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ANN LECKIE

 

 

 

DAS GIFT DER NACHT

 

Kurzgeschichte

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Die Autorin

Das Gift der Nacht

 

Das Buch

Die ferne Zukunft: Auf dem Flug durch den geheimnisvollen Kriechraum zum Planeten Ghem erregt ein Passagier die Aufmerksamkeit des Wächters Inarakhat. Er konfrontiert den Wächter unvermittelt mit dessen schmerzhafter Vergangenheit, und was ein Routineflug hätte werden sollen, wird immer mehr zu einem klaustrophobischen Alptraum …

 

Die Erzählung »Das Gift der Nacht« spielt im selben Universum wie Ann Leckies preisgekrönter Bestseller-Roman »Die Maschinen«.

 

 

 

Die Autorin

Ann Leckie hat bereits mehrere Kurzgeschichten in amerikanischen Fantasy- und Science-Fiction-Magazinen veröffentlicht, bevor sie sich mit »Die Maschinen« an ihren ersten Roman wagte. Ihr Debüt wurde weltweit mit allen wichtigen Science-Fiction-Preisen ausgezeichnet und einhellig als Meisterwerk des Genres gepriesen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in St. Louis, Missouri.

 

 

 

 

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www.diezukunft.de

Titel der Originalausgabe:

 

»Night's Slow Poison«

 

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Kempen

 

 

 

Copyright © 2012 by Ann Leckie

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Stardust, München

Coverillustration: Billy Nunez

Satz: Thomas Menne

 

ISBN: 978-3-641-17251-0

Die Juwel von Athat war in erster Linie ein Frachtschiff, und die meisten Räume waren eng und vollgestopft. Wie auch in der Äußeren Station, an der sie angedockt hatte, gab es kaum Luxus, die Decks und Wände waren schäbig und abgenutzt. Bewaffnet und angemessen maskiert stand Inarakhat Kels im Durchgang, der von der Station ins Schiff führte, wo er soeben eine Passagierin abgewiesen hatte und nun auf den nächsten Reisenden wartete.

Der Mann näherte sich mit weiten Schritten, als würde der schmale Gang ihn nicht beengen. Er trug einen Kilt und eine bestickte Bluse. Seine Haut war hellbraun, das Haar dunkel und glatt und kurz geschnitten. Und seine Augen … Inarakhat Kels empfand Beschämung. Dabei hatte er gedacht, während seines jahrelangen Umgangs mit Außenseitern die Hemmung verloren zu haben, Fremden ins Gesicht zu blicken.

Der Mann schaute über die Schulter zurück und zog eine Augenbraue hoch. »Sie war recht wütend.« Seine Mundwinkel zuckten mit einem unterdrückten Grinsen.

»Man bedauert.« Hinter seiner Maske runzelte Inarakhat Kels die Stirn. »Wer?«

»Die Frau, die vor mir an der Reihe war. Sie haben ihr den Zugang zum Schiff verweigert haben, nicht wahr?«

»Sie war mit nicht deklarierten Kommunikationsimplantaten ausgestattet.« Insgeheim hegte Kels den Verdacht, dass es sich um eine Spionin der Radchaai gehandelt hatte, aber er sprach es nicht aus. »Natürlich tun einem die Unannehmlichkeiten leid, die ihr bereitet wurden, aber …«

»Mir nicht«, unterbrach ihn der Mann. »Gestern hätte sie mir fast das Abendessen verdorben, als sie darauf bestand, dass ich ihr meinen Platz überlasse, weil sie davon überzeugt war, von höherer Kaste zu sein als ich.«

»Haben Sie es getan?«

»Nein«, erwiderte der Mann. »Weder bin ich von Xum, noch befinden wir uns auch nur in der Nähe ihrer Welt. Warum sollte ich mich also ihren Sitten unterwerfen? Und heute früh hat sie sich vor mir in die Reihe gedrängt, als wir draußen warteten.« Jetzt grinste er tatsächlich. »Ich gestehe, dass ich erleichtert bin, sie für die nächsten sechs Monate nicht als Mitreisende ertragen zu müssen.«

»Aha«, sagte Kels in unverbindlichem Tonfall. Das Grinsen des Mannes, die Form des Kiefers – plötzlich wurde ihm klar, warum er so emotional auf diese Augen reagierte. Doch jetzt war nicht die Zeit für alte Erinnerungen. Er konsultierte seine Liste. »Sie sind Awt Emnys aus der Gerentate.« Der Mann bestätigte es. »Der Grund für Ihren Besuch auf Ghaon?«

»Meine Großmutter war eine Ghaonish«, antwortete Awt Emnys. Sein zuvor amüsierter Blick war nüchtern geworden. »Ich habe sie nie kennengelernt, und niemand kann mir viel über sie erzählen. Ich hoffe, in Athat mehr zu erfahren.«

Wer auch immer sie gewesen war, Kels war sich ziemlich sicher, dass sie der Ghem-Agnate entstammte. Die Augen, der Mund, der Kinnwinkel … Mit nur ein paar Informationen mehr hätte Kels dem Mann sagen können, in welchem Haus seine Großmutter geboren war. »Man wünscht Ihnen viel Glück bei Ihrer Suche, Ehrwürdiger Awt«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung, die er nicht unterdrücken konnte.

Awt Emnys antwortete mit einem Lächeln und verbeugte sich respektvoll. »Ich danke Ihnen, Ehrwürdiger«, sagte er. »Wie ich hörte, muss ich sämtliche Kommunikationsimplantate deaktivieren.«

»Wenn sie während der Reise reaktiviert werden, müssen wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit des Schiffs zu gewährleisten.«

Awt warf einen Blick auf die Waffe an Kels' Hüfte. »Selbstverständlich. Aber ist es wirklich so gefährlich?«

»In etwa drei Monaten«, sagte Kels mit bemüht ausdrucksloser Stimme, »werden wir das letzte Schiff passieren, das versucht hat, den Kriechraum mit aktivierten Kommunikationseinrichtungen zu durchqueren. Es wird von der Passagierlounge aus zu sehen sein.«

Awt grinste. »Ich hege den innigen Wunsch, in hohem Alter in meinem Bett zu sterben. Vorzugsweise nach einem langen und langweiligen Leben, das ich mit dem Verwalten von Lagerbeständen verbracht habe.«

Kels gestattete sich den Ansatz eines Lächelns. »Man wünscht Ihnen Erfolg«, sagte er und trat zur Seite. Er drückte sich gegen die Wand, damit Awt passieren konnte. »Ihr Gepäck wird in Ihre Kabine gebracht.«

»Ich danke Ihnen, Ehrwürdiger.« Awt streifte Kels im Vorbeigehen und löste dabei eine ungewohnte Gefühlsregung aus.

»Gute Reise«, murmelte Kels dem Rücken des Mannes zu, aber Awt ließ nicht erkennen, ob er die Worte gehört hatte.

 

Ghaon ist ein mondloses blau-weißes Juwel, das eine gelbe Sonne umkreist. Auf den drei Kontinenten findet sich jede Art von Landschaft, von den großen Wüsten auf dem südlichen Lysire und dem von Flüssen durchzogenen Ackerland im Norden und Westen desselben Kontinents bis zu den Bergen von Aneng, die nach wie vor gelegentlich Rauch ausstoßen. Arim, der dritte Kontinent, ist arktisch und unbewohnt. Abgesehen von der üblichen Industrie und Landwirtschaft, die wie auf jeder Welt die Bevölkerung mit Gütern versorgt, ist Ghaon für seine Perlen und kunstvoll geschnitzten Korallen bekannt, die hoch gehandelt werden, wenn sie den Weg durch den Kriechraum nach draußen finden. Flöten, die aus dem Holz der Wälder im Westen von Aneng geschnitzt werden, erzielen hohe Preise bei Musikern der Gerentate.

Der Legende zufolge kamen die ersten Bewohner von Ghaon von einer Welt namens Walkaway, deren Position unbekannt ist. Es gab dreizehn ursprüngliche Siedler, drei Agnaten mit je vier Angehörigen sowie ein Eunuchenpriester des Iraon. Die drei Agnaten teilten die Welt unter sich auf: Lysire, Aneng und die Meeresoberfläche. Der Priester segnete die Parzellierung, und jede Agnate florierte und besiedelte die Welt.

Das ist natürlich nur die Legende. Dreizehn Personen können unmöglich die nötige genetische Diversität besitzen, um einen Planeten zu bevölkern. Außerdem haben Untersuchungen ergeben, dass die ersten menschlichen Bewohner von Ghaon, deren Nachkommen sich auf Lysire und Aneng ausbreiteten, überwiegend von denselben Populationen abstammen, deren Nachkommen auch den Großteil der Gerentate ausmachten. Die Vorfahren der seefahrenden Agnaten trafen mehrere tausend Jahre später ein, und ihre Ursprünge liegen im Dunkeln.

Jedenfalls mussten die ersten Kolonisten vor ihrer Ankunft vom Kriechraum gewusst haben, sofern sie ihn nicht selbst errichteten. Letzteres erscheint jedoch äußerst unwahrscheinlich.

Die Gerentate hatte Ghaon erst einige Jahre nach ihrer Expansionsphase entdeckt, und so bestand die einzige Bedrohung, die jetzt noch von ihren Kundschaftern ausging, in schlecht erzogenen Touristen mit nackten Gesichtern.

Doch mit der Radch war das etwas anderes. Jede Seele auf Ghaon, vom kleinsten Baby an der Mutterbrust bis zur ältesten lysirischen Matriarchin in ihrem Zelt am Rand der Trockensteppe, war davon überzeugt, dass der ruchlose Anaander Mianaai, das Oberhaupt der Radch, ein begehrliches Auge auf Ghaon geworfen hatte und überlegte, wie er sich diese Welt aneignen könnte.

Doch zum Glück konnten die Schiffe und scheinbar endlosen Armeen der Radch, die Tausende von Planeten und Stationen zu Fall gebracht hatten, den Kriechraum nicht durchqueren. Nur dieser stand zwischen Ghaon und den Radchaai. Diese Barriere wurde regelmäßig von Spionen erkundet, dessen waren sich die Ghaonish sicher, und die habsüchtigen Radchaai planten und intrigierten unentwegt, wie sie am besten zu durchbrechen wäre.

Vergeblich wiesen vernünftigere Stimmen darauf hin, dass die Welten der Gerentate ein größeres und in mancher Hinsicht leichteres Ziel wären, dass die Belohnung für die Überwindung des Kriechraums bei Weitem von der Schwierigkeit eines solchen Unterfangens übertroffen wurde, dass die Rachaai mit ihren weitreichenden Ambitionen kaum diese eine kleine und recht unbedeutende Welt bemerkt haben konnten. Die Bewohner von Ghaon trauten diesen Argumenten nicht. Das Oberhaupt der Radch hatte es sich in den Kopf gesetzt, Ghaon zu erobern – davon waren die Ghaonish überzeugt.

 

Die dritte Wache hatte gerade Dienst, stand vor der Pilotenstation auf Posten und patrouillierte die Korridore der Juwel von Athat. Die erste Wache schlief. Die zweite Wache hatte soeben das Abendessen beendet, und auf dem kleinen Tisch standen noch die Teetassen und Brotreste. Inarakhat Kels beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ninan und Tris, seine Kollegen von der zweiten Wache, lehnten sich gegen die Wand.

»Eine Spionin!«, sagte Ninan und bemühte sich, nicht eifersüchtig zu klingen. »Es wurde auch langsam Zeit, dass es wieder jemand versucht.« Er stellte einen Ellbogen neben dem von Kels auf den Tisch und rückte vertraulich näher.

»Wie kommt es«, fragte Tris, »dass ihre Versuche so offensichtlich sind, obwohl die Radchaai so reich und mächtig sind?«

»Sie sind von Natur aus pervers.« Ninan hob eine Teetasse auf und betrachtete den Inhalt.

»So meint man«, sagte Kels. »Jedenfalls muss Anaander Mianaai nach einer anderen Möglichkeit suchen, den Kriechraum zu durchqueren.«

Tris grinste, und seine Zähne wurden unter der Maske sichtbar, die seine obere Gesichtshälfte verdeckte. »Und die anderen? Worauf dürfen wir uns diesmal freuen?«