Cover

Tanja Polli – Das Doppelleben des Polizisten Willy S. | Erinnerungen an die Zeit, als Zürich brannte – WÖRTERSEH

 

Wir danken für die Unterstützung dieser Publikation durch den Fonds Finanzdepartement der Stadt Zürich.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2016 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Juristisches Lektorat: Dr. Georg Gremmelspacher, Rechtsanwalt, Basel
Herstellerische Koordination und Cheflektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Lektorat: Reto Winteler, Wetzikon
Korrektorat: Brigitte Matern, Konstanz
Fotos Cover: Demonstrationszug am Zürcher Limmatquai, 21. März 1981, © Keystone/Peter Schlegel (großes Bild); Willy Schaffner in jungen Jahren, als Insider (l.) und als Unteroffizier (r.), Privatarchiv (kleine Bilder)
Foto »Über das Buch«: Ausschreitungen vor dem Autonomen Jugendzentrum, 31. März 1981, © Keystone/Frank Hoffet
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Layout und Satz: Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau
Bildbearbeitung Bildstrecke: Michael C. Thumm, Blaubeuren
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-068-6
E-Book ISBN 978-3-03763-600-8

www.woerterseh.ch

 

Eine Krise kann ein produktiver Zustand sein.
Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Max Frisch

(Handschriftliche Notiz von Willy Schaffner –
gefunden in seiner Wäschezaine voller Erinnerungen)

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Vorwort von Daniel Leupi

Rückblende

Heimat

Ein »leides Kapitel«

Hieroglyphen, Krawalle und ein Monster

Steff Fischer, Bewegter, heute CEO einer Immobilienfirma

Daniel Benz, Jung-Revoluzzer, heute Redaktor beim »Beobachter«

Res Strehle, Alt-68er, Journalist, promovierter Ökonom und pensionierter Chefredaktor des »Tages-Anzeigers«

Feldarbeit

Sibesiech

Schneebälle

Weihnachten und ein Telefon

Mützen und Glimmstängel

Zwei Welten

Achmed von Wartburg, Bewegter, heute Tango-Musiker und Tai-Chi-Lehrer

Sprengstoff

Claudia Bislin, ehemalige Sekretärin des Anwaltskollektivs Zürich, heute freischaffende Lektorin und Korrektorin

Leerzeiten

Steff Fischer (Fortsetzung)

Res Strehle (Fortsetzung)

Fehler

Rückzug

Bildteil

Helden und Verräter

Fichen, Fichen, Fichen

Anklagen und Rachegelüste

Niklaus Scherr, Journalist, Zürcher Gemeinderat für die Alternative Liste, AL

Neuanfang

Brechstange und Vaterliebe

Geiseln

Mördertreff und Fingerspitzengefühl

Mittlerer Frieden

Patrick Angele, SP-Politiker, Gewerkschaftssekretär, Leiter Bau der Unia Zürich-Schaffhausen

Besetzer und Bullen

Funkgerät

Rolf Urech, Chef Sicherheitsabteilung der Stadtpolizei Zürich

Bis zum Schluss

Richard Wolff, Stadtrat, Polizeivorstand und Mitglied der Alternativen Liste, AL

Das Leben danach

Nachbemerkung

Nachwort

Der Dank der Autorin

 

Über das Buch

Der Stadtpolizist Willy Schaffner, geb. 1950, war erst wenige Wochen im Dienst des KK III, der politischen Abteilung der Stadtpolizei Zürich, als im Frühling 1980 der »Opernhauskrawall« die Stadt in einen Schockzustand versetzte. Die Polizei war überfordert, und so schickte man Schaffner als verdeckten Informanten in die Jugendbewegung. Fünf Jahre lang führte er ein Doppelleben. Seine Enttarnung durch die »WoZ« erfolgte 1986; ein Jahr nachdem er aus der Rolle des Willi Schaller, so sein Pseudonym, ausgestiegen war. Was dann folgte, hätte ihm den Boden unter den Füssen weggezogen, wäre da nicht seine Frau gewesen, die ihm auf dem Weg zurück zu seinem alten Ich zur Seite stand. Auch dann, als Anfang der Neunzigerjahre der Fichenskandal das Weltbild des Polizisten endgültig zum Einstürzen brachte. Anfang 1999 erlangte Willy Schaffner nochmals nationale Berühmtheit. Diesmal im positiven Sinne: Er liess sich in der griechischen Botschaft in Zürich freiwillig gegen eine Geisel austauschen, die von kurdischen Aktivisten festgehalten wurde. Ab 2006 bis zu seiner Pensionierung, die 2014 erfolgte, leitete er eine kleine, präventiv tätige Fachgruppe der Stadtpolizei Zürich.

Inzwischen, sagt Willy Schaffner, könne er mit der Summe dessen, was er geleistet habe, leben. Er ist überzeugt davon, dass Zürich die weltoffenste und schönste Stadt der Welt ist. Nicht ohne anzufügen, dass sie dies ohne die Achtziger-Bewegung wohl nicht geworden wäre. Dennoch lebt er heute wieder dort, wo er aufgewachsen ist – im Urnerland.

Ausschreitungen vor dem Autonomen Jugendzentrum, 31. März 1981, © Keystone/Frank Hoffet
Der Autorin Tanja Polli ist mit ihrem Buch über Willy Schaffner und die Zeit der Achtzigerjahre ein ebenso spannendes wie vielschichtiges und sehr lesenswertes Zeitdokument gelungen.

Daniel Leupi, Zürcher Stadtrat

 

Über die Autorin

Tanja Polli
© Ursula Markus

TANJA POLLI, geb. 1969, ist Journalistin und Autorin. Ihr erstes Buch, »Das Geschlecht der Seele – Transmenschen erzählen«, erschien im Elster Verlag. Das zweite, »Die Rebellin – Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit«, ein Porträt der Psychodramatikerin Ursula Hauser, im Wörterseh Verlag. Auf die Anfrage, ein Buch über Willy Schaffner, den Zürcher Politspitzel der Achtzigerjahre, zu schreiben, reagierte sie skeptisch. Sie sagte erst zu, nachdem sie ihn ein paarmal getroffen hatte und klar wurde, dass er sehr reflektiert und kritisch über seine Vergangenheit reden konnte und damit einverstanden war, dass sie auch mit Protagonisten der damaligen »Gegenseite« sprechen würde. Vertrauen schuf auch die Tatsache, dass sich Schaffner in den letzten Jahren seines Berufslebens engagiert für die Vermittlung zwischen Polizei und Demonstranten eingesetzt hatte. Dies so erfolgreich, dass ihm linke Aktivisten zu seiner Pensionierung Abschiedsbriefe schrieben und ihm viel Glück wünschten. Tanja Polli lebt und arbeitet in Winterthur.
www.tanjapolli.ch

 

Vorwort von Daniel Leupi

»Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.«  Wolf Biermann

Dem Namen Willy Schaffner bin ich das erste Mal in einem Ordner begegnet. Meine Vorgängerin im Zürcher Polizeidepartement, Esther Maurer, hatte mir anlässlich meiner Amtsübernahme eine Sammlung von Flugblättern linksautonomer Herkunft hinterlassen, unter anderem mit »Steckbriefen« von zivilen Polizisten. Darunter natürlich auch jenen von Willy Schaffner, der sich in den Achtzigerjahren unter falschem Namen und mit einer erfundenen Biografie als Informant der Polizei in die »Bewegung« eingeschlichen hatte. Ich nahm den Ordner nur ein- oder zweimal in die Hand und entsorgte ihn dann. Tempi passati für einen wie mich, der 1980 als Vierzehnjähriger das Gymnasium in Luzern besucht hatte – im Jahr 2010 musste ich als neuer Polizeivorsteher die Herausforderungen der Gegenwart bewältigen und nicht die Achtzigerjahre verarbeiten. Aufgabenstellung, Methoden und Personen in der Polizeiarbeit waren nicht mehr dieselben, auch wenn das nicht alle wahrhaben wollten.

Schon nach kurzer Zeit im Amt merkte ich, dass Willy Schaffner in der Stadtpolizei inzwischen eine ganz andere Rolle wahrnahm als die, die ihm auf dem Flugblatt zugeschrieben worden war, und bald schon lernte ich ihn nicht nur als Menschen, sondern auch in seiner speziellen Arbeitsweise sehr zu schätzen. Durch und durch Polizist, versuchte er, draussen auf der Gasse die Dinge so zu regeln, dass es möglichst wenig »Lämpe« gab: wenig für die Polizei, wenig für die Demonstrierenden, wenig für die Anwohnerinnen und Anwohner. Die Ironie des Schicksals wollte es allerdings, dass er die Demonstration, die auf die Annahme der Ausschaffungsinitiative im November 2010 erfolgte und deretwegen wir das erste Mal gemeinsam an einem Tisch sassen, im Vorfeld viel harmloser einschätzte als ich. Ein Fehler: Die Demo lief aus dem Ruder, alle bezahlten Lehrgeld.

Willy Schaffner hat im Laufe seiner langen Karriere bei der Polizei erkannt, dass nicht alle, die auf die Strasse gehen, Staatsfeinde sind. Dass jedes politische und gesellschaftliche System immer wieder Veränderung braucht. Dass der erste Ruf nach Erneuerungen häufig auf der Strasse erschallt. Und dass es nicht die Aufgabe der Polizei sein kann, das Recht des Menschen, seine Meinung auch im öffentlichen Raum kundzutun, zu unterbinden. Zumindest nicht, solange es friedlich bleibt.

Immer und immer wieder stellte Willy Schaffner im Korps die Frage nach der Verhältnismässigkeit. Dies oft nicht zur Freude derjenigen, die den Buchstaben des Gesetzes eng auslegen. Als ehemaliger Polizeivorsteher der Stadt Zürich bin ich der Meinung, dass man diese Diskussion nicht oft genug führen kann. Aber darf ein Polizist die Strategie und die Methoden der eigenen Einheit hinterfragen? Willy Schaffner hat es getan! Und das, wie ich finde, völlig zu Recht. Denn eine Verwaltungsabteilung, ob hierarchisch organisiert oder nicht, kann letztlich nur funktionieren, wenn sie die eigenen Vorgehensweisen kontinuierlich reflektiert.

Willy Schaffner ist einen weiten Weg gegangen. Vom jungen Polizisten, der im Auftrag des Systems das Vertrauen von Menschen missbrauchte, bis hin zum inzwischen pensionierten Vermittler zwischen Ordnungsmacht und Opponenten. Trotzdem – für die einen bleibt er wohl für immer ein Spitzel. Die anderen aber anerkennen, dass er aktiv dazu beigetragen hat, dass die Polizeiarbeit heute anders aussieht als in den Achtzigern und die Frage der Verhältnismässigkeit häufiger gestellt wird. Für mich ist Willy Schaffner ein Symbol für den Wandel geworden, den das Korps in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat.

Das nun vorliegende Buch schildert aber nicht nur die zahlreichen Etappen und Facetten in dieser Entwicklung, der Autorin Tanja Polli ist es gelungen, ein Zeitdokument zu schaffen. Ein absolut lesenswertes. Für diejenigen, die damals nicht dabei waren, beschreibt es ein spannendes und vielschichtiges Kapitel unserer Stadt. Für Zeitzeugen birgt es eine Chance, die eigene Rolle und Erinnerung zu spiegeln. Und für alle, die sich mit der Geschichte der Stadt Zürich beschäftigen, ist es schlicht ein Muss.

Daniel Leupi, Zürcher Stadtrat
Im August 2016

Daniel Leupi war von 2010 bis 2013 Polizeivorsteher der Stadt Zürich und amtet seither als Finanzvorsteher.

 

Rückblende

Schaffner hatte die Nase voll. Die vierte Nacht in Folge sass er nach Mitternacht noch im Büro, jeden Tag gab es Strassenkrawalle, eingeschlagene Scheiben, Verkehrsblockaden – und die Radaubrüder kamen fast immer ungeschoren davon. »Die Gegenseite«, wie man die Leute der »Bewegig« in seinen Kreisen nannte, spielte Katz und Maus mit der Polizei, und die ganze Welt schaute zu. Seit dem Opernhauskrawall Ende Mai 1980 war das Chaos grösser und grösser geworden – und die Nächte des Polizisten kürzer. Jetzt war Ende November, ein Ende der Krawalle nicht in Sicht.

Schaffner warf einen Blick aus dem Fenster. Eine Strassenlaterne schickte ein fahles Licht ins karge Büro im Kriminalkommissariat III, dem KK III, an der Stampfenbachstrasse in Zürich, auf dem grauen Linoleumboden zeichneten sich schwach orange Lichtstreifen ab. Schaffner horchte auf, als in der Ferne eine Kirchenuhr zwei Uhr schlug. Dann war es wieder mucksmäuschenstill. Der junge Polizist spannte einen Rapportbogen in seine Hermes-Schreibmaschine ein, nahm einen Schluck Kaffee aus der grossen Henkeltasse ohne Henkel und hämmerte Notizen und Namen auf den Bogen mit mehreren Durchschlägen. Immer wieder drehte er seinen langen, massigen Oberkörper um, schaute hinter sich. Natürlich war ihm niemand gefolgt. Wie denn auch? Das mehrstöckige Gebäude des Stadtzürcher Geheimdienstes war bestens elektronisch gesichert. Benutzte er seine beiden Schlüssel nicht in einer vorgegebenen Zeitfolge, wurde Alarm ausgelöst. Da war kein Alarm, das Einzige, was Schaffner hörte, war seine Atmung, das rhythmische Geräusch der Luft, die durch seine Nase ein- und ausströmte. Hätte er genauer hingehört, hätte er auch sein Herz schlagen hören. Es schlug schneller als früher: Die Angst davor, dass die jungen Leute da draussen, diese »Szenisten«, rauskriegen könnten, dass er Polizist war, ein Spitzel, verschwand nicht einfach, wenn er, wie jetzt, mutterseelenallein in einem Büro sass. Sie war ständig da.

Fast täglich mischte sich Schaffner inzwischen unter die »Bewegten«, tat, als sei er einer von ihnen, stand als Polizist Kollegen in Vollmontur gegenüber. »Reizwäsche« nannten die Aktivisten die Kampfmontur. Nachts kehrte er hierher zurück, um die Namen jener Aktivisten zu notieren, die er identifizieren konnte. Es wurden immer mehr: Fischer Steff, Strehle Res, Scherr Niklaus … Heute war er früher dran als üblich, denn heute hatten die Chaoten nach der Vollversammlung im Volkshaus auf ein »Umzügli« durch die Stadt verzichtet, es war wohl auch ihnen zu kalt, zu ungemütlich. Willy Schaffner oder Willi Schaller, wie er sich in der Szene nannte, war nach der Versammlung noch mit ein paar Leuten ins »Krokodil« weitergezogen. Er hatte ein Bier getrunken und auf den richtigen Moment gewartet, um unauffällig verschwinden zu können. Der Weg hierhin, ins »Pentagon«, wie er die Zentrale des Zürcher Geheimdienstes nannte, war jedes Mal ein Spiessrutenlauf. Niemand durfte ihn sehen. An Abenden, an denen ihm der Weg zu heikel schien, gab er seine Infos telefonisch durch, aus einer Telefonkabine in einem anderen Stadtkreis.

Jetzt war er müde, einfach nur müde, und er fröstelte. Freie Abende waren für ihn inzwischen die Ausnahme: Erst gerade hatten die Chaoten nach einer Versammlung im Jugendhaus Drahtschmidli den ganzen Trambetrieb lahmgelegt, und nur wenige Tage war es her, dass man am Ferienhaus von Stadträtin Emilie Lieberherr einen Brandsatz gefunden hatte. Wie konnte er da zu Hause bleiben? Im KK III war die Hölle los. Schaffners Chef Heinz Niederer, der Leiter des KK III, forderte von seinen Untergebenen Namen: »Wir brauchen die Namen dieser Chaoten.«

Schaffner wusste inzwischen, dass der Brandsatz an Lieberherrs Haus genau so ausgesehen hatte wie jene, die zuvor bei Anschlägen auf Autos von Bezirksanwälten eingesetzt worden waren, aber von den Tätern wusste Schaffner rein gar nichts. Einige seiner Kollegen waren sich absolut sicher, dass diese Aktionen keine Spontanproteste unzufriedener Jugendlicher waren, sondern von langer Hand geplante Angriffe auf den Rechtsstaat Schweiz, auf das Bürgertum, den Wohlstand. »Man muss die Rädelsführer kriegen«, sagten sie, »nicht nur diese naiven Mitläufer auf der Strasse, aufgewiegelt und ferngesteuert von Moskau.« Sogar sein oberster Chef, Polizeivorstand Hans Frick, hatte kürzlich verlauten lassen, man müsse davon ausgehen, dass der libysche Diktator Gaddafi die Aufständischen in Zürich finanziell unterstütze. Wie sollte die Stadtzürcher Polizei dagegen vorgehen? Was konnte er, Schaffner, ein einfacher Beamter, da schon ausrichten?

Natürlich hatte er versucht, herauszukriegen, wer die Anschläge geplant hatte. Immer wieder hatte er im Gespräch mit Bewegten beiläufig die Frage nach der Urheberschaft gestellt. Rausgekriegt hatte er nichts, aber auch gar nichts. Dachten seine Vorgesetzten vielleicht, die Namen der Rädelsführer würden am Beizentisch verhandelt? So viel hatte er in den wenigen Wochen, die er bis jetzt als Insider unterwegs war, bereits gelernt: Mit Namen war man in der Szene vorsichtig, übervorsichtig.

Schaffner trank den letzten Schluck seines bereits kalten Kaffees und zog den Rapportbogen aus der Hermes. Das Original legte er auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten, eine Kopie archivierte er in einem der schweren grünen Bundesordner, die in Reih und Glied in seinem Büro standen. Auf dem Heimweg durch die menschenleeren Strassen Zürichs warf er regelmässig einen Blick hinter sich.

 

Heimat

Die Strasse, die in den 221-Seelen-Ort Gurtnellen-Dorf führt, ist kurvig. Wer es eilig hat, läuft Gefahr, in eine Kuhherde zu fahren. Eingebettet in eine steile Bergflanke, steht hier das kleine Holzchalet, in dem Willy Schaffner lebt. Hoch über der A2 verbringt der ehemalige Zürcher Stadtpolizist seinen Lebensabend. Im Winter schafft es die Sonne nur wenige Stunden über die Gipfel, aber heute hat der älteste Urner, wie die Einheimischen hier den Föhn nennen, den Himmel blank gefegt. Schaffner ist ein Berg von einem Mann. Sein Händedruck ist fest, er trägt, obwohl November, nur Jeans und T-Shirt.

»Das hier«, sagt er nach der Begrüssung und macht eine ausschweifende Armbewegung, »das hier ist Heimat. Die Berge nah, die Bergbäche mit den Forellen und der Wald mit den Steinpilzen.« Schaffner bietet an, die Umgebung des Hauses zu zeigen. »Drinnen ist dann die Frau zuständig.«

Direkt vor dem Vorplatz des Holzhäuschens grasen die Alpakas des Nachbarn, sie büxen regelmässig aus und machen sich über den Garten des ehemaligen Polizisten her. Weiter unten im Hang gackern Hühner. Ihr Gackern wird lauter, als wir uns nähern. Die Tiere hätten keine Namen, erklärt mir Schaffner – trotzdem kenne er jedes einzelne und werde auch von ihnen erkannt. Er schnalzt ein paarmal, die Hühner scharren aufgeregt. »Diese Vögel«, sagt er, eine Hand am Maschendrahtzaun, »verfügen über eine soziale Ader und haben einen grossen Freiheitsdrang.«

Ein paar Monate später werde ich genau das über Schaffner sagen, aber noch stehen wir vor dem Hühnergehege, und er erzählt, dass die so friedlich wirkenden Tiere kein Pardon kennen, wenn er statt der üblichen Körner Speckschwarten bringe oder Käserinden. »Meine Kannibalen«, nennt er sie dann, weil sie sich gegenseitig picken, um an die begehrten Leckerbissen zu gelangen.

Manchmal nimmt der grosse Mann eines der Tiere auf den Arm. Vielleicht tut das auch ihm gut, denn die alten Geschichten, die Arbeit als Polizeispitzel und das unrühmliche Ende dieser Tätigkeit, plagen ihn bis heute. Im Keller hortet er fünf Wäschekörbe voll mit Zeitungsausschnitten, Notizen und Tagebucheinträgen. Erinnerungen neben eingemachten Kirschen, Zucchetti und Pilzen. Berge von Papieren, die er jemandem zeigen muss, bevor er sie verbrennen kann, abschliessen, den Rest seines Lebens unbelastet geniessen. Darum hat er mich gefragt, ob ich seine Geschichte niederschreiben würde. Er will sie loswerden, er will, dass man sie versteht – und mit ihr auch ihn.

»Wo fangen wir an?«, fragt Schaffner, als wir wenig später im Chalet am hölzernen Küchentisch mit Eckbank sitzen. Er zieht einen der Stapel Papiere, die er fein säuberlich auf den Tisch gelegt hatte, etwas näher zu sich. Darf er das überhaupt, diese Dokumente zeigen? Darf er erzählen, wie man damals gearbeitet hat? Die Zweifel sind immer spürbar während unserer Gespräche. Er will niemandem zu nahe treten, keinen Fehler mehr begehen. Zögernd beginnt er doch zu erzählen, zuerst stockend, dann flüssig, manchmal ein wenig so, als habe er sich gewisse Geschichten schon länger zurechtgelegt. Bevor er einen Kraftausdruck verwendet, sagt er jeweils »’tschuldigung«.

Zusammen mit Willy Schaffner geht die Reise zurück nach Zürich und ins Jahr 1976. Der junge Urner ist 26 Jahre alt, feiert im Muraltengut in Zürich Wollishofen mit seinen Eltern die Vereidigung zum Polizisten.

Der frischgebackene Polizist wurde als Streifenwagenfahrer im Kreis 2 eingeteilt. Ein ruhiges Quartier, Einbrüche manchmal, Falschparker, Verkehrsunfälle. Die Rapporte mussten auf der Schreibmaschine mit fünf Durchschlägen geschrieben werden. Wenn der junge Polizist Nachtdienst hatte, kochte der Chef im Büro der Wache, und sie assen zusammen Znacht.

In ruhigen Nächten, das lernte er schnell, stoppte man bei der Brauerei Hürlimann. Da stand dann immer schon der eine oder andere Streifenwagen. Kameradschaft pflegen, nannte sich das. Der Polizeifunk lief, im Notfall wäre man bereit gewesen, aber die Notrufe waren selten, und so wurde an den hölzernen Beizentischen der Brauerei so manches diskutiert, was in den Augen eines Polizisten falsch lief im Lande.

Der Innerschweizer liebte sein neues Leben, die Grossstadt, auch wenn er wusste, dass er hier nie ganz heimisch werden würde. Man tickte einfach anders, wenn man von »hinten« kam, im Urner Reusstal aufgewachsen war, eingeklemmt zwischen Bergflanken. Das hatte sich schon in der Polizeischule gezeigt: Vom ersten Tag an, dem 1. April 1975, hielten sie zusammen, die Schwyzer, Nidwaldner, Urner, Luzerner, die der gemeinsame Berufswunsch nach Zürich verschlagen hatte. Wenn der Kasernenchef Strafen aussprach, weil man nach dem Ausgang wieder einmal zu spät zurückgekommen war, traf es nie einen allein.

In einem Keller in der Zürcher Enge lernten die Polizeiaspiranten schiessen, und Polizeikommandant Rolf Bertschi unterrichtete sie in »Ethik in der Polizeiarbeit«, zum Beispiel: »Wohin mit den Händen, wenn man in Uniform unterwegs ist?«, und »Wie grüsst man den Bürger?«.

Schaffner war bereits mehrere Wochen bei der Streifenpolizei, als in einer der langen Nächte mit einem Stopp im Hürlimann-Areal ein Notruf einging: »Schlägerei in einer Bar in Wollishofen«, vermeldete die Einsatzzentrale. »Gönd emal go luege«, sagte der Kollege. Diesen Satz würde der junge Polizist sein ganzes Berufsleben lang hören: »Gönd emal go luege.«

Er trank in Ruhe seinen Kaffee aus. Auch das hatte er schnell begriffen: Wenn es nicht dramatisch klang, dann lohnte es sich, die Zeit für sich arbeiten zu lassen, ruhig und ohne Blaulicht vorzufahren. Wenn man Glück hatte, war der ganze Spuk vorbei, bevor man da war. Als er in dieser Nacht zusammen mit seinem Kollegen in der Bar ankam, war tatsächlich bereits Ruhe eingekehrt: Der vermeintliche Schläger stand an der Bar, hielt sich mit einer Hand am Tresen fest. »Ausweis, bitte«, forderte Schaffner den jungen Mann auf. Dieser machte keine Anstalten, sich auszuweisen. Der Polizist ging einen Schritt auf ihn zu, baute sich vor ihm auf: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir Sie mitnehmen müssen, wenn Sie sich nicht ausweisen«, sagte er schon etwas lauter. Der Mann, kleiner als er, aber äusserst muskulös, verengte seine Augen zu Schlitzen, schaute Schaffner direkt in die Augen und schürzte seine Lippen. Dann spuckte er ihn an. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, die übrigen Gäste unterbrachen ihre Gespräche, blickten das ungleiche Duo an. Auf der dunkelblauen Uniform des Polizisten bildete der Speichel eine schmale Spur, die sich langsam Richtung Boden bewegte.

Beide standen regungslos da. Bevor Schaffner überhaupt reagieren konnte, spuckte der Mann am Tresen ein zweites Mal, diesmal mitten in sein Gesicht. Dann ging alles sehr schnell: Mit der Linken packte Schaffner den Typ an der Schulter, mit der Rechten schlug er zu. »Den Rechtsausleger ausfahren, nannten wir das«, erklärt er mir am Küchentisch in Gurtnellen. Der sichtlich Betrunkene sei eingesackt und zu Boden gestürzt. Schaffners Kollege nickte anerkennend und sagte: »Voll okay, mach dir keine Gedanken.« Dann rief er die Funk- und Notrufzentrale an. Die Kollegen brachten den Spucker im Kastenwagen zum Ausnüchtern auf die Wache. Schaffner machte sich aller Beschwichtigungen zum Trotz Gedanken: »Was, wenn der Typ eine Beschwerde einreicht?«

Es sind wenige Szenen aus seiner Zeit als Streifenpolizist, an die er sich heute noch erinnert: An den ersten Selbstmörder, den er – kaum diplomiert – vom Strick schneiden musste, und an jenen Abend in der Bar. Eine solche Demütigung vor all den Leuten, das stecke man nicht einfach weg, sagt er. Der Mann reichte keine Beschwerde ein. Im Gegenteil: Er entschuldigte sich und brachte später gar eine Schwarzwäldertorte aufs Revier. Schaffner schrieb einen A-Rapport. »A« steht für ad acta.

Es sollte das einzige Mal in seiner Polizeilaufbahn bleiben, dass Schaffner zuschlägt, was nicht heisst, dass er es bereut. Es gibt anderes, das er gern rückgängig machen würde, auch Kleinigkeiten: die Busse an jenen bärtigen Mann zum Beispiel, der 1977 in einem alten, verlotterten VW-Bus ohne Licht durch den Ulmbergtunnel fuhr. Schaffner war im Verkehrsdienst eingeteilt, stand mit einem Kollegen an der dicht befahrenen Strasse. »Zwanzig Franken, bitte«, forderte er den fehlbaren Busfahrer auf. Dieser zog nur die Augenbrauen hoch und sagte: »Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?« Schaffner wusste es nicht. »Auch wenn Sie der Kaiser von China sind, müssen Sie bezahlen«, dachte er sich.

»Ich bin Pfarrer Sieber«, sagte der bärtige Mann. Dem jungen Urner sagte das gar nichts. Er drückte dem Verdutzten einen Einzahlungsschein in die Hand und sagte: »Zwänzg Stutz, auch für Sie«, dann wandte er sich ab.

»Das ärgert mich noch heute«, gesteht Schaffner und wirft dabei einen kurzen Blick auf den Vorplatz des Chalets, wo die grasenden Alpakas des Nachbarn bereits gefährlich nahe an den Geranien auf der Fensterbank stehen. Mit dem Kopf gibt er seiner Frau in der Küche ein Zeichen. Sie verdreht die Augen, sagt: »Dummi Viecher«, schnappt sich einen Besen und geht hinaus, um die Tiere zu verjagen.

Schaffner fährt weiter: »Heute würde ich zu Herrn Sieber sagen: ›Ohne Licht zu fahren, ist gefährlich, auch für Sie, Herr Pfarrer, und Sie wollen doch weiterhin für die Armen da sein können.‹ « Dann würde er ihm eine Zwanzigernote in die Hand drücken – als Spende.

Dass Schaffners jüngerer Bruder damals in Zürich als Obdachloser auf der Strasse lebte, wusste im Korps kaum jemand, und der schneidige Uniformpolizist wusste bei diesem Einsatz nicht, dass in ein paar Jahren ausgerechnet dieser Pfarrer seinen Bruder in den Tod begleiten würde.

 

Ein »leides Kapitel«

Streifenpolizist Schaffner machte seine Sache gut. Die Vorgesetzten schätzten die ruhige, überlegte Art des Innerschweizers und seinen Einsatzwillen. 1975 war er in die Polizei eingetreten, 1977 hatte er den polizeilichen Grenadierkurs in Isone besucht, kurz darauf wurde er aufgeboten: Ein junger Vater hatte sich in seiner Wohnung verschanzt und drohte, seine Familie umzubringen. Als Schaffner und seine Kollegen stürmten, erschoss der Mann Ehefrau und Kleinkind, dann richtete er sich selber. Warum es zu dieser Eskalation kam, weiss Schaffner bis heute nicht, aber die Bilder der toten Familie haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. »Überall Blut«, sagt er, und: »Wir haben bei der Erstürmung etwas zu viel Sprengstoff an der Tür angebracht, sodass die ganze Wohnwand in die Brüche ging.«

1978 wurde Schaffner Schiessleiter im Korps. Privat hatte er in Zürich nach wie vor nicht Fuss gefasst, jedes Wochenende fuhr er heim zu den Eltern ins Urnerland, wohnte in seinem ehemaligen Kinderzimmer und traf sich mit Kollegen zum Jassen.

Nach Feierabend, auf dem Heimweg von Zürich nach Dübendorf, wo er inzwischen eine Wohnung hatte, machte er in Halbzivil – Uniformhose und privatem Blazer – des Öfteren einen Stopp im Café Peter in Gockhausen. Die Wirtin war bald eine der wenigen Vertrauten des Innerschweizers. Sie hatte eine Tochter – Margrith. Die beiden kannten sich nur flüchtig. Margrith war noch nicht lange verheiratet, als sie sich zum ersten Mal mit an den Tisch setzte, an dem der junge Polizist sass. Sie hatte ihr Hochzeitsgeschenk dabei: einen Basset namens Willi. Der perfekte Name für so einen Hund, hatte Margrith sich gedacht, er war eigenwillig, stur und kaum zu erziehen. Nach der ersten Begegnung mit dem in ihren Augen arroganten jungen Mann fühlte sie sich in der Namenswahl für den Hund bestätigt.

Einmal nur, 1978, erlebte Margrith Hobi diesen Schaffner anders. Der sonst so selbstbewusste Mann wirkte fahl, trotz seiner Grösse zerbrechlich. »Mein Vater ist gestorben«, sagte er, als sie ihn fragte, was mit ihm los sei. »Herzinfarkt, mit 56.« Als er es erfahren habe, erzählte er, sei ihm sein eigenes Leben im Zeitraffer vor dem inneren Auge abgelaufen. »Wie ein Film.« Dann schwieg er wieder. Margrith nickte, legte ihm einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter und brachte ihm einen Kaffee.

Der Lebensfilm, den Schaffner am Todestag seines Vaters gesehen hatte, begann mit seiner Geburt am 30. August 1950 im Kantonsspital Aarau. Der Vater war Elektriker, die Mutter Hausfrau. Kurz nach Willys Geburt bewarb sich der Vater als Schichtführer im Kraftwerk der Schweizerischen Bundesbahnen in Amsteg im Kanton Uri.

Er plante den Umzug gegen den Willen seiner jungen Frau, aber es war eine Zeit, in der die Ehemänner entschieden, wo die Familie lebte. Nur eine Handvoll protestantische Familien gab es im Dorf im Urnerland, die Schaffners waren eine davon. Kaum in der Schule, bekam Willy das zu spüren: Während die katholischen Kinder in Zweierkolonne durchs Dorf zur Andacht gingen, mussten die protestantischen Kinder vor dem Schulhaus warten, verschliefen katholische Kinder die Messe, tadelten die Lehrerinnen: »Man könnte meinen, ihr seid Protestanten.« Der Ton, in dem sie das sagten, sprach für sich. Unterrichtet wurden alle Kinder von katholischen Klosterfrauen. »Die waren fixiert auf den Glauben«, sagt Schaffner und fügt dann hastig an: »Aber ich will nicht klagen, sie haben ihre Sache schon recht gemacht.«

Willy war das, was man einen Wildfang nennt. Wenn er störte, musste er vor der ganzen Klasse auf den Boden knien. Wenn er zu laut war, gabs »Tatzen«, und nicht selten wurde gleich die ganze Klasse mit bestraft.

Daheim wollte man davon nichts wissen. Der Vater sass bald im Schulrat, war trotz seiner Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei ein angesehener Mann im Dorf. »Hätte ich mich gegen die Schläge gewehrt, hätte es daheim gleich weitere abgesetzt«, sagt Schaffner und fügt dann scheinbar emotionslos an: »Andere Zeiten, andere Sitten.«

Als der siebenjährige Willy an einem schönen Sommerabend einmal nicht pünktlich um sechs Uhr zum Znacht zu Hause war, holte ihn der Vater mit Teppichklopfer und Gurt vom Dorfplatz. Die ersten Hiebe setzte es bereits vor den Schulkameraden ab.

»Wir wurden dressiert, nicht erzogen«, sagt Schaffner lakonisch, »heute ein No-Go.« Nur der Atem, der hörbar schwerer geht, und die Kiefermuskulatur, die plötzlich sichtbar arbeitet, lassen erahnen, dass ihn diese Erlebnisse mehr geprägt haben, als er erzählen mag. »Ich war ein Einzelgänger«, sagt er dann. Er habe sein eigenes Leben gelebt, schon als Kind, auch mit seinen zwei jüngeren Brüdern habe ihn nicht viel verbunden. Als Willy älter wurde, begann er, seine Grenzen auszuloten: Er kletterte auf die Eisenbahnbrücke in Amsteg, balancierte 52 Meter über dem Talboden auf dünnen Metallbalken, wartete im Tunnel auf den Zug, um im letzten Moment in eine Nische zu springen. Er klammerte sich am Boden der Seilbahn nach Arni fest, um zu schauen, wie lange er sich festhalten konnte. Zehn Meter über Boden rutschte er ab und stürzte in die Tiefe. Ein Heuhaufen rettete sein Leben.

Die sechste Klasse machte der ungestüme Schaffner Willy zweimal, und nach der zweiten Sekundarschule stellte sich die Frage: Was wird aus dem Jugendlichen, den nichts zu interessieren schien? Handwerkliches Geschick fehlte ihm, andere Möglichkeiten gabs nicht im Dorf. Der Vater organisierte ein drittes Sekjahr in Erstfeld. Dort traf Willy endlich auf einen Lehrer, der ihn mochte und seine Fähigkeiten erkannte; eine kaufmännische Lehre wurde zum Thema oder das Gymnasium. Die Eltern horchten auf, aber Schaffner wollte vor allem eines: raus aus der Abhängigkeit vom Elternhaus, frei sein, selbständig. An der Aufnahmeprüfung für das Kollegium Karl Borromäus in Altdorf machte er willentlich so viele Fehler, dass der Rektor später den Vater anrief und fragte, ob der Junior ein psychisches Problem habe.

»Ein leides Kapitel«, sagt Schaffner heute. »Mein Leben hätte eine andere Richtung genommen, hätte ich die Matura gemacht.« Stattdessen absolvierte er als erster männlicher Lehrling im Kaufhaus August Hauser in Erstfeld eine kaufmännische Lehre – Fachrichtung Textil. Was ein Fischgratmuster ist, weiss er bis heute, obwohl es ihn nie wirklich interessiert hat. Geholfen hat ihm seine Gabe, schnell viel auswendig lernen zu können. Dieses Talent wird er später als Spitzel so weit ausbauen, dass er Hunderte Zürcher Aktivisten beim Namen kennt, viele inklusive Geburtsdatum.

Aber noch lebte Schaffner in Amsteg. Nach der Lehre bewarb er sich in der Munitionsfabrik Altdorf, einem der grössten Arbeitgeber im Tal, im Schächenwald. Er arbeitete in der Betriebsbuchhaltung, merkte aber schnell, dass er dort nicht pensioniert werden wollte: Das Repetitive erstickte ihn, um Viertel nach acht Uhr rein, um halb sechs wieder raus, die immer gleiche Arbeit. Erst in der Rekrutenschule ging es ihm wieder besser. »Huufe Lüüt glehrt känne«, sagt er, wenn er daran zurückdenkt, »und die schönsten Flecken der Schweiz.« Nur in der Unteroffiziersschule traf ihn einmal die Härte des Systems. Schaffner war übermüdet eingerückt und auf der Wache eingeschlafen. »Drei Tage scharfer Arrest«, lautete das Verdikt. Eine kleine Zelle, eine Bibel und sonst nichts. »Schon krass. Den ganzen Tag nichts ausser die Essensausgabe«, erinnert er sich, fügt aber sofort an: »Einen psychischen Schaden habe ich nicht davongetragen.«

Monate später, Soldat Schaffner war bereits Furier, beendete ein Teekanister, den seine Küchenmannschaft bei einer Schiessübung im Schächental vergessen hatte, die Militärkarriere des Urners vorzeitig. Das Papier, auf dem stand, dass er die Anforderungen als Vorgesetzter nicht ganz zur Zufriedenheit erfüllt habe, machte Schaffner so wütend, dass er es in kleinste Teile zerriss und diese vor den Augen des Offiziers in die Luft blies.

1973 verliess er die Munitionsfabrik. Mitten in der Rezession. Der Vater las ihm gehörig die Leviten: »Eine sichere Stelle gibt man nicht auf!« Aber dieses Mal setzte sich Willy durch. »Ich war zu stark geworden, die Einschüchterung funktionierte nicht mehr.« Was folgte, bezeichnet er heute als »Hängerjahr«. Er zog nach Luzern, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Einmal landete er im Aussendienst einer Firma, die Bauern Melkfett verkaufte. Als Schaffner realisierte, wie viel Geld die Firma den Bauern für das billige Fett abnahm, kündigte er noch in der Probezeit.

Der Vorschlag eines Freundes, er soll es doch bei der Polizei versuchen, kam genau zur richtigen Zeit. Schaffner bewarb sich gleichzeitig bei der Zuger und der Zürcher Stadtpolizei, in den Bewerbungsunterlagen ein Leumundszeugnis, das der Vater beim befreundeten Dorfpolizisten von Amsteg eingeholt hatte. Zug hätte ihn sofort genommen, Zürich bestellte ihn zu einer zweitägigen Aufnahmeprüfung. Schaffner wählte die Herausforderung und meldete sich zur Prüfung an.

»Aus heutiger Sicht«, flicht er in die Erzählung ein, würde er eine andere Abzweigung nehmen: Entwicklungshelfer im Ausland werden, Wasserpumpen installieren in Uganda oder für das Rote Kreuz nach Asien gehen.

Auf dem Nachhauseweg von diesem Treffen frage ich mich, was aus jenem eigenwilligen und freiheitsliebenden jungen Mann wohl geworden wäre, wenn es ihn ohne konkrete Perspektive Anfang der Achtzigerjahre nach Zürich verschlagen hätte. Ein Bewegter vielleicht?