mutter lag hier in braune Decken gewickelt auf einer Bank. Das schreckliche Blau war fort. Sie lächelte, genau wie sie hinter der grün-weißen Tischdecke gelächelt hatte. Wieder hatte Minza Scheu, zu ihr hinzugehen, dachte, sie dürfe das auf gar keinen Fall. Ihre Hände fuhren am Rand ihres Gabardinmäntelchens entlang, sie wunderte sich, dass sie nicht tropfte und ihre Strümpfe nicht klebten. Sie setzte sich auf den Stuhl genau dem Gesicht der Mutter gegenüber. Deren Hand kam unter der Decke vor. Da stand Minza auf und schlängelte ihre Kinderhand unter die Finger der Mutter. Die drückte plötzlich und für Minza schmerzhaft mit ihren blassen Fingern zu. Schnell beugte sich Minza vor, gab ihr einen Kuss. Die Decken und die Mutter selber rochen fremd. Minza machte sich kerzengerade und rangelte rückwärts, wieder hoch auf den für erwachsene Menschen gebauten Stuhl.

Längere Zeit saß sie da. Ihre Beine baumelten. Draußen rutschten die Felsen vorbei, nur ihre Felsfüße. Bauchige Wände aus Braun und Grau und manchmal Gelb. Schiffsgäste liefen über das Deck an den Fenstern vorbei, aber stets mit starr abgewandten Köpfen. Sie befanden sich also auf dem Fluss, zwischen Felswänden, mitten auf dem Schiff, zwischen den Schaufelrädern, den grünweißen Aufbauten und den Leuten mit Rucksack, Wanderstöcken und Hüten. Minza saß mitten in diesem Drumherum ganz allein – und da waren noch braune Wolldecken und darin die Mutter. Sie hörte unter sich die Maschinen stampfen. Durch die Stuhlbeine fuhr das Zucken der Kolben. Ein Aschenbecher klirrte. Er rutscht, dachte Minza, aber er rutschte nicht. Es war ein kleiner Rettungsring aus Porzellan mitten auf dem Tisch. Sie fasste ihn an, wie ihre Großmutter alles Porzellan immer anfasste und umdrehte, um das Porzellanzeichen zu sehen. Schräg vor ihr, auf der niedrigen Bank, lag die Mutter, hielt die Augen offen und sah zur Decke, an der eine Petroleumlampe baumelte. Ruhig wechselnd sah Minza zur Mutter und dann zur Decke, sah das dunkelbraune Holz mit den schwärzlichen Astknoten. Sie horchte zur Lampe hoch, auf irgendein Drahtklingeln, und sah zugleich, dass eine einzelne, trockene Haarlocke ihrer Mutter regelmäßig wippte.

Der Offizier stand fest vor dem Fenster neben der Tür. Etwas entfernt von ihm lehnten zwei Leute über das Geländer. Minza sah ihre Rucksäcke und ein gelbes Kopftuch, das der Wind ab und zu hochstellte zur Zipfelmütze. Der Mann trug eine Strickmütze. Er zog eine Landkarte weiter und weiter auseinander und die Frau hielt den Rand der Karte fest.

Ein grün-weißer Bausch flog auf die Kajütenfenster zu. Ein Kellner bückte sich danach, und Minza sah, wie er die Tischdecke draußen, weiter im Hellen, auf einen Tisch mit Nickelklammern festklemmte. Manchmal bewegte sich der Offizier, sein Tuchrücken sah dann etwas verändert aus. Minza wünschte sich, er solle sie rufen – aber er drehte sich immer nur so weit um, dass er ihre Mutter auf der Bank beobachten konnte.

Allmählich beschlugen die Fensterscheiben. Minzas Mutter fragte, ob Minza ihr Täschchen habe. Die zog es am Henkel aus der Manteltasche und zeigte, mehr als das Täschchen, ihre beiden Hände und ihre ganze, spinnige Gestalt, indem sie sich vor die Mutter hinstellte und sie ruhig anschaute. Die Mutter hatte ein Tuch um ihr Haar geschlungen. Sie weinte plötzlich, ohne dass sich ihr Gesicht irgendwie bewegt hätte. Die Tränentropfen waren das einzige Bewegliche an der ganzen Mutter.

Ihre Reglosigkeit unter der Decke war gespenstisch, wie der Stillstand der Stahlkolben gewesen war. Die schöne Mutter! Minza gehörte zu ihr und durfte allein bei ihr in der Kajüte sitzen. Niemals vorher zuhause oder irgendwo hatte Minza sie so unbedingt für sich, ohne Ablenkung, ohne dass sie etwas gesagt oder getan oder gewollt hätte – nicht einmal wenn sie schlief, war die Mutter bedingungslos da, Minza musste dann leise laufen, um sie nicht zu stören.

Minza saß auf dem Stuhl. Der fremde Schal war der Mutter vom Kopf gerutscht, ihr Haar neben der geknüllten, roten Seide war strähnig verklebt. Minzas Schuhe fielen ihr von den Füßen. Erst polterte es einmal, dann noch einmal. Die Mutter bewegte sich nicht. An der Stuhllehne entlang rutschte Minza tiefer. Sie wünschte sich den Druck des warmen, schweren Armes der Mutter auf ihren Kopf, vermisste auch den Geruch der Achselhöhle ihrer Mutter, den sie sonst nicht mochte. So streckte sie beide Beine aus und schob ihre Füße unter die Decken, die man der Mutter gegeben hatte.

Das Licht wechselte. Die Felswände hatten nun Lücken, manchmal fing das Himmelblau direkt über den Bäumen hinter den Uferwiesen an. Mutter und Kind glitten im dämmrigen Glaskasten über den Fluss, langsam, weiter, immer weiter, weiter weg, weg von allem, auch von der Stadt weg, dachte Minza, weil sie nicht auf die Stadt zufahren wollte. Sie sah durch die halbbeschlagenen Scheiben das Licht zwischen den Felswänden, und dann wieder besah sie die Holzdecke mit den Astlöchern und der Petroleumlampe über sich. Vor ihr, auf der Bank, wie in einem Bett und wie zum Schlafen hingelegt immer weiter die Mutter.

Stille und Stummheit wurden Minza allmählich vertraut. Zuhause, das Wohnzimmer, war ähnlich dämmerig wie die Kajüte hier, ja, wenn Rauch in diesem Zimmer schwebte war das genauso wie hier in der Kajüte. Manchmal, wenn Minza die Tür zum Wohnzimmer aufriss und wenn über der Blumenkrippe vor den Gardinen Rauchstreifen stiegen oder sanken, wenn sie richtig sehen konnte, wie der Rauch von ihrem Türaufreißen auseinanderfuhr, wenn sie der Mutter »Hier! Vergissmeinnicht« auf den Tisch warf, nicht darauf geachtet hatte, ob ihre Schürze schief geknöpft und Lehm an ihren Schuhen war, wenn die Mutter dann nicht sofort etwas sagte, sondern erst die gedrückten Blumenstengel auf dem Tisch auseinanderfallen ließ, wo doch Minza wartete, dass sie etwas sagen würde – dann sah Minza einen anderen Mann. Er hieß Rudolf, wie auch Minzas sehr geliebter Großvater hieß. Aber dieser Rudolf hatte ungelüftete Kleider. Minza wusste, wo er wohnte. Er lebte mit seiner Mutter zusammen in einer kleinen Wohnung, und diese Mutter hinkte und war arm und strickte für die Leute. Rudolf trank. »Der säuft ja!« hieß es im Dorf. Minza konnte Rudolf nicht leiden. Darüber sprach sie nicht mit ihrer Mutter. Sie hasste es nur, wenn die Leute über ihre Mutter und Rudolf sprachen.

Auf dem Schiff, in der Kajüte, wollte Minza der Mutter so gerne Himmelsschlüssel auf die braune Wolldecke streuen. Sie hätte hier stillgehalten und Minza hätte ihr die gelben Blumen auf den braunen Decken schön zurechtgelegt. Aber die Himmelsschlüssel fuhren lautlos in den grünen Wiesen am Fenster vorbei, der Offizier stand dazwischen und die Felsen dahinter, der Dampfer schaufelte und schaffte sie weiter.

Minza saß bei ihrer Mutter, bis der Offizier sie aus der Kajüte holte, an der Hand nahm, diesmal nicht auf seinen Arm. Die gewöhnlichen Häuser der Vorstadt standen wieder am Ufer. Jetzt fragte Minza, ob ihr Vater käme und sie und die Mutter abholen würde, aber der Offizier gab keine Antwort. Was er geredet hatte, war weit weg – im Gegensatz zu seinem guten Geruch. Als er Minza zurück in die Kajüte führte, saß die Mutter hinter dem Tisch, sah von Minza fort wieder hinauf zur Decke. Sie hatte sich angezogen. Ihr blaues Kleid hatte wieder den weißen, dämpfenden Schimmer, aber es war nicht mehr schön. Auch das Haar hing ihr glatt vom Kopfe.

Die Türme der Stadt winkten. Und dann sah Minza die hellgraue Jacke auf dem Ponton stehen. Ein Mann ohne Kopf stand da, der die Jacke aufknöpfte und mit der rechten Hand an der Jackettkante entlangfuhr, den rechten Jackenzipfel hochschob und die Hand in die Hosentasche steckte, dabei den Bauch vorstreckte und in den Knien wippte – das war Minzas Vater. Er kam nähergeschwebt in der dämonischen Stille der Schubbewegung ohne Schaufelrad, bekam einen Kopf, nahm die Hand aus der Hosentasche und stand stramm auf dem Landungssteg. Minzas Mutter fuhr wieder in ihre Schuhe.

2

Oft hat Minza gesehen, wie die Mutter zur Wohnungstür trippelt und dem Briefträger öffnet. Mit Briefen in der Hand kehrt sie zurück, legt rasch etwas beiseite oder hält es fest. Die handbeschriebenen Umschläge sind es, welche die Mutter heraussucht. Sie bohrt ihren kleinen Finger unter den Klebefalz und dann – zsch – zsch – das Papier fetzt. Dann dieses hastige Auffalten des Briefbogens, die lesenden, hin- und hereilenden Augen. Mutters Schneidezähne packen die Unterlippe. Oder ihr Mund bleibt leicht geöffnet. Am schlimmsten ist es, wenn ihr Mund zuklappt und ihre Augen über den Briefbogen hinweg geradeaus starren.

Minza weiß, wo die Mutter Vaters Anzug ausbürstet. Sie geht bei gutem Wetter mitsamt dem Anzug in den Garten. Hinter dem Bienenhaus gibt es eine windstille Ecke, die Mutter glaubt sich dort aus aller Menschen Augen. Die Kleiderbügel mit Jackett und Hose hängt sie an Holunderzweige und beginnt, die Taschen umzukrempeln. Etwas fällt stets in ihre Hände, sie durchfingert und durchfühlt es und legt es auf das Gesims des Kellerfensters: Taschentuch, Taschenmesser, Bindfaden. Minza erschrickt jedes Mal über das Erschrecken der Mutter: In Vaters Anzug findet sie Zettel! Die hält die Mutter lange ins Sonnenlicht. Oder einen Korken: Was bedeutet der Schriftzug auf seiner Rundung? Ein Kamm: Die Mutter fährt Zinke für Zinke mit den Fingernägeln ab und betrachtet danach den Mulm, der in ihren Fingern bleibt. Die Mutter findet auch eine korinthengleiche, vertrocknete Beere in der Taschentuch-Tasche seines Jackets bemerkenswert, wirft sie dennoch beiseite. Minza merkt sich, wohin das kleine Ding geflogen ist, und findet es später. Was hat sich die Mutter gedacht beim Befühlen und Beschnuppern?

Geschnuppert wird auf jeden Fall: In die Taschentuch-Tasche, unter die Ärmel, ja selbst in die Hosen. Dann folgen die Schläge mit dem Klopfer und diese unerbittlichen Bürstenstriche. Manchmal auch gar nichts. Gleich beim ersten Fund rafft sie die Kleidungsstücke und Klopfer und Bürste zusammen – danach diese hart aufgesetzten Tritte. Im grasigen Erdreich kann man noch lange die Löcher, die ihre Absätze hinterlassen haben, betrachten.

Minza ähnelt ihrer Mutter. Die ist warm und weich, hat gelocktes Haar, eine helle Stimme und von ihr sagen die Leute: »Was für eine schöne Frau!« Die Mutter ist auch ein Mensch mit lustigen Einfällen. Einen Blumenkranz setzt sie Minza auf den Kopf, dem kleinen Bruder hängt sie den Kranz wie eine Schärpe schräg von der Schulter über den Leib. Wenn Minza mit der Gießkanne die Wäsche auf dem Bleichrasen besprengt, immer zwei Schritte hinter der Mutter, dann kann die sich plötzlich umdrehen und Minza begießen, statt der Bettbezüge, und ihr Kind saust dann quiekend, barfuß über die ausgebreiteten Tischtücher, worüber die Mutter laut lacht.

In der Dämmerstunde tritt die Mutter leise auf, schließt die Tür, geht ruhig her und hin, zeigt mit ihrer abendlichen Verwandlung, wie sehr ein Mensch dem Auf- und Untergehen der Sonne nahe ist. Minza kann es nicht in Worte bringen, aber gerade so etwas wie die Dämmerstunde, das ist mit der Mutter schön. Die suchenden Finger dagegen – da gibt es etwas, was die Mutter vergiftet. Sie ist dann genau wie der Hund des Hauswirts. Den hat man im vergangenen Sommer tückisch umgebracht. Er lag an der Kette, fletschte die Zähne, selbst wenn sein Herr ihm Futter brachte, und dann sah er unbeschreiblich traurig aus. Seine Augen wurden starr, seine Pfoten zuckten, ein langes, schreckliches Wimmern kam aus seinem zitternden Körper.

Es ist Minza auch ein Rätsel, weshalb die Mutter weint, sooft Tante Vera auftaucht. Nein, wenn die Tante fröhlich plappernd mit den Eltern spazierengeht, weint die Mutter nicht. Es passiert erst nach dem Besuch. Genauso passiert es, dass der Mutter Tränen in die Augen schießen, sobald der kleine Trupp – Minzas Mutter, Minza selbst und der kleine Martin – die Wohnung der Großeltern verlässt. Spätestens an der Straßenbahnhaltestelle wird die Mutter überrannt von starkem Zittern, dazu knirscht sie mit den Zähnen. Tante Vera ist Mutters jüngere Schwester, sie wohnt noch bei den Eltern, Minzas Großeltern. In ihrem Zimmer gibt es eine kleine Empore, auf der ein Klavier und ein Bücherregal stehen. Außerdem schläft sie in einem Himmelbett mit orange-blauen Vorhängen, auf denen Paradiesvögel auf- und abfliegen. Das größte Möbel in ihrem Zimmer ist aber ein Kleiderschrank!

Wenn die Mutter, Minza und Martin von zuhause aus aufbrechen, sind alle fröhlich. Sie besuchen die Großeltern gern. Minza trägt ihr Sonntagskleid, der kleine Bruder seine Samthosen. Man bringt den Großeltern etwas mit: ein Körbchen Pfifferlinge oder Steinpilze (Minza kriecht leidenschaftlich gern ins Unterholz und findet alles!) oder eine Milchkanne voller Heidelbeeren oder Brombeeren. Man fährt mit dem Bus bis zur Eisenbahn, mit der dann bis in die Stadt und dort noch ein Stück mit der Straßenbahn. Die Großeltern haben die Postkarte pünktlich erhalten, Großmutter wartet mit Eierkuchen. Minza und Martin stürmen sofort auf den Balkon, um einmal die Welt von oben zu sehen. Die Spatzen stieben erschreckt aus ihren Nestern und Minza und der Bruder hängen, so weit es irgend geht, vornübergebeugt auf den Petunienkästen: Da – da unten ist der Hof, dahinter sind die Schrebergärten und quer vor dem Himmel der Rangierberg. Großmutter und Mutter schreien: »Kommt zurück! Werdet ihr wohl eure Nasen …« Aber Minza folgt ihren Rufen nicht gern.

Wenn der Eierkuchen gegessen ist, steht die Großmutter auf und nimmt die Mutter bei der Hand: »Jetzt muss ich dir erst mal zeigen, was Vera sich wieder angeschafft hat!« Auch die Kinder sind neugierig. Oder was ist es, was Minza zwingt, mitzugehen? Sie weiß, dass die Mutter erstarren wird und leer vor sich hinnicken. Tante Vera ist Prokuristin in einem Holzgroßhandel. Sie lässt sich ein Kleid nach dem anderen nähen, trägt pelzverbrämte Mäntel und seidene Strümpfe. Die Großmutter bekommt von Tante Vera Kostgeld, Tante Vera ist für die Großeltern wie eine Prinzessin, in deren Reich ein Eckchen für beide frei ist. Und jetzt wird der Kleiderschrank geöffnet: »… nun guck doch mal das Lindgrüne hier, oder das gestreifte Kostüm! Das hat sie noch nicht getragen, sie muss nächste Woche zur Handelskammer!« Arme, arme Mutter! Was ist nun dein Samtkleid, was sind deine einzigen, dunkelblauen Pumps? Minza sieht wieder, wie Mutters Unterlippe sich unter der Oberlippe verkriecht.

Manchmal bleiben sie über Nacht. Abends kommt der Großvater vom Dienst, er arbeitet bei der Eisenbahn im Hafen. Großmutter hat gekocht und gebacken, die Mutter hat ihr geholfen, aber Großvaters Magen kann knurren, so laut er will, man wartet auf Tante Vera. Sie kommt, wäscht sich in ihrem Zimmer, nimmt dann auf einem besonderen Stuhl an der Stirnseite des Tisches ihren Platz ein, sitzt auf einem Kissen.

Es gibt aber auch etwas, worum Tante Vera Minzas Mutter beneidet: Die Mutter hat eine eigene Familie. Tante Vera hat schon oft Freunde gehabt, aber noch nie einen Mann. Kinder hat sie erst recht nicht. Davon redet die Mutter manchmal bei der Heimreise: »Sie hat Geld wie Heu, aber was nutzt ihr das? Man kann ja nicht zehn Kleider übereinanderanziehen.«

Nun steht etwas Schreckliches in Aussicht: Tante Vera wird heiraten. Minza hat gelauscht, als die Mutter im hohen, spitzen Ton dem Vater erklärte: »Es ist eine Schande! Er wird es nicht wissen, wie viele sie schon gehabt hat, aber sie muss nun eben auch das noch haben. Kinder will sie, alles will sie, sie will wirklich alles …«

Die ganze Familie ist eingeladen. Minza im neuen Kleid, die Mutter hat sich fast totgekräuselt, wie sie sagt, denn an dem neuen Kleid befinden sich drei Etagen Volants. Der kleine Bruder trägt einen Matrosenanzug. Vater und Mutter gehen in ihren Sonntagssachen. Es kommt Minza so vor, als sei das der Mutter gleichgültig. Der Vater versucht, sie aufzumuntern: »Jetzt nimm deine hübschen Kinder an die Hand.« Und das war sicher falsch, die Mutter braust auf: »Meine, ja meine Kinder! Du kümmerst dich nicht um sie, wischst ihnen nicht den Hintern ab und die Kotze fort, du hörst nicht, wenn sie sich zanken, zu dir kommen sie nicht gerannt, nur zu mir …« Minza möchte dazwischenfahren und der Mutter versprechen: »Wir zanken uns nie, nie wieder, und Martin kann schon selber aufs Klo! Stattdessen hängt sie sich an Mutters Rock. Die spricht wieder normal: »Lass los, wir müssen jetzt gehen.«

Merkwürdig ist, dass die Mutter bereits im Bus weint. Der Vater legt seinen Arm um ihren Hals, und das sieht fremd aus. Minza versteht, dass die Mutter Vaters Arm abschüttelt. Das große Mietshaus, in dem die Großeltern wohnen, ist vom Hauseingang bis zur Wohnungseingangstür geschmückt. Eine Girlande hängt über der Haustür und die Treppengeländer sind von bunten Bändern umwunden. Auf jedem Treppenabsatz steht ein Blumenstrauß. Und nun erst in der Wohnung: Jeder Mensch hat Blumen – am Kleid, am Jackett, im Haar oder in der Hand. Es sind viele Menschen! Sie gehen anders als gewöhnlich, jedenfalls langsam. Die Frauen, weil sie lange Kleider tragen, die Männer, weil sie Lackschuhe an den Füßen haben. Das weiß Minza – ein Lackschuh drückt.

Minza und Martin lassen sich von den zwei Brüdern aus Großvaters weiterer Verwandtschaft die Taschenuhren vorführen. Bald ist die Hochzeitsstunde da!

Man geht zur Kirche. Das Brautpaar führt den Zug an. Der Himmel lacht nicht gerade, aber Tante Vera. Sie ist eine Braut in Schwarz. Ihr Kleid hat einen riesigen Ausschnitt und in der Mitte steckt ein Veilchenbouquet. Minza weiß sofort, dass die Mutter dieses Kleid an Tante Vera überhaupt nicht mag. Ja, wo ist die Mutter? Sie neigt gerade den Kopf, Minza sieht ihr frisch gelocktes Haar und huscht näher. Der Vater hat der Mutter den Arm angeboten – so heißt das wohl, und die hat den Kopf geschüttelt, obwohl sie seinen Arm nimmt und ihm zuflüstert: »Sieh dir den Ausschnitt an! Man erkennt den Ritz zwischen den Brüsten!« Der Vater kann darüber lachen: »Jetzt darf sich jeder ausdenken, wo die Stengel der Veilchen im Feuchten landen!«, und wartet nicht auf Mutters Reaktion, packt sie fest am Arm und hält sie in der Reihe.

Als die Hochzeitsgesellschaft von der Kirche zurückkommt, wartet das Essen. Es hat sich nicht von allein gekocht: Großmutters Nachbarinnen haben mit vorbereitet und jetzt vor allem warm gehalten. Den letzten Schliff hat Melanie gegeben. Minzas Mutter – und so auch Tante Vera – haben zwei Cousinen. Sie sind etwas jünger, so dass Melanie, die ältere Cousine, Tante Vera gleichkommt. Die jüngere heißt Dora. Das ist Minza schon aufgefallen: Mutters Liebe gehört Melanie. Tante Vera dagegen bevorzugt Dora. Der Vater nennt beide die Lichtenberger Mädchen, denn sie kommen aus dem Dorfe Lichtenberg. Warum nur Mädchen? Ja, beide haben keinen Mann. Aber wenn Tante Vera jetzt noch einen bekommt, dann können die Lichtenberger Mädchen vielleicht ja auch noch?

Minza steht in der Küche. Es riecht nach Braten, Rotkohl, Soße, Suppenkräutern, Pflaumenkompott, Wein, Schnaps, geschmolzenem Fett und geröstetem Zucker. Melanie hat ein frische Schürze vorgebunden, es wird immer noch einmal Geschirr gezählt und Besteck sortiert. Minza hat oft an Tante Melanie Ähnlichkeiten mit der Mutter entdeckt. Wie sie Kindern zuhört, wie sie Minza an sich heranzieht. Das ist ein fester Griff, aber doch auch etwas Liebes. Minza fühlt dann ein Panzerschild gegenüber allem Bösen in ihrem Rücken, sie kann dann lauter lachen. Es wundert sie deshalb nicht, dass Tante Melanie von der gleichen, erschreckenden Verzweiflung überfallen werden kann wie die Mutter. Auch Melanies Augen werden dann starr, sie ist verlorengegangen, sie ist nicht mehr da. In solchen Augenblicken betet Minza leise: »Lieber, lieber Gott …« Es ist nicht auszuhalten, wenn neben der Mutter auch Tante Melanie sich verwandelt.

Dora ist Tante Veras Brautjungfer. Sie trägt keine Küchenschürze. Ein Kollege aus Tante Veras Betrieb ist Doras Tischherr. Man sagt, er habe in Berlin eine Familie. Dora trägt wie die Braut ein langes, schwarzes Kleid, freilich mit rotem Mieder und Puffärmeln. Auch an diesem Kleid ist der Ausschnitt weit, aber nicht zu weit. Dora kommt mit ihrem Edi in die Küche und sagt: »Ihr habt ja schon alles fertig! Das habt ihr fein gemacht«! und öffnet die Balkontür, tritt mit Edi auf den Balkon, zieht die Tür hinter sich zu.

Minzas Mutter kommt in die Küche und befreit Melanie von der Schürze: »Jetzt hast du genug gewurschtelt, andere können auch etwas tun!« Selbst Minza darf Kompottschälchen aufstellen.

Bei allem, was Melanie und Mutter in der Küche treiben, beobachten sie Dora und Edi auf dem Balkon. Man sieht nur ihre Rücken, aber da ist trotzdem etwas zu sehen: Edis Hand liegt wie ein ausgebreiteter Fächer auf Doras Mieder. Das wird hinten geschlossen. Und Edis Hand hat nur vier Finger! Der fünfte hat sich unter dem blutroten Satin verirrt!

Minza soll ein Hochzeitslied vortragen, gleich nach dem Essen. Die Gäste – vor allem die Männer – haben rote Köpfe und lachen laut auf bei jeder Zeile, die Minza im Sprechgesang von sich gibt. Die Melodie kommt von einem Kinderlied, Minzas Vater begleitet laut hämmernd auf dem Klavier:

Die Vera hat jetzt einen Mann,
jetzt fängt das schöne Leben an!

Es ist ganz gleichgültig, welcher Mensch im Text des Liedes gerade beschrieben wird, die Hochzeitsgäste grölen und trampeln mit den Füßen. Minza wird abgedrückt und geküsst, vor allen von Tante Vera. Die ist heute sehr laut. Minza spürt, als Tante Vera sie hochhebt, das steife Korsett unter dem Brautkleid und auch die weiche, pappige Wulst oberhalb des Korsetts. Wie fett auch sind Tante Veras Arme! Minza möchte sich freizappeln. Ein männlicher Gast ruft: »Ja, Vera, kannst schon mal üben, wie man Kindchen wiegt!«, und wieder dieses grelle Lachen aller. Minza flieht. Gleich neben der Tür sitzen Mutter und Tante Melanie, nein, Minza kann auch diese festgefrorenen Münder nicht ertragen, Mutters Arm angelt umsonst. Minza hat auch einen Grund, aus der Tür zu laufen, sie »muss mal«.

Wie die Nachbarin den Großeltern Besteck, Geschirr und Gläser geliehen hat, damit für so viele Menschen alles reichlich zur Verfügung steht, hat sie auch ihren Abortschlüssel verliehen. Man geht aus der Wohnungstür über den Hausflur und da, wo die Treppe beginnt, gibt es noch eine kleine Tür, die ein schmales Zimmerchen verschließt. Dieser schmale Raum mit Fenster zum Hof ist unterteilt in drei abschließbare Verschläge, jede der drei Mietparteien in jedem Stockwerk hat einen eigenen Abort.

Minza weiß, wo bei den Großeltern der Abortschlüssel hängt, und als sie erst in dem hölzernen Verschlag sitzt, lässt sie sich Zeit. Der Großvater stellt Blumentöpfe mit Setzlingen auf ein Regal im Abort, weil es dort weder zu warm noch zu kalt ist. Eine Mimose kann man anfassen – da klappt sie die Blättchen zusammen. Noch einmal und noch einmal, die arme Mimose kommt nicht zur Ruhe. Je länger sich Minza mit der Pflanze beschäftigt, um so bewusster wird ihr ein Geräusch: Atmen. Pusten. Oder Keuchen? Dann ein leiser Tritt, wie ein abgefangenes Stolpern. Und irgendetwas wetzt gleichmäßig an der Bretterwand zum Nachbarabort. Die Trennwände sind nicht bis zur Decke hochgezogen und zwischen Fußboden und hölzerner Wand ist ein kleiner Schlitz. Jeder Verschlag steht auf kurzen, eisernen Füßen. Minza sieht da plötzlich etwas Schimmerndes, Seidiges: Rot, blutrot, ein Rändchen vom Puffärmel des schönen Kleides der Tante Dora! Der seidige Stoff liegt ganz still, das leise, gleichmäßige Schaben hat nichts zu tun mit dem Kleid.

Minza bekommt plötzlich Angst. Sie poltert mit dem Porzellangriff, der an dem Kettchen des Spülkastens baumelt: Das Geräusch ist verschwunden. Die rote Seide bleibt. Gerade schließt sie den Abort wieder zu, da kommt die Mutter: »Kind, was machst du so lange?« Sie nimmt Minza den Schlüssel aus der Hand, vielleicht wollte sie ihn selbst gebrauchen – aber nun ist sie völlig sprachlos: Doras Kleid fließt wie eine Pfütze unter Nachbars Aborttür vor auf den Gang. Minza möchte es wegstoßen, zertrampeln, bückt sich – aber da, die Mutter hat es gepackt. Pfeilschnell. Hinter der Tür ein leiser Schrei. Die Mutter knüllt das Kleid zusammen, hält den großen Stoffklumpen an sich gepresst, schüttelt den Kopf. Dann, kurz entschlossen, wirft sie das Kleid über die obere Kante des Verschlages und packt Minza. Sie hat wieder diese festen, unnachgiebigen Tritte, tack-tack-tack, Tür auf, hinein in die Wohnung. Sie greift nach den Mäntelchen ihrer Kinder, nach ihrem Mantel, achtet nicht darauf, dass ein Aufhänger abreißt, und immer noch hält sie Minza fest. Jetzt öffnet sie das Wohnzimmer, Rauchschwaden stehen in der Luft. Minza sieht Tante Vera auf dem Schoß des neuen Onkels sitzen, mit einer Hand streichelt sie ihm die Glatze, mit der anderen tätschelt sie Martin, der vor der Tante steht und irgendetwas kaut. Die Mutter packt den kleinen Bruder. Der Vater steht vom Stuhl auf und kickst: »Was soll nun das wieder?« Minza gerät ins Stolpern, sie hat ihr Mäntelchen noch gar nicht richtig angezogen, sie rutscht, schleift an Mutters Hand treppab, die Wohnungstür oben steht noch offen, die Braut persönlich ist ihrer Schwester nachgerannt – aber nur bis zum Treppenabsatz – und schreit: »Wo wollt ihr denn hin?« Ja, wohin? Minza weiß, es hat keinen Zweck, etwas zu fragen. Der kleine Martin plärrt. Darauf reagiert die Mutter nur mit festerem Griff. Von weit her schon erreicht Tante Veras Stimme Minzas Ohr: »Muss sie denn immer so ein Theater machen?«, und da ist auch Doras Stimme: »Jetzt fängt es doch erst richtig an!«

Minzas Zopfspangen liegen im Schlafzimmer der Großeltern, Martin reicht ein Schnurrbart aus Sahne von der Nase bis zum rechten Ohr, seine Hände sind rot gefärbt und krümelig. Die Mutter schert weder Dreck noch Unordnung. Minza möchte weinen, nicht, weil es so schön gewesen wäre, da oben. Nichts ist schön, wenn die Mutter versteint. Warum nur geschieht das?

Die Straßenbahn kommt. Der Vater stürmt durch das Pförtchen, welches das Grundstück der Eisenbahnermietskaserne verschließt. Er ruft über die Straße: »Du hast doch gar keine Fahrkarte, warte doch«, atemlos erreicht er noch die Bahn. Die Mutter tut so, als sei ihr das gleichgültig, ohne Fahrkarte, mit Fahrkarte. Auf dem Bahnhof versucht der Vater, dem kleinen Bruder mit dem Zipfel eines bespuckten Taschentuches die Sahne aus dem Gesicht zu wischen. Minzas Hand ruht in Mutters Hand, eisenfest umschlossen. Minza hätte jetzt gern einen Sahneschnurrbart, damit der Vater auf sie zukäme, aber sie bleibt an die Mutter gekettet. Die packt auch Martin wieder, läuft festen Trittes mit den zweien auf und ab, auf und ab. In der Ferne entdeckt Minza den Zug, sie sieht den weißen Dampf über der Lokomotive.

Auch die Mutter beobachtet das Herannahen des eisernen Ungetüms. Grausig fest zerrt sie an Minzas Hand, Martins Füße verhaspeln sich – in weitem Bogen schwingt die Mutter ihre Kinder der Lokomotive zu, den Rädern mit den Pleuelstangen. Minza lässt sich fallen, der Vater fällt über die Mutter her. Er packt sie am Kragen und reißt sie zurück. Und wieder erlischt das Wilde, der rasende Eifer, das Grausige. Die Mutter kauert auf dem Bahnsteig. Viele Menschen sehen zu, wie der Vater sich über die Mutter beugt, sehen, wie Minza ihr Handgelenk reibt und Obacht gibt, ob die Mutter sich regt, und den kleinen Bruder, dessen tränenüberströmtes Gesicht. Der Schaffner schaut sehr genau zu – und ruft schließlich: »Alle einsteigen!« Auch die Mutter gehorcht. Die Familie steigt in ein 3.-Klasse-Abteil des Waggons für Reisende mit Traglasten. Den benutzen nur Menschen, die mit sich selbst genug zu tun haben, Körbe schleppen, kleine Handwagen sogar. Alle sind still, nur Martin wimmert. Minza spielt am Volant ihres neuen Kleides. Warum hat es die Mutter genäht? Hatte sie sich doch gewünscht, dass die Hochzeit schön gewesen wäre?

Um diese Zeit fährt kein Bus von der Bahnstation nachhause. Gleich nach dem Aussteigen läuft die Mutter davon. Wie merkwürdig schaut das aus, wenn eine Frau in Pumps und Samtkleid durch den Wald eilt. Der Vater trägt den kleinen Bruder. Minza wundert sich: Was will die Mutter zu Hause? Warum rennt sie so? Und woher kommt das seltsame Gefühl, sie, Minza, sei an allem schuld? Immer wieder erinnert sie das Stückchen rote Seide auf den Fußbodenbrettern.

Die Mutter erreicht gerade eine Waldwiese. Sie hält einen Augenblick inne, schlägt ihre Hände an den Kopf, macht dann eine wegwerfende Geste: »Lüge, Betrug!« Das Echo schreit ihre Worte zurück. Wieder will die Mutter losrennen, aber sie knickt sich den Fuß, fällt fast und biegt einfach ab ins Gebüsch. Der Vater versteckt den kleinen Martin unter seinem Jackett, damit ihn die Ruten nicht wachpeitschen. Minza springt geduckt, lässt sich fallen, kriecht.

Da liegt die Mutter: Bäuchlings auf der Erde. Sie schluchzt. Der Vater nähert sich. Ohne sich umzudrehen, greift sie nach seinem Schlips, reißt ihm den vom Hals. Dann setzt sie sich auf, greift mit der gekrallten Hand zu, reißt ihm einen Knopf vom Jackett. Und jetzt flammen Worte aus ihrem Mund: »Du, du hast mit Melanie scharwenzelt, sie hat es mir gesagt!« Der Vater ist ganz ruhig: »Die arme Melanie hätte gern mal einen Freund.« Die Mutter kann sich im Gebüsch nicht aufrichten und stellt sich auf alle Viere. Dabei kommt sie dem Vater wieder näher: »Melanie ist treu, treu wie Gold, sie ist sich selber treu. Aber die Dora, die wäre etwas für dich! Ich habe es ja gesehen …!«, und jetzt geht die Stimme der Mutter in Schluchzen über. Lange bebt ihr Körper. Sie kniet sich hin, wischt mit den Händen übers Gesicht. Dann spricht sie leise, ganz leise. »Dora war mit diesem verheirateten Mann im Klo.« Der Vater wiegt ungläubig den Kopf. Freilich läuft über sein Gesicht ein Zucken, es kommt wie ein Anfall, er kann es nicht verhindern.

Minza möchte auch gern wegsehen und weghören, aber die Eltern sind direkt vor ihr. Die Mutter beugt sich vor, um dem Vater ins Gesicht zu sehen: »Du, du bist genau wie sie. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich will nicht mehr leben! Ich will mich nicht belügen und betrügen lassen!« Jetzt kann Minza unmöglich fort. Ein Geheimnis wird aufgedeckt! Das Geheimnis, warum die Mutter Briefe aufschlitzt, Taschen umkrempelt, davonrennt. Denn der Vater schweigt. Immer noch ist ein Rest dieses Grinsens und Zuckens um seinen Mund. Die Mutter spuckt ihn an, ihre Spucke läuft an seinen Brillengläsern herab. Sie ist noch nicht fertig: »Du bist genauso ein Hund – du machst es wie sie!« Ja, oh Gott, es ist gesagt! Woher weiß es die Mutter? Minza hat es gewusst. Vor jedem Wochenende pflückt sie Feldblumensträuße, die verkauft dann der Vater für zehn Pfennige seinen Kollegen und Kolleginnen im Büro. Minza hat in der gesamten Umgebung Blumensammelplätze. Auch Straßengräben gehören dazu. Sie hat gesehen, wie der Vater sein Fahrrad schiebt, nebenherläuft, ganz blind ist – weil eine Frau mit ihm geht, langsam, ganz langsam, damit sie immer wieder Halt machen können und sich küssen.

Minza springt auf. Ungeachtet der Dornen und peitschenden Äste rennt sie, hastet allein den dämmrigen Waldweg entlang. Fort, weit, weit fort! Des Vaters Stimme durchforscht den Wald. »Minza! Minzaaaa! Warte doch, renn nicht davon!« Als kleines Echo die Stimme der Mutter: »Minza!« Alle, alle Menschen mögen rufen. Minza rennt. Nur das Rennen selbst ist Erlösung. Wenn sie nicht mehr rennen kann, wird sie stehen bleiben, und da werden Häuser sein oder zumindest Straßen mit Straßengräben –

3

Minza liebt Lukas. Aber Lukas liebt Minza unvergleichlich mehr. Wenn er sie sieht, bleibt er stehen. Ihm ist dann, als wolle sein Herz stehen bleiben. Es pocht aber und klopft. Lukas steht, nicht sein Herz. Seine Blicke umhüpfen Minza, er flieht mit seinen Augen aus seinem steifen, stummen Körper. So zärtlich strömt er in Minza ein, dass seine langen, knochigen Beine, seine gebräunten Arme und die Hände mit den schwarzen Fingernägeln und der Warze am linken Daumen gefügig beben.

Minza lacht. Sie hat gut lachen. Lieben und leben sind für sie ein und dasselbe. »Lukas, gehen wir jetzt in die Landwehr?«

Die Landwehr ist ein großer, alter Wald. Hat er sich der Bauern erwehrt, als sie kamen und Land brauchten? Oder ist er den Bauern ein Schutzwall gewesen, die Plünderer und Vagabunden abzuwehren, sobald das Land in Kriege verwickelt war?

Die Landwehr birgt große, hellgelbe Sandgruben. Lukas hat Minza gezeigt, wie man am oberen Rand der Grube ein Grasbüschel lostritt, das Gras mit beiden Händen packt, sich geschwind auf das kleine Polster setzt und dann die Beine in die Luft wirft, damit die Sturzfahrt hinab in den gelben Kessel durch nichts gemildert ein Stück Wildheit, Wildnis, Wagnis – ach – alles Außerordentliche eines ganzen Lebens in diese Augenblicke hineinreißt.