Neu herausgegeben von Peter Kammerer

Aus dem Italienischen von Thomas Eisenhardt

Diese Ausgabe wurde zwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der »Freibeuterschriften« auf deutsch (1978) von Peter Kammerer durchgesehen, korrigiert und mit Anmerkungen versehen. Hinzu kamen die »Einleitende Bemerkung« Pasolinis sowie drei Rezensionen.

Nicht aufgenommen wurden Texte, die Wiederholungen (Pasolini würde sagen »leidenschaftliche Anaphorä«) darstellen oder durch ihren Bezug auf spezifisch italienische Ereignisse in Deutschland nicht ohne weiteres verständlich sind. Die Datierungen, die Pasolini im italienischen Original vor die Titel gestellt hatte, um den »Tagebuchcharakter« der Aufsätze zu kennzeichnen, werden in dieser Ausgabe im Quellenverzeichnis (S. 173) genannt.

E-Book Ausgabe 2016

© 1975 und 1990 Garzanti editore s.p.a., Milano

© für die deutsche Ausgabe 1978, 1988 und 1998

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung eines Fotos von Pasolini © Fondazione Pier Paolo Pasolini. Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Die Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Die Fotografie stammt von Régine Esser.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4212 2

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN:  978 3 8031 2317 6

www.wagenbach.de

Vorwort

1. Ein halbes Jahrhundert

Wie kein anderer italienischer Dichter hat Pier Paolo Pasolini (1922  1975) die italienische Geschichte und die Veränderungen der Gesellschaft, also das »Leben der Nation«, mit seinem Werk und seinem Tun begleitet. Kein Vers, kein Akt, in dem nicht der Anstoß von außen erkennbar wäre. Und umgekehrt. Kein Vers und kein Akt, der nicht das Leben erhellt: die großen Landschaften zwischen Friaul und dem »afrikanischen« Süden; die vielerlei Lebensweisen der italienischen Bevölkerung; die politischen Hoffnungen und Niederlagen.

Grundlage dieser Art von Reflexion war Pasolinis Anderssein, sein »anderes« sexuelles und soziales Verhalten und sein Widerspruch gegen den totalitären Charakter der Normalität. Er schreibt: »Die Vorstellung vom absoluten Vorrang des Normalen ist … geradezu kriminell.«1 Und an anderer Stelle: »Ich habe aufgrund meiner persönlichen Lebensweise, aufgrund meiner Entscheidung darüber, wie ich meine Tage verbringe und wie ich meine Vitalität und meine Gefühle einsetze, schon als Junge die bürgerliche Lebensweise (für die ich vorbestimmt war) verraten. Ich habe jede Norm und jede Grenze überschritten. Dadurch konnte ich – ganz konkret, real und dramatisch – jenes Universum erfahren, das sich, grenzenlos weit, unterhalb der Ebene der bürgerlichen Kultur erstreckt: das bäuerliche Universum (zu dem auch das städtische Subproletariat gehört); und auch die Welt der Arbeiter (in dem Sinne, daß auch ein Arbeiter, mit Leib und Seele, zur Volkskultur gehört).«2 Ich zitiere aus den »Freibeuterschriften«, doch Äußerungen dieser Art ziehen sich als Bekenntnisse durch das ganze Werk.

Geboren im Jahr der faschistischen Machtergreifung und aufgewachsen in Bologna, entdeckt er in Friaul, in der Heimat seiner Mutter, die letzten Bilder von Menschen und Dörfern eines über fast tausend Jahre unveränderten »Naturzustands«. Er erlebt den Krieg, den antifaschistischen Widerstand, das kommunistische Engagement für eine neue Gesellschaft, die die Vergangenheit in sich aufheben würde, und das Scheitern dieser Hoffnungen. Zu Beginn der sechziger Jahre projiziert er seine Erfahrungen und Hoffnungen bewußt und als Mythos auf die erwachende Dritte Welt. In der Revolte von 1968 sieht er einen Modernisierungsschub in Richtung Konsumgesellschaft. Diese wird für ihn zur apokalyptischen Vision und ist das eigentliche Thema der »Freibeuterschriften«.

2. Irritation und Polemik

Am 7. Januar 1973 beginnt Pier Paolo Pasolini eine zunächst lose Mitarbeit bei der sonst konservativen Mailänder Tageszeitung Il Corriere della Sera. Der Artikel »Gegen die langen Haare« eröffnet mit seiner aus der Semiotik übernommenen Analyse der Körpersprache den Diskurs Pasolinis über die »anthropologische Mutation«. Aus der These, daß sich heute rechte und linke Jugendliche physisch nicht mehr unterscheiden, folgert Pasolini, daß die Jugendlichen allgemein, auf eine neue Art und Weise unglücklich sind, nur daß dieses Unglück von den neofaschistischen Bombenlegern auf eine besonders »erbitterte und monströse Art gelebt wird«3; der Gegensatz von Faschisten und Antifaschisten ist sekundär geworden. Es gibt einen neuen, viel schlimmeren Faschismus, der mit seiner Diktatur des Konsums die Körper und Köpfe gleichschaltet.

Um die provozierende Wirkung dieser Thesen zu verstehen, muß man Sätze lesen wie den, mit dem eine Rezension der Erzählungen von Sandro Penna beginnt: »Was für ein wunderbares Land war Italien während des Faschismus und unmittelbar danach«; oder, etwa gleichzeitig geschrieben, den Beginn des Artikels »Die erste, wahre Revolution von rechts«: »In den Jahren 1971/1972 begann eine der gewaltsamsten und vielleicht auch endgültigsten Restaurationsperioden der Geschichte.« Beide Sätze kommentieren einander. Wenn vor uns die Apokalypse liegt, verklärt sich die Vergangenheit, und dies um so mehr, als gerade die Zerstörung der Vergangenheit das Ziel der neuen Reaktion ist. Hier thematisiert Pasolini erstmals das, was Enzensberger später die »Furie des Verschwindens« nannte, die auch einen Heiner Müller nicht mehr schlafen ließ. In der bisherigen Geschichte haben sich die Sieger die Vergangenheit der Besiegten angeeignet. Jetzt wird Vergangenheit überhaupt ausgelöscht. Eine Schule, die noch vom »Erbe der Väter« oder von einer »dichterischen Verinnerlichung der Welt« spricht, wirkt unehrlich oder antiquiert. Kein Erbe harrt mehr der Aneignung, keine Welt der Verinnerlichung. Dem »unerträglichen Siegerblick der Wirklichkeit«. (von heute) stellt Pasolini die von Penna erfahrene und beschriebene »Anmut der Wirklichkeit«. (von damals) gegenüber und formuliert eines seiner berühmten Paradoxe: »Es gibt nichts Antifaschistischeres als diese Begeisterung Pennas für das Italien unter dem Faschismus.«4

Auch angesichts der politischen Ereignisse müssen die Thesen Pasolinis provozieren. Im Italien der Jahre 1971/1972 erhalten die Neofaschisten »gegen die kommunistische Gefahr« erheblichen Zulauf und auch internationale Unterstützung. Dies, wie Pasolini es tut, als reine Oberflächenphänomene zu sehen, unter denen sich eine andere, epochale Umwälzung vollzieht, die »links« und »rechts« gleichermaßen erfaßt, war schwer zu akzeptieren von Menschen, die in der praktischen politischen Auseinandersetzung stehen. Eine reaktionäre Wende, wie sie wenige Jahre zuvor in Griechenland stattgefunden hatte und dann auch im Herbst 1973 in Chile stattfand, war für Italien nicht auszuschließen. Warum Pasolini trotzdem darauf insistiert, daß die Unterschiede zwischen »rechts« und »links« durch die »strukturelle Gewalt«. (Pasolini benutzt diesen von Johan Galtung geprägten Begriff nicht, sondern spricht verkürzt immer nur von »Macht«) der Konsumgesellschaft eingeebnet werden, erklärt er anläßlich des Referendums zur Scheidungsfrage.

Am 12. Mai 1974 siegen, bei einer Volksabstimmung über die Abschaffung des vor wenigen Jahren erst erlassenen Ehescheidungsgesetzes, die laizistisch-progressiven Neinstimmen, und am 28. Mai kommt es (als Antwort auf diese Niederlage?) zu einem Bombenanschlag auf eine Gewerkschaftskundgebung in Brescia mit 8 Toten und 94 Verletzten. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus, im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen, in Turin und Genua mit 100 000, in Mailand und Rom mit 200 000 Menschen. Pasolini äußert sich dazu in einem Artikel vom 10. Juni. Für ihn hat das positive Abstimmungsergebnis recht wenig mit einem Kampf zwischen traditionellen, klerikal-faschistischen und progressiven, sozialistisch-laizistischen Werten zu tun, sondern ist das Ergebnis der Vernichtung aller Werte der Tradition und einer dadurch verursachten »kulturellen Mutation«, »die ebensoweit vom traditionellen Faschismus wie von sozialistischer Fortschrittlichkeit wegführt«.5 Eine humanistische Revolte, sowohl in ihrer christlichen als auch in ihrer kommunistischen Motivation, ist im Zeitalter der Herrschaft des Konsums unmöglich geworden.

Wer damals an die Möglichkeit einer »humanistischen Revolte« glaubte und in der Arbeiterbewegung das entscheidende historische Subjekt sah (was Pasolini nie getan hat), mußte diese Position als »romantische Kapitalismuskritik« oder als »reaktionäre Ausweglosigkeit« empfinden. So ist die negative Reaktion von Maurizio Ferrara, Chefredakteur der kommunistischen L’Unità, zu verstehen. Gleichzeitig beschuldigt auch Italo Calvino, Schriftsteller und Freund Pasolinis, diesen der »klagenden Nostalgie«. Beiden antwortet Pasolini am 8. Juli mit einem seiner schönsten Artikel: »Enge der Geschichte und Weite der bäuerlichen Welt«. Überraschend an den ablehnenden Reaktionen ist nicht der Rückgriff auf den Nostalgievorwurf, der schon Mitte der sechziger Jahre in einem großen Essay von Alberto Asor Rosa6 erhoben worden war und den auch, in ganz anderem Ton, ein so großer Freund Pasolinis wie Gianfranco Contini erheben wird (der von einer »rückwärtsgewandten Utopie« spricht); überraschend ist das völlige Desinteresse der Kritiker an der politisch wie literarisch durchaus relevanten existentiellen Erfahrung und Verzweiflung Pasolinis, die schon immer produktives Zentrum seines Werkes war. Hatte er nicht schon in »Gramscis Asche«. (1956) geschrieben: »Nicht der Herbst/sondern das Heimweh nach alten Zeiten, flößt Melancholie ein/Doch in dieser Melancholie liegt das Leben«?7 Hatte er nicht in »Eine verzweifelte Vitalität«. (1964) bekannt: »Aus dem Drang zu bewahren/bin ich Kommunist«?8 Nun sieht er sich gezwungen, erneut die »Bedeutung des Nachtrauerns« zu erklären, und schreibt in dem gleichnamigen Gedicht9 (1974): »Ich beweine eine tote Welt. Aber nicht ich, der ich weine, bin tot. Wenn wir vorwärts gehen wollen, müssen wir die Zeit, die nicht mehr wiederkommen kann, beweinen und nein sagen zu dieser Realität, die uns in ihrem Gefängnis einschließt …«.

Die Regression als Ausweg, das Zurückgehen auf der »Stufenleiter des Seins«, um in der Umkehr die ganze Menschheitsgeschichte wieder aufzunehmen, war schon 1958 das Thema des Gedichtes »An die rote Fahne«10: »Du rühmst dich so vieler Siege für Bürger und Arbeiter –/werde wieder zum Fetzen, auf daß der Ärmste dich schwenke.« In ihrem »Vorwärts« vom Fetzen zur Fahne zur Flagge wurde die rote Fahne zur Gefangenen einer staatstragenden Funktion. In seinem Artikel »Roman von den Massakern«. (November 1974) nimmt Pasolini ganz konkret das Thema wieder auf. Die Kommunistische Partei, das Reservoir aller progressiven Kräfte (»ein sauberes Land in einem schmutzigen Land«), kann – aus Sorge um die Stabilität, also aus Verantwortungsbewußtsein – die Namen derer nicht nennen, die für die blutigen Bomben und Massaker verantwortlich sind. »Mut zur Wahrheit und praktische Politik sind in Italien zwei unvereinbare Gegensätze.«11 Aber wer es sich nicht leisten kann, die Wahrheit zu sagen, verliert das Interesse an ihr. Hier und nicht nur in alten Vorurteilen liegt der Grund für die Unfähigkeit der Kommunisten, sich auf die vom »Freibeuter« aufgebrachten Themen wirklich einzulassen. Nach den großen Wahlerfolgen haben sie die Regierungsbeteiligung im Auge. Das Leiden an einem Verlust der Vergangenheit, der die Unmöglichkeit einer »humanistischen Revolte« einschließt, wird ihnen unverständlich. Das erklärt die Leichtigkeit, mit der diese Partei sang- und klanglos zwei Jahrzehnte später zu einer normalen Regierungspartei werden kann.

Das gleiche gilt für die Kirche und für ihren Weg vom Konzil eines Johannes XXIII. zu den Enzykliken und Erklärungen eines Johannes Paul II. Pasolini sieht im »christlichen Humanismus« einen natürlichen Verbündeten gegen die Herrschaft der Konsumgesellschaft, da diese auch die Grundlagen der Kirche unterminiert. Sie wird von dieser Herrschaft nicht mehr gebraucht. Es scheint, daß Paul VI. diese Krise zumindest ahnt. Pasolini glaubt, dies einer Gelegenheitsrede des Papstes in Castelgandolfo entnehmen zu können, und nennt sie »von historischer Bedeutung«. Seinen Artikel dazu beschließt er mit explosiver Naivität: »Der Kirche bleibt heute nur eine Wahl: Entweder sie setzt sich die schockierende Maske eines folkloristischen Paul VI. auf, der mit der Tragödie ›spielt‹, oder sie macht sich die tragische Aufrichtigkeit eines Paul VI. zu eigen, der kühn das Ende der Kirche ankündigt.«12 Die wütende Antwort des Osservatore Romano13 leidet an dem, woran alle offiziellen Antworten der Mächtigen (die Kirche, der PCI, Andreotti) leiden: an ihrer Reduktion der Vernunft auf Normalität.

Zu dieser gehören konstitutiv die Normen sexuellen Verhaltens. Auf diesem Gebiet ist Pasolini absolut antikonformistisch und ebenso verletzlich wie hellsichtig. Kern seiner Argumentation zur Scheidungsfrage, zur Abtreibung und zur Toleranz »sexueller Minderheiten« ist immer der Angriff auf die »Heterosexualität« als mehr oder weniger terroristische Norm. Der Weg zu einer Erneuerung der Sexualmoral führt nur über eine Befreiung vom »heterosexuellen Muß«, und von der dieses Muß begleitenden Art der Toleranz »abweichenden« Verhaltens.

Die »Freibeuterschriften« sind trotz des gelegentlich elegischen Tons (»Die Glühwürmchen«) alles andere als eine fruchtlose Klage über den Verlust von Vergangenheit. Es ist wahr: Pasolini sieht die Lage als »ausweglos«. Doch wenn die Vernunft keinen Ausweg sieht, muß sie zerspringen. Darin besteht die »Freude der Schiffbrüche«. (Ungaretti), und im Namen dieser Freude appelliert Pasolini an Paul VI., die Kirche aufzulösen, und an die Kommunisten, den »theologischen Glutkern der Revolution«. (der Ausdruck stammt von Benjamin, könnte aber von Pasolini sein) zu bewahren. Häresie und Blasphemie sind die »Techniken«, um die Fenster einer eng gewordenen Rationalität aufzustoßen, um Religion und Revolution aus dem Prokrustesbett von Kirche und Partei zu befreien. Im ganzen Schaffen Pasolinis leuchtet immer wieder diese Möglichkeit als letzte Hoffnung auf, die auch in den »Freibeuterschriften« spürbar ist, aber nur an einer Stelle, so scheint mir, explizit genannt wird. Bei der Analyse eines Werbeslogans bemerkt Pasolini, wie dessen technisch pragmatische Sprache durch die sexuell anzügliche, blasphemische Benutzung des Bibelworts »Wer mich liebt, folge mir nach« aufgeladen wird. »Der blasphemische Geist bewahrt im Slogan die ideologischen und ästhetischen Momente der Expressivität. Was bedeuten könnte, daß auch die Zukunft, die uns religiösen Humanisten als Stillstand und Tod erscheint, auf neue Art Geschichte sein wird.«14 Gotteslästerung wird hier zur Notbremse vor der Apokalypse.

Der Corpus

Im November 1975 erscheinen die »Freibeuterschriften«, zugleich findet in Paris die Premiere des Films »Salò o le 120 giornate di Sodoma« statt. Der Autor ist am 2. November an einem Strand bei Ostia ermordet aufgefunden worden. Im Dezember erscheint ein noch von Pasolini vorbereiteter Band mit dem Titel »La Divina Mimesis«, eine an Dantes »Göttliche Komödie« erinnernde Reise in die Hölle. In einer Anmerkung des »Herausgebers«, d. h. Pasolinis, wird gesagt, daß der Autor tot sei, »letztes Jahr in Palermo gestorben – mit Stockschlägen getötet«15. Es ist bemerkenswert, daß auch der postum veröffentlichte Roman »Petrolio« von Anfang an als Nachlaß konzipiert war. In seiner Einleitung schreibt Pasolini (1973), daß das Ganze »sich als kritische Ausgabe eines unveröffentlichten Textes darstellen« soll: ein Konvolut von Manuskriptversionen, Dokumenten, Briefen an den Autor und von ihm, mündlichen Zeugnissen, Illustrationen, Entwürfen, Projekten, Zeitungsartikeln usw.16 All das bedeutet, daß Pasolini sein Werk in der letzten Phase seines Lebens ästhetisch als einen riesigen, fragmentarischen Nachlaß sieht (aber nicht unbedingt, daß er seinen Tod inszeniert hat, wie Giuseppe Zigaina17 meint), und daß dieses Werk seine Bedeutung durch den Tod des Autors erhält, oder wie Pasolini selbst es schon in den sechziger Jahren formuliert hat: »Der Tod macht eine fulminante Montage aus unserem Leben.«18

Was die Einheit von Leben, Tod und Werk (in seinen vielfältigen Zeugnissen, Gattungen und Brechungen) für seine Auffassung von Literatur, Sprache und Kunst bedeutet19, hat Pasolini 1965/66 in dem autobiographischen Gedicht »Who is me. Dichter der Asche«20 dargelegt. Hier behauptet er den »Verfall seiner Achtung für die Poesie«: »… Sie also zählt nicht, nie./Jedenfalls nicht aufgefaßt als Poesie./Die Sprache der Tat, des Lebens, das sich darstellt,/ist so unendlich viel faszinierender!« Das Gedicht kommt einer Absage an die ästhetische Autonomie des Kunstwerks gleich; einer Absage an die Konvention, die das Objekt und die Form zum Kunstwerk macht.

»… Ist es wirklich nötig,/jene lebendige Sprache in eine konventionelle einzufügen,/damit sie sich dann befreit und wieder wird, was sie ist, lebendig im Leser?« In diesem Gedicht stehen auch die vielzitierten Verse: »Ich möchte mich durch Beispiele ausdrücken./Meinen Körper in den Kampf werfen.« In einem zu »Petrolio« gehörenden Brief an Moravia formuliert Pasolini dies so21: »Nun habe ich mich auf diesen Seiten unmittelbar und unkonventionell an den Leser gewandt. Das bedeutet, daß ich meinen Roman zu einem ›Objekt‹, zu einer ›Form‹ gemacht habe.« Und: »Ich habe den Leser in meiner Eigenschaft als Person angesprochen, einer Person aus Fleisch und Blut.«

Im Lichte dieser Aussagen gewinnt Pasolinis »Einleitende Bemerkung« zu den »Freibeuterschriften« ihr Gewicht. Pasolini vertraut »die Rekonstruktion dieses Buches« dem Leser an und verlangt von ihm »Begeisterung« für eine Philologie, die das gesamte, komplex geschichtete »Sprach-Material« von »Beispielen«, Texten, Filmen und Bildern zu erschließen fähig ist. Zu diesen »Sprach-Zeugnissen« gehören an hervorragender Stelle die letzten Gedichte aus »La nuova gioventù«, das Bild des »Freibeuters«, der seinen »tragikomischen Monolog« führt (mit dem gewaltigen Sprachrohr des Corriere ein Rufer in der Wüste)22 und die letzten Dokumente der Tragödie: Pasolini »in Fleisch und Blut«, sein massakrierter Körper.23

Peter Kammerer, Juni 1998

1   Im vorl. Band S. 94

2   Ebd. S. 151 f.

3   Ebd. S. 52

4   Ebd. S. 124

5   Ebd. S. 49

6   In: »Scrittori e popolo«, Rom 1965

7   Pier Paolo Pasolini: »Gramscis Asche«, München 1980

8   In: Pier Paolo Pasolini: »Wer ich bin«, Berlin 1995, S. 44

9   Pier Paolo Pasolini: »Significato del rimpianto« in: »La nuova gioventù«, Turin 1975

10   In: Pier Paolo Pasolini: »Unter freiem Himmel«. Ausgewählte Gedichte, Berlin 1982, S. 73

11   Im vorl. Band S. 84

12   Ebd. S. 75

13   Von Pasolini kommentiert, ebd. S. 76 ff.

14   Ebd. S. 32

15   Siehe dazu: Enzo Siciliano: »Pasolini. Leben und Werk«, Weinheim/Basel 1980, S. 371

16   Pier Paolo Pasolini: »Petrolio«, Berlin 1994, S. 11

17   Giuseppe Zigaina: »Pasolini und der Tod«, München 1989

18   Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini, Reihe Film 12, München 1977, S. 84

19   Siehe dazu: Carla Benedetti: »Pasolini contro Calvino«, Turin 1998

20   Siehe Pasolini: »Wer ich bin«, a. a. O., S. 23

21   Siehe Pasolini: »Petrolio«, a. a. O., S. 660

22   Franco Fortini, »Attraverso Pasolini«, Turin 1993, S. 199

23   Von Heiner Müller veröffentlicht in: »Drucksache 11« des Berliner Ensembles, Berlin 1995

Einleitende Bemerkung

Die Rekonstruktion dieses Buchs ist dem Leser anvertraut. Er muß die Fragmente eines verstreuten und unvollständigen Werkes zusammensetzen. Er muß verschiedene Stücke, die sich jedoch ergänzen, zusammenfügen. Er muß die widersprüchlichen Momente ordnen und ihre wesentliche Einheit aufdecken. Er muß mögliche Inkonsequenzen (das heißt fallengelassene Untersuchungen oder Hypothesen) beseitigen. Er muß die Wiederholungen durch mögliche Varianten ersetzen (bzw. die Wiederholungen als leidenschaftliche Anaphoren verstehen).

Der Leser hat zwei »Serien« von Schriften vor sich, deren zeitliche Reihenfolge mehr oder weniger übereinstimmt: eine »Serie« von Erstschriften und eine bescheidenere Serie von sie ergänzenden, verstärkenden und belegenden Schriften. Offensichtlich muß das Auge zwischen den beiden »Serien« hin- und hereilen. Nie habe ich in meinen Büchern die philologische Begeisterung des Lesers als so notwendig einfordern müssen wie in diesem Band journalistischer Schriften. Eine Begeisterung, die im Augenblick am wenigsten verbreitet ist. Natürlich ist der Leser nicht nur auf die in diesem Buch enthaltenen »Serien« von Schriften verwiesen, sondern z. B. auch auf die Texte der Gesprächspartner, mit denen ich polemisiere oder denen ich mit so viel Hartnäckigkeit widerspreche oder antworte. Außerdem fehlen dem Werk, das der Leser rekonstruieren muß, Materialien, die im übrigen grundlegend sind. Ich meine vor allem eine Gruppe von italienisch-friulanischen Gedichten. In der Zeit zwischen den Artikeln »Linguistische Analyse«. (17. 5. 1973) und »Studie über die anthropologische Revolution in Italien«. (10. 6. 1974) der ersten »Serie«, und den Rezensionen der »Parallelserie« von »Un po’ di febbre« von Sandro Penna (10. 6. 1973) und von »Io faccio il poeta« von Ignazio Buttitta (11. 1. 1974), sind in der Zeitung Paese Sera (5. 1. 1974) eine Gruppe poetischer Texte erschienen, die einer neuen, italienisch-friulanischen Tradition verpflichtet sind, die ich in der Stampa (16. 12. 1973) eröffnet habe. Sie bilden das wesentliche Band nicht nur zwischen den beiden »Serien«, sondern auch zwischen den Artikeln der ersten »Serie«, das heißt dem eher aktuellen Diskurs dieses Buches. Ich konnte diese Verse hier nicht aufnehmen. Sie sind nicht »freibeuterisch«. (bzw. sie sind es viel zu sehr). Der Leser sei also auf sie verwiesen. Er findet sie an den oben zitierten Stellen oder da, wo sie ihren endgültigen Ort gefunden haben, im Band »La nuova gioventù«. (Turin 1975).

P. P. P.

[1975]

Freibeuterschriften

Die »Sprache« der Haare

Zum ersten Mal sah ich junge Männer mit langen Haaren in Prag. Zwei junge Ausländer mit Haaren bis auf die Schultern traten in die Empfangshalle des Hotels, in dem ich wohnte. Sie durchquerten die Halle, gingen in eine etwas abgelegene Ecke und setzten sich an einen Tisch. Dort blieben sie ungefähr eine halbe Stunde sitzen, während die Hotelgäste – darunter auch ich – sie beobachteten. Dann gingen sie wieder. Die beiden sprachen kein Wort: weder als sie durch die in der Halle stehende Menschenmenge gingen, noch während sie in ihrer abgelegenen Ecke saßen (vielleicht – aber ich erinnere mich nicht daran – haben sie sich etwas zugeflüstert, doch allenfalls ausdruckslos, etwas ganz Praktisches, nehme ich an).

Die beiden brauchten nämlich in dieser besonderen Situation – die in jeder Hinsicht öffentlich oder gesellschaftlich, ich würde fast sagen: offiziell war – überhaupt nichts zu sagen. Ihr Schweigen war streng funktional, einfach, weil Worte überflüssig waren. Die beiden benutzten nämlich, um mit den Umstehenden, mit den Beobachtern – mit ihren Brüdern in diesem Augenblick – zu kommunizieren, eine andere Sprache als die der Worte.

Das, was die traditionelle verbale Sprache ersetzte und überflüssig machte – und augenblicklich seinen Platz im weiten Reich der »Zeichen« fand, das heißt im Bereich der Semiologie –, war die Sprache ihrer Haare.

In einem einzigen Zeichen – nämlich der Länge ihrer auf die Schultern fallenden Haare – waren sämtliche denkbaren Zeichen einer differenzierten Sprache konzentriert. Was war nun der Inhalt ihrer stummen und ausschließlich körperlichen Botschaft?

Es war folgender: »Wir sind zwei LANGHAARIGE. Wir gehören zu einem neuen Menschengeschlecht, das in diesen Tagen den Erdkreis betritt, sein Zentrum in Amerika hat und von dem man in entlegenen Provinzen (wie zum Beispiel – oder ganz besonders – in Prag) überhaupt noch nichts weiß. Wir sind also für euch eine OFFENBARUNG. Wir üben unser Apostolat aus, erfüllt von einem Wissen, das uns bereits vollständig durchdringt. Mit Wort und Verstand haben wir der körperlichen und ontologischen Botschaft unserer Haare nichts hinzuzufügen. Das Wissen, das uns erfüllt, wird, mit Hilfe unseres Apostolates, eines Tages auch euch gehören. Vorläufig ist es noch etwas NEUES, etwas unerhört NEUES, das in der Welt mit dem Skandal eine Erwartung erzeugt: Sie wird nicht enttäuscht werden. Die Bürger haben guten Grund, mit Haß und Schrecken auf uns zu blicken, denn das, was hinter unseren langen Haaren steht, stellt sie absolut in Frage. Man glaube nur nicht, wir seien Flegel oder Wilde: Wir sind uns unserer Verantwortung vollkommen bewußt. Wir sehen euch nicht an, wir bleiben für uns. Haltet auch ihr es so und harret der DINGE.«

Ich war Adressat dieser Botschaft und konnte sie auch sofort entschlüsseln. Diese Sprache ohne Wörter, Grammatik und Satzbau war unmittelbar verständlich, auch weil sie – semiologisch betrachtet – nichts anderes war als eine Form jener »Sprache der äußeren Erscheinung«, die der Mensch seit jeher zu gebrauchen weiß.

Ich verstand, und sofort waren mir die beiden unsympathisch.

Später mußte ich dann diese Antipathie beiseite lassen, um die Langhaarigen gegen die Angriffe von Polizei und Faschisten zu verteidigen. Denn natürlich stand ich, schon aus Prinzip, auf der Seite des Living Theatre, der Beatniks usw.1; das Prinzip, das mich auf ihrer Seite sein ließ, war einfach das demokratische Prinzip.

Die Langhaarigen vermehrten sich zunehmend – wie die ersten Christen; aber sie blieben weiterhin geheimnisvoll stumm. Die langen Haare waren ihre einzige wahre Sprache, und es war müßig, dem noch etwas hinzuzufügen. Ihr Sprechen bestand in ihrem Sein. Ihre Wortlosigkeit war die ars rhetorica ihres Protests.

Was sagten die Langhaarigen der Jahre 1966/67 mit ihrer unartikulierten, aus dem monolithischen Zeichen der Haare bestehenden Sprache?

Sie sagten folgendes: »Die Konsumgesellschaft ekelt uns an. Wir protestieren radikal. Wir schaffen durch Verweigerung einen Antikörper zu dieser Gesellschaft. Bisher schien alles bestens zu laufen, was? Unsere Generation sollte eine Generation von Integrierten sein? Aber wir werden euch zeigen, wie es sich wirklich verhält: Auf die Perspektive, als ›Executives‹ zu enden, antworten wir mit Wahnsinn. Wir schaffen neue religiöse Werte innerhalb der bürgerlichen Entropie, ausgerechnet in dem Moment, in dem sie völlig laizistisch und hedonistisch wird. Wir tun dies mit einem Aufschrei revolutionärer Gewalt (die Gewalt der Gewaltlosen!), denn unsere Kritik an der bestehenden Gesellschaft ist total und kompromißlos.«

Ich glaube nicht, daß sie, mit Hilfe der traditionellen Sprachregeln befragt, imstande gewesen wären, die Botschaft ihrer Haare so artikuliert in Worte zu fassen: Tatsache ist aber, daß sie genau das ausdrückten. Was mich betrifft, so hatte ich zwar von Anfang an das ungute Gefühl, ihre »Zeichensprache« sei Ausdruck einer Subkultur des Protests, die sich gegen eine Subkultur der Herrschenden richtet. Ihre nichtmarxistische Revolution war mir verdächtig. Trotzdem blieb ich noch eine Weile auf ihrer Seite, bestätigten sie doch zumindest die anarchistischen Momente meiner Ideologie.

Die Sprache jener Haare drückte, auch in ihrer Wortlosigkeit, ein »Etwas« von linken Inhalten aus; möglicherweise Inhalte einer Neuen Linken, die innerhalb des bürgerlichen Universums entstanden war (in einer Dialektik, die wohl von jenem GEIST künstlich geschaffen wurde, der jenseits des Bewußtseins der einzelnen historischen Kräfte das Schicksal der Bourgeoisie lenkt).

Dann kam das Jahr 1968. Die Langhaarigen wurden von der Studentenbewegung aufgesogen; sie schwenkten auf den Barrikaden rote Fahnen. Ihre Sprache drückte immer mehr »etwas« Linkes aus (Che Guevara war ein Langhaariger usw.).

1969 hatten sich die Langhaarigen – mit dem Blutbad von Mailand, der Mafia, den Agenten der griechischen Obristen, der Komplizenschaft der Minister, den konspirativen Machenschaften der Neofaschisten, den Provokateuren – bereits ungeheuer verbreitet2: Wenn auch zahlenmäßig noch nicht in der Mehrheit, so waren sie es doch in ideologischer Hinsicht. Jetzt blieben sie nicht mehr stumm. Sie überließen ihre ganze Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit nicht mehr allein dem Zeichensystem ihrer Haare. Im Gegenteil, die körperliche Präsenz der Haare war in gewisser Weise zum bloßen Unterscheidungsmerkmal entwertet. Die herkömmliche verbale Sprache trat erneut in Funktion. Und wenn ich »verbale Sprache« sage, dann tue ich das ganz bewußt und betone es. Von 1968 bis 1970 ist nämlich so ungeheuer viel geredet worden, daß man es für eine Weile bleiben lassen könnte. Die Verbalität ist bis aufs Äußerste beansprucht worden: Der Verbalismus wurde zur neuen ars rhetorica der Revolution (Linksradikalismus – die Wortkrankheit des Marxismus!).

Obwohl nun die Haare, von der Flut der Worte aufgesogen, nicht mehr eigenständig zum aufgeschreckten Publikum sprachen, gelang es mir dennoch, meine Entschlüsselungskünste zu verfeinern, um aus dem allgemeinen Getöse die keineswegs unterbrochene, stumme Botschaft jener immer längeren Haare herauszuhören.

Was sagten sie jetzt? Sie sagten: »Ja, es stimmt, wir drücken linke Inhalte aus; unsere Aussage ist – auch wenn sie die verbalen Botschaften lediglich begleitet– eine linke Aussage … Aber … Aber …«

An diesem Punkt verstummten die langen Haare. Den Rest mußte ich selbst ergänzen. Mit dem »Aber« wollten sie offensichtlich zwei Dinge sagen: 1. »Unsere Wortlosigkeit erweist sich zunehmend als irrational und pragmatisch. Der Primat der Aktion, den wir unausgesprochen behaupten, hat einen subkulturellen und damit einen im wesentlichen rechten Charakter.« 2. »Wir sind inzwischen auch von faschistischen Provokateuren, die sich unter die Verbalrevolutionäre mischen, unterwandert worden (der Verbalismus kann ja auch zur Aktion führen, vor allem, wenn er sie zum Mythos macht); und wir bilden eine perfekte Maske, nicht nur rein äußerlich (unser ungeordnetes Wallen und Haargewoge macht tendenziell alle Gesichter gleich), sondern auch in kultureller Hinsicht: Eine rechte Subkultur läßt sich nämlich ohne weiteres mit einer linken Subkultur verwechseln.«

Kurz und gut, ich verstand, daß die Sprache der langen Haare nicht mehr ein »Etwas« von linken Inhalten ausdrückte, sondern etwas Zwiespältiges, etwas Rechts-Linkes, was das Auftreten von Provokateuren ermöglicht.

Vor etwa zehn Jahren – so überlegte ich – wäre es praktisch unvorstellbar gewesen, daß sich bei uns, der vorhergehenden Generation, ein Provokateur hätte einschleichen können (zumindest hätte er ein glänzender Schauspieler sein müssen). Seine Subkultur hätte sich nämlich – auch äußerlich – von unserer Kultur unterschieden. Wir hätten ihn an den Augen, an der Nase, an den Haaren erkannt! Wir hätten ihn auf der Stelle demaskiert und ihm die verdiente Lektion erteilt. Das ist heute nicht mehr möglich. Kein Mensch auf der ganzen Welt kann heute einen Revolutionär aufgrund der physischen Beschaffenheit von einem Provokateur unterscheiden. Rechte und Linke sind körperlich eins geworden.

Wir sind jetzt im Jahr 1972.

Im September war ich in Isfahan, im Herzen Persiens. Ein unterentwickeltes Land, wie der widerliche Ausdruck lautet, doch gleichzeitig – wie man nicht minder widerlich sagt – in vollem Aufschwung.

Über dem alten Isfahan, so wie es vor etwa zehn Jahren war – eine der schönsten Städte der Welt und vielleicht die schönste überhaupt –, ist ein neues Isfahan entstanden, modern und unglaublich häßlich. Aber auf den Straßen, bei der Arbeit oder gegen Abend beim Spaziergang kann man die gleichen jungen Männer sehen wie auch noch vor etwa zehn Jahren in Italien: würdevolle und einfache Söhne mit ihren schönen Hälsen, den schönen, klaren Gesichtern unter einem unschuldigen Haarschopf. Als ich nun eines Abends die Hauptstraße der Stadt entlangging, sah ich unter all diesen jungen Männern in ihrer antiken Schönheit und Menschenwürde zwei monströse Gestalten: Es waren keine richtigen Langhaarigen, aber ihre Haare waren europäisch zurechtgeschnitten, hinten lang, vorne kurz, strohig vom vielen Frisieren, mit zwei widerlichen Seitensträhnen über den Ohren.

Was sagten die Haare dieser beiden? Sie sagten: »Wir gehören nicht zu diesen Hungerleidern, diesen unterentwickelten Habenichtsen, diesen zurückgebliebenen Barbaren! Wir sind Bankangestellte, Studenten, Söhne der Neureichen, die bei den Erdöl-Konzernen arbeiten; wir kennen Europa, wir haben Bücher gelesen. Wir sind Bürger: Unsere langen Haare beweisen, daß wir Privilegierte, daß wir auf der Höhe der modernen Zeit sind!«

Diese langen Haare deuteten also rechte Inhalte an.

Der Kreis hat sich geschlossen. Die herrschende Subkultur hat die oppositionelle Subkultur aufgesogen und sich angeeignet: Mit diabolischem Geschick hat sie aus ihr eine Mode gemacht, die man nicht gerade faschistisch im klassischen Wortsinn nennen kann, die jedoch eine »extrem rechte« Realität verkörpert.

Mein Schluß ist bitter. Die abstoßenden Masken, die sich die Jugendlichen aufsetzen und mit denen sie so widerlich aussehen wie die alten Huren einer ungerechten Bilderwelt, schreiben ihnen objektiv erneut ins Gesicht, was sie lediglich verbal für alle Zeiten verurteilt hatten. So schimmern sie dann wieder durch, die alten Gesichter der Pfaffen, des Richters, des Offiziers, des falschen Anarchisten, des beamteten Narren, des Winkeladvokaten, des Scharlatans, des käuflichen Knechts, des Schlitzohrs, des rechtschaffenen Halunken. Die radikale und pauschale Verurteilung der Väter – die ein Stück geschichtlicher Evolution und vorangegangener Kultur sind