Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Good Son bei Salt Publishing in Cromer.

Dieses Buch wurde publiziert mit Unterstützung von Literature Ireland.

E-Book-Ausgabe 2016

© 2015 Paul McVeigh

© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Frankie Quinn.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie übersetzungen.

ISBN: 9783803142030

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3279 6

http://www.wagenbach.de/​

Literatur bei Wagenbach

Saphia Azzeddine   Bilqiss   Roman

Vermischte Nachrichten aus aller Welt: Die junge Witwe Bilqiss soll gesteinigt werden, weil sie anstelle des (betrunkenen) Muezzin zum Morgengebet gerufen hat, und zudem (bewiesenermaßen) Makeup, Stöckelschuhe und sogar einen Lyrikband besitzt …

Aus dem Französischen von Birgit Leib. Quartbuch, Gebunden mit Schutzumschlag, 208 Seiten

Auch als E-Book erhältlich

Pola Oloixarac   Kryptozän   Roman

Sieht so der Roman des 21. Jahrhunderts aus? Pola Oloixarac, die vielleicht umstrittenste Autorin der lateinamerikanischen Literatur, überrascht mit einem virtuosen Buch über das Leben und Werk des genialen Hackers, Biopunks, Whistleblowers und Weltenretters Cassio Liberman Brandão da Silva.

Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger. Quartbuch, Klappenbroschur, 192 Seiten

Auch als E-Book erhältlich

Denton Welch   Freuden der Jugend   Roman

Sommerferien an der Themse können eine Erfüllung sein, wenn man sein Internat hasst und eine Obsession für verwilderte Gärten, Antiquitätenläden und Pfirsich-Melba hat. So wie der sensible Orvil Pym mit seinem Freiheitsdrang und seiner Liebe zu ungewöhnlichen Spaziergängen.

Aus dem Englischen von Carl Weissner. Quartbuch, Elegante Klappenbroschur, 176 Seiten

Marina Caba Rall   Esperanza   Roman

Von ihrer Kindheit, vom Leben unter Franco und von dem Jugendfreund Alfonso hat Esperanza nie erzählt. Dieses Schweigen will ihre Tochter Karla nicht länger hinnehmen, als plötzlich ein Unbekannter in Berlin auftaucht, der offenbar ihr Halbbruder ist.

Quartbuch, Gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten

Auch als E-Book erhältlich

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Für meine Ma

1

Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Unruhen begannen.

»Bin ich doch, Mama, oder?«, sag ich.

»Die hast du begonnen, Junge«, sagt sie, und wir alle lachen, nur Unser Paddy nicht. Muss wohl wegen der Pickel sein und weil er überhaupt so hässlich ist. Mit so ’nem Gesicht wird man nicht so einfach froh. Fast tut er mir leid. An seinem Hals sehe ich einen dreckigen großen Knutschfleck, den bewahre ich im Gedächtnis als Munition zur Abwehr künftiger Angriffe.

Als Mama mit Blecheimer und Schrubber an mir vorbeigeht, steigen mir nach Blumen riechende Putzmittelschwaden in die Nase und mischen sich unter den süßen Geschmack der Frosties in meinem Mund. Den Hof schrubbt Mama nur, wenn irgendwas passiert ist. Muss wohl Papa sein, wie immer.

»Brauchst du Hilfe, Mama?«, sag ich.

»Nein, Junge«, sagt sie und verschwindet durch die Hintertür. Nicht mal angeschaut hat sie mich. Nach der vergangenen Nacht mach ich mir Sorgen um sie.

»Brauchste Hilfe, Mama?«, sagt Unser Paddy mit einer Mädchenstimme. »Du kleiner Arschkriecher.«

»Das sag ich Mama«, sag ich.

»Das sag ich Mama …«, äfft Paddy mich nach.

Ich guck zu Maggielein rüber und werf ihr den Stimmt’s, wir hassen ihn-Blick zu. Sie wirft mir den Klar tun wir das, dieses fette Riesenschwein-Blick zu. Diese Blicke hat mir auf dem Cave Hill ein Mönch beigebracht. Ich hab trainiert wie ’n Jediritter, aber mein Lichtschwert war mein Gesicht. Jetzt bin ich Guck Skywalker. Meine Mission: die Jüngsten und Schwächsten in allen Familien gegen das Böse zu verteidigen, das sich großer Bruder nennt. Und jetzt ist Maggielein meine Schülerin.

Um ihre telepathische Schulung zu testen, funke ich ein Mach dir über den keine Gedanken den fährt erst ’n Auto platt und dann rollt ihm noch ’n Laster übern Schädel dass ihm die Augen rauskullern. Maggielein lächelt. Sie hat’s kapiert. Ich glaube, in Wahrheit sind wir Zwillinge, die bei einem supergenetischen Reagenzglasexperiment der CIA entstanden sind, wenn auch mit großem Altersabstand.

Paddy steht auf und lässt seine schmutzige Schüssel auf dem Tisch stehen, als wär er König Faruk.

»Überlass das nicht einfach Mama«, sag ich.

»Mamasöhnchen«, sagt er.

»Halt den Mund«, sag ich. »Wenigstens hab ich keinen dreckigen großen Knutschfleck.«

Maggielein verschluckt sich fast vor Lachen, und aus ihrem Mund fliegen Frosties auf Paddys Pullover, genau wie bei dem kleinen Mädchen in dem Film Der Exorzist, den ich im Jugendclub Papst Johannes Paul II. gesehen habe.

»Deine Schuld, du schwuler Zwerg!« Paddy gibt mir einen Klaps auf den Kopf.

Ich versuche, ihn zu treten, knalle mit dem Schienbein aber gegen den Tisch.

Paddy lacht und wischt sich den Pullover ab. »Und du willst hier der Schlaue sein? Gymnasium? Von wegen.«

»Immer noch schlauer als du, Dummkopf«, sag ich. »Übrigens, macht’s deiner Freundin eigentlich Spaß, an deinen Halspickeln rumzulutschen?«

Paddy stürzt sich auf mich und zerrt mich an meinem Pullover vom Stuhl.

»Mama!«, ruf ich in den Hof hinaus.

»Was?«, brüllt Mama. Das Haus bebt, als ob ’ne Bombe hochgeht. Paddy lässt mich los. Mit unserer Mama würde sich nicht mal Muhammad Ali anlegen.

»Nix«, schrei ich zurück. Paddy grapscht sich seinen Blazer von der Stuhllehne und zischt ab. Ich hebe die Augenbrauen und lächel Maggielein zu. »Sieg auf ganzer Linie!« Ich lache wie Graf Zahl aus der Sesamstraße.

Auf Mamas gutem Tisch sieht’s wüst aus. Ich renne zur Spüle, mache den Lappen nass und sause zurück, bevor Mama reinkommt und jemand dran glauben muss. Jemand = ich. Obwohl ich der gute Sohn in der Familie bin, muss ich immer den Kopf hinhalten, wenn Maggielein was falsch macht, weil sie die Jüngste ist und ich auf sie aufpasse. Maggielein könnte mich in Brand stecken, aber Mama würde mir den Kopf abreißen, weil ich sie in die Nähe von Streichhölzern gelassen hab.

Beim Tischabwischen sehe ich im Rauchglas mein Spiegelbild. Ich seh aus wie eins von den schwarzen Babys, für die wir in der Schule sammeln. Normalerweise spende ich ihnen Milchreis. Die Konserven kriegen wir gratis vom Gemeinschaftszentrum, weil wir arm sind und weil’s irgendwo einen Lebensmittelberg gibt, der aus lauter Dosen Milchreis und Corned Beef besteht. Ich glaube, der liegt in der Schweiz.

Eines Tages werde ich Präsident von Irland sein. So gütig werde ich sein, so freundlich. Ich werde alle schwarzen Babys nach Belfast holen, wo’s für die armen Leute kostenloses Essen gibt und wo sie in neuen Häusern wohnen können, wie denen, die gerade am unteren Ende unserer Straße gebaut werden.

Schwarze hab ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Außer denen, die in Afrika hungern, gibt’s noch welche, die Amerika gestohlen und zu Sklaven gemacht hat, was nicht besonders nett ist, aber immerhin haben sie ihnen was zum Anziehen gegeben. Ohne was zum Anziehen dürfte man in Amerika nicht rumlaufen. Oder in Belfast. Vielleicht, wenn sie bei den Protestanten wohnen würden. Protestanten hab ich bisher auch nur im Fernsehen gesehen.

»Nicht abdriften, Mickey.« Maggielein zupft an mir rum. »Du kommst zu spät zur Schule.«

Ich schleuder den Putzlappen in die Spüle und pese durchs Wohnzimmer und die Treppe rauf. Auf Zehenspitzen schleiche ich in mein Zimmer, weil ich Papa nicht aufwecken will. Mama hat ihn wieder aufgenommen, als er mitten in der Nacht an die Tür gehämmert hat. Er hat Männer mitgebracht. Oben auf der Treppe hab ich gelauscht. Ich hab Paddy erzählt, ich hätte Papa weinen hören und sie hätten über Geld geredet. Die Männer haben gesagt, dass sie heute wiederkommen.

Paddy hat gedacht, diesmal kommt Papa nicht mehr zurück. Aber Papa kommt immer zurück. Mir ist schleierhaft, wieso Paddy sich überhaupt die Mühe macht, zu denken.

Ich schnapp mir meine Schultasche und renne die Treppe runter in die Küche.

»Bin schon auf dem Weg, Mama«, rufe ich in Richtung Hof.

»Hast du dich gewaschen?«, ruft Mama zurück.

»Klar!« Vom Türrahmen aus schaue ich zu Maggielein und tu so, als würd ich in der Nase bohren und mir den Rotz am Pullover abwischen. Sie lacht hinter vorgehaltener Hand. Sie findet, ich bin wie einer aus dem Fernsehen. Wie Dick und Doof oder Abbott und Costello. Die spielen wir manchmal nach. Sie sagt, es ist unfair, dass wir nie lustige Mädchen nachspielen, aber dann sag ich, ist doch nicht meine Schuld, dass Mädchen nicht lustig sind. Weil wenn sie’s wären, kämen sie ja wohl ins Fernsehen, oder nicht?

Ich steige auf mein Pferd und reite los, weiche dem Stuhl und dem Tisch aus, mache einen Schlenker um die halboffene Tür ins Wohnzimmer, drehe eine Runde um Papas Sessel und am Sofa vorbei.

»Cham-pi-on das Suhuuuperpferd«, singe ich und salutiere vor dem Fernseher. Dann galoppiere ich zur Haustür hinaus, und Maggielein rennt hinter mir her.

»Mach das bloß nicht auf der Straße, Mickey«, sagt Maggielein, als wäre sie diejenige, die auf mich aufpasst.

»Bin doch nicht bescheuert«, sag ich. »Los, geh schon rein.« Ich schiebe sie zurück ins Wohnzimmer.

Das Brachland vor dem Haus wird zur offenen Prärie, und die alten, halb abgerissenen Häuser auf der rechten Seite sind jetzt eine verlassene Goldgräberstadt im Wilden Westen.

Auf Champion reite ich in den Sonnenuntergang.

»Mr Donnelly, wie spät ist es bei Ihnen?«, sagt Mr McManus. Ich stehe in der Tür und blicke auf meine Füße. »Tschuldigung, Sir.« Komischer Typ, dieser Mr McManus, weil er das zwar so sagt, ich aber dank meiner telepathischen Fähigkeiten genau weiß, dass es ihm völlig schnurz ist. Magische Kräfte wie meine sind sehr nützlich, denn dann weiß man, ob jemand es wirklich ernst meint. Er tut nur so, als wäre er verärgert, also tue ich so, als täte es mir leid.

»Setzen Sie sich, Donnelly«, sagt Mr McManus und liest weiter.

»Was geht ab, Fartin’?«, sag ich und lass mich auf meinen Stuhl fallen.

»Scheiße«, sagt er.

»Also, wo wir jetzt alle hier sind«, Mr McManus wirft mir einen Seitenblick zu, »dachte ich, wir veranstalten einen kleinen Wettbewerb. Bisschen kreatives Schreiben, eine Seite zu einem Thema eurer Wahl, und dem Gewinner winkt eine kleine Belohnung. Wer nicht mitmachen möchte, liest still an seinem Platz.«

Alles stöhnt. Seit wir vor einer halben Ewigkeit die Aufnahmeprüfung für die weiterführende Schule abgeschlossen haben, gibt’s nur noch Gesang und Geschichten, und niemand kann es ab. Außer mir. Ich liebe Gesang und Geschichten. Ich werd was schreiben, aber vor den Harten Kerlen muss ich’s geheim halten. Die haben mich eh auf dem Kieker, weil ich’s nicht hier hab, sondern da. Gelobt seien der Herr, seine heilige Mutter und das kleine Jesuskind, dass ich meinen Kumpel Fartin’ Martin hab. Fartin’ hat’s hier und da, ist aber keiner von denen. Ohne ihn wär ich schon an die siebzehnmal gekillt worden.

MEIN HUND KILLER

Mein Hund Killer, der ist toll.

Mein Hund Killer ist wundervoll.

Ich führ ihn Gassi auf den Straßen,

Und er macht nie auf fremde Rasen,

Weil er nur tut, was man ihm sagt,

Und einen niemals grundlos plagt.

Er kennt sich aus, er ist der Coole,

Dabei geht er nicht mal zur Schule!

Er ist mein Hund, das wird er bleiben,

Er könnt sogar ’ne Arbeit schreiben!

Tief in der Nacht, da bellt er laut,

Weil’s ihm im Dunkeln manchmal graut.

Dann haart er Papas Sessel voll,

Auf dem er gar nicht sitzen soll,

Darüber regt sich Mama auf

Und schimpft: »Du Böser, lauf!«

Nicht unbedingt eins von meinen besten, aber ist ja auch nur zum Spaß. Darf man in einem Gedicht schwindeln? Die werden alle total neidisch sein, wenn sie glauben, ich hätt ’nen Hund.

»Sind alle, die am Wettbewerb teilnehmen, fertig?«, fragt Sir.

»Jawohl, Sir.« Alle schnalzen mit der Zunge und starren zu mir und den beiden Superhirnen herüber, die geantwortet haben. Ich lasse mich immer zu sehr mitreißen. Warum kann ich nicht einfach mein großes Maul halten, bis ich in St. Malachy’s bin, einfach nur weg von dieser Schule?

»Wer möchte als Erstes vorlesen?«, fragt Mr McManus.

»Ich, Sir«, sagt der Klumpen.

Wieder schauen sich alle ganz genervt an. Das wird sie von mir ablenken. Auf den Klumpen ist immer Verlass. Der ist immer der Erste. Der Erste, der sich meldet, der Erste, der was anbietet, und der Erste, der eins auf die Fresse kriegt. Aber bei den Prüfungen hab ich ihn geschlagen, weil ich da nicht ’n paar Fehler eingebaut habe, wie sonst im Unterricht.

Der Klumpen räuspert sich, dann liest er mit der gekünstelten Stimme von jemand vor, der nicht von hier ist. Berge und Meer und irgendwas über Schönheit. Mal ehrlich, wer in Ardoyne redet denn von so was? Man sollte meinen, langsam hätte er geschnallt, was man vor den Harten Kerlen geheim halten muss. Die Harten Kerle, in den Hauptrollen der Kleine Zwilling McAuley und der Große Zwilling McAuley – in den Nebenrollen Hurensohn und Affe McErlane. Ein Film über Trottel – wie sie in der Schule versagen und jeden zu Brei schlagen, der eine Gehirnzelle hat. Bald auch in Ihrem Kino.

Der Kleine Zwilling starrt mich an, während er an einem Strohhalm für die Schulmilch kaut. Den muss er geklaut haben, weil wir unsere Milch noch gar nicht gekriegt haben. Das ist so eins von den bösen Dingen, die er tut. Aus seinem guten Auge feuert er puren Hass auf mich ab. Das andere ist auf unser Modell von Carrickfergus Castle gerichtet. Das schielende Auge ist einer Kugel gefolgt, die sein Gesicht gestreift hat, und dann lieber gleich ganz weggeblieben. Würde ich auch, wenn ich sein Auge wäre. Und immer dieses Gesicht im Spiegel sehen müsste.

»Danke, Mr Campell, da steckt viel Mühe drin, gut gemacht«, sagt Sir. »Nun, wer kommt als Nächster dran? Mr Close?«, sagt er.

Statusbericht: Sean Close – auch als Helmschädel bekannt – unter Beobachtung – letzten Monat in meine Straße gezogen – reicher Schnösel – deshalb vermutlich protestantischer Doppelagent, denn wer hätte je von reichen Katholiken gehört – hat keine Kumpel – findet sich super. Schlussfolgerung – kann ihn nicht ausstehen.

Helm wird in Frieden gelassen, weil an seinem ersten Schultag jemand versucht hat, ihn zu verprügeln, und er ihn mit Karate erledigt hat. Entschieden verdächtig. Ein protestantischer Kinderspion mit Kung-Fu-Ausbildung? Wäre denen glatt zuzutrauen.

»Die Geschichte heißt ›Monty die Fliege‹«, sagt Helm. Das lauteste Kichern kommt von mir. »Monty stammte aus Surrey und war von Beruf Jagdflieger. Er war eine kurzsichtige Fliege, weshalb er eine sehr große Brille tragen musste.«

Er redet, aber ich kann nicht zuhören. Ich weiß jetzt schon, wie genial die Geschichte sein wird. Manchmal weiß man so was vom ersten Moment an. Wenn es eine Hausaufgabe gewesen wäre, hätte ich gesagt, sein schnöseliger Papa hat ihm dabei geholfen. Es reicht ihm nicht, dass er in ein neues Haus in meiner Nähe gezogen und in meine Klasse gekommen ist, nein, er muss auch noch in meine Sache reinpfuschen. Hier bin immer noch ich derjenige mit den genialen Geschichten.

Aber so was würde mir nie einfallen. Im Leben nicht. Vielleicht, wenn ich nicht aus Ardoyne wär, sondern aus einer Gegend, wo man was lernen darf. Aber nach dem Sommer geh ich weg. St. Malachy’s Grammar School, ich komme! Da werd ich lernen, so geniale Geschichten wie seine zu schreiben.

Heut wird er besser sein. Das darf ich nicht zulassen. Man darf sie nie gewinnen lassen.

Ich schieb mir mein Übungsheft hinten in die Hose. »Toilette, Sir?« Ich stehe auf.

»Sie sollten anderen nicht ins Wort fallen, Mr Donnelly, das ist sehr unhöflich«, sagt Sir.

»Ich muss aber ganz dringend.« Ich quetsche meinen Schwanz zusammen, als würde die Pisse gleich rausplatzen. Als hätt ich schon vor Ewigkeiten rausgemusst und würde jetzt fast umkommen. So etwa: Ach, ich leide Todesqualen. O Gott, ich muss sterben. Moment mal, ich schauspielere ja nur. Eben hab ich mir glatt selbst geglaubt, so gut bin ich. Schauspieler sollte ich werden.

Sir winkt mich hinaus wie ein gelangweilter König. Im Gang stehen die Klassenzimmertüren offen, und die Lehrer schauen raus, als ich vorbeiflitze. Vor Mrs O’Hallorans Tür bremse ich ab und schaue hinein. Wir haben ein Geheimnis, ich und Mrs O’Halloran. Sie blickt auf und lächelt.

»Na, wenn das mal nicht Michael Donnelly ist. Kommen Sie einen Augenblick herein«, gurrt sie wie ein Täubchen.

Ich bin verliebt in Mrs O’Halloran. Ich war der Einzige, der ihre Unterlagen zu Mr McDermot tragen durfte. Sie hat mich ihr Zuckerstück genannt. Ihr Knuffelchen. Sie hat gesagt, ich wär anders. Nicht wie die anderen Jungs. An meinem letzten Tag in ihrer Klasse hab ich ihr ’ne Halskette gekauft. Ganze fünfzig Pence hat die gekostet. Ein kleines goldenes Herz hing dran, und auf der Rückseite stand: Ich liebe dich.

»Nun, liebe Schüler, ich möchte, dass ihr euch alle Mr Michael Donnelly anseht«, sagt sie, und ihr Arm auf meiner Schulter macht meine Haut ganz kribbelig. »Er ist einer der besten, nein, er ist der beste Schüler, den die Holy Cross Boys School je hervorgebracht hat.« Ich bin ganz verlegen und laufe puterrot an, mein Gesicht brennt wie ein geprügelter Arsch.

»St. Malachy’s Grammar School. Das überrascht mich überhaupt nicht. Daran seht ihr, liebe Schüler, was man an dieser Schule durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit erreichen kann«, strahlt sie mich an. Eigentlich sollte es ein Geheimnis sein, aber ich schätze, diese Zwerge können es ruhig erfahren. Und sie hat ja recht. Ich bin zielstrebig. Ich habe einen Plan. Weg von dieser Schule. Schlau werden. Nach Amerika gehen. Reich werden. Maggielein und Mama holen, damit sie zu mir ins Penthouse ziehen können.

»Danke, Mrs O’Halloran«, sag ich mit meiner Guter-Junge-Stimme, um der Klasse zu beweisen, wie recht sie hat.

»Man wird Sie schmerzlich vermissen«, sagt sie lächelnd. Sie flüstert: »Vergessen Sie nicht, heute noch einmal bei mir vorbeizuschauen, bevor Sie gehen, ja?«

»Jawohl, Mrs O’Halloran«, sag ich, inzwischen feuerrot wie ein menschlicher Molotowcocktail. Ich trete gegen das Bein ihres Pults, lächel und verziehe mich schnellstens aus dem Klassenzimmer. Ich will erwachsen werden und alle meine Träume verwirklichen, aber eigentlich will ich einfach nur wieder in der Dritten sein, bei Mrs O’Halloran.

In der Toilette hole ich mein Heft hervor. Ich reiße das Gedicht heraus und zerrupfe es, werfe es in die Toilette und spüle es für immer fort.

Alle schauen mich an, als ich ins Klassenzimmer zurückkomme, deshalb gehe ich mit gesenktem Kopf an meinen Platz. Als wollte ich mir die Schuhe zubinden, suche ich Deckung unter meinem Tisch.

»Ah, Mr Donnelly. Wir haben schon auf Sie gewartet«, sagt Mr McManus.

»Was, Sir?«, sag ich, als wär ich total beschränkt, so richtig bekloppt und cool.

»Sie sagten, Sie hätten etwas für den Wettbewerb«, sagt er.

»Nee, hab ich nicht.« Das kam jetzt frech rüber.

»Stehen Sie auf, Mr Donnelly«, sagt er. Ich hab die McManus-Grenze überschritten. Im ganzen Klassenzimmer Geflüster und Ooohs. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nichts zum Vorlesen haben?«

»Doch, hat er, Sir. Ich hab gesehen, wie er’s geschrieben hat«, sagt Fartin’ und vergräbt lachend den Kopf in der Armbeuge auf dem Tisch.

»Und?«, sagt Sir.

»Nein, schauen Sie her.« Ich halte die leeren Seiten hoch. »Sehen Sie?«

»Sie gehen mir heute ganz schön auf die Nerven, Mr Donnelly. Erst zu spät kommen und jetzt das. Was, glauben Sie, wird geschehen, wenn Sie sich in St. … in der weiterführenden Schule so aufführen? Warum bleiben Sie nicht einfach eine Weile stehen, dann fällt Ihnen vielleicht wieder ein, was aus Ihrem Text geworden ist.« Mr McManus geht zur Tür, um eine zu qualmen.

Was kümmert’s ihn? Ich liebe Mr McManus, aber manchmal führt er sich auf, als hätt ihm jemand ’nen Staubwedel in den Arsch geschoben.

»Jetzt bist du dran«, lacht Fartin’.

»Was sollte das denn eben?«

»Ich hab dich doch was schreiben sehen. Ich hab gedacht, du machst nur Scheiß. Hast du wirklich nichts?«, sagt er im kompletten Stirnrunzeln-Unglauben.

Ich will’s mir mit Fartin’ echt nicht verscherzen, wo er doch in der Schule mein bester Freund ist. Mein einziger Freund. Wir hängen nach der Schule nicht zusammen rum, weil er am andern Ende von Ardoyne wohnt, bei den Prods, den Protestanten, und da darf ich nicht hin wegen der Krawalle. Wenn nächste Woche die Schule vorbei ist, werden wir uns nicht mehr oft sehen. Und nach den Ferien geh ich auf St. Malachy’s, und er geht wie alle anderen auf St. Gabriel’s. Ich frage mich, wo Helmschädel hingehen wird. Der findet sich so super mit seinen blonden Haaren und seinen blauen Augen und dem ganzen Ach, seht mich an mit meinen genialen Geschichten und meiner blitzblanken Schuluniform.

Mr McManus kommt wieder herein, gefolgt von Mr Brown, dem Rektor.

»Donnelly, kommen Sie mal her«, sagt Mr Brown, und das tu ich auch, weil er ’n ziemlich gruseliges Exemplar ist. In der Schule krieg ich nie Ärger. Ich bin ein guter Junge. Wegen dem Text kann’s also nicht sein. Muss was mit St. Malachy’s zu tun haben. Mr Brown hat gemeint, es wär besser, den anderen Jungs nichts zu sagen, und seinen Satz mit einem Blick beendet, der besagen sollte: Wenn du hier lebendig rauskommen willst. Mr Brown flüstert Mr McManus etwas zu und blickt sehr ernst drein. Mr Brown legt mir die Hand auf den Rücken und schiebt mich auf den Gang.

Ich stehe am Fenster und blicke hinaus auf den asphaltierten Pausenhof, der übersät ist mit Scherben und bunten Klecksen von den Farbbeuteln, die die Harten Kerle nachts über die Mauern schleudern. In der Fensterscheibe sehe ich Mr McManus, der sich den Mund zuhält und auf seine Schuhe starrt. Mr Brown hat eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen reibt er sich die Glatze. Irgendwas ist passiert. Es ist wie eine von diesen Filmszenen, wenn jemand ’ne schlechte Nachricht bekommt, während die Musik spielt, und wir wissen, was gesagt wird, obwohl wir die Worte gar nicht hören. Normalerweise erfährt der Held, dass er unheilbar krank ist oder dass seine Eltern bei einem Autounfall umgekommen sind. Wir haben kein Auto, also …

»Folgen Sie mir«, sagt Mr Brown. Das mache ich, sehe mich aber noch einmal zu Mr McManus um, der immer noch in der Tür steht und mich anlächelt wie … Ich hab Leukämie! Letzte Weihnachten hatte ich doch Nasenbluten. Mir wird ein bisschen schwummrig.

Mr Browns Bürotür am Ende des Gangs steht offen. Er geht hinein. Ich warte.

Ich liege in meinem Krankenhausbett, die ganze Familie kniet um mich herum und weint, ich setze mich auf, um zu sagen: »Ich vergebe euch allen. Sogar dir, Paddy.« Ich lächel und berühre seinen Kopf, dann sterbe ich.

»Treten Sie ein, Michael«, sagt Mr Brown. Es ist das erste Mal in sieben Jahren, dass er mich mit Vornamen anredet.

Verdammte Kacke! Mama und Papa sind da. In ihren Sonntagskleidern. Allmählich wird mir das zu fernsehmäßig.

»Setz dich, Junge«, sagt Papa sehr freundlich. Hoffentlich kann Mr Brown aus Papas Pfefferminzatem nicht den Alkohol der vergangenen Nacht herausriechen. Ich setze mich auf den freien Stuhl.

»Michael, ich weiß, wir haben über das Angebot von St. Malachy’s gesprochen, und ich möchte Ihnen versichern, dass wir hier in Holy Cross sehr stolz auf Sie sind«, sagt Mr Brown und zupft an seinen Papieren herum. »Sie sind jetzt ein großer Junge, Michael, und es gibt gewisse Dinge, die Sie verstehen müssen.« Wie beim Hexenspiel fädelt er seine Finger ineinander und klopft mit den so verknoteten Händen auf seinen Schreibtisch. Er holt tief Luft. »Michael … Ihre Eltern haben mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen, damit Sie besser begreifen, dass …«

Mama hustet, rutscht auf ihrem Stuhl herum und blickt zu Boden.

»… leider … Michael, Sie können nicht auf St. Malachy’s gehen.«

Mr Browns Mund bewegt sich, aber es kommt kein Laut heraus. Konzentrier dich, Mickey – nicht abdriften! Ich höre was über »fünf Jahre … Ausflüge … Schuluniformen und Bücher … zwei Busse hin, zwei Busse zurück.«

»Aber ich liebe Busse«, sag ich und schaue hilfesuchend zu Mama, doch die starrt Mr Brown an, der aufsteht und sich, während er spricht, an den Jalousien zu schaffen macht. Mein Atem rauscht mir in den Ohren. Ständig verpasse ich, was er sagt, genau wie wenn Unser Paddy, um mich zu ärgern, den Fernseher laut und leise dreht.

»Ihre Mama und Ihr Papa können es sich nicht leisten, Michael. Sie fühlen sich sehr schlecht deswegen«, sagt Mr Brown.

Mamas Gesicht ist dunkelrot. Sie wird kein Wort sagen. Und was immer mir ins Getriebe geraten ist, der Lärm in meinem Kopf vertreibt meine magischen Kräfte. Sind es die Außerirdischen? Oder die Russen? Protestanten!

»Jetzt kannst du auch auf St. Gabriel’s gehen, genau wie Paddy«, sagt Papa lächelnd und legt mir seine ekligen kippenverbrannten orange-braunen Finger auf die Schultern. Er meint, ich kann Paddys alte Uniformen auftragen, wie ich es schon mein ganzes Leben lang getan hab. Paddys alte Sachen. Sogar seine verdammten Unterhosen.

Ich schaue Papa an und weiß mit absoluter Sicherheit, dass dieser Mann nicht mein Vater ist. Genauso, wie ich weiß, dass alles seine Schuld ist, das seh ich an seinen winzigen Augen. Alles Schlimme, was in unserer Familie passiert, passiert nur seinetwegen.

»Wir finden allein zur Tür, Sir«, sagt Papa und streckt die Hand aus, er tut so, als wolle er keinen Ärger machen, dabei hat er nie was anderes getan.

»Sie können Michael mit nach Hause nehmen und ihm durch … diese Übergangsphase hindurchhelfen«, sagt Mr Brown.

»Nein, ich bin mir sicher, er bleibt lieber hier und spielt mit seinen Freunden. Nicht wahr, Sohn?«, sagt Papa.

Freunden? Ein einziger Freund. Das zeigt, wie viel er von mir weiß. Und nein … »Eigentlich möchte ich lieber nach Hause«, sag ich.

»Kein Problem«, sagt Mr Brown und geht mit bleichem Gesicht aus der Tür. »Ich hole Ihre Schultasche.«

Schweigen. Wir starren aus dem Fenster und sehen zu, wie die Sonne hinter einer großen Fizzy-Filz-Wolke hervorkommt. Alle drei kneifen wir die Augen zusammen und wenden den Kopf ab, um sicherzugehen, dass unsere Blicke sich nicht treffen.

»Ich …«, fängt Papa an, »Mickey …« Er seufzt in seine Hand, die rau wie Sandpapier über seine Bartstoppeln streicht. »Ich habe eine große Überraschung für dich. Heute Abend.«

Ich betrachte das blöde Grinsen in seinem Gesicht. Dann ein Blick zu Mama, sie hat keine Ahnung, wovon er spricht. Er ist ein großer Lügner. Mama nickt erst mir, dann Papa zu und weitet ihre Augen. Das soll heißen: Bitte, Mickey, sei kein Spielverderber. Tu’s für mich. Du weißt, was sonst passiert.

Na schön, Mama. Für dich.

Ich weiß, dass wir kein Geld haben, und ich würde ihr deswegen niemals Vorhaltungen machen. »Eine große Überraschung? Wow!«, sag ich, wie ein Kind im Fernsehen. Ich schaue aus dem Fenster. Da überkommt es mich wie der Heilige Geist. »Ein Hund, oder? Ach, Papi, ich bin ja so glücklich, jetzt ist alles wieder gut!«

Ha. Jetzt hab ich ihn. Ich lächel Mama zu, als hätte ich keinen blassen Schimmer, was ich soeben angerichtet habe. Sie sagt nein zu einem Hund, seit ich fünf war. Sie wird mir sämtliche Knochen im Leib brechen. Aber dann muss ich wenigstens nicht auf St. Gabriel’s.

2

Neun Wochen bis St. Gabriel’s

»Mach schon, Freundchen. Und nimm bloß nicht den Hund hoch, oder ich bring dich um«, sagt Mama durchs Küchenfenster. »Du auch, Püppchen«, sagt sie zu Maggie. Sie ist immer noch sauer auf mich wegen Killer, aber über St. Malachy’s hab ich kein Wort verloren, also hab ich, solange ich den Mund halte, nichts zu befürchten.

»In Nullkommanichts«, sag ich und zwinkere ihr zu.

»Sonntags wird nicht gezwinkert«, sagt sie, und ihr Kopf verschwindet wieder im Fenster.

Ich muss lachen. Den Spruch kannte ich noch nicht. Wir sind im Hof und beugen uns über Killers Hütte, die Onkel John aus dem Holz der ausgebrannten Häuser in der Havana Street gebaut hat. Wenn jemand fragt, sollen wir sagen, Papa hätte sie gezimmert, weil Mama nicht will, dass die Leute wissen, wie unfähig er ist.

»Wie geht’s meinem Söhnchen? He?« Ich kraule Killers schwarzen Rücken. Er lässt sich fallen und dreht sich auf den Rücken. »Wie geht’s meinem kleinen Mann?« Ich kitzel seinen braunen Bauch. »Er ist spitze, Maggie, oder?«

»Ja. Ach Gott, ich hab ihn so lieb«, sagt sie.

»Dir kann er auch gehören. Aber sonst niemand.« Ich mach ein strenges Gesicht und drohe mit dem Finger.

Ich möchte ihn so gern hochnehmen, aber ich hab meine Die-müssen-die-ganzen-Sommerferien-halten-Kleider an, die ich heute bei der Sommermodenmesse in der Kirche erstmals ausführen werde – am ersten Sonntag nach Schulende.

In der Hintertür zeigt sich ein Steppengewächs aus rotblonden Locken. Unsere Masern. Auch bekannt als Unsere Mary, die Älteste. Ihre Pausbacken sind so mit Sommersprossen übersät, dass es nur ein paar weiße Flecken um ihre Nase herum gibt. Wie umgekehrte Sommersprossen.

»Ihr zwei setzt euch besser in Bewegung, wenn ihr schlau seid«, sagt Masern, bevor sie wieder zurücksaust, um das Mittagessen vorzubereiten, während wir in der Kirche sind. Wie Mama muss sie alles Mögliche im Haushalt erledigen, weil sie ein Mädchen ist. Jungs brauchen gar nichts zu tun, aber ich helfe immer, weil das unfair ist.

»Genau!«, grollt Mama.

Ich renne hinein, mein Schatten Maggielein hinter mir her. Mama hat uns abgerichtet wie die Kinder in The Sound of Music, aber bei ihrer Stimme braucht sie keine Pfeife. Und damit meine ich nicht, dass sie wie Julie Andrews klingt.

Mama macht das Finger-auf-den-Mund-Zeichen, weil Papa noch im Bett liegt. Alle müssen leise sein, damit er uns nicht verlässt. Oder noch schlimmer – trinkt. Mama schnappt sich Maggieleins Hand und marschiert aus dem Haus, die Straße entlang. Ich hole sie ein.

»Der Allmächtige sei mein Zeuge, wenn ich zu spät zur Messe komme, kenne ich nichts«, sagt Mama, und ihre winzigen Füße beschleunigen auf hundert Kilometer die Stunde.

Je weiter wir kommen, desto runtergekommener und verdreckter wird unsere Straße. Die alten Häuser werden bald abgerissen. Und ganz unten kann man bis zur Flax Street gucken, wo neben dem Niemandsland riesige Wellblechbarrikaden errichtet werden. Um uns drinnen zu halten und die Protestanten draußen.

Wir biegen in die Brompton Park Road ein und gehen bergauf. Keiner spricht, weil wir’s eilig haben. Mir egal. Ich freu mich wie ’ne Sau im Dreck, dass ich Killer habe, und kann’s gar nicht abwarten, die Kirche hinter mich zu bringen und wieder mit ihm zu spielen. Und es sind Sommerferien, also gibt’s jeden Morgen Zeichentrickfilme. Flash Gordon und so alte Schwarz-Weiß-Filme. Und auch wenn ich nicht auf St. Malachy’s komme, bis St. Gabriel’s sind’s noch volle neun Wochen. Genug Zeit, um mir einen neuen Fluchtplan auszudenken.

Alle in der Kirche werden mein neues T-Shirt bewundern. Das ist irre. Ich hab’s mir ausgesucht, weil vorn die amerikanische Flagge drauf ist. Unser Paddy findet es scheiße, aber nur, weil er sich für so toll hält, seit er Ostern ein Rude Boy geworden ist. Wenn man sich verändern will, muss man warten, bis man zu Weihnachten, zu Ostern oder im Sommer neue Klamotten kriegt. Letzte Weihnachten waren alle plötzlich Mods. Keine Ahnung, woher die immer wissen, wann man was werden muss. Das müssen sie einander beim Spielen auf der Straße erzählen. Ich spiele nicht mit den anderen Kindern. Ich spiele mit Maggielein.

Und bitte schön: meine spitzenmäßigen, super-duper-coolen Americano-Baseballschuhe! Bei uns heißen sie Turnschuhe, aber in Amerika sind das Sneakers. Die Namen lerne ich im Fernsehen, damit ich mich nicht zum Trottel mache, wenn ich hinziehe. Ich kann’s kaum erwarten, nach Amerika zu kommen. Dann werd ich in einem Schnellrestaurant arbeiten. Ich habe Träume.

Ein Sarazenenpanzer kommt die Straße entlanggekrochen, Scharfschützen stecken die Köpfe raus. Sieht aus wie ’n normaler Panzer, ist aber viel fetter, mit angeschraubten Teilen, wie das Monster von Frankenstein. Ein Frankensteinpanzer. Ha!

Ich hüpfe wie ein Boxer und tänzel ein bisschen am Straßenrand rum.

»Mickey! Wenn du die Turnschuhe ruinierst, wirst du den restlichen Sommer barfuß rumlaufen«, sagt Mama. »Schluss mit den Faxen.«

»Das sind keine Turnschuhe, Mama, das sind Sneakers«, sag ich.

»Ich sneak dir gleich ein Loch in den Kopf, wenn du nicht aufhörst, mir zu widersprechen, Freundchen. Und dann wirst du nicht mehr wissen, wo dein Arsch ist«, sagt sie.

Ich hab keinen blassen Schimmer, was das bedeuten soll, aber übersetzt heißt es, dass mir gleich was wehtun wird. Dabei weiß Mama, dass ich im Grunde ein guter Junge bin, ich geh ihr halt nur manchmal auf den Geist. Aber dafür kann ich nichts. In diesem Augenblick mag ich mich so richtig gern.

Vom oberen Ende des Brompton Park schaue ich auf Balhome Drive. »Mama, ich warte hier auf Fartin’.«

»Einen Scheißdreck wirst du. Viel zu gefährlich, die Shankill Road ist gleich da unten«, sagt Mama. Da unten wohnen die Shankill-Schlächter. Die verkaufen kein Fleisch, die zerstückeln Katholiken. Ich glaube nicht, dass sie uns verspeisen, aber wundern tät’s mich nicht.

»Ich geh nicht hinter die Kirche, ich bin doch nicht blöd«, sag ich entrüstet. »Siehst du, da kommt er schon.« Ich zeige hin. »Bitte!«

»Darf ich mit ihm warten, Mama?«, wimmert Maggielein.

»Siehst du, was du angerichtet hast, Freundchen«, sagt Mama. »Wehe, du kommst zu spät zur Messe, haben wir uns verstanden?« Sie zerrt Maggielein an der Hand hinter sich her.

Es nervt mich, dass diese verdammten Prods da unten wohnen müssen, denn es bedeutet, dass ich da nicht hindarf, um mit Fartin’ zu spielen. An unserm letzten Tag an der Holy Cross haben wir ausgemacht, uns hier zu treffen. Ich hab Fartin’ nicht gesagt, dass ich nicht auf St. Malachy’s gehen werde.

Im Schaufenster hängt ein IR A-Plakat. Das Gesicht von einem Mann. Die Augen starren dich finster an. Eine körperlose Hand hält ihm den Mund zu. Ein loses Mundwerk kostet Leben, steht drauf. Immerzu muss man vorsichtig sein. Den Mund halten. Ich gehe weiter, und es ist, als würden mir die Augen folgen, wie bei dem 3-D-Jesus-Bild von Tante Kathleen.

»Warte, bist du den hörst«, sagt Fartin’, als wären wir schon mitten in einer Unterhaltung. »Du gehst auf jemand zu und sagst: Siehst gut aus, und wenn er lächelt, sagst du: Wer hat dich denn zugeschissen?« Fartin’ macht sich vor Lachen fast in die Hose. Ich finde das schlimm, zu jemand so fies zu sein. »Den hab ich gestern auf der Straße gehört«, sagt er. »Alle spielen jetzt dauernd draußen. Total irre. Bei dir in der Straße auch?«

»Schon«, sag ich. »Ich geh nicht auf St. Malachy’s.« Ich hatte gar nicht geplant, das zu sagen. Scheiße, genau so läuft das mit dem losen Mundwerk. »Ich geh auf St. Gabriel’s.«

»Du gehst auf St. Gabe’s?«, sagt er, und die Augen kullern ihm fast aus dem Kopf. »Wie kommt’s?«

»Ich hab ihnen gesagt, da will ich nicht hin«, sag ich. »Ich hab gesagt, ich will mit meinem Kumpel zusammen sein. Ich geh mit Far-tin’ Mar-tin auf St. Gabriel’s, und eure Nobelschule könnt ihr euch sonst wohin stecken.« Ich recke zwei Finger in die Höhe. »Besten Dank auch.« Eine leichte Verbeugung.

Ich sehe, dass Fartin’ völlig überwältigt ist. Herrgott, bin ich gut. Improvisation nennt man das. Marlon Brando macht das auch so. Hab ich in ’nem Dokumentarfilm gesehen.

»Also, ich hab auch Neuigkeiten. Ich geh nicht auf St. Gabriel’s«, sagt er, und eine Laserpistole aus dem All lässt mich zu Staub zerfallen.

»Wieso? Wo gehst du denn hin?«

»Irgend’ne besondere Schule, ganz weit weg. Da geht man hin, wenn man was Besonderes ist.« Er greift sich vor Glück an den Schwanz, dann nimmt er mich in den Schwitzkasten und schnappt sich meine Nase. Ich versuche gar nicht erst, mich zu wehren, denn davon kriegt man nur Brennnesseln im Nacken.

Er weiß nicht mal, dass etwas Besonderes bescheuert bedeutet. Verdammt! Ich dachte, er könnte mich beschützen wie in der Holy Cross. In St. Gabriel’s werd ich völlig auf mich gestellt sein.

Er lässt mich los, und wir gehen zur Straße und warten darauf, dass die Autos anhalten.

»Ich weiß, was du machen kannst, wenn du auf St. Gabe’s gehst«, sagt er. »Die Großen in unserer Straße haben allen die Tricks verraten, damit sie’s überstehen.«

Wir rennen durch die Lücke im Verkehr über die Crumlin Road, zum Tor der Holy-Cross-Kirche.

»Du brauchst noch jemand, damit’s klappt«, sagt er. »Die gehen zu einem hin und sagen: Geh zu Donnelly und frag ihn, wie’s bei seiner Oma mit dem Stricken läuft, verstehst du? Also kommt ein Typ zu dir und sagt: Donnelly, wie läuft’s bei deiner Oma mit dem Stricken? Und du sagst total ernst, du sagst: Meine Oma hat keine Arme, und die machen sich in die Hose, weil sie glauben, du bringst sie um. Klasse, was?«, sagt er und kriegt sich gar nicht mehr ein.

»Total irre«, sag ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich finde, das klingt wie etwas, was nur ein richtig garstiger Mensch tun würde. St. Gabriel’s hört sich an wie Holy Cross, multipliziert mit hundert Millionen. Ich werde Unseren Paddy fragen. Ich werde nett zu ihm sein müssen. Schockschwerenot.

Die Kirche ist riesig. Große graue Ziegelsteine und eine Leiter zu den beiden hohen Türmen. Vor dem Portal stehen rauchende Männer mit ihren Säuglingen im Arm. Die tun nur so, als würden die Babys weinen, damit sie eine qualmen gehen können. Ich und Fartin’ besprengen uns mit Weihwasser aus dem Becken – muss man, um reinzukommen – und quetschen uns durch die Nachzügler, die in der Tür stehen.

Die Kirche ist rappelvoll, und auf der Suche nach Mama und Maggielein gehen wir den Mittelgang entlang. Ich nutze den Gang als Laufsteg. Ich weiß, dass mich alle anstarren. Ich seh nicht hin, aber ich spüre ihre Eifersucht, gemischt mit totaler Bewunderung für meinen Stil und meine Coolness im Allgemeinen.

Ich schubse Fartin’ in Mamas Kirchenbank, und alle anderen zotteln weiter. Mama kneift die Augen zusammen, bis sie sagen: Du hast mich vor der ganzen verflixten Kirche blamiert.

Der neue Priester spricht so leise, dass man kaum versteht, wovon er redet. Unser Paddy meint, er ist schwul, aber wie soll das gehen? Wahrscheinlich glaubt er das, weil Priester Gewänder tragen, die wie Frauenkleider aussehen. Die zwingen sie auch den Messdienern auf. Mich würde man in so was nie erwischen. Lieber würde ich meine in Bleichmittel eingelegten Augäpfel essen. Da kann man gleich in einem T-Shirt rumspazieren, auf dem steht: BITTE SCHLAGT MICH ZU BREI.

Die Leute in den vorderen Reihen fallen auf die Knie, und wie Dominosteine tun wir’s ihnen nach.

»Der neue Priester ist so was von langweilig«, flüstert Fartin’.

»Pssst, ihr zwei«, flüstert Mama. »Mickey Donnelly, ich warne dich.«

Das ist so verdammt unfair. Und es ist nicht fair, dass ich nicht auf St. Malachy’s gehe und Fartin’ nicht auf St. Gabriel’s. Daran ist Gott schuld.

Mickey, das ist ein schwarzer Fleck auf deiner Seele.

Ich frage mich, wie die Seele aussieht. Wie ein roter Kreis, nehme ich an. Nein, rot ist schon das Herz, dann ist die Seele wohl eher rosa. Rosa ist allerdings für Mädchen. Ich stelle mir meine kreisförmige Seele vor, und sie ist definitiv rosa. Ich werd einfach niemand erzählen, dass ich ’ne Mädchenseele hab.

Den schwarzen Fleck hab ich vergessen. Ich mach ein X draus, für falsch. Aber ich will nicht in die Hölle. Moment mal! Was hat der alte Father Michael immer gesagt? »Bitte um Vergebung, und deine Seele wird rein.« Hmmm … Ich sehe einen pygmäengroßen Gott in meiner Seele, mit einem winzigen Wischlappen.

Gott vergib mir. Gott wischt den schwarzen Fleck tatsächlich weg.

Sex! Gott vergib mir.

Ficken! Gott vergib mir.

Große Titten! Zwei schwarze Flecken erscheinen. Für jede Titte einer.

Gott vergib mir. Gott vergib mir.

Der arme Gott wetzt im Schnellvorlauf herum.

»Mickey«, sagt Mama.

»Was?«

»Stehst du bitte auf für die Kommunion«, sagt Mama mit finsterem Gesicht. Weil ich der Letzte auf der Bank war, also stehen jetzt alle und warten, dass sie vorbeikönnen. Wie lange bin ich abgedriftet? »Ich bring dich hinterher zum Priester«, sagt sie laut, damit die anderen es mitkriegen.

»Ich geh zur Kommunion, Mrs Donnelly«, sagt Fartin’ mit Engelsstimme, die Hände zum Gebet gefaltet und den Kopf zur Seite geneigt wie die Statue des Prager Jesulein.

»Mickey«, flüstert Fartin’ hinter mir in der Schlange.

Ich hebe meine betenden Hände zum Gesicht und flüstere in sie hinein. »Was?«

»Deine Mama ist plemplem.«

»Weiß ich. Aber pass besser auf. Sonst verkloppt sie am Ende noch dich, wenn du nicht aufhörst«, sag ich.

»Der Leib Christi«, sagt der neue Priester.

»Amen.« Ich strecke die Zunge raus, und er legt die weiße Pappscheibe drauf, die mir am Gaumen klebt. Die Nonnen sind extra zu uns in die Schule gekommen, um uns darüber zu belehren, wie man die Kommunion ablöst, ohne die Finger zu benutzen – das ist eine Sünde und wird mit der Hölle bestraft.

Da ist ja Martine. Hey – did you happen to see the most beautiful girl in the world? Jetzt hab ich dieses grässliche Lied im Kopf. Zwei Engelchen kommen aus dem oberen Buntglasfenster geflogen und schweben trompetend über ihr.

Martine … sie hat langes blondes Haar, und jeder weiß, langes blondes Haar ist das Herrlichste, was ein Mädchen haben kann.

Martine … sie hat eine Garage. Die hat vielleicht ein Glück.

Martine … ist wie Farrah Fawcett-Majors ohne Titten. Gott vergib mir. Doppelt. Und noch dazu ist sie auch Schauspielerin. Letzten Sommer hat sie in ihrer Garage Theaterstücke aufgeführt. Alle waren verrückt danach. Ich hoffe, eines Tages in ihrer Garage in einem richtigen Stück aufzutreten.

Sie hat mir zugelächelt. Nee, kann nicht sein. Oder? Nur, wenn sie vorübergehend Stevie Wonder geworden ist. Muss Fartin’ gemeint haben.

Ich richte mich auf und lasse Fartin’ vorbei. Ich kneife ihn in den Oberschenkel. Er jault auf wie Killer und lässt sich auf die Bank plumpsen. Mama knufft mich so fest, dass mein Bein ganz taub wird. »Warte nur, bis die Messe zu Ende ist, Freundchen«,