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Table of Contents

Widmung

Einleitung

Schach als Krieg

Schach als intellektuelle Herausforderung

Schach als Kunst

Warum wir Schach spielen

Literaturverzeichnis

Biografie

Impressum

 

 

 

 

 

Für Max. Für zwei Jahrzehnte voller Unterhaltungen, Anregungen und Freundschaft.

Einleitung

Das Schachspiel ist nicht bloß müßige Unterhaltung. Es hilft uns, für das Leben nützliche Charaktereigenschaften zu entwickeln und zu stärken, sodass sie zu Gewohnheiten werden, die uns nie im Stich lassen. Denn das Leben ist eine Art von Schachspiel.

Benjamin Franklin

 

Sagen Sie, außer dem Spiel beschäftigen Sie sich mit nichts? Sie sind gegen alles stumpf und gleichgültig geworden. Sie haben sich vom frisch pulsierenden Leben losgesagt, sich losgesagt von Ihren eigenen Interessen und von denen der Gesellschaft, von Ihrer Pflicht als Bürger und Mensch, von Ihren Freunden, von dem Streben nach irgendeinem Ziel mit Ausnahme des Gewinnes im Spiel.

Fjodor Dostojewski, Der Spieler

 

Es wundert mich, dass ich Schach erst so spät im Leben entdeckt habe. Ich wusste immer, dass das Spiel existiert und wie sich die Figuren bewegen. Aber Schach war mir dennoch egal. Es war etwas, womit andere Menschen ihre Zeit verbrachten.

Das änderte sich, als ich für meine Arbeit viel zu reisen begann. Taxifahrten, Zugreisen und Flughafen-Lounges wurden zu einem festen Bestandteil meines Lebens und brachten eine Menge toter Zeit mit sich. Zuerst füllte ich sie mit Sudoku, aber das wurde bald langweilig. Also fing ich an, Schach zu spielen. In meinen Spielen gegen den Computer war ich verblüfft von der Leichtigkeit, mit der mein Gegner meine Verteidigung zerlegte. Mein einziger Trost war, dass ich Züge zurücknehmen konnte, um die haarsträubendsten meiner Fehler zu verbessern.

Diese Option verschwand, als ich meine erste Online-Partie gegen einen menschlichen Gegner spielte. Beim ersten Zug spürte ich Schweiß auf meinen Fingerspitzen. Auf der anderen Seite des Bretts war mein Widersacher darauf aus, meinen König zu töten. Ich starrte auf das Labyrinth der geometrischen Muster vor mir. Es war voll versteckter Fallen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich sie entdecken sollte. Gleichzeitig tickte die Uhr. Wenn ich nicht schnell zog, würde ich nach Zeit verlieren. Wenn ich mich aber schnell bewegte, würde ich mich sicher in die unsichtbaren Fallstricke verwickeln, die mein Gegner für mich gelegt hatte. Die Situation war verwirrend und beängstigend.

Zu meiner Überraschung gewann ich das Spiel. Als der Computer das Ergebnis bestätigte, spürte ich Erleichterung. Die Fallen auf dem Brett hatten mich nicht erwischt und die Pläne meines Gegners gegen das Leben meines Königs waren gescheitert.

Meine Euphorie war nur von kurzer Dauer. Schnell verlor ich eine Reihe von Spielen und meine Wertungszahl, die die Stärke eines Schachspielers angibt, brach zusammen. Aber die Intensität des Spiels hatte mich gefesselt. Während ich spielte, verschwand der Rest meines Lebens – meine Sorgen, meine Probleme und mein Identitätsgefühl – aus meinem Blickfeld. Ich schwebte unbeschwert im abstrakten Raum der Angriffslinien, taktischen Tricks und überraschenden Kombinationen.

Wann immer es Schwierigkeiten in meinem Beruf gab, flüchtete ich mich in die logisch-klare Welt des Schachspiels. Während ich Stunden in der halb-meditativen Trance verbrachte, die durch den Kampf der Schachfiguren hervorgerufen wurde, wunderte ich mich über den Eifer, mit dem sich mein Geist an den verwirrenden Mustern abarbeitete, und die Stärke der Emotionen, die das Spiel in mir hervorrief. Das Schachbrett, so stellte ich fest, war ein Ort, an dem mir niemals langweilig wurde.

Meiner Umwelt blieb meine Absorption im Schachuniversum nicht verborgen. Eine Freundin, die für einige Zeit in meinem Gästezimmer wohnte, begriff schnell, dass wenig mit mir anzufangen war, sobald sich meine Aufmerksamkeit auf dem Schachbrett eingenistet hatte. Sie kam abends nach Hause und begann schon an der Tür von ihrem Tag zu erzählen. Verwundert über meine einsilbigen Antworten warf sie einen Blick auf das Sofa, wo ich mit meinem iPhone lag: »Ach so, du spielst Schach«, sagte sie, drehte sich um und verließ das Zimmer. An Konversation, so wusste sie, war hier nicht zu denken.

Die Liste derer, auf die das Schachspiel eine ähnliche Faszination ausübte, ist lang. Napoleon erholte sich von seinen Schlachten, indem er gegen seine Generäle Schach spielte. Er war kein starker Spieler, doch gewann regelmäßig, was für den guten politischen Sinn seiner Generäle spricht. Voltaire spielte oft bis spät in die Nacht, kaffeetrinkend, und war dann am nächsten Morgen schlecht gelaunt. Der englische Monarch Charles I. war so vernarrt in das Spiel, dass er zu seiner Hinrichtung ein Schachbrett mit ans Schafott brachte. Marcel Duchamp unterbrach seine Künstlerkarriere 1918 auf ihrem Höhepunkt, um in Buenos Aires monatelang nur Schach zu spielen. Er schrieb an seine Schwester: »Meine Aufmerksamkeit ist vom Schach völlig absorbiert. Ich spiele Tag und Nacht, und nichts interessiert mich mehr, als den richtigen Zug zu finden.« Er träumte davon, ein Weltklassespieler zu werden, und vertrat Frankreich bei der Schacholympiade 1928, wo er allerdings die meisten seiner Spiele verlor.

Duchamp schrieb ein Buch unter dem Titel L’opposition et cases conjuguées sont réconciliées (auf Deutsch: Opposition und Schwesterfelder) über ein Schachproblem von solcher Obskurität, dass es keinen Spieler wirklich interessierte. Es inspirierte allerdings seinen Freund und Schachpartner Samuel Beckett zu dem Theaterstück Endspiel. Den Großteil seiner Hochzeitsreise verbrachte Duchamp mit dem Studium von Schachproblemen, was seine Frau so erboste, dass sie seine Schachfiguren auf dem Brett festklebte. Die Ehe wurde nach drei Monaten geschieden.

In dem russischen Stummfilm Schachfieber vergisst der Protagonist über ein Schachspiel, das er gegen sich selbst spielt, seine eigene Hochzeit. Als er um Entschuldigung bittend vor seiner Verlobten kniet, wird er durch ein auf dem Boden liegendes schwarz-weiß gemustertes Taschentuch abgelenkt und beginnt sofort das nächste Spiel. Sie verzweifelt: »Ich liebte dich, aber du liebst nur das Schachspiel.« (Später fragt sie: »Ist Liebe vielleicht doch stärker als Schach?« Dies allerdings ist eine Frage, die hier unbeantwortet bleiben muss.)

Auch die Tendenz zum Schach-Eskapismus – der Flucht vor der Unwegsamkeit des Lebens ins Schachspiel – haben vor mir schon andere durchlebt. Während der Belagerung Bagdads im Jahre 813 kam ein Bote in die Gemächer des Kalifen Muhammad al-Amin gelaufen, um ihn zu warnen, sein Halbbruder al-Ma’mun stehe kurz davor, die Verteidigungsmauern der Stadt zu stürmen. Der Kalif war jedoch nicht gewillt, sein Schachspiel gegen den Eunuchen Kauthar zu unterbrechen: »Gedulde dich«, wies er den Boten an: »Mir fehlen nur wenige Züge, um Kauthar schachmatt zu setzen.« Er gewann das Spiel, aber Bagdad fiel und er wurde kurze Zeit später enthauptet.

Einen so hohen Preis habe ich für meine Schach-Obsession nicht bezahlt. Auch blieb mir – zumindest bis jetzt – die Intensität der Schachsucht erspart, die Stefan Zweigs Protagonist in der Schachnovelle durchlebt: »Es war eine Besessenheit, derer ich mich nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte ich an nichts als an Läufer und Bauern und Turm und König und a und b und c und Matt und Rochade, mit meinem ganzen Sein und Fühlen stieß es mich in das karierte Quadrat. Aus der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen Stunden, sondern allmählich auch meinen Schlaf durchdrang. Ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, dass ich sogar im Schlaf unbewusst weitergespielt haben musste.«

Albert Einstein, der gelegentlich eine Partie mit seinem Kollegen Werner Heisenberg versuchte, wusste um die Verführungskraft des Spiels: »Das Schach hält seine Meister in eigenen Banden, sodass die innere Freiheit selbst des Stärksten beeinflusst wird.« Und der deutsch-amerikanische Schachspieler Edward Lasker warnte: »Jeder Mensch, der auch nur einen Funken Abenteuerlust in sich trägt, riskiert, nach einem einzigen Kontakt mit dem Schachspiel süchtig zu werden.«

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an das Schachspiel. Es versucht, seine Verführungskraft zu ergründen und zu vermitteln, sein endloses Drama von Angriffsplänen, Ausweichmanövern, klugen Strategien und überraschenden Taktiken. Wie jede Liebe ist auch diese kompliziert, voller Widersprüche, Missverständnisse und Enttäuschungen. Das macht sie anstrengend, aber auch interessant. Wo immer etwas einen so starken Eindruck auf uns macht, wollen wir verstehen, womit wir es zu tun haben. Was ist dran an diesem Spiel, das seit Jahrhunderten den menschlichen Geist in seinem Bann hält?

Schach als Krieg

Die Freude am Spiel

Schach ist ein Krieg zwischen den weißen und den schwarzen Figuren, der seit über tausend Jahren tobt. In dieser Zeit haben die beiden Armeen Legionen von Bauern, Läufern und Türmen niedergemäht und immer wieder gegenseitig ihre Könige ermordet, nur um dann wieder in derselben Startformation zu landen. Worum geht es in diesem Krieg?

Es geht nicht um Ideologie, denn keine der beiden Parteien hat eine. Es ist auch nicht die Aussicht auf materiellen Gewinn, die die Kämpfenden antreibt, denn es gibt auf dem Schachbrett nichts von Wert zu holen. Auch ist es kein Kampf der Kulturen, denn beide Seiten sind sich völlig gleich in ihren Bräuchen.

Die plausibelste Antwort ist, dass der Kampf getrieben ist von der reinen Freude an der Aktivität. Der Philosoph Friedrich Nietzsche argumentierte, der Wettkampf sei der fundamentale Charakter der Wirklichkeit. Alles Lebendige wolle seine Kraft auslassen und benötige dazu Widerstände, mit denen es sich auseinandersetzen kann: »Jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus.« Der Weltverlauf verfolgt keinen Zweck, sondern ist das übermütig ziellose Spiel lebendiger Kräfte, die allein getrieben sind von der Lust an der eigenen Aktivität.

Das Problem am christlichen Ideal des Paradieses, glaubte Nietzsche, ist die in dieser Idee enthaltene Passivität. Das Paradies ist ein Ort, an dem alle unsere Wünsche erfüllt sind und an dem es deshalb nichts mehr zu tun gibt. Unsere Kräfte erschlaffen, wir kommen um vor Langeweile. Erfüllung finden wir nur, wenn wir tätig sind, wenn unsere Kräfte aufs Höchste gespannt sind. Dazu brauchen wir Aufgaben, die wir lösen, und Gegner, mit denen wir uns messen können.

Das Schachspiel zeigt die Welt, die Nietzsche beschreibt. Die Schachfiguren wollen keinen Frieden. Für sie ist der Krieg keine grausame Unterbrechung des Lebens, sondern das Leben selbst. Während in der wirklichen Welt immer wieder Grenzverletzungen, nationales Ehrgefühl und ermordete Kronprinzen als Kriegsgründe herhalten müssen, kommt das Schachspiel ohne solche Vorwände aus. Der Krieg zwischen den weißen und den schwarzen Steinen dient keinem höheren Zweck als allein der Freude am Kampf.

Jeder, der einmal Schach gespielt hat, kann Nietzsches Beobachtung zum emotionalen Effekt des Gefechts bestätigen. Konfrontiert mit der Armee unseres Gegners beschleunigt sich unser Denken und unsere Aufmerksamkeit schärft sich. Alle unsere Sinne sind gespannt. Die Brillanz des Schachspiels liegt darin, dass es uns erlaubt, diesen Zustand der Gespanntheit zu genießen, ohne die Zerstörung zu ertragen, in die Nietzsches Gewaltfantasien leicht münden können. Schach ist in den Worten von Benjamin Franklin »Krieg ohne Blutvergießen«. Es ist Sublimierung im Sinne der Psychoanalyse: Der aggressive Impuls – die Freude am Kräftemessen – wird durch symbolische Aktivität entladen und dadurch gleichzeitig befriedigt und entschärft. Beim Schachspiel erleben wir die Intensität des Kampfes, während wir unserem Gegner friedlich gegenübersitzen. Wir genießen die Aufregung des Krieges, ohne auf die Vorzüge des Friedens verzichten zu müssen.

Wie andere Kampfsportarten aktiviert das Schachspiel die Gefühlslandschaften, die wir von unseren gewalttätigen Vorfahren geerbt haben: die Lust am Angriff, die Erregung, wenn uns ein vernichtender Schlag gelingt, und das Entsetzen, wenn sich eine vielversprechende Situation in ihr Gegenteil verkehrt.

Die durch das Spiel ausgelöste Aufregung und erhöhte Konzentration erzeugt, was Kognitionswissenschaftler Flow nennen. Der Psychologe Daniel Kahneman beschreibt dies als einen »Zustand müheloser Konzentration, der so tief ist, dass derjenige, der ihn erlebt, sein Zeitgefühl verliert und jeden Gedanken an sich selbst und an seine eigenen Probleme vergisst. Die Freude, die wir in diesem Zustand empfinden, ist so komplett, dass wir sie als optimale Erfahrung bezeichnen können.« Der Flow-Zustand, den wir beim Schachspielen erleben, ist das Gegenteil von Langeweile: Wir sind vollkommen engagiert und werden eins mit der Aktivität, in die wir vertieft sind.

Flow stellt sich ein, egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Natürlich wollen wir gewinnen, aber auf einer tieferen Ebene geht es vor allem darum, uns selbst im Kampf als aktiv zu erleben. Ein Spiel gegen einen deutlich schwächeren Gegner ist für uns kaum von Interesse, obwohl uns ein Sieg hier leichtfällt. Ein solcher Gegner bietet uns wenig Widerstand und deshalb keine Gelegenheit, unsere Fähigkeiten voll zu aktivieren. Es ist die Überfülle an Gespanntheit und Energie, die wir empfinden, wenn wir einem starken Gegner gegenübersitzen, die das Schachspiel so fesselnd macht. Der Sieg ist nur ein Vorwand. Was zählt, ist der Wettkampf selbst.

 

Schach als ewige Wiederkehr des Gleichen