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Marlise Pfander

HINTER GITTERN

Mein Leben im Männerknast

Geschrieben von Franziska K. Müller

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Über das Buch:

Arbeiterkind, kaufmännische Angestellte, Ehefrau, Mutter und mit 54 Jahren Quereinsteigerin in ein ganz anderes Metier und somit späte Karrierefrau: Marlise Pfander, 1950 in Bern geboren, amtete bis zu ihrer Pensionierung 2013 neun Jahre lang als Direktorin des Regionalgefängnisses Bern (RGB). Damit drang sie gleich doppelt in eine Männerdomäne ein: Zum einen beäugten die übrigen Gefängnisleiter der Schweiz die Ankunft einer weiblichen Kollegin mehr als kritisch. Zum anderen galt das RGB, in das auch ein Ausschaffungsgefängnis integriert ist, als schwieriger »Männerknast«. Die harten Bedingungen in der Untersuchungshaft (das RGB ist kein Vollzugs-, sondern ein Untersuchungsgefängnis) konfrontierten Marlise Pfander mit menschlichen und organisatorischen Problemen, die jahrzehntelang als unlösbar galten. Mit viel Herz und großem Verstand krempelte sie, die bald schon »s Chischte-Mami« genannt wurde, den als »Pulverfass« bezeichneten Betrieb um. Sie entwickelte neue Strategien, schuf damit bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden und optimierte den Alltag der Inhaftierten, die der ungewöhnlichen Chefin bald Vertrauen und Respekt entgegenbrachten. »Hinter Gittern« ist die Biografie einer ungewöhnlichen Frau und gibt dank verschiedenen Portraits von Mitarbeitenden des RGB, aber auch von Schwerverbrechern einen tiefen Einblick in den bisher wenig bekannten Mikrokosmos »Gefängnis«.

»›Hinter Gittern‹ ist die Biografie einer ungewöhnlichen Frau und gibt zusammen mit neun Porträts von Mitarbeitenden des Regionalgefängnisses Bern wie auch von Schwerverbrechern einen tiefen Einblick in den bisher wenig bekannten Mikrokosmos Gefängnis.«

Thomas Freytag, Präsident Freiheitsentzug Schweiz (FES)

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des

© 2014 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Claudia Bislin, Zürich
Korrektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Foto Buchcover: © Urs Baumann / »Berner Zeitung«
Layout und Satz: Lucius Keller, Zürich
Herstellerische Betreuung: Andrea Leuthold, Zürich

Print ISBN 978-3-03763-053-2
E-Book ISBN 978-3-03763-566-7

www.woerterseh.ch

Für meine ehemaligen Mitarbeiter

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein Mörder

Recht und Unrecht

Familienglück

Quereinsteigerin

Joel G.

Im Männerknast

Michèle Beyeler

Geben und nehmen

Eric V.

Hundert verschlossene Türen

Beatrice Willen

Hilfiger und Nike

Hedy Brenner

Kisten-Mami

Silvan Y.

Schokolade und Milchkaffee

Hilal O.

Sternenhimmel

Michel Sunier

Schuld und Sühne

Philippe Pahud

Freiheit

Interview mit Thomas Freytag

»Schlimmer als zehn Peitschenhiebe«

Quellennachweise

Briefe

Über Marlise Pfander

Über Franziska K. Müller

Der Wörterseh Verlag

Vorwort

Ist die Untersuchungshaft zu hart? Veraltet in den Strukturen? Unter dem Strich sogar eine Gefahr für die Gefangenen? Anlass zu diesen Fragen gibt der Tod eines hohen Rega-Mitarbeiters, der sich im Sommer 2014 im Zürcher Polizeigefängnis erhängt hat. Um solche Dramen künftig zu verhindern, wurde die Ausrüstung der Zellen mit Videokameras angeregt sowie an die Bereitschaft der Mitarbeitenden appelliert, sich verstärkt mit jenen Inhaftierten auseinanderzusetzen, die in der Gefangenschaft in eine psychische Krise geraten könnten. Ersteres wurde als Eingriff in die Privatsphäre der Häftlinge kritisiert. Der zweite Vorschlag scheiterte von Anfang an am Umstand, dass viele Untersuchungsgefängnisse heute aus allen Nähten platzen und das Personal kaum mehr die wichtigsten organisatorischen Alltagsaufgaben erfüllen kann. Die drohende Unterversorgung belastet Insassen und Angestellte, ist aber auch aus Sicht der Sicherheit prekär: Im Genfer Untersuchungsgefängnis Champ-Dollon, das für dreihundertfünfzig Insassen konzipiert worden ist, warten 2014 achthundertfünfzig Leute auf ein Urteil oder die Verlegung in den Vollzug. Experten befürchten Clan-Bildungen und eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Im Klartext: Irgendwann könnten die Häftlinge die Herren im Haus sein. Nicht ganz so prekär ist die Lage im Regionalgefängnis Bern (RGB), dennoch betreut dort ein einziger Mitarbeiter rund dreißig Insassen, und die Haftbedingungen in diesem Männerknast samt Ausschaffungsgefängnis gehören zu den schwierigsten im ganzen Land.

Nachdem die heute pensionierte Marlise Pfander vor rund zehn Jahren das Ruder in Bern übernommen hatte, veränderte sich in diesem Gefängnis ohne Videokameras und zusätzliche Finanzen einiges zum Guten. In den Genuss von neu geschaffenen Privilegien – einer offenen Zellentür, der Verrichtung kleiner Arbeiten – kamen jene Insassen, die ein Minimum an Eigenverantwortung an den Tag legten und die Forderungen der Direktorin an das Sozialverhalten umsetzten. Diese Chefin suchte erfolgreich einen anderen Weg: indem sie sich täglich an der Front aufhielt, Hunderte von Gesprächen mit den Gefangenen führte, sich einmischte, Stellung bezog, drohenden Konflikten auf die Spur ging. Das persönliche Engagement machte sich bezahlt. Die Übergriffe auf die Mitarbeitenden reduzierten sich ebenso wie die hohen Fluktuationsraten beim Personal und die Selbstverletzungen und Suizide bei den Insassen.

Bei den Recherchen für das Buch verbrachte ich nicht nur Stunden mit Marlise Pfander, die mich mit ihrer Art immer wieder beeindruckte, sondern besuchte im RGB auch Männer, die seit Monaten und manchmal seit Jahren eingesperrt waren, darunter ein Sexualverbrecher, ein Mörder, ein Drogendealer und ein abgewiesener Asylsuchender, der seit über zwanzig Jahren in sämtlichen Schweizer Gefängnissen ein und aus geht. Diese Untersuchungsgefangenen, die kein Anrecht auf Arbeit, soziale Kontakte und fachliche Hilfe haben und in anderen Untersuchungsgefängnissen rund dreiundzwanzig Stunden pro Tag in den Zellen eingeschlossen sind, empfingen mich müde und ruhig, aufgekratzt und streitlustig. Einer zeigte die Zigaretten, die er rollte, und Bilder, die er malte. Ein anderer sagte, es gehe ihm in der Gefangenschaft besser als in der Freiheit. Der dritte Mann sah im Küchendienst die Chance auf eine bessere Zukunft, der vierte wollte von einer solchen partout nichts wissen. Die Treffen fanden in den einzelnen Zellen statt, zu meiner Sicherheit trug ich einen »Notfallknopf« auf mir, den ich allerdings nie benutzen musste.

Trotz allen Bemühungen von Marlise Pfander bleibt ein Umstand im RGB ebenso wie in vielen anderen Untersuchungsgefängnissen problematisch: Während die Gefangenen nach der Verurteilung und der Verlegung in den Vollzug von vielen Maßnahmen und Möglichkeiten profitieren, darunter kostenintensive deliktorientierte Therapien, ist die immer länger dauernde Untersuchungshaft und die nach dem Urteil andauernde Sicherheitshaft ein Ausnahmezustand, in dem Kaltblütigkeit und Uneinsicht, Lethargie und Defätismus einen eigentlichen Nährboden finden und den Bemühungen einer späteren Resozialisierung im Weg stehen können, wie man heute weiß. Bei der Frage, ob die Untersuchungshaft zu hart sei, vielleicht sogar eine Gefahr für die Gefangenen darstelle, und den angeregten Maßnahmen – mehr Personal, weniger Isolation – geht es nicht in erster Linie um zusätzliche Annehmlichkeiten, auch nicht um die totale Kontrolle der Insassen, sondern um die Vermeidung jener Haftschäden, die den Schutz der Gesellschaft gefährden.

Franziska K. Müller, August 2014

Ein Mörder

Uniformiertes Personal überreicht mir die Insignien meiner neuen Tätigkeit: eine tragbare Alarmanlage, Handschellen, eine Taschenlampe. Wenig später will ich den Betrieb allein erkunden. Obwohl das Regionalgefängnis Bern (RGB) an meinem ersten Arbeitstag über hundert Insassen zählt, sind die Etagen menschenleer und still. Türen, Pforten, Sicherheitsschranken müssen passiert werden. Nun hören die Eingesperrten meine Schritte und schlagen an die Metalltüren. Sie rufen, sie schreien, vielsprachig, und wenn ich an eine der schmalen Luken trete, den Schieber auf Augenhöhe zur Seite bewege, blicken mich die Gefangenen an: erstaunt und erschöpft, wütend und verzweifelt. Hinter Gittern sehnen sie ein Urteil herbei, das lange auf sich warten lassen kann. Und wenn es gefällt worden ist, gibt es in den komfortableren Anstalten des Strafvollzugs vielleicht keinen Platz. Dann bleiben die Insassen weiterhin im Untersuchungsgefängnis, von nun an in Sicherheitshaft, manchmal monatelang, manchmal jahrelang. Sie sind dreiundzwanzig Stunden pro Tag eingesperrt. Ein Recht auf Arbeit, soziale Kontakte und Hilfe gibt es hier nicht, und jene, die in eine Krise geraten, werden in den »Bunker« verlegt, der sich im Untergeschoss des sechsstöckigen Gebäudes befindet: Der Koran und die Bibel liegen in der Isolationshaft bereit sowie Helm und Handschellen für jene, die eine Gefahr für sich selbst oder die Angestellten sind.

Auf meinem ersten Rundgang durch die Korridore schließe ich eine Zelle auf. Die Behausung liegt im Dunkeln. Neun Quadratmeter, links steht die Pritsche, rechts ein Gestell, daneben die Toilette. Der Insasse redet und redet. Er trägt Trainerhosen und Pantoffeln. Er will Aufmerksamkeit und seine Identität zurück: die Nike-Turnschuhe, die Baseball-Mütze, das Eau de Toilette von Armani. Er fragt, ob ich wisse, wer er sei. Müsste ich? Der Mann lässt nicht locker, redet weiter, stellt sich in die offene Zellentür, umkreist mich spielerisch oder vielleicht bedrohlich, mit kleinen Schritten. Der Jüngling will loswerden, was ihn in seinen Augen außergewöhnlich macht: dass er ein Mörder ist. Auf seiner Nase tanzen Sommersprossen. Ein Schneidezahn ist abgebrochen. Sein Lächeln ist überheblich. Den Weg zur Besserung müssen die Gefangenen in der Untersuchungshaft nicht beschreiten. Beschäftigen sie sich mit ihren Taten, tun sie es freiwillig. Die einen wollen sich umbringen. Andere werden stolz. Ich zerknülle den gelben Zettel mit seiner handschriftlichen Forderung – »Ich will ein Gespräch mit der Gefängnisleitung« – in der Hosentasche und lasse die Zellentür wortlos ins Schloss krachen.

Verärgert betrete ich Minuten später mein Büro, das wohnlich eingerichtet ist mit einem alten Teppich und einer Sofagruppe. Auf dem Tisch steht ein Strauß frischer Blumen, daneben liegen hellgraue Visitenkarten; hundertfach sollen sie in den kommenden Jahren in der Außenwelt verteilt werden. Ich zerreiße das lilafarbene Papierband, das den druckfrischen Stapel zusammenhält, und lese »Leiterin/Regionalgefängnis Bern«. Das bin ich. Die Vorsteherin eines Männerknasts samt Ausschaffungsgefängnis. »Die ist bald wieder weg«, hieß es nach meiner Wahl, die für Erstaunen und Ablehnung sorgte. Auf dem Weg zur ersten Versammlung der Arbeitsgruppe Untersuchungsgefängnisse (AGUG) brach mir ein Schuhabsatz ab, ich kam zu spät und musste mich der Herrenrunde erklären. Ich murmelte etwas von »blöde Gehsteige« und »Schuhmacher«. Die Männer musterten die Sandaletten mit den farbigen Riemchen ohne Sympathie. Dann wechselten sie das Thema: Die Taten hätten andere zu beurteilen, die Richter, die Psychiater. In der Untersuchungshaft seien die Delikte unwichtig, und alle Angeschuldigten, egal, ob Schläger oder Dieb, Einbrecher oder Vergewaltiger, müssten gleich behandelt werden.

Mit der Tat des jugendlichen Mörders hatte ich mich bewusst nicht auseinandergesetzt, wollte nichts wissen von einer tragischen Kindheit oder von den Details eines Verbrechens, für die ich ihn hätte hassen können. Doch nun greife ich zu seiner Akte. Wegen einer Kränkung und für ein paar Franken hat er getötet. Die Verachtung der Täter gegenüber ihren Opfern und die Rohheit machen manche Verbrechen unerträglich. Winzige Details lassen den Puls hochschnellen, Unaussprechliches bereitet Herzschmerz und Ekel. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Hundertmal wird man mich in den folgenden neun Jahren fragen, ob ich es auch mit Mördern zu tun habe. Auch die zweite Frage, die mir dann todsicher gestellt wurde – »Redest du mit denen?« –, konnte ich jeweils bejahen, und auf die dritte – »Hast du als Frau keine Angst?« – reagierte ich mit einem Kopfschütteln. Die vierte Frage – wie die Furchtlosigkeit zustande gekommen sei und was sie bewirke – wurde nie gestellt. Ich hätte geantwortet: Die meisten Insassen verlieren ihre Bedrohlichkeit, weil ich mich mit ihnen befasse. Fortan zu wissen, welche Vergehen dem Einzelnen angelastet werden, war der einfachere Teil dieser Auseinandersetzung. Was in den Zeitungen nicht steht und im Fernsehen kein Thema ist, sind die Details des banalen Alltags, die das sogenannte Monster und die Bestie zu einem Menschen machen: dass der Mörder ein Morgenmuffel ist. Seine Joghurtpackung mit dem Zellengenossen teilt. Briefe an seine Eltern schreibt. Den Hund vermisst. Gestrickte Socken trägt. Bücher von Hermann Hesse liest. Aus Kaffeerahmdeckeln filigrane Blüten formt. Bereut oder nicht bereut. Die Freiheit vermisst oder froh ist, die Freiheit nicht länger ertragen zu müssen.

Jene, die mich kritisierten, weil ich mich bald täglich an der Front aufhielt, Hunderte von Gesprächen mit Insassen führte, mich einmischte, Stellung bezog, auf Forderungen und Wünsche einging und pragmatische Lösungen durchsetzte, reduzieren die Gefangenen stets auf ihre Gefährlichkeit und den Betrieb auf seine organisatorischen Aufgaben. In meinen Anfängen wurde das RGB »Bienenhaus« genannt, später, als es mit dreizehntausend Ein- und Austritten pro Jahr aus allen Nähten zu platzen drohte, erhielt es den Übernamen »Pulverfass«. Wie man das Vertrauen von Dieben und Betrügern, Gewaltverbrechern, Wirtschaftskriminellen, Menschen- und Drogenhändlern erlangt und daraus eine wirksame Strategie ableitet, damit der Sprengkörper nicht in die Luft fliegt, wussten meine Gegner nicht. Ein solches Gefängnis ist nicht allein mit Reglementen, Paragrafen, Weisungen und Sanktionen zu führen, und jene Verantwortlichen, die die Gefangenen ignorieren, dies lehrte mich der Jüngling mit den leeren grauen Augen früh, ordnen sich ihnen unter und leugnen ihren Einfluss, kurz, sie verhalten sich so, wie ich niemals sein wollte: schwach und ängstlich.

Recht und Unrecht

Du sollst nicht stehlen, nicht töten, nicht rauben. Ich bin sechsjährig und höre dem Großvater zu. Er arbeitet als Sigrist in einer reformierten Kirche und lebt mit unserer Familie unter einem Dach. Ich stamme aus dem Arbeitermilieu. Der Vater war Maler, die Mutter blieb nach der Heirat ebenfalls voll berufstätig. In den 1950er- und frühen Sechzigerjahren galt dieses Familienmodell weder als fortschrittlich noch als emanzipiert, sondern deutete eher darauf hin, dass ein einziger Verdienst nicht ausreichte, um eine fünfköpfige Familie über die Runden zu bringen. Mutter war bei der Geburt meiner Zwillingsschwestern erst zwanzig Jahre alt, und nur achtzehn Monate später kam ich zur Welt. Die jungen Eltern, fleißig und sparsam, schafften es, dass die Mahlzeiten regelmäßig auf den Tisch gelangten, für mehr reichten die beiden Verdienste nicht aus. Um eine häusliche Gemütlichkeit zu kreieren, fehlte es Mutter an Zeit und Muße. In den wenigen Stunden, die sie zu Hause verbrachte, verarbeitete sie Kartoffeln und Gemüse zu Mahlzeiten, die am Abend und in der kurzen Mittagspause des folgenden Tages verzehrt wurden.

Die Zeitschriften hingegen proklamierten ein bürgerliches Ideal, das ich nicht kannte und somit auch nicht verstand, jedoch bewunderte: Frauen in gebügelten Rüschenschürzen standen vor modernen Haushaltsgeräten. Ein knuspriger Truthahn brutzelte im Ofen. Ein elektrisches Handrührgerät schlug luftige Sahne, die eine kunstvoll geschichtete Torte bedeckte. Pastellfarbene Einbauküchen waren der Traum jeder Hausfrau. Das Kochen, Saubermachen, Waschen, Bügeln und Nähen wurde niemals in Eile oder missmutig erledigt. Die vielfältige Perfektion zielte auf die Zufriedenheit eines Ehemannes, der in Anzug und Schlips nach Hause kam und seine strahlende Gattin für das gelungene Tageswerk lobte. Die Zeitschriften-Mütter schoben fröhliche Babys durch den Park, sie besuchten den Spielplatz oder den Zoo. Sie saßen mit den älteren Söhnen und Töchtern am Küchentisch. Sie brachten ihnen die Rechtschreibung bei, halfen geduldig bei kniffligen Rechenaufgaben, und um Punkt vier Uhr bekamen diese Kinder ein Glas Milch und einen blank polierten Apfel serviert.

Solche Fürsorglichkeit war meinen Schwestern und mir fremd. Mehrheitlich auf uns allein gestellt, verbrachten wir die Tage so ähnlich wie viele andere Kinder aus der Siedlung: ohne elterliche Anleitung zum Glücklichsein. Was uns Vater und Mutter an Umsicht und familiärem Zusammenhalt nicht geben konnten, fanden Regina, Therese und ich beieinander, und diese Verbundenheit dauert an. Bis zum heutigen Tag sind wir beste Freundinnen geblieben. Als Kinder retteten wir uns selbst, und im Nachhinein betrachtet, ist es diesem schwesterlichen Verbund aus nie enttäuschtem Wohlwollen und inniger Zuneigung zu verdanken, dass sich unser Seelenleben gut entwickeln konnte. Zusammen streiften wir durch Wälder und über Felder. Mit selbst gebasteltem Pfeil und Bogen eroberten wir in unserer kindlichen Fantasie ganze Ländereien und sprangen im Sommer kreischend in die smaragdgrüne Aare. Wir kamen ohne viel Spielzeug aus, und dass Geburtstage, Weihnachten und Ostern nicht oder nur reduziert gefeiert wurden, lag wohl auch daran, dass Mutter und Vater vom Wirtschaftsaufschwung jener Jahre nicht profitieren konnten. Während meine Schwestern bald für den organisatorischen Ablauf des Haushalts zuständig waren, kümmerte ich mich um die Gerechtigkeit und anstehende Entscheidungen, die es zu fällen gab. Egal, ob sich Kameraden, Lehrer oder entfernte Familienangehörige gegen Regina und Therese richteten: Geschah den Schwestern Unrecht, mischte ich mich ein, verlangte Gespräche, ging den Gründen der Missachtung auf die Spur, ließ mich weder einschüchtern noch abwimmeln.

Was Recht und Unrecht ist, lernte ich von meinem Großvater, den ich liebte und der zu meinem Vorbild wurde. Er war ein stoischer Mann, der sich in die innerfamiliären Verhältnisse nicht einmischte, ebenso schweigsam bei Tisch saß wie sein Sohn, die Schwiegertochter und die Enkelinnen. Dennoch erlebte ich ihn als eine Bereicherung und war froh, dass er bei uns lebte. Sein kirchlicher Aufgabenbereich war geheimnisvoll und umfassend. Wann immer ich ihn zur Arbeit begleiten durfte, erschien mir dies als Privileg. Großvater Gottfried schmückte die Kirche für Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Abdankungen und Konzerte mit Blumen und Dekorationen, die den Anlässen und heiligen Feierlichkeiten entsprachen. Zum Erntedankfest brachten wir Kürbisse mit und stellten goldgelbe Garben auf. An Ostern entstand ein Nest aus Weidenzweigen und bemalten Eiern. Im Winter positionierten wir die große Krippe vor dem Altar, befreiten behutsam die Figuren aus dem Seidenpapier, und ich durfte zum Schluss das Christkind in die geschnitzte Krippe legen.

Ich mochte den Klang meiner Schritte, die ein hallendes Echo im Kirchenschiff hervorriefen, wenn ich an normalen Sonntagen beim Austeilen der schwarz eingebundenen Gesangsbücher half. Voller Ehrfurcht beobachtete ich Großvater, wenn er wichtigere Arbeiten nicht in Kinderhände legen mochte, sondern selbst verrichtete: Den Kollektenbehälter brachte er mit nach Bienenwachs duftender Möbelpolitur zum Glänzen. Die Silberschale mit dem erwärmten Taufwasser stellte er sorgfältig auf den Altar. Mit Bordüren verzierte Ringkissen unterzog er vor der Trauung einer genauen Inspektion. Zuvor rückte er Stühle zurecht, legte die Hand auf jeden einzelnen Heizkörper, um die Temperatur zu kontrollieren, pustete in die Mikrofone, um die Tonqualität zu prüfen. Er montierte die frisch gebügelten Kirchenfahnen, und zusammen stiegen wir die steilen Treppen zum Glockenturm hoch. Ich durfte an den dicken Seilen ziehen, bis dröhnendes Geläut der ganzen Gegend den Beginn des Gottesdienstes verkündete. Bald saßen die Kirchgänger festlich gekleidet in den Bänken, und ich setzte mich zu ihnen. In meinen Augen bildeten wir eine glückliche und intakte Gemeinschaft, deren Mitglieder durch ähnliche Wertvorstellungen und eine Vorliebe für Rituale verbunden waren. Zufrieden, seinen Teil geleistet zu haben, und im Wissen, dass dies nicht wenig war, überließ Großvater nun das Feld dem Pfarrer.

Großvater brachte mir bei, was Recht und Unrecht ist, und er verwies immer wieder darauf, dass alle Lebewesen denselben Respekt verdienen und jene, die vom rechten Weg abkommen, auf eine zweite Chance hoffen dürfen. Wenn ich mit den moralischen Fragen eines Kindes an ihn gelangte, experimentierte er nicht mit Weisheiten, die er nicht kannte, und gab nicht vor, mehr zu wissen, als es den Tatsachen entsprach, sondern er verwies mit tiefer Stimme und in einfachen Worten auf ein Gebot, das ihm in diesem Zusammenhang richtig erschien. Großvater war bescheiden, aber auch selbstbewusst. Für beides bewunderte ich ihn. Er besaß die Stärke, authentisch zu sein. Er war ehrlich. Sich selbst und anderen gegenüber. Wie er lebte und was er dachte, was er nicht war und nicht wusste, daraus machte er keinen Hehl, und dieses Credo versuchte ich später bewusst zu verinnerlichen.

Es ist nicht schwierig, sich glanzvoller darzustellen, als man ist. Im einfachen Fall entstehen Lebenslügen, die nur den Betreffenden selbst etwas angehen. In meiner Funktion als Gefängnisleiterin kam ich aber auch mit unzähligen Menschen in Kontakt, die in ihrem unstillbaren Bedürfnis nach Großartigkeit moralische Grenzen überschritten, was oft furchtbare Konsequenzen nach sich zog. Ich dachte auch im Erwachsenenleben oft an Großvaters Worte, die mir als Kind rätselhaft erschienen waren: »Ausschlaggebend ist, ob der Mensch mit seinen Unzulänglichkeiten umzugehen weiß.«

Manche meiner Bildungslücken versuchte ich später mit einer Kaderausbildung und diversen Kursen auszubügeln. Heute weiß ich, dass mir diese oberflächlichen Korrekturen im Berufsleben unter dem Strich weniger brachten als Großvater Gottfrieds Maxime, nicht besser erscheinen zu wollen, als man tatsächlich ist, und dazu gehörte in meinem Fall auch, dass ich meine einfache Herkunft nie verleugnete.

Meine Jugend bleibt mir als schwierige Zeit in Erinnerung. Äußerlich entwickelte ich mich – groß gewachsen, sehr schlank und mit langen dunklen Haaren – zum Ebenbild meiner Mutter. Obwohl ich als gute Schülerin galt, war es unmöglich, eine höhere Schule zu besuchen, und auch eine Berufslehre befanden die Eltern als unnötig. Doch zu diesem Zeitpunkt stellte ich die Weichen zum ersten Mal selbst, und fest entschlossen, nicht in der Gosse zu landen, erinnerte ich mich abermals an Großvaters Worte: »Wohin die Reise geht, bestimmt der Mensch am Ende allein.«

Jahrzehnte später, wenn mir Menschen gegenübersaßen, deren Kindheit so viel problematischer gewesen war als meine eigene, konnte ich nachvollziehen, dass die Vergangenheit Spuren hinterlässt, die Hoffnungslosigkeit eine Kerbe in die Seele schlägt und den Weg in eine falsche Richtung weist, dass man heimzahlen will, was man selbst erdulden musste. Aber so einfach ist es nicht immer. Das zeigte mein intensiver Umgang mit jenen, die raubten und töteten, auf die schiefe Bahn gerieten, sich gegen negative Einflüsse nicht zur Wehr setzten, schwach und ziellos waren, die Verantwortung für falsche Entscheidungen von sich wiesen, Erklärungen und Rechtfertigungen fanden, um das Schreckliche, das Grausame, das Unrecht zu entschuldigen. Und wenn sie vor mir saßen, die Zukunft verbaut, Schuld auf sich geladen, am Boden zerstört, arrogant und frech, ängstlich und mutlos, hörte ich mich mehr als einmal sagen: »Eine schlimme Kindheit ist keine Erklärung für alles, was im Leben misslingt.«

Mit sechzehn organisierte ich mir eine kaufmännische Lehrstelle, während viele der gleichaltrigen Schulkollegen im Unterstand für die Fahrräder selbst gedrehte Zigaretten rauchten und von Abenteuern sprachen, die sich in fernen Großstädten abspielten: von freier Liebe, experimentellem Drogenkonsum, ambitionierten Frauen, die Karriere machen, und Männern, die ihre Wäsche selbst waschen wollten. Die 68er-Jahre kündigten sich an. Die Emanzipation der Frauen und die sexuelle Revolution schritten voran, doch die ländlichen Regionen der Schweiz hielten sich solche Ideen mehrheitlich erfolgreich vom Leib. Das klassische Arbeitermilieu, weiterhin damit beschäftigt, den unsicheren Sprung in die Mittelschicht zu vollziehen, zeigte an diesen gesellschaftlichen Veränderungen ebenso wenig Interesse wie an der großen proletarischen Revolution. Flower-Power, Janis Joplin, LSD, das Kommunenleben der Hippies, die Forderungen von Alice Schwarzer und der Tod von Che Guevara zogen auch unbemerkt an mir und den meisten meiner gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen vorbei.

Ich hegte andere, für mich aber ebenso exotische Vorstellungen von einer gelungenen Zukunft. Ich wollte ein geregeltes, ein finanziell sicheres Leben führen. Ich wollte Hausfrau und Mutter werden und die Geburtstage meiner Kinder mit einer Party und einer selbst gebackenen Torte feiern. Ich wollte unbedingt und um jeden Preis jenes Ideal erreichen, das ich bisher nur aus Werbestrecken für Waschpulver, Reinigungsmittel und Bügelstärke kannte. Der passende Mann zu diesem Lebensentwurf, so stellte ich mir vor, würde ähnliche Ziele verfolgen wie ich. Er sollte klug, fleißig und freundlich sein, und er sollte mehr reden wollen als mein Vater. War das unbescheiden oder zu bescheiden? Ich weiß es nicht. Ich war zwanzig Jahre alt, flirtete gern, ging mit meinen Schwestern in der örtlichen Beiz tanzen. Im strömenden Regen liefen wir nach Hause, eng umschlungen und in Vorfreude auf eine Zukunft, die uns bald aus der grauen Blocksiedlung wegführen würde.

Familienglück

Peter war das Gegenteil von mir: ernst, zurückhaltend, fromm. Er war ein durch und durch guter Mensch. Was ihm an mir gefiel, teilte er mir bald mit, und sein Urteil deckte sich erstaunlicherweise mit meiner Einschätzung, die ich bisher nicht als derart positiv wahrgenommen hatte. Ungestüm und temperamentvoll äußerte ich meine Zuneigung ebenso wie meine Abneigung direkt und ohne Umschweife, was mir in meinem Umfeld schon damals nicht nur Sympathien einbrachte. Meine Denkweise war bereits in ganz jungen Jahren weder verträumt noch verschnörkelt, sondern pragmatisch und klar. Bereits damals war ich eine Verfechterin von klaren Verhältnissen, die durchaus mittels Auseinandersetzungen erreicht werden durften. Peter und ich verliebten uns stürmisch ineinander, in unsere Gegensätzlichkeit und in unsere gemeinsamen Ziele. Wir heirateten und begannen, die Wohnung sorgfältig und mit viel Liebe zum Detail einzurichten.

Während mein Mann sich zum Elektroingenieur weiterbildete, widmete ich mich dem nächsten Schritt unserer Planung und tapezierte die Wände des größten Zimmers mit Papierbahnen, auf denen sich bunte Bärchen und Hasen hinter Bäumen und Häusern versteckten. Ich schuf eine Wickelkommode an und eine weiß lackierte Wiege. Ich nähte Gardinen und gerüschte Bettwäsche und strickte eine komplizierte Baby-Garderobe. Die Vorstellung, dass unsere Kinder in einem solchen Zuhause aufwachsen würden, machte mich glücklich. Kaum war ich mit den Vorbereitungen fertig, setzten die Wehen ein. Ich gebar unser erstes Kind, und ein Jahr später waren wir bereits zu viert. Alles war genau so, wie ich es mir erträumt hatte. Ich fand meine Erfüllung in diesen geordneten und heiteren Verhältnissen, die dermaßen sorglos waren, dass ich mich auf die mir am wichtigsten erscheinende Aufgabe konzentrieren konnte: Tochter und Sohn.

Sie wurden umhegt und gepflegt, gefördert und beschützt. Ich erinnere mich an Sommernachmittage, die frisch gewaschene Wäsche flatterte im Wind, ich saß strickend im Schatten, während Mathias und Livia friedlich im Sandkasten spielten: Punkt vier Uhr servierte ich ihnen ein Glas Milch und den blank polierten Apfel. Sie erhielten, was ich mir immer gewünscht hatte, die ungeteilte mütterliche Aufmerksamkeit. Meine Liebe äußerte sich auch in geschenkten Rollschuhen, Plüschtieren, Puppen, Blechautos, einem Gummiboot, vor allem aber in einer riesigen Zuneigung, die ich für meine Kinder hegte. Ich umschlang die kleinen Körper tagsüber mit beiden Armen, hob sie in die Luft, und wenn ich die beiden am Abend in gebügelten Pyjamas zu Bett brachte, bedeckte ich ihre lachenden Gesichter mit Küssen. Mein Mann war ein guter Vater, großzügig, engagiert, liebevoll. Wir investierten viel in die Kinder, denen wir eine stabile Basis für einen gelungenen Start ins Leben bieten wollten, aber auch die Voraussetzung, um Probleme anzugehen und zu meistern, die jeder Lebenslauf bereithält.

Die Fürsorglichkeit, die ich ihnen vermittelte, tat auch mir gut. Wenn ich einen Gugelhopf buk, für den Kindergeburtstag die immer gleichen bunten Lampions und Fähnchen im Wohnzimmer befestigte, heimlich Adventskalender-Geschenke in glänzendes Papier verpackte, den Weihnachtsbaum hinter verschlossenen Türen schmückte, die Osternester dekorierte, die jeweiligen Festessen zubereitete und die Tafel schön deckte, geschah dies nach den immer gleichen Ritualen. Sie sind mir bis heute wichtig geblieben. Ich sehe in ihnen eine Wertvermittlung, vor allem aber verbinde ich mit diesen Traditionen den ewigen Zusammenhalt einer Familie, egal, wie turbulent und aufwühlend das Geschehen in der Außenwelt sein mag.

Obwohl die meisten meiner Kolleginnen ähnlich dachten und lebten wie ich, wir uns am Nachmittag zu Kaffee und Kuchen trafen, um die neusten Rezepte auszutauschen, die schulischen Erfolge oder Probleme der Söhne und Töchter zu besprechen, um diese oder jene Haushaltsmaschine als super oder ungenügend zu befinden, entging uns nicht, dass die Emanzipation der Frauen in der übrigen Welt voranschritt. Wir gehörten bereits einer Generation an, die nicht mehr unter der Fuchtel von Ehemännern und Schwiegermüttern stand, die über die Farbe der Sofakissen ebenso entschied wie über die Höhe des Haushaltsgeldes und unser Selbstbewusstsein. Dennoch waren die Rollenverhältnisse in diesem Umfeld traditionell. Unsere Hausarbeit erlebten wir nicht als anspruchslos oder unwichtig, im Gegenteil. Dass eine solche Haltung anderswo als genügsame Verirrung von Frauen galt, die sich freiwillig die Fesseln des Patriarchats anlegten, ahnten wir nicht, und als ich solcherlei zum ersten Mal hörte, musste ich lachen, denn diese Auslegung schien mir ebenso übertrieben wie die Vorstellung von einem Gatten, der die Kinder aus der Krippe abholt, um danach zu Staubsauger und Rüstmesser zu greifen. Dennoch verstand ich, dass die Frauen ihre Anliegen nach Gleichberechtigung in vielen Belangen nicht leise und diplomatisch an den Mann bringen konnten, sondern gröberes Geschütz auffahren mussten, um jene Veränderungen herbeizuführen, von denen auch die jüngere Generation heute profitiert. Manche Forderungen der Leaderinnen der Frauenbewegung erschienen mir berechtigt, doch mit manchen Feministinnen konnte ich wenig anfangen.