Cover

Brigitte Trümpy-Birkeland

Sternenkind

Wie Till seinen Himmel fand

 

WÖRTERSEH

Über das Buch

»Sternenkind«, das ist die entsetzlich traurige, gleichzeitig aber auch wunderschöne Geschichte des unendlich tapferen, bescheidenen und lebensfrohen Till, der im Alter von sechs Jahren an einem Hirntumor erkrankte. »Sternenkind«, das ist die wahre Geschichte einer Familie, die im Sturm des Lebens schier unterzugehen drohte, sich dann aber für das Leben entschied und dafür, die Menschen in ihrer Umgebung in ihre Welt, die über Jahre hinweg immer stärker ins Wanken geraten war, miteinzubeziehen. Dank der offenen Kommunikation von Tills Eltern wandten sich Nachbarn, Freunde, Verwandte und Bekannte nicht ab, sondern legten ihre Berührungs- und die eigenen Ängste ab und wurden zu treuen, nicht mehr wegzudenkenden Begleitern. »Sternenkind« ist der großartige Beweis dafür, dass man mit Krankheit, Sterben und Tod so umgehen kann, dass im ganzen Leid Lichtblicke entstehen, die einem den Weg durch Trauer, Schmerz und Abschied weisen. »Sternenkind« ist vor allem aber die Geschichte einer Großmutter, die für ihre Tochter leidet und um ihren Enkel trauert; eine Geschichte, die uns aufzeigt, wie man einen Kummer überleben kann, der einem das Herz aus der Brust reißen will. Und wie es möglich ist, diesen zu transformieren, in etwas, das für immer bleibt.

 

Brigitte Trümpy-Birkeland

Brigitte Trümpy-Birkeland, geb. 1950, war eine glückliche Mutter einer Tochter und eines Sohnes und eine zufriedene Großmutter, als die beiden Kinder ihrer Tochter schwer erkrankten. Zuerst Malin, später deren großer Bruder Till. Bei Malin siegte das Leben, bei Till der Tod. Dem Zusammenbruch folgte der Aufbruch. Zu diesem gehörte das Schreiben des Buches »Sternenkind« sowie ihre Idee, anderen Großeltern, die um ihre Enkel trauern, eine Stimme zu geben. Brigitte Trümpy-Birkeland lebt zusammen mit ihrem zweiten Ehemann im Glarnerland. www.sternenkinder-grosseltern.ch

Brigitte Trümpy-Birkelands Tochter Kerstin Birkeland Ackermann, Tills Mama, wurde 2013 von Radio SRF1 zur »Heldin des Alltags« gewählt. Dies für ihre Idee, Familien mit schwer kranken Kindern Profifotografen zu vermitteln. www.herzensbilder.ch

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

Korrektorat: Claudia Bislin und Andrea Leuthold, beide in Zürich

Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen

Foto Cover: Privatarchiv, Till, sechs Monate vor der Krebsdiagnose

Foto Autorenporträt: © Lisa Noser

Layout und Satz: Lucius Keller, Zürich

Herstellerische Betreuung: Andrea Leuthold, Zürich

E-Book ISBN 978-3-03763-550-6

Für Neele und Malin,
als Erinnerung an ihren Sternenbruder

Für Kerstin, Simon und alle Menschen,
die Till so liebend, fürsorglich und achtsam
zu den Sternen begleitet haben

Inhalt

Über das Buch

Vorwort

Kleine Schwester Eh

Nur so wird es gehen

La vita è bella

Hunderttausend Tränen und mehr

Die ungeliebte Perle

Ein Sonnenstrahl im Keller

Luftballons für den Helden

Fingerspitzengefühl

Ein Lämpchen brennt mindestens

Kleiner Pfleger Aaron

Herkulesübungen

Nichts kostbarer als Zeit

Und küsst sie, immer wieder

Eisbären auf weißem Schnee

Ruhig bleiben wie ein Buddha

Auf Papa Molls Spuren

Der Dunkelheit keine Chance geben

Diese aberwitzige kleine Hoffnung

Lindgrün unter Zirbelholz

Träumen im Nachtzug

Hoch den Bayern-Schal!

Flügel wachsen

Der flüsternde Schmetterling

Ein Segelschiff aus bunten Tüchern

Tills Flug

Auch das ein Stück Himmel

Gut Nacht, ihr Goldschätze

Lachen, bis die Sterne wackeln

Nach dem Sturm

Drei Generationen unterwegs

Nachtrag

Dank

Glossar

Vorwort

Brigitte Trümpy-Birkeland erzählt in ihrem Buch »Sternenkind« die berührende Geschichte ihres Enkelsohns Till, der im Alter von sechs Jahren an einem Hirntumor erkrankte. Es ist ein berührendes Buch über ein Lebensthema, das uns alle betrifft, denn wir alle unterliegen der Dualität von Leben und Tod, dem Wechselspiel von Geborenwerden und Sterben. Die Erfahrung des Abschiednehmens ist für uns Menschen ein schmerzvoller Prozess, der – ganz besonders, wenn ein Kind schwer erkrankt und diese Erde viel zu früh wieder verlässt – tief greifende Trauer auslöst.

So vieles, was ich in meiner Arbeit als Psychologin auf der onkologischen Abteilung des Kinderspitals Zürich von all den betroffenen Familien im Verlauf vieler Jahre gelernt habe, finde ich in diesem Buch vereint. Mit den aufmerksamen und weisen Augen einer Großmutter beschreibt Brigitte Trümpy-Birkeland all die Veränderungen, die das Schicksal einer schweren Erkrankung im Kindesalter mit sich bringt. Sie tut dies, ohne die Dinge zu beschönigen, ehrlich und authentisch. Sie erzählt davon, wie die Diagnose den Alltag auf den Kopf stellt und sich dadurch die Prioritäten im Leben schlagartig verschieben. Gleichzeitig beschreibt sie – und das ist das außerordentlich Wertvolle an diesem Buch –, wie es Till und seiner Familie immer wieder gelingt, das Beste aus der schier ausweglosen Situation zu zaubern.

Respektvoll staunend, erzählt die Autorin von der außergewöhnlichen Kraft der Eltern, mit welcher diese Till während seiner Erkrankung immer wieder vor Bedrohlichem schützen. Es gelingt ihnen, trotz eigenen Sorgen um das Leben ihres »kleinen Mannes« beängstigende Situationen in kindgerechte Spiele zu verwandeln. Dieses Buch ist reich an Beispielen, wie aus fast unerträglichen Situationen durch die Gabe des aktiven Gestaltens und durch unkonventionelle Kreativität Angst reduziert, ja manchmal sogar in Humorvolles transformiert werden kann. Welch wertvolleres Geschenk kann es für ein schwer krankes Kind geben?

»Sternenkind« handelt ebenso von einer außergewöhnlichen Geschwisterbeziehung. Rührend sorgen sich Malin und Till umeinander und gehen gemeinsam durch dick und dünn. Trotz – oder vermutlich wegen – eigenen frühen Erfahrungen mit einer schweren Erkrankung besticht Malin als äußerst feinfühliges Mädchen mit tausend Antennen. Sie zaubert einem beim Lesen ein Lächeln aufs Gesicht, wenn sie traurige Wörter in bunte, hoffnungsvolle verwandelt. Wie herzerfrischend, wenn Sprache Ängste reduzieren hilft.

Durch die liebevolle Unterstützung seiner Familie wird Till in Zeiten tiefer Ängste immer wieder aufgefangen, findet Sicherheit spendenden Trost und wird mit seinen sorgenvollen Gedanken nie alleingelassen. Eingebettet in den Schoß seiner Nächsten, beginnt sich Erstaunliches zu entwickeln. Mittels kindlicher Neugierde und einer tiefgründigen Weisheit, wie sie oft bei schwer erkrankten Kindern anzutreffen ist, eröffnet sich Till ein spiritueller Weg, der in seiner Selbstverständlichkeit tief berührt.

Seit über zwanzig Jahren arbeite ich mit schwer erkrankten Kindern und ihren Familien und begleite das Weinen und das Lachen, das Hoffen und das Bangen betroffener Familien. In dieser Zeit habe ich eines immer wieder erfahren; wenn Krankheiten Hilflosigkeit und Angst auslösen, bietet ein würdevoller und respektvoller Umgang der Verzweiflung die Stirn. Würde ist dann die Kraft, die es ermöglicht, durch Schmerzvolles hindurchzuschreiten, ohne daran zu zerbrechen. Und dort, wo Menschen an ihre Grenzen stoßen und daran nicht verzweifeln, entsteht tiefe Weisheit. Schwer kranke Kinder verfügen über diese und sind uns Erwachsenen oft weit voraus.

»Sternenkind« handelt von Liebe, Würde und Weisheit. Ich empfehle Ihnen wärmstens, es zu lesen.

Danke, liebe Brigitte, dass du die Geschichte von Till und seiner Familie mit uns teilst.

Rosanna Abbruzzese Monteagudo
Zürich, im März 2014

Rosanna Abbruzzese Monteagudo ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP an der Universitäts-Kinderklinik in Zürich.

Kleine Schwester Eh

Am 19. Dezember 1999 geht eine Sternschnuppe über unserem Glärnisch nieder und verzaubert den ganz gewöhnlichen Adventstag in einen der schönsten Tage unseres Lebens: Unsere Tochter Kerstin und ihr Mann Simon sind Eltern geworden. Till Noah, unser erstes Enkelkind ist da. Wir laden unseren Sohn Nils mit seiner Freundin Marielle ins Auto und machen uns sofort auf den Weg ins Spital, weil wir es kaum erwarten können, das neue Menschlein in die Arme nehmen zu dürfen. So sehr haben wir uns auf Till gefreut. Als wir ankommen, herrscht noch immer Aufregung, weil seine Kopfgröße etwas außerhalb der Norm ist. Ein Ultraschall zeigt jedoch, dass die Besorgnis unbegründet und alles in Ordnung ist. Da liegt er nun in seinem Bettchen, so zart und wunderschön, schaut uns mit großen Augen an. Innert Sekunden hat er unsere Herzen erobert, und schwups ist klar, dass wir jeden Weg mit ihm gehen werden.

Glücklich machen wir uns wieder auf den Heimweg. Heiri und ich sind jetzt stolze Großeltern und fühlen uns großartig in unserer neuen Rolle als »Meme und Pepe«. Diese Namen haben wir gewählt, weil sie so schön klingen und mich an meine Wurzeln in der französischsprachigen Westschweiz erinnern. Wieder zu Hause in unserem gelben Haus in Netstal, lassen wir die Korken knallen und feiern dieses neue Menschlein.

Schon bald kommt uns Till mit seiner Mama zum ersten Mal besuchen. Heiri holt die beiden mit dem Auto in Zürich ab. An diesem Tag tobt der Sturm Lothar durchs Land, fällt wutentbrannt Bäume, als wären sie Streichhölzer. Ich schaue besorgt zu den Wäldern hoch, die sich in unserem engen Tal an den Berghängen zu lichten beginnen, und das Wort Weltuntergang geht mir durch den Kopf. Ich bin froh, als die drei sicher bei uns ankommen. Der erste Sturm in Tills Leben ist bezwungen. Kerstin kommt von nun an jede Woche für zwei Tage zu uns, weil sie möchte, dass Till in der Großfamilie aufwächst. Meine Mutter wohnt im Hausteil neben uns, und alle zusammen genießen wir dieses Glück wie kein anderes. Der Kleine, von meiner welschen Maman liebevollst »petit monsieur«, kleiner Mann, genannt, fühlt sich schnell zu Hause bei uns und wandert vom einen Arm in den andern. Für uns Großeltern ist es selbstverständlich, dass wir Raum schaffen für ihn in unseren Lebensplänen und Agenden. Was gibt es Bereichernderes, als so ein Menschlein zu begleiten? Till kommt auch an Wochenenden und wenn Mama und Papa mal verreisen möchten. Er liebt uns genauso innig wie wir ihn.

Als er fast zwei Jahre alt ist, bekommt er eine kleine Schwester. Sie heißt Malin Naja. Ihr zweiter Name bedeutet »kleine Schwester« in der Sprache der Inuit. Er braucht Zeit, um sich wirklich darüber freuen zu können, nennt sie nur »Eh«. Aber bald wird er, der sanfte, gutmütige, filigrane Till, zu einem wunderbaren Bruder. Doch dann wird sein Schwesterchen krank, noch nicht einmal ein Jahr ist Malin da alt. Ein Arzt hatte sie geimpft, weil in der Toskana, wo wir alle zur Hochzeit meiner Nichte eingeladen sind, eine Masernepidemie umgeht. Kaum in Grosseto angekommen, bekommt Malin hohes Fieber. Sie schreit vor Schmerzen, fast ohne Unterlass. Als Kerstin mit ihr zum Arzt geht, sagt er, das Kind sei nicht mehr transportfähig, müsse umgehend ins nächste Spital. Heiri und ich sind noch auf Elba, als unser Sohn Nils anruft und mich bittet, sofort zu kommen. Weinend und voller Angst nehme ich die nächste Fähre zum Festland, wo er mich abholt und direkt in das Spital bringt. Malin schreit und wälzt sich hin und her. Wir kommen nicht zurecht in diesem Krankenhaus, dessen Betrieb und Regeln uns unbekannt sind. Unser Italienisch ist schlecht, das Pflegepersonal vielleicht auch deswegen unfreundlich und barsch. Statt uns zu erklären, wie alles funktioniert, gibt man sich abweisend und teilnahmslos gegenüber uns Ausländern. Da ist es plötzlich weg, dieses Bella Italia aus den Hochglanzprospekten, mit den lachenden, fröhlichen Menschen. Ein anderes Italien zeigt uns sein Gesicht, macht uns bestürzt und fassungslos.

Die Ärzte vermuten eine Blasenentzündung. Malin schreit weiter, und nichts kann sie beruhigen. Wir sind außer uns vor Sorge. Die Pflegenden schimpfen, weil der Alarm am Infusionsständer ständig losgeht, und verlangen, jemand von uns müsse sich ins Kinderbett legen, um die Kleine nach unten zu drücken und ruhig zu halten. Ein Albtraum. Simon und Kerstin schalten die Schweizer Rettungsflugwacht Rega ein, die sich umgehend mit dem Spital in Verbindung setzt. Das italienische Personal wird noch unfreundlicher, und wir bekommen Panik. Malin beißt sich die Zunge und die Fäustchen wund. Und wir stehen hilflos daneben, zunehmend wütend.

Dann kündigt sich endlich dieses erlösende Flugzeug mit dem weißen und dem roten Kreuz an, das die kleine Patientin auf dem Militärflugplatz bei Grosseto aufnehmen will. Nie zuvor hat es sich so großartig angefühlt, Schweizer zu sein. Das Spitalpersonal hängt Malin einfach von allen Infusionen ab und drückt sie dem Papa in die Arme. Keine Ambulanz bringt das schwer kranke, schreiende Kind zum Flugplatz, Simon und Kerstin müssen das ganz allein schaffen. Und Wegweiser gibt es auch keine. Als sie den Flugplatz endlich finden, erklärt der Militärposten, dass nun Mittagspause und das Gelände geschlossen sei. In der Gluthitze dieses Sommertags muss die verzweifelte Familie vor dem Tor auf das Eintreffen der Maschine warten. Erst die Rega-Mannschaft schafft es dann, die Menschen auf Trab zu bringen und ihnen klarzumachen, dass es hier um Leben und Tod geht. Im Flugzeug hört Malin zum ersten Mal auf zu schreien, so als würde sie spüren, dass sie jetzt in Sicherheit ist, zusammen mit ihrer unendlich erleichterten Mama und diesen liebevollen Rettern an Bord. Simon folgt den beiden mit dem Auto.

Till bleibt bei uns in der Toskana, aber unsere heile Welt hat plötzlich Risse bekommen. Trotzdem sind wir erst mal einfach erleichtert und dankbar, Malin nun im Kinderspital Zürich zu wissen. Diese Tage im Süden sind uns unvergesslich, leicht und schwer zugleich. Till ist so glücklich und zufrieden, fröhlich vor sich hinplappernd, spielt er mit seinen Plastiktieren. Er genießt die langen Sommerabende mit all den großen und kleinen Hochzeitsgästen inmitten dieser zauberhaften Bilderbuchlandschaft.

Malin schreit auch in Zürich weiter, aber die Rahmenbedingungen sind jetzt besser. Jeden Tag werden neue Untersuchungen und Abklärungen gemacht. Es dauert zwei Monate und benötigt viele Recherchen auch vonseiten Kerstins, bis die Ärzte zu dem Schluss kommen, Malin müsse, als Reaktion auf die Masernimpfung, eine Gehirnentzündung haben. Eine Therapie gibt es dafür nicht, die Schulmedizin ist am Ende. Wir können es nicht fassen, müssen Malin, angeblich austherapiert, mit nach Hause nehmen.

Aus einem blühenden Kind ist ein empfindliches Pflänzchen geworden. Malin liegt nur noch da, isst und trinkt fast nichts mehr, und jede Berührung scheint für sie eine Qual zu sein. Die Schmerzmittel schlagen kaum an. Immerhin erreicht Kerstin mit viel Hartnäckigkeit, dass der Fall offiziell als Impfschaden anerkannt wird. Die Entschädigung vom Kanton Zürich wird einen finanziellen Spielraum schaffen. Als wir das Spital verlassen, sagt uns eine Ärztin, dass die Behandlung von Impffolgen in der klassischen Homöopathie ein wichtiges Thema sei, und so holt Kerstin die kompetente Indrani Meier an Bord. Sie ist Homöopathin und übernimmt von nun an die Verantwortung für das Kind, dem die Schulmediziner nicht mehr helfen können. Sie sagt, sie habe schon geahnt, woran Malin leide, als sie sie durchs Telefon schreien gehört habe. Auf diese Art schrien nur Kinder mit Entzündungen im Gehirn. Sie ist es nun, die das durch die Impfung gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen versucht und die uns die Hoffnung gibt, dass alles wieder gut werden könnte. Daran halten wir uns fest.

Auf einem langen, unbeschreiblich beschwerlichen Weg kämpft sich Malin in ihr Kinderleben zurück. Sie ist traumatisiert vom Erlebten, ihr Urvertrauen in die Welt ist zerbrochen. Seelisch schwer verletzt, hat sie panische Angst vor Menschen. Längst musste Kerstin ihren Plan, wieder als Primarlehrerin zu arbeiten, fallen lassen. Malins Betreuung füllt die Tage und die Nächte. Ich unterstütze die junge Familie, wo ich kann, übernehme in ihrer Wohnung in Zürich immer wieder Nächte mit Malin, die sich oft nur beruhigt, wenn wir sie im Schüttstein in kaltes Wasser setzen. Es ist, als könne nur die Kühle des Wassers ihren inneren Brand löschen. Aber zunehmend stark und mutig, erobert sich dieses zarte kleine Menschlein im Zeitlupentempo einen Teil seiner verlorenen rosa Kinderwelt zurück. Irgendwann bekommt Malin einen schweren Ausschlag am ganzen Körper. Wir geraten in Panik, doch die Homöopathin wertet das als Zeichen, dass die Behandlung anschlägt. Sie ist nun fest überzeugt, dass von der Gehirnentzündung keine schweren Schäden zurückbleiben werden.

Im April 2003, nach neun Monaten voller Sorgen und Nachtwachen, aber auch der Hoffnung, wagen Heiri und ich es, mit den beiden Kindern ins Tirol zu fahren, damit Mama und Papa sich erholen können. Malin schreit von Zürich bis ins Pitztal. Nur in den Tunnels des Arlberggebiets hört sie damit auf. Das bleibt uns unvergessen. Im Kinderhotel fühlt sie sich schnell zu Hause, aber verlassen dürfen wir das Hotelareal nicht. Sobald wir mit ihr ins Dorf wollen, fängt sie verzweifelt an zu schreien. So bleiben wir eine Woche lang nur dort, wo sie sich geborgen fühlt. Im großen, hellen Spielzimmer und auf dem lustigen Spielplatz mit den jungen fröhlichen Kinderfrauen findet sie Ruhe und Sicherheit, traut sie sich mehr und mehr zu. Ihre kleinen Fortschritte sind unser ganzes Glück. Was für ein Meilenstein, als sie erstmals ein Pomme frite ins Ketchup tünkelt und genüsslich daran lutscht. Malin ist gerettet. Am letzten Ferientag zieht sich unsere Zweijährige erstmals an einem kleinen Tisch wieder in die Höhe und steht strahlend vor uns. Ich schaue ihr zu mit Tränen in den Augen. So sieht es aus, das Glück im Unglück.

Till macht brav, unkompliziert und fröhlich alles mit, was seinen Alltag so sehr verändert und prägt. Immer passt er sich an und entdeckt seine eigenen kleinen bunten Welten. Ganz stolz gewinnt er das Bobbycar-Rennen und den Malwettbewerb. Er ist so friedlich und bescheiden, dass es mir manchmal das Herz zuschnürt. Ich wünsche ihm so sehr ein großes Leben voller Zuversicht und Glück. Alles ist gut im Pitztal. Zum Abschied besuchen wir noch das hübsche Dorfkirchlein mit dem Schindeldach, und während die kleine Glocke den Mittag einläutet, lassen wir Till zwei Kerzen anzünden. In grenzenloser Dankbarkeit für dieses geschenkte zweite Leben rennen wir mit Malin fest im Arm und Till an der Hand ausgelassen durch den letzten Schnee, dem Frühling entgegen. Auf der Heimreise sagt Till: »Meme, ich wett nächschts Jahr wider uf Ööschtriich und hundert Jahr im Chinderhotel bliibe.«*

* Die schweizerdeutschen Sätze finden Sie im Glossar, ab Seite 187, ins Deutsche übersetzt.

Nur so wird es gehen

24. Dezember 2006. Es ist Weihnachten. Wie immer ist Kerstin schon früh gekommen mit ihren Liebsten. Alle sind sie wieder da, im gelben Haus bei Meme und Pepe im glarnerischen Netstal. Ich bin an diesem Tag einfach außergewöhnlich glücklich und mir so sicher, dass alles jetzt gut ist, wirklich alles. Malin hat ihre schwere Krankheit beinahe vollständig überstanden. Sie isst wieder, lacht und läuft, nimmt, so lange in sich eingeschlossen, wieder Kontakt zu den Mitmenschen auf. Ein wahres Wunder. Psychisch ist sie noch etwas instabil, aber ihre motorischen Schwierigkeiten sind so gering, dass sie uns keine Angst mehr machen. Wir spüren, wie die Schwerelosigkeit in unseren Alltag zurückkehrt. Wir können wieder vorwärtsschauen. Das Leben hat wieder Farbe bekommen und neuen Glanz, das zurückgekehrte Licht flutet unsere Herzen. Ich schicke meinen Freundinnen eine SMS, dass dieses das schönste Weihnachtsfest meines Lebens sei. Und so fühle ich mich auch. Das ganze Haus riecht nach Weihnachten. Der stolze Tannenbaum, den Heiri ausgesucht hat, hängt voller Engel und der Himmel voller Geigen.

Wie jedes Jahr besuche ich gegen Abend noch das Grab meiner Mutter, die inzwischen verstorben ist, das meines Vaters und meiner welschen Grandmaman. Der siebenjährige Till begleitet mich auf seinem Plastiktraktor, und ich staune, wie rasant er ihn den steilen, verschneiten Weg zum Friedhof hochfährt. Während ich die Kerzen anzünde, schaut er sich in der Nähe die Kindergräber an und rechnet aus, wie alt sie wurden. »Heute sterben fast keine Kinder mehr in diesem Land«, sage ich ihm mit sicherer Stimme und nehme ihn an seiner kleinen, warmen Hand. Und nichts ist in diesem Moment weiter weg für mich als ein Kindertod. Danach feiern wir wie immer im Kreis unserer großen Sippe ein liebevolles, fröhliches Weihnachtsfest, getragen von einer Dankbarkeit wie keiner zuvor. Und weich fällt der Schnee.

Am nächsten Tag fahren wir zu Kerstins und Simons eigenem und ganz besonderem Weihnachtsfest. Es findet zum ersten Mal in ihrem neuen Haus in Dielsdorf statt. Brennende Kerzen im Schnee säumen den Weg zu dem schönen blauen Gebäude mit den einladend lichten Räumen und der riesigen Fensterfront hin zu den Rebbergen. Weihnachtsfreude auch an diesem 25. Aber Till hat am Morgen erbrochen, wie schon ein paarmal in letzter Zeit. Kerstin, die nach Malins Krankheit schnell beunruhigt ist, sucht im Internet. Erbrechen auf nüchternen Magen könne die Folge eines Hirntumors sein, liest sie dort. »Mami, er könnte einen Hirntumor haben«, sagt sie ernst, als wir ankommen. Ich höre diesen Satz zwar, aber ich will ihn weder verstehen noch fassen. Und ich versuche mit aller Kraft, aufrecht zu bleiben auf diesem doch noch so brüchigen Boden, der bereits wieder zu beben beginnt. Alles in mir schreit: Nein, unmöglich, nicht schon wieder, und nicht schon wieder wir. Wir feiern dieses Fest mit den Kindern und den Freunden, aber von nun an liegt über allem wie ein schwarzer Schleier aus Pech dieser entsetzliche Verdacht. Er klebt an jeder Faser meines Seins und lässt mich keine Sekunde mehr zur Ruhe kommen.

Das ist er, der Vorbote des Einschnitts, der uns trennen wird von unserer bisherigen Welt. Der Tag, an dem Wichtiges zerrinnt zur Nichtigkeit und eben erst zaghaft zurückgekehrtes Urvertrauen in tausend Scherben zerbricht. Kerstin und Simon gehen am nächsten Tag mit dem fröhlichen Till zum Kinderarzt. Sie wollen und können nicht länger warten. Da ist diese kleine, innigste Hoffnung, dass sich eine andere Ursache fände. Es könnte doch einfach ein harmloser Virus sein. Ich fahre derweil mit Heiri auf die Sonnenterrasse Braunwald. Ein wunderschöner Wintertag mit Himmelblau über und Kristallglitzerschnee unter uns. Heile Welt um uns, und in uns nichts als Angst.

Schweigend laufen wir Hand in Hand den Höhenweg hinauf, und es fühlt sich an, als wären wir erstarrt. Als das Telefon klingelt und ich es aus der Tasche ziehe, zittert meine Hand. Ich höre Kerstins Stimme, die mir sagt, dass sie vom Kinderarzt schon unterwegs ins Kinderspital seien, um abzuklären, ob Till einen Tumor habe. Noch immer höre ich, ohne zu verstehen. Das ist zu viel, zu brutal, zu unerträglich, um verstanden zu werden. Sofort muss ich zu ihnen, sage ich Heiri und renne bereits talwärts, verliere meine Handschuhe, meinen schönen schwarzen Schal aus dem Bregenzerwald, wo wir gerade noch mit meinem Bruder und seiner Frau ein so gutes Wochenende verbracht haben. Alles zittert und bebt, während ich durch den Tränenschleier hindurch zur Bergstation finde.

Ich nehme den Zug nach Dielsdorf, übernehme Malinchen im blauen Haus, wo bald auch Heiri ankommt. Wie Zombies warten wir und wollen verzweifelt daran glauben, dass es eine andere, bessere Diagnose geben könnte. Nach Stunden schreibt Kerstin: »Gerade kam ein Arzt und fragte, weshalb wir überhaupt da seien. Wir nehmen das als gutes Zeichen und hoffen, bald zu Hause zu sein, um den Pizzakurier zu bestellen.« Für die Dauer eines zerplatzenden Traumes wagen wir aufzuatmen. Irgendwann dann fliegt dieses erbarmungslose »Till hat einen Hirntumor. Er muss als Notfall im Kinderspital bleiben« auf unser Handydisplay. In dieser Sekunde bricht alles unter uns weg. Atemlos und ohne Haltegriff fallen wir ins Bodenlose. Ab sofort wird es ein Vorher, ein Nachher und kein Dazwischen mehr geben. Ich will und kann nicht nach Hause zurück, denn dort steht noch immer dieser Weihnachtsbaum. Da ist nichts mehr, was mir Halt geben könnte. Ich falle nur noch. Irgendwann steige ich dann doch ein ins Auto, weinend. Und weine auch noch, als ich zu Hause die vielen scheinheiligen Engel vom Baum nehme. Da ist diese Wut, dass sie uns betrogen und nicht beschützt haben. Und in dem Moment kann ich gar nicht anders, als sie allesamt in den Mülleimer zu schmeißen.

Die Magnetresonanztomografie, MRT, bei der Tills Kopf durchleuchtet wird, dauert viel länger als geplant. Endlich aber ist die Untersuchung zu Ende. Eine Ewigkeit musste Till in dieser lauten Maschine liegen. Ohne Narkose und unendlich tapfer hat er diesen Marathon hinter sich gebracht. Die Bilder sind erschütternd. Er hat einen großen Tumor im Kleinhirn mit Metastasen im Hirnstamm und auf der ganzen Wirbelsäule. Die Diagnose lautet Medulloblastom in fortgeschrittenem Stadium. Medulloblastom, ein bösartiges Wort, das Panik auslöst. Die Rückfallquote ist hoch, auch wenn der Tumor entfernt und die Metastasen bekämpft werden können. Wir sind verzweifelt, und für diese Not gibt es keine Worte. Der Tumor muss so schnell wie möglich entfernt werden. Tills Zustand verschlechtert sich rasch. Simon macht Druck, sodass der Operationstermin im Unispital auf den 1. Januar 2007 gelegt wird.

Ich übernehme eine Nacht im Kinderspital an Tills Seite, auf dem Klappbett. Nebenan liegt ein Junge, der sich mitten in einer Chemotherapie befindet, dieser Standardbehandlung gegen Krebs, die meistens in Form von Infusionen verabreicht wird. Niemand aus der Familie ist bei ihm, und er klingelt immer wieder. Wenn dann nicht die Pflegerin kommt, die er mag, schimpft er wie ein Rohrspatz. Unser Kleiner, der doch so sanft ist, erschrickt. Und wenn der Junge nebenan einmal schläft, geht sicher der Alarm an einem der Apparate los, an welche dieser zur Überwachung der Organfunktionen angeschlossen ist. Und schon öffnet sich die Tür wieder. Ich bekomme eine schreckliche Ahnung, was uns erwartet, und bin nur noch Angst. Kein Auge kann ich zutun. Ab und zu kommt Tills kleine Hand, und er fragt: »Meme, bisch no daa?« Ich möchte ihn packen und flüchten, einfach raus aus diesem Grauen, an einen sicheren Ort, um diesen Irrsinn dort im Meer zu begraben. Aber jeder Fluchtinstinkt verliert hier seine Existenzberechtigung. Dass ich mich nicht schützend vor Till stellen oder seine Krankheit übernehmen kann, ist mir unerträglich. Wenn schon, wäre doch ich an der Reihe, die Großmutter. Was ist das für ein Wahnsinn, wenn ich vielleicht meinen Enkel überleben muss? Nie zuvor war ich so verzweifelt wie in dieser Nacht.

Wir werden uns an den Pavillon Süd B des Zürcher Kinderspitals gewöhnen müssen und an die Glastür, durch die wir diese Station betreten, vor der die Menschen sich fürchten wie vor dem Teufel. Werden eintreten müssen in die Welt