image

Ingrid Bachér
Sieh da, das Alter

image

Ingrid Bachér

Sieh da, das Alter

Tagebuch einer Annäherung

image

Dieses Buch wurde gefördert von der

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

ISBN 3-920862-49-X

©DittrichVerlag, 2003

Lektorat: Julia Kuschmann

www.dittrich-verlag.de

Und doch muß das Leben ein großes Privileg sein,
wenn wir es mit dem Tod bezahlen müssen
.

Imre Kertész

Für Micheline, Adrian und Benjamin

JULI – DEZEMBER 2001

JULI

10.7. Bagnoregio. Es ist Sommer und ich bin in Italien und die Frage nach dem Alter ist nicht mehr zu umgehen. Lange Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, zu den Jüngeren zu gehören, für die das Alter ein entlegener Bezirk ist. Ich sah, wie Eltern, Verwandte und Freunde dorthin übersiedelten und hörte ihre Nachrichten und Rufe, ohne dass ich recht darauf zu antworten wusste. Ich las Bücher über die Zustände, so nah dem Absturz, und sah Bilder von Menschen, die von dem Klima dort gezeichnet waren. Ich nahm das alles wahr, aber nur von weitem, so wie man Bewegungen in einem Land beobachtet, das unzugänglich hinter einer geschlossenen Grenze liegt. Dann, eines Tages, öffnete es sich auch für mich. Aber es vergingen wieder Monate und Jahre bis ich begriff, dass ich schon zu seinen Einwohnern zählte. Noch hoffte ich, nicht alt zu erscheinen, trug leuchtend farbige Schals und mischte mich unter die Jungen. Dabei hatte ich die Grenze längst überschritten. Ich meinte zu wissen, dass das Alter ein rauer Landstrich ist, in dem Einsamkeit und Krankheit drohen und Zukunft ein Wort ist, das sich mit Tod verbindet. Doch wusste ich nicht wirklich, was mich erwartet.

12.7. Heiter und jung sind die Menschen auf den sanft glühenden Fresken in den Grabkammern der Etrusker, nah bei Tarquinia. Sie tanzen und musizieren und begleiten den Toten, der würdevoll Abschied nimmt. Auch er ist in den Darstellungen jung, als wäre der Zustand des Lebens unveränderbar. So zeigt sich die Vollkommenheit des geliebten und genossenen Lebens. Zeitlos göttlich wirken die Bilder. In Übereinstimmung sind die Menschen mit dem, was sie umgibt, den Bäumen und Früchten, den fliegenden Fischen und Wellen des Meeres und endlich mit dem Wechsel in ein Jenseits, dessen Licht so schön wie das diesseitige sein wird …

Einige Kilometer entfernt von den Tanzenden (und doch gehören sie zu ihnen) liegen im Hof des Museums der Stadt etruskische Skulpturen auf Sarkophagen. Männer, naturalistisch behäbig schwer, vom Leben geformt, das sie führten, genusssüchtig, machtgierig, bereit sich zu behaupten. Das Alter zeigt sich so im Triumph, das Leben gut überstanden zu haben. Es sind persönliche Portraits von Menschen, die vor 2400 Jahren lebten. Sie sind nicht unähnlich einigen meiner Zeitgenossen, die ich tagtäglich treffen kann. Die Wiederkehr des Gleichen selbst nach so vielen Jahrhunderten ist das Gewohnte und so auch beruhigend. Doch mein Verlangen gilt den rätselhaft untrüglich schönen Gestalten, die selbst in der Dunkelheit der Erde befreit erscheinen. Sie stammen aus der Zeit, als die Menschheit noch jung war, unbefangen und generös in ihrer ungebrochenen Kraft, mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit dem Tod gegenüber wie Kinder und sehr junge Menschen sie auch bei uns zuweilen haben. Das Glück der Nicht-Verängstigten. Eine Gegenwelt zu der des Alters. Das Leben – eine Möglichkeit, nicht ein Besitz.

Robert und ich haben die Malereien oft betrachtet. Wir sind zum Gebiet der alten Nekropole gefahren, von der nichts mehr erhalten ist, als eben diese unterirdischen, seit dem 19. Jahrhundert wieder entdeckten Grabkammern. Meistens wurden sie nur für einen Menschen in der Tiefe der Erde aus dem vulkanischen Boden herausgeschlagen. Die Wände, mit Stuck überzogen und bemalt, wurden zu luftigen Hüllen, zum farbigen Zelt, geschmückt mit Bildern des Lebens. Eine Darstellung all dessen, was den Toten erfreut hatte: der Tanz und die Jagd, das Fischen und Lieben. Anmutig und gelassen sind die Frauen und Männer, die Musikanten mit ihren Zimbeln und Doppelflöten und nackte Sklaven, die ihre Nacktheit ungezwungener als ein Gewand tragen, wie D. H. Lawrence einst schrieb. Reiter umringen den einen Raum, während im anderen ein Boot über die Wellen des Meeres gleitet und ein Junge von einem Felsen aus ins Wasser springt. Er verharrt beim Kopfsprung am Himmel. Eine theatralische Geste, der angehaltene Augenblick, bevor der von der Sonne gerötete Körper das kühle Wasser berühren und in es eintauchen wird. Delphine steigen empor und die Vögel zeigen den Himmel über den fragilen Bäumen. Blüten und Blätter werden zu Ornamenten, zu Bändern und Girlanden, die wie ein Fries den Raum umschließen. Ein kleiner Hund wuselt unter dem Tisch, auf dem ein Gastmahl stattfindet, während oben in der Spitze des Zeltes eine Gazelle von einem Löwen angesprungen wird. Eine Frau reicht ihrem Mann ein Ei und ein Jüngling hält in seiner hohlen Hand eine kleine Ente und bietet sie seiner Geliebten dar. Symbole der Unsterblichkeit und des männlichen Geschlechtes, für uns leicht verständlich. Andere Szenen bergen ein Geheimnis, das wir, mit der Art wie unser Denken ausgerichtet ist, nicht erfassen können.

Da ist ein fast nackter Mann mit verhülltem Kopf. Er versucht blindlings mit einer Keule einen Bluthund abzuwehren, der ihn anspringt und an einer langen Leine von einem sehenden Mann gehalten wird, der den Hund nicht hindert. Sondern im Gegenteil, durch die langen Schnüre der Leine, die sich schon um die Keule geschlungen haben, macht er den Angegriffenen wehrloser. Wir wissen, dies heißt das Phersu-Spiel. Mehr nicht. Vielleicht ist es ein Spiel, um die Geschicklichkeit zu üben, aber dafür wirkt es zu ernsthaft gefährlich. So könnte es der Vollzug einer Strafe sein oder die Herausforderung eines Gottesurteils. Möglich aber auch, dass es keine Trennung in unserem Sinne gab zwischen Spiel und Nicht-Spiel. So wie auch Tod und Leben Stationen des Wandels waren und nicht die Tiere geschieden von den Menschen, nicht die Götter von uns. Deutlich zeigen dies die Bilder, auf denen das Leben vorgeführt wird, wie es einst war.

Dabei bleiben die Gestalten für sich, wenden uns das Profil zu, verharren so ungestört in Beziehung miteinander. Wir bleiben die Zuschauer von geschlossenen Szenen. So ist alles uns nah und doch fern, ungezwungen einfach und kunstvoll zugleich, als wäre jeder und jedes an seinem Platz und wollte nichts anderes als Teil des Ganzen sein.

14.7. Früh am Morgen fuhr ich nach Tarquinia, um diesen fremden Gestalten wieder zu begegnen, wiederzusehen diese natürlichen und förmlichen Darstellungen einer Lebenslust, die den Tod mit einbezieht. Sie stärken in mir eine aufbegehrende Kraft und wecken die Zuversicht, dass es andere Ressourcen gibt als jene, die wir zu unserer Zeit ausbeuten. Wie wir Alter und Tod erfahren, ist abhängig von den Vorstellungen der Gesellschaft, die uns geprägt hat, und von unseren Fähigkeiten, diese zu verändern, um ein würdigeres Verhältnis zu unserem Leben zu bekommen. Heute wäre es mir notwendig zu hören, dass dies möglich sei, denn das Alter bedrückt mich zur Zeit – und dies, obwohl ich mir schon angewöhnt hatte, ruhig darüber zu sprechen, bereit, das natürliche Vergehen selbstverständlich zu nehmen … und was der Beschwichtigungen in solchen Fällen mehr sind. Das Bewusstsein redet uns ja immer gut zu, aber es ist gerade selber das, was uns Schmerzen bereitet.

Gegen Mittag, als ich fortfahre, sehe ich wie erwartet Heerscharen von Besuchern. Auch in der Gaststätte neben dem Kassenhäuschen ist Betrieb, und vor der Toilette bildet sich eine lange Schlange wartender Frauen. Sie schützen sich gegen die Sonne mit Hüten und Tüchern. Auf dem Parkplatz stehen dicht nebeneinander die Reisebusse vorwiegend mit römischen Nummernschildern. Ein schlanker Junge kassiert, eifrig von einem Fahrer zum anderen springend.

Abends treffe ich Robert in seinem Atelier, das er sich jedes Jahr im Sommer in den Räumen des ansonsten verlassenen Palazzo Agosti einrichtet. Er sitzt auf einem Stuhl einer Reihe von kleinen Bildern gegenüber, die er an die Wand gelehnt hat. Auch während er mit mir redet, hört er nicht auf, sie zu betrachten. Es sind Landschaften, auf wenige Formen reduziert. Geometrie in der Natur und fast schon zur Natur gewordene römische Ruinen. Schattenhaft Pinien und Zypressen, durchbrochen von der Glut des Lichtes. Daneben die Bögen eines Aquäduktes, die sich über die Campagna hinziehen, stehenden Läufern gleich, dem Blick Bewegung vorgebend, die nicht existiert. Bewegung und Stillstand. Als sei alles unserem Zeitmaß enthoben und immerwährend anwesend.

Später gehen wir gemeinsam die übliche Strecke auf der einen Straße vom Stadttor bis zur Brücke, die zur alten Etruskerstadt Civita führt, hin und zurück. Bagnoregio liegt auf einem schmalen Hügelkamm, besteht so nur aus zwei Straßenzügen. Ungenau wäre es, den Ort als Stadt zu bezeichnen, dafür ist er viel zu klein. Aber er ist auch kein Dorf, dafür viel zu städtisch. Auch ist er kein Bad, wo ein König weilte, wie der Name vermuten lassen könnte, sondern ein Ort, dessen historischer Kern geprägt ist von Kirchen, Kapellen und würdevollen Gebäuden, in denen ehemals Klöster waren oder Seminaristen unterrichtet wurden. Bagnoregio gehörte einst der Kirche, bis Italien vereint und der Kirchenstaat hier Geschichte wurde. Doch blieb die Vergangenheit anwesend. Die Form hält sich länger als das, was sie prägte. Es gibt einige Villen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die mit der Ruhe des Reichtums verschlossen hinter Mauern liegen, und es gibt verlassene Häuser, die – immer schlechter geschützt gegen den Einbruch von Regen und Wind – oft mitsamt ihrem Mobiliar langsam verfallen. Die Straßen sind stellenweise notdürftig ausgeflickt, wenn auch nicht mehr in dem miserablen Zustand wie zu der Zeit, als D.H. Lawrence durch diese Landschaft reiste. Mir gefällt dieser Zustand. Der Zerfall wird sichtbar, darf sein, wird nicht übertüncht, verborgen. Eine gute Umgebung, um über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken.

15.7. Zeitzone Alter, überall anwesend und doch durchsetzt mit anderen. Es geht nicht darum, etwas Angenehmes am Altern zu finden oder das Scheußliche zu betonen. Das sind untaugliche Einteilungen. Meine Aufmerksamkeit auf das Leben lenken und was ihm abzugewinnen ist an Energie für das Ende.

Wie ein Refrain: immer wiederkehrend die alte Frau Marini, die ich regelmäßig pünktlich treffen kann, wenn sie mittags in das einzige zentrale Lokal unseres Ortes zum Essen geht oder vom Essen kommt. Sie ist immer allein. Im Sommer wohnen wir hier in diesem Haus, in dem sie früher zuerst mit ihren Eltern, dann mit ihrem Mann und den vier Kindern lebte. Jetzt sind die Verwandten tot oder kommen nicht mehr, um sie zu besuchen. Die Gleichmäßigkeit ihrer Gewohnheiten lässt sie das Alter ertragen. Ihr bleibt das Gespräch mit den Nachbarinnen und das tägliche kurze mit Fumatore, dem Wirt der Gaststätte. Wenn ich sie sehe, tauschen wir fast immer dieselben Sätze aus. Stets wirkt sie gleichmäßig ruhig und freundlich. Auf Fragen geht sie nicht ein, es sei denn, ich frage sie nach ihrer Gesundheit. Ich würde gern wissen, was sie sich noch wünscht, was sie noch begehrt. Wie verbringt sie die Tage allein in ihrer Wohnung, die langen Nachtstunden durchgezählt bis zum Morgen? Geheimnisvoll erscheint mir ihr Leben, selbst wenn es ganz banal sein sollte.

16.7. Gedankensprünge, Zeitsprünge. Cicero notierte im ersten Jahrhundert v. Chr., als er über den Unterschied zwischen der etruskischen und der römischen Lebensform nachdachte: Da die Etrusker sich in allem mit den göttlichen Absichten verbunden sahen, waren sie überzeugt, dass Ereignisse nicht deswegen etwas bedeuten, weil sie stattgefunden haben, sondern dass sie stattfinden, um etwas zu bedeuten. So war in allem Sinn und jede Phase des Lebens hatte ihre Bedeutung, die geehrt wurde. Und er findet ein Beispiel, um den Unterschied zwischen dem römischen und dem etruskischen Denken deutlich zu machen: Wir glauben, dass der Blitz durch zusammenstoßende Wolken verursacht wird, während sie glauben, die Wolken stießen zusammen, um den Blitz zu erzeugen.

Ich fange an, mir andere Beispiele zu suchen, bin dem römischen Denken ferner als dem etruskischen. D.H. Lawrence notierte zum Sieg der Römer über die Etrusker: Die Römer saugten ihnen das Leben aus. Es scheint fast, als ob es der Widersetzlichkeit gegen das Leben, der Anmaßung und Überheblichkeit, wie die Römer sie kannten – einer Kraft, die notwendig moralisch ist oder die Moral als Deckmantel für ihre innere Verwerflichkeit mit sich führt, – immer gelänge, das natürliche Blühen des Lebens zu zerstören. Lapidar fügte er hinzu, als wollte er die Hoffnung nicht beschweren, die ihm teuer war: Und doch gibt es noch immer einige wilde Blumen und Geschöpfe.

D.H. Lawrence schrieb dies vor fünfundsiebzig Jahren, in der Zeit, als er die noch ungeschützten Grabkammern von Tarquinia besuchte. Er war die mit Erde bedeckten Stufen in die Finsternis der Erde hinabgestiegen, begleitet von einem Bauern, der ihm mit einer Acetylenlampe leuchtete. In diesem leicht schwankenden Licht betrachtete er die Fresken, die wir jetzt perfekt konserviert und elektrisch ausgeleuchtet hinter einer Glasscheibe sehen können. Gefunden hatte er in den Darstellungen das, was er sein Leben lang suchte, das Glück eines ungestörten Zustandes, die Lust am orgiastischen Leben, gebändigt durch zeremonielle Formen und die Akzeptanz der Naturgesetze, in denen sich das Dasein manifestiert. Verlockende Utopien für uns. Doch die Frage ist, ob Utopien nur Widerspiegelungen sind von dem, was früher geschah, Projekte, die unsere Phantasie beschäftigen, nicht mehr einzulösen, da sie schon in der Vergangenheit realisiert wurden, oder ob sie als Möglichkeiten noch immer anwesend sind? Die Akzeptanz der Naturgesetze, die Lawrence bei den Etruskern bewunderte, führt mich wieder zu Cicero und zu dem, was er über ihre Vorstellungen schrieb. Nichts war absichtslos und sinnlos für die Etrusker. Was geschah, geschah, damit es etwas bedeutete. Die Folge war wichtig. Was sich ereignete, hatte Sinn, weil es auf etwas anderes hinwies. So blieb das Gefühl für die Abhängigkeiten immer gegenwärtig und die Gewissheit, verbunden zu sein mit allem, was existierte. Im Gegensatz dazu steht nun unsere Beliebigkeit, mit der wir so vieles betrachten und die uns dazu bringt, zwanghaft immer wieder alle Regeln und Gesetze zu verändern auf der Suche nach einer Verbindlichkeit, die wir längst aufgaben.

17.7. Abends auf dem Platz des heiligen Bonaventura (dem Doktor Seraphicus in Dantes Göttlicher Komödie, wie eine Tafel unterhalb des Denkmals des Heiligen verkündet) sitzen auf steinernen Bänken unter den gestutzten Bäumen alte Männer. Sie wurden in Gemeinschaft alt, reden hier miteinander wie vor vielen Jahrzehnten auf dem Pausenhof ihrer Schule. Ich sehe, wie sie sich darstellen. Deutlich wird, der eine ist der Rechthaberische. Er redet und reckt den Kopf in die Höhe und lässt sich nur schwer unterbrechen. Daneben der Stille, der kaum etwas sagt. Unwillig ein anderer und dann der immer Gedemütigte, dem niemand lange zuhört. Der Spaßvogel ihm zur Seite, der Verbindliche und der Verbissene … Ich bleibe bei ihnen stehen, rede mit ihnen, werde zu einer Figur in diesem Spiel, in dem jeder seine Rolle hat.

18.7. In einer Fernsehsendung über die Bedeutung der Plätze und ihre Veränderungen in den alten italienischen Städten sehe ich einen Mann mittleren Alters, der auf der Piazza del Duomo in Orvieto steht. »Hier wurde ich getauft«, erklärt er und weist auf den Dom, »und hier möchte ich, wenn alles gut geht, beerdigt werden.« Der Mann weiß, wohin er gehört. Meine eigene Ortlosigkeit beunruhigt mich in solchen Momenten, gibt mir ein Gefühl der Instabilität. Auch fürchte ich, dass ich stärker an Menschen mich binde, weil ich keinen festen Ort habe, von dem ich sagen kann: hier ist die Kirche, in der ich getauft wurde, und hier in derselben Kirche wird eines Tages mein Sarg aufgebahrt stehen. Hier wird man Abschied von mir nehmen und sich an mich erinnern, an all das Alltägliche, was wir gemeinsam erlebten und wodurch wir miteinander bekannt wurden.

Ich hafte nicht im Vertrauten, komme nach Hause im scheinbar Fremden. Nicht anders geht es vielen Freunden. Wenn ich fern bin, warte ich darauf, wieder hierher zu kommen, als gäbe es eine besondere Art der Verbindung zwischen dieser etruskischen Landschaft und mir. Es ist nicht das Überlieferte, das uns zum Unaustauschbaren wird, sondern es ist das Gefundene, Geliebte, das wir zum Einmaligen erklären. Bin ich hier, frag ich mich nie, warum ich nicht woanders bin. Ich bin angekommen.

Wenn ich aus Bagnoregio fortfahre, denke ich an die Worte Rilkes, als er Jannowitz verließ: Wir waren froh miteinander und Wie schön es war, man wird anders davon, immer wieder anders.

19.7. Auch das ist wahr: Italien ist verführerisch, gesättigt mit Vergänglichkeit. Schon viele unstet Herumreisende meinten, hier endlich angekommen zu sein. Später wird die Fremdheit stärker, je vertrauter einem dies latinische Land wird. Je mehr wir lieben, umso unergründlicher erweist sich das Geliebte.

Zum Alter gehört für viele meiner Freunde der dringliche Wunsch, noch einmal etwas zu schaffen, der Wille, etwas zu hinterlassen. Noch einmal etwas selber neu zu gestalten und dies in einem Alter, in dem man sich früher zurückzog. Die Kraft und die Sehnsucht ist noch ungebrochen bei denen, die im Leben Erfolg hatten. Die Pensions- oder Rentengrenze zählt da nicht. Freunde erzählten mir, dass sie ein Haus im Osten wieder zum Leben erwecken möchten, ein altes Herrenhaus im Mecklenburgischen, zu dem ein weitläufiger, nun völlig verwilderter Park gehört. In dieses Haus werden sie alles bringen, was sie gesammelt haben und was Wert für sie hat. Sie werden ein anderes Leben beginnen, mit dem Umbau des Hauses sich beschäftigen und den Park nach Lennéscher Manier wieder herrichten. Vielleicht auch im Sommer in dem großen Saal des Hauses Konzerte arrangieren oder Musikunterricht für die Jugend des Ortes organisieren, die zum größten Teil arbeitslos ist. Sie werden endlich – nun da sie alt sind – wurzeln, wie meine Freundin sagt, die am Ende des Krieges 1945 aus Schlesien geflüchtet war. Ihr Mann gibt seine Praxis auf. Sie verlassen Düsseldorf leichten Herzens. Ohnehin beruhen die meisten Freundschaften nicht mehr auf einer ständigen Anwesenheit, einem alltäglichen Austausch. Vielleicht gelingt es, dass wir uns einige Male im Jahr treffen können.

Ich denke an andere Freunde, die sich in der Toskana einen verlassenen Weiler mit sieben Häusern gekauft haben und nach und nach alle Häuser wieder instand setzten. Das ist ihre Altersarbeit. Auch ihnen gelingt es, aus der Ferne Freundschaften aufrechtzuerhalten, wenn auch nicht mehr in der selbstverständlichen Art, wie ich das noch als Kind erlebte, als man unangemeldet einfach zu Freunden oder Verwandten ging. Selbst wenn sie gerade nicht da waren, öffnete sich die Tür, weil immer irgendjemand in der Wohnung war. Wir kennen das kaum noch, das jemand unangemeldet kommt. Dabei haben wir wahrscheinlich mehr Namen in unserem Adressbuch verzeichnet als unsere Eltern es hatten, aber nicht so viele Menschen, mit denen uns ein vertrautes Verhältnis verbindet. Wir sind zu viel unterwegs. Dabei suchen wir einen Ort, der zu uns gehört und wählen ihn oft entfernt von den Freunden. Dringlicher als alles andere scheint uns zu sein, diesen Ort zu finden. Meine alten Freunde schliefen zur Probe in dem verwahrlosten Gebäude in Mecklenburg, wo es durchs Dach regnete und die Fenster mit Brettern zugenagelt waren, die ersten Nächte im Schlafsack, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Eines Morgens wussten sie dann, dass sie gefunden hatten, wonach sie so lange suchten. Heimat. Sie waren sicher, dies würde ihre Heimat sein. Vielleicht hatte es ein Leben gebraucht, um genau dies Anwesen in Mecklenburg zu wollen, oder den Weiler mit den sieben Häusern in Italien oder Roberts und meine Bleibe jetzt zwischen den grünen Tuffsteinhügeln der Etrusker und den Calanchi, deren kalkige Formationen sich wie steile Burgen aus dem Tal erheben.

20.7. Frei von den üblichen Geschäftigkeiten. Die Tage verlaufen in einem ruhigen, oft gleichförmigen Rhythmus. Morgens geht Robert ins Atelier und ich tippe in den Computer meine Notizen. Mittags essen wir bei Fumatore, reden mit Frau Marini über das Wetter, schlendern über den Platz vor der Kirche des heiligen Bonaventura. Kaffee nehmen wir in der Bar an dem Aussichtspunkt, wo nachts sich die Jugend trifft und das Denkmal für den Schriftsteller Bonaventura Tecchi steht, dessen Familie zu den drei reichsten des Ortes gehört. Sie besitzen gemeinsam den Steinbruch, der schon zur Römerzeit den sonst nirgendwo zu findenden Basaltino lieferte. Von diesem Aussichtspunkt sieht man Civita. (»Die Stadt, die stirbt«, wie es in der Werbung heißt, weil die Seiten des Plateaus, auf dem sie steht, immer weiter abgerutscht sind.) Davor ist die lange Fußgängerbrücke zu sehen, die dorthin führt, und rund herum das Panorama der latinischen Landschaft. Die weißen Brüche der Calanchi, unbewachsene schroffe Erhebungen, die aus verwildertem Buschwerk aufsteigen. Unterhalb von Civita führt ein Tunnel durch den Tuffstein, auf dem der Rest des Ortes sich noch hält. Der Tunnel ist hoch und breit, vor mehr als zweitausend Jahren von den Etruskern gebaut. Gehen wir hindurch, für einige Minuten ihren Weg, gelangen wir ins östliche Tal, wo Felder und Gärten ansteigen nach Lubriano hinauf.

Pino, der Elektriker, Nachkomme der Etrusker, von dem wir zuerst von diesem Tunnel erfuhren, sagte, die Landschaft sei seine Heimat. Nicht wegen der Menschen bliebe er hier, sondern wegen der Landschaft. Sie ist älter, sie bindet ihn. Die Menschen gehören ihr an.

23.7. Nachts geträumt. Vage Vorstellung, dass ich in die vegetative Welt einsinke. Schlaf, Traum, Rückkehr zu einem pflanzenhaften Sein. Sonderbar ist, dass wir kaum noch mit Tieren leben, die nicht domestiziert sind. In der Stadt ist sogar ein Insekt selten in unserer Nähe. So das Staunen, als vor einigen Tagen eine Schlange aus einer mit Pflanzen überwucherten Wand uns fast vor die Füße fiel. Wir verharrten unwillkürlich in Panik vor dem zarten Tier, beobachteten mit der allergrößten Aufmerksamkeit, wie es unbeweglich liegen blieb und dann plötzlich fortglitt.

26.7. Heute hörte ich, dass Indro Montanelli, Schriftsteller und legendärer Journalist, in Rom gestorben ist. Noch mit 91 Jahren schrieb er seine Kolumne im Corriere della sera. Er wünschte, in dem kleinen Ort Fucecchio, in dem er geboren wurde und aufwuchs, begraben zu werden, wollte zurückkehren dorthin, wo er zuerst geborgen gewesen war. Dabei erinnerte ich mich an Leopold Kohr, Philosoph und Soziologe, der 1938 emigrieren musste und in London lebte. Als er sehr alt war, kurz vor seinem Tod, mietete er sich eine Wohnung in dem österreichischen Dorf, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Dort wollte er in seinen letzten Jahren noch einmal dieselben Wege gehen, die er mit seinen Eltern gegangen war, noch einmal das frühe Licht am Morgen sehen, wie zuerst in seinem Leben, und das Heraufkommen des Abends in diesem hölzernen, steinigen Dorf, aus dem er einst vertrieben worden war, und in das er dann doch nicht als Mieter zurückkam, sondern als Toter zurückgebracht wurde.

Ich bin nicht sicher, ob ich nach Lübeck zurückkehren möchte, die einzige Stadt, die mir in meiner Jugendzeit so etwas wie Heimat gewesen war, eingebunden in eine weitläufige Verwandtschaft. Nicht immer geliebt, aber ob geliebt oder nicht, spielt nun keine Rolle mehr. Wichtiger als alle Wertungen werden Nähe und Intensität der Erinnerungen. Wir lebten im Haus meines Großvaters. Aus dem Nachlass meiner Mutter habe ich sein Tagebuch aus dem letzten Jahr des Krieges bewahrt. 1945, da war er achtzig. Zwei Jahre hatte er noch zu leben, dann starb er an Unterernährung. Aufgebahrt wurde er im Esszimmer, das nie mehr geheizt wurde und in dessen einer Ecke ich sonst mein Bett hatte, da alle anderen Zimmer im Haus belegt waren. Sein Bruder Hans saß Tag und Nacht am Sarg meines Großvaters. Er saß ohne sich viel zu bewegen, die Hände ruhig auf dem Schoß und sang leise vor sich hin. Ein Beschränkter, einer der nichts verstand, so hieß es. Mein Großvater hatte ihn 1942 aus der Heilanstalt Lübeck-Ost geholt, bevor die Insassen fortgebracht und ermordet wurden. Danach arbeitete Hans für 20 Pfennige die Stunde im Garten seines Bruders. Hans will immer essen, dabei haben wir selber nichts, schrieb mein Großvater über ihn 1946 in seinem Tagebuch.

Das Lübecker Haus war nicht so geräumig, wie es mir in der Erinnerung blieb. Ursprünglich war es ein Sommerhaus gewesen, Ende des 19. Jahrhunderts gebaut für die wärmere Jahreszeit, wenn man nicht in der Stadt bleiben wollte und die Familien mit Sack und Pack aufs Land vor die Tore der Stadt zogen. Zu unserer Zeit lag es nur zwei Bushaltestellen entfernt von dem nicht mehr existierenden Mühlentor, gehörte also zur Stadt, war Teil von ihr. Später wurde es ständig bewohnt, aber hatte noch immer, obwohl zwei Kriege vergangen waren und die Besitzer mehrmals gewechselt hatten, diesen unaufdringlichen, leichten Charme, die Heiterkeit eines schönen alten Domizils. Nein, es war wirklich nicht groß, obwohl ich immer denke, es sei so gewesen. Es gab nur drei Zimmer unten im Parterre und drei im ersten Stock, keine Flure sondern freigiebige Dielenräume oben und unten. An der hinteren Seite des Hauses ein etwas mickriger Anbau, den ich damals romantisch fand, weil er im Gegensatz zum Haus nur enge Räume hatte und außen ganz mit wildem Wein bewachsen war, der die Fenster dicht umrankte. Im Anbau waren unten Küche und Speisekammer und oben das Bad und ein Schlafzimmer, für das der Schreiner zwei extra kurze Betten machen musste, weil sie sonst nicht hineingepasst hätten. In meiner Vorstellung hat das Haus vielleicht deswegen so vielfältige Räume, weil so viele und wechselnde Personen in der Endzeit des Krieges und der ersten Nachkriegszeit, in der ich dort lebte, in ihm Unterkunft fanden. Notquartiere für Durchreisende wurden manchmal sogar auf dem Dachboden eingerichtet, auf dem sonst die Wäsche getrocknet wurde und es einige Holzverschläge gab. In einem der Balken, der die Dachkonstruktion stützte, steckte ein Nagel, schwarz vom Blut der Hasen, die dort an zusammengebundenen Läufen aufgehängt wurden, bevor man ihnen das Fell über den Kopf zog.

Auch meine früheste Begegnung mit dem Alter gehört in die Erinnerung an diese Kriegsjahre in Lübeck. Wenn keiner in der Familie Zeit hatte, musste ich an den Feiertagen meine älteste Tante, Bertha, besuchen. (Sie lebte im selben Altersheim, einer altmodisch verwinkelten Villa, in der meine Mutter viel später das letzte Jahr ihres Lebens verbrachte.) Wann immer ich kam, war Bertha in ihrem Zimmer. Manchmal bewegte sie sich kaum, saß aufrecht auf der Kante ihres Lehnsessels in dem hohen, düsteren Raum, an dessen dunkelgrün tapezierten Wänden Bilder, halbblinde Spiegel und Fotografien nah beieinander und übereinander hingen. Hier sah ich, in einem prächtigen Rahmen gefasst, zum ersten Mal die römische Campagna, goldbraune Farben, grüngefleckt. Und karmesinrot das Gewand einer Frau, die am Rand des Bildes stand und in die Landschaft hineinsah. Wie auch ich es tat, sobald ich mich dem Bild gegenüber auf das Mahagonisofa gesetzt hatte, auf den glatten schwarzen Stoff aus Pferdehaaren, und meiner Tante zuhörte. »Der Tod hat mich vergessen«, erklärte sie und dies nicht klagend, sondern wie eine nüchterne Feststellung. »Der Tod hat mich vergessen.« Nachträglich erinnere ich nur diesen einen Satz von all dem, was sie mir sagte. Er beschäftigte mich lange, verwandelte er doch in meiner kindlichen Vorstellung ihr Zimmer in einen Raum, in dem sie bleiben musste, weil sie verabredet war. Ein geheimnisvoller Warteraum, erfüllt mit einem mir fremden Geruch, aus dem nur der Tod sie hinausführen konnte.

Mein Großvater hatte mir den Tod gezeigt, so wie er abgebildet worden war in der St. Marienkirche beim mittelalterlichen Totentanz. Demnach ein mit Tüchern bekleidetes Skelett, das lachte und hüpfte und an jeder seiner knochigen Hände einen Menschen führte. Es gab mehrere von ihnen auf dem Bild und ich nahm an, dass meine Tante Bertha einen von ihnen erwartete. Wenn ich bei ihr saß, überlegte ich mir, wie ich sie schützen könnte, falls er plötzlich eintreten würde. Andererseits ahnte ich, dass sie mich in dem Fall aus dem Zimmer schicken würde, so wie wir Kinder immer hinausgeschickt wurden, wenn wichtiger Besuch kam. Doch er kam noch lange nicht.