cover
Ewa Aukett

Stunde der Drachen 2 - Der Pfad des Blutes

Fantasy Liebesroman


Für euch, die ihr mein Herz kennt.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Klappentext

 

Lee kann nicht begreifen, was passiert ist.

 

In einem Moment steht sie noch Seite an Seite mit ihrem Drachen dem gewaltigen Heer des dunklen Herrschers Fitard gegenüber, im nächsten Augenblick befindet sie sich wieder in ihrem alten Leben - im einundzwanzigsten Jahrhundert!

 

Sijrevan ist so fern wie nie zuvor. Und wie es scheint, hat sie nicht nur ihre große Liebe Royce verloren, sondern auch das Kind, das sie unter dem Herzen trug.

 

Lee muss einen Weg finden, in ihre Heimat zurückzukehren!

In die Arme ihres Mannes.

Zu ihrem Drachen, der ein Teil von ihr ist.

Zu ihrem Clan, ihren Kriegern und Freunden – und zu ihrem Schicksal.

 

Stammbaum der McCallahans

Sijrevanische Weise

Hüterin von Sijrevan

 

 

Durch Welten getrennt,

vom Schicksal entzweit.

Voll Sehnsucht verbrenn'nd,

zum Sterben bereit.

 

So ward sie geheilt,

obschon sie verlor,

den Mann ihres Heils,

aus Asche hervor.

 

Die Herrin geweiht,

vom Drachen erkor'n.

Dem Leben verzeihn'd,

durchschritt sie das Tor.

 

Zum Sterben bereit,

zum Sterben bereit!

 

(Sijrevanische Weise, Anno 1587)

1. Kapitel

Deutschland im Januar

Gegenwart

 

„Sie stehen sich mit Ihrer Verweigerung zur Zusammenarbeit nur selbst im Weg, Amelie.“

Die Frau mit dem welligen, roten Haar, der auffälligen Brille und dem wirklich sehr gewöhnungsbedürftigen Outfit, das aussah als entstammte es direkt der Altkleidersammlung, nickte bedächtig in die Runde. „Versuchen Sie sich zu öffnen. Erzählen Sie, was Sie bewegt und welche Gedanken Sie haben.“

Zustimmendes Gemurmel erklang und Lee spürte die Blicke der anderen Patienten auf sich. Mit verschränkten Armen saß sie auf dem schlecht gepolsterten Stuhl, senkte das Kinn und betrachtete ihre Füße.

Sich öffnen. HA!

Sie schwieg.

Ständig dasselbe Spiel.

Es wunderte Lee, dass die Therapeutin es nicht leid wurde, keine Antwort auf ihre immer gleichen Fragen zu bekommen.

Jeden Morgen diese vermeintlich mitfühlenden Worte und das Warten darauf, dass Lee endlich den Mund aufmachte.

„Nun hab dich nicht so, sag doch endlich, was mit dir los ist!“

Die ungeduldigen Worte kamen von einem der Mitpatienten.

Jochen? Jürgen?

Sie hatte seinen Namen vergessen - weil er unwichtig war. So, wie sie alle unwichtig waren.

Sie schloss die Augen.

Wie lang wollte sie das noch mitmachen?

Seit zwei Wochen hockte sie in diesem Krankenhaus.

Zwei Wochen, in denen die Zeit wie zähflüssiger Kleister verronnen war und sie wie erstarrt hier festgesessen hatte. Sie war apathisch und antriebslos geworden, als hätte ihr jemand einfach den Stecker gezogen.

Zwei Wochen mit lauter Bekloppten.

Station 5.B.2, geschlossene Psychiatrie, Kreisklinikum Bad Bergschaumm.

 

Seit man sie vor vierzehn Tagen aus dem Fluss gefischt hatte, weigerte sie sich, mit Ärzten, Therapeuten und der Polizei zu kommunizieren. Sie hatte keinen Ausweis bei sich gehabt und jede Zusammenarbeit abgelehnt.

Die Polizei hatte schließlich kurzen Prozess gemacht und ein Foto von ihr an die Nachrichtensender weitergegeben. Lee wusste, dass die lokale Presse tagsüber vor dem Krankenhaus lauerte, nur, um einen Blick auf die geheimnisvolle Brückenspringerin zu erhaschen, die nicht reden wollte. Nachdem ihr Bild in der Zeitung und im Lokalfernsehen veröffentlicht worden war, hatte es nicht lang gedauert, bis sich jemand aus ihrem früheren Leben gemeldet und ihre Identität offenbart hatte.

Amelie Heiduck. Vierundzwanzig Jahre alt, Vater und Mutter verstorben, keine Geschwister, unverheiratet, ohne festen Wohnsitz, ohne Arbeit, ohne soziale Kontakte.

Das war sie. Hier, in dieser Welt!

Plötzlich waren die letzten Erinnerungslücken in ihrem Kopf wieder gefüllt worden. Sie hatte sich an ihr Leben erinnert, an ihre Eltern. Sie wusste wieder, wie ihre Mutter Christin ausgesehen hatte - wie sehr ihr Verlust sie schmerzte und wie sie sie früher immer Lee genannt hatte. Das war der einzige Name, der zählte; der einzige Name, der wichtig war.

Sie war keine Heiduck mehr, keine Amelie.

Sie war Lee McCallahan.

Eheweib des Royce McCallahan - Kriegerin und Clanherrin.

Ja, das war sie ... gewesen.

Sie war nicht mehr in Sijrevan.

Sie war nicht mehr zu Hause.

Das Schicksal hatte sie zurück in das einundzwanzigste Jahrhundert geschleudert und sie dem Mann entrissen, den sie liebte.

 

Von einer Sekunde auf die andere war alles vorbei gewesen. Und hier gab es niemanden, mit dem sie reden konnte. Niemanden, dem sie vertrauen konnte.

Sie wollte ihr Geheimnis unter gar keinen Umständen mit Menschen teilen, die ihr fremd waren. Denn wenn sie es doch tun würde, wusste sie sehr wohl, was mit ihr geschehen würde - wie man auf sie reagieren würde.

Auf jemanden, der sich von einer Brücke gestürzt und nur knapp überlebt hatte. Jemanden, der als hochgradig suizidgefährdet galt. Jemanden, der behauptete, durch die Zeit gereist zu sein und ein anderes Leben gelebt zu haben.

Psychopharmaka, Beruhigungsmittel, Langzeittherapie - und noch mehr Gesprächsrunden dieser Art.

Sie war von Amts wegen kurzerhand in staatliche Betreuung gegeben und in die psychiatrische Abteilung des örtlichen Krankenhauses eingewiesen worden. Aber das war immer noch besser als die Irrenanstalt in Dreinaeheim.

Da würde sie allerdings sofort landen, wenn sie über das sprechen würde, was sie erlebt hatte. Man würde sie unter Dauermedikation setzen und dafür sorgen, dass sie ihre angeblichen Halluzinationen rasch vergaß ... und sie würde vergessen. Alles, was sie gesehen und erlebt hatte, würde von einer Woge aus Tranquilizern und Antidepressiva davongeschwemmt werden.

Dagegen wäre der Scheiterhaufen in Sijrevan ein gemütliches Lagerfeuer gewesen.

„Nun gut, beenden wir die Morgenrunde für heute mit einer Achtsamkeitsübung.“

Lee verkniff es sich, die Augen zu verdrehen.

Auch das war jeden Morgen gleich. Die Gesprächsrunde nach dem Frühstück endete jedes Mal damit, dass die Therapeutin, Frau Dr. Arendt, mit einem kleinen Holzklöppel gegen die Klangschale auf ihrem Schoß klopfte und alle zum melodischen, gleichförmigen Ton die Augen schlossen, um in sich zu gehen.

Lee unterdrückte einen Seufzer.

Sie war genervt.

Von diesem ganzen Heile-Welt-Getue, von diesen immer gleichen Handgriffen, die sie Tag für Tag zu tun hatten, und der Bevormundung, der sie hier ausgesetzt war.

Alles, was sie wirklich wollte, war in die Welt zurückzukehren, in die sie gehörte. Vor einem halben Jahr wäre sie dankbar gewesen, wieder hier zu sein - doch dies war nicht mehr der Ort, den sie Heimat nannte.

Sie war hier fremd!

 

***

 

Als sie zusammen mit den Anderen den Gemeinschaftsraum verlassen wollte, trat Dr. Arendt ihr in den Weg.

„Bleiben Sie bitte, Amelie. Ich möchte noch ein Einzelgespräch mit Ihnen führen.“

Die Hände in den Taschen ihrer Jogginghose vergraben, blieb sie abwartend stehen. Auch das war nichts Neues. Spätestens jeden zweiten Tag versuchte die Therapeutin in einer Sitzung unter vier Augen ihr Glück ... und jedes Mal biss sie auf Granit.

Lee verkniff sich ein spöttisches Lächeln.

Sie hatte Gallowains Angriff überlebt und mit dem Schwert in der Hand auf einem Schlachtfeld gekämpft. Diese Ärztin mit ihren kleinen Psychotricks war keine Gegnerin.

Deutlich gelangweilt und unverblümt ihr Desinteresse demonstrierend, schlurfte sie schließlich hinter Dr. Arendt her und betrat das Gesprächszimmer. Wie gewohnt nahm sie in dem schwarzen Ledersessel Platz, ignorierte die Therapeutin und starrte zum Fenster hinaus.

Es dauerte nur Sekunden, bis die ältere Frau die Jalousien runterließ und Lee ihr den Blick zuwandte. Auch das war ein wiederkehrendes Ritual zwischen ihnen.

„Ich verstehe nicht, warum Sie sich so sehr sträuben, Amelie. Ihre Weigerung mitzuarbeiten und zu erzählen, was mit Ihnen geschehen ist, gereicht Ihnen nur zum Nachteil. Sie werden Ihr Trauma niemals verarbeiten können, wenn Sie nicht darüber reden.“

Fast hätte Lee gelacht.

Trauma?

Diese Frau hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie da überhaupt sprach. Nichts in Lees Leben war noch so, wie es hätte sein sollen.

Sie gehörte gar nicht mehr hierher.

Vor einigen Monaten war sie in eine Welt geraten, die ihr fremd gewesen war, eine Welt voller Geheimnisse und fantastischer Dinge. Sie hatte Angst gehabt und großes Leid erlebt, dennoch hatte es auch Liebe gegeben, Wärme und Zuneigung. Sie hatte zum ersten Mal gefühlt, was es bedeutete, eine Heimat zu haben, Familie.

Sie wollte nichts mehr als dorthin zurückzukehren.

„Was ist mit den Narben auf Ihrem Rücken, Amelie? Wir wissen durch die Aufnahmeuntersuchungen vor zwei Wochen, dass sie Ihnen schon vor langer Zeit zugefügt worden sind. Hat Ihr Vater Sie misshandelt? Liegt es an der Tätowierung auf Ihrem Rücken? Hat es ihm missfallen, dass Sie sich tätowieren ließen?“

 

Lee starrte die Frau an, die ihr gegenübersaß, und fragte sich nicht zum ersten Mal, wo sie eigentlich diese grauenvollen, unförmigen Klamotten herbekam.

Dr. Arendt war eine aparte Frau in den Vierzigern. Kinnlanges, lockiges Haar, definitiv gefärbt - ein so intensives Rot konnte einfach nicht echt sein. Schmale Silhouette, sehr sympathisches Wesen. Allerdings trug sie immer Kleidung, die aussah, als hätte Dr. Arendt irgendeiner Sekte angehört, die ihren Ursprung in den Siebzigern gehabt hatte.

Lee atmete tief durch.

Sie lagen alle so falsch mit ihren Vermutungen.

Natürlich war ihr Vater kein liebevoller Mensch und ihr Verhältnis zueinander durch und durch kalt gewesen. Doch er hatte sie nie geschlagen.

Das hatte er gar nicht nötig gehabt.

Sie hatte die Zeit mit ihm ebenso überlebt wie die Wunden, die diese Narben auf ihrem Rücken hinterlassen hatten.

Das einzige Trauma, das sie zu verarbeiten hatte, war ihre erneute Reise durch Zeit und Raum. Sie hatte ihren Tod erwartet, keine Rückkehr in ihre alte Welt. Von einem Augenblick auf den anderen war da nichts mehr gewesen.

Callahan-Castle, die Schlacht gegen Fitard, Donchuhmuire ... sie hatte gespürt, wie die Männer unter seinem feurigen Atem gestorben waren - und es hatte ihr alle Kraft geraubt. Das Leben war aus ihr gewichen und sie war überzeugt gewesen, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen.

Sie hatte sich in dem Wissen von ihrem Mann verabschiedet, dass es ein Abschied für immer sein würde. In einem Moment hatten Royces Arme sie noch gehalten und an ihn gedrückt, und im nächsten Augenblick war sie durch die Dunkelheit gestürzt.

Lee schluckte.

Alles wäre besser gewesen als hierher zurückzukommen - sogar der Tod.

Erst im Krankenwagen war sie wieder richtig zu sich gekommen. Sie hatte angefangen zu schreien. Sie war hysterisch geworden und hatte gebrüllt, sie wollte zurück und müsste das Tor durchschreiten. Die intravenöse Zufuhr irgendeines Beruhigungsmittels hatte sie ins Reich der Besinnungslosigkeit zurückbefördert.

Als sie das nächste Mal erwacht war, hatte sie sich auf der Intensivstation befunden und der Chefarzt hatte das Formular für ihre Überweisung in die psychiatrische Abteilung ausgestellt.

Statt mit den Menschen, an denen ihr etwas lag, zusammenzusitzen und zu lachen, hockte sie hier in ihrer persönlichen Hölle.

 

„Woran denken Sie, Amelie?“

Sie hasste es, dass die Ärztin sie ständig mit diesem Namen ansprach. Allerdings wollte sie erst recht nicht, dass man sie Lee nannte. Dieser Name gehörte so wenig hierher wie sie selbst.

Sie schwieg.

Dr. Arendt schüttelte den Kopf und machte sich Notizen in der Akte, die auf ihrem Schoß lag.

„Ihnen muss klar sein, welche Konsequenzen das hat, Amelie. Die Selbstgefährdung ist in Ihrem Fall immer noch gegeben. Sie verweigern die Zusammenarbeit. Sie wollen nicht mit uns reden. Sie schweigen und entziehen sich den vielfältigen Möglichkeiten einer Therapie. Wir wollen Ihnen doch nur helfen.“ Die Psychiaterin schob ihre Brille auf der Nase nach oben und musterte Lee vielsagend. Ihre Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen. „Wenn Sie sich nicht aus freien Stücken auf die Therapie einlassen, sehe ich keine andere Möglichkeit, als eine Zwangsunterbringung aufgrund Ihrer bestehenden Suizidalität vorzuschlagen.“

Zwangsunterbringung?

Lee starrte die Ärztin an.

Was bedeutete das?

Sie war hier bereits eingesperrt!

Sie galt als selbstmordgefährdet, weil sie von einer Brücke gesprungen war.

Eine gefühlte Ewigkeit war ihr nicht einmal erlaubt gewesen, ohne Aufsicht in der Parkanlage spazieren zu gehen, in der das Krankenhaus eingebettet lag.

Sie war jetzt schon gefangen!

Sie hatte eine Zimmernachbarin, die jede Nacht - mit Tabletten zugedröhnt - neben ihr schnarchte und Lee damit um die letzten Stunden brachte, in denen sie im Schlaf Frieden fand und nicht ruhelos umherwanderte.

Sie hatte alles eingebüßt, was ihr wichtig gewesen war, und sie hatte vor allem deshalb geschwiegen, weil sie nicht wollte, dass man sie mit Psychopharmaka vollpumpte, damit ihre vermeintlichen Wahnvorstellungen ein Ende nahmen.

Sie wollte nicht vergessen!

Dennoch hatte sie den Großteil der letzten Tage nur wie durch dicke Watte wahrgenommen. Sie hatte funktioniert, aber sie war mit ihren Gedanken immer noch in diesem anderen Leben gewesen.

Nachdem man sie - mehr tot als lebendig - aus dem Fluss gefischt und ruhiggestellt hatte, war sie hierher geschafft worden - und sie selbst war wie paralysiert gewesen.

Wie grausam das Schicksal doch war, sie durch Zeit und Raum zu schicken, nur, um sie anschließend hierher zurück zu schaffen.

 

Gerade als sie ihr neues Leben angenommen und sich mit Entbehrungen und Einbußen arrangiert hatte, war sie wieder in eine Welt des Überflusses und der Oberflächlichkeit geschickt worden.

Welchen Sinn machte das alles?

Wieso hatte das Schicksal ihr überhaupt eine Chance auf ein glückliches Leben eingeräumt, wenn es sie dann doch wieder in dieses trostlose Dasein verbannte?

Das war einfach nicht fair.

Sie wollte nach Hause.

Sie wollte zu Royce!

Sie sehnte sich in eine Zeit, in der es nicht den Komfort gab, den sie hier für sich beanspruchen konnte. Sie war gewillt, sich die Zähne mit einem Stück Holz zu reinigen und den Hintern mit weichem Moos abzuwischen. Sie hatte gelernt, sich zu arrangieren.

Sie war lieber von wenig Materiellem umgeben und dafür glücklich mit den Menschen an ihrer Seite als reich beschenkt mit Gütern und allein in der Einsamkeit unter Tausenden.

Jedes Mal, wenn sie den Wasserhahn aufdrehte und dabei zuschaute, wie das kostbare Nass ungenutzt im Abfluss verschwand, empfand sie diese Welt als befremdlich und abstoßend. Nie war sie sich so bewusst darüber gewesen, wie sorglos man hier mit den Ressourcen umging; wie wenig die Menschen achteten, womit sie so reich beschenkt wurden.

Wie groß der Überfluss und wie ignorant sie selbst gewesen war, war Lee erst nach ihrer Rückkehr klargeworden. Inbrünstig wünschte sie sich jeden Tag aufs Neue, diese Realität wieder gegen das karge Dasein auf Callahan-Castle eintauschen zu können.

 

Gereizt schloss sie die Augen und kämpfte gegen das Gefühl ohnmächtiger Wut, das seit Tagen ständig in ihr emporkroch, oder gegen die zornigen, heißen Tränen, die in ihrer Kehle hockten wie eine auf der Lauer liegende Spinne.

Sie hasste es, hier zu sein.

Sie hasste diesen typischen Geruch von Desinfektionsmittel, fadem Essen und kranken Menschen. Mit einem Wimpernschlag war sie in die Langeweile und Eintönigkeit ihrer Vergangenheit zurückgekehrt.

Und sie verabscheute es!

Alles in ihr sehnte sich nach den sijrevanischen Highlands. Tod und Gewalt hatten dort Einzug in ihr Leben gehalten. Sie war gezwungen gewesen, sich mit einer Wirklichkeit auseinanderzusetzen, die ihr eingehämmert hatte, was tatsächlich zählte.

Das Training, die Kämpfe, die Menschen. Es war hart gewesen und dennoch hatte sie sich nie zuvor lebendiger gefühlt. Ihre Existenz dort hatte sie Entbehrungen gelehrt, sie hatte zum ersten Mal erlebt, wie sich Hunger und Schmerz anfühlten.

Dieses Leben war intensiv und ohne Zweifel brutal gewesen. Doch Sijrevan war auch Heimat.

Sijrevan bedeutete, verwurzelt zu sein und sich nicht länger verstoßen zu fühlen.

Sie hatte erfahren, wie schmerzvoll und wunderbar die Liebe zu einem Mann sein konnte - wie groß die Sehnsucht nach ihm. Ihr war erst hier bewusst geworden, wie unsinnig die Streitereien mit Royce gewesen waren - wie viel Zeit sie verschwendet hatten.

Sie hatte die Liebe ihres Lebens gefunden und wieder verloren. Sie hatte sein Kind in sich gespürt - und nun war alles fort, als hätte es nie existiert.

Dieses halbe Jahr, das sie an seiner Seite verbracht hatte, hätte nichts weiter als ein wunderbarer Traum sein können.

Vielleicht hätte sie sogar geglaubt, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, aber die Narben auf ihrem Rücken waren real. Sie waren wirklich vorhanden.

 

Ihr Körper erinnerte sich an den Verlust des Lebens, das in ihr gewachsen war, und an die Momente, in denen Royce sie berührt hatte.

Sie war weder wahnsinnig, noch litt sie an Halluzinationen. Sie hatte tagelang gehofft, sie würde einfach aufwachen und feststellen, dass dies nur ein sehr realer Albtraum gewesen war und sie neben ihrem Ehemann im Bett lag.

Doch je mehr Zeit verging, desto mutloser war sie geworden. Sie hatte begreifen müssen, dass sie nicht mit einem Fingerschnippen zurückkehren würde. Mit jedem Tag, der an ihr vorbeizog, war sie apathischer und in sich gekehrter geworden. Sie empfand kein Verlangen, sich mitzuteilen, sich auszutauschen. Ihr Interesse an ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt sank täglich weiter.

„Nun, ich sehe, Sie möchten diese Unterhaltung nach wie vor nicht weiterführen.“

Dr. Arendt gab einen lauten Seufzer von sich, der offensichtlich ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen sollte. Lee schlug die Augen auf und musterte ihr Gegenüber.

„Sie sollten dankbar sein, Amelie, dass dieser Fluss unter Ihnen war, als Sie von der Brücke gesprungen sind. Sie mögen es vielleicht anders sehen, doch es ist gut, dass man Sie gerettet hat. Das Leben ist wertvoll und es hat einen Sinn.“

Die Ärztin erhob sich aus dem Sessel, drückte die Akte an sich und deutete zur Tür.

Schön, das Einzelgespräch war also endlich vorbei.

Lee sprang auf und eilte zum rettenden Ausgang hinüber. Doch ehe sie ihre Finger auf die Klinke legen konnte, spürte sie die Hand der Therapeutin an ihrem Arm.

Sie drehte sich zur Seite und entwand sich dem Griff. So sympathisch die Ärztin auch sein mochte, jegliche Berührung anderer Menschen war Lee mehr als unangenehm.

Niemand hier hatte das Recht sie anzufassen.

Dr. Arendt zwang ein entschuldigendes Lächeln auf ihre Lippen.

„Es tut mir leid, Amelie, doch ich sehe mich gezwungen, eine Überweisung an die psychiatrische Klinik in Dreinaeheim auszustellen. Dort wird man sich voll und ganz auf Ihre Betreuung konzentrieren.“ Sie ging an Lee vorbei und hielt ihr die Tür auf. Ihr Blick drückte ehrliches Bedauern aus. „Genießen Sie das Wochenende, Amelie. Am Montag werden wir Ihre Verlegung in die Wege leiten.“

 

***

 

Nachdenklich stand sie am Fenster ihres Krankenzimmers, lehnte die Stirn gegen das kalte Glas und starrte in die Nacht hinaus. Hinter ihr erfüllte das klangvolle Schnarchen ihrer Zimmernachbarin den kargen Raum.

Dies war nicht die erste rastlose Nacht, die Lee an diesem Fenster verbrachte. Allerdings war sie noch nie von solcher Unruhe erfüllt gewesen wie heute.

Während die meisten anderen Patienten an diesem Freitag entweder zum Wochenendbesuch nach Hause gereist oder sogar entlassen worden waren, blieb sie weiterhin eine Gefangene.

Eine Gefangene, die sich fragte, welchen Sinn ihr Leben noch hatte, wenn sie nun in eine Nervenklinik eingewiesen wurde, in der sie sich in der Gesellschaft von Psychopathen und Schizophrenen befinden würde.

Lee wusste, sie tat den meisten Gästen in diesem Etablissement vermutlich unrecht - aber die Irrenanstalt von Dreinaeheim besaß auch einen gewissen Ruf.

Hier war es schon schlimm, nachts die Schreie der Männer und Frauen zu hören, die sich mit ihren Albträumen quälten. Doch verglichen mit Dreinaeheim war das Klinikum der Himmel auf Erden.

Seit Dr. Arendt ihre Pläne offenbart hatte, arbeitete es unentwegt in Lees Kopf.

Sie musste hier endlich weg!

Nur wie sollte sie das anstellen?

Die Türen zum Hauptkorridor waren ständig verschlossen und es war immer jemand vom Pflegepersonal anwesend. Sogar um diese Uhrzeit gab es neben der Nachtschwester noch einen kräftigen Krankenpfleger auf der Station.

Sie wäre nicht die Erste, die sich mit dem Gedanken trug, von hier verschwinden zu wollen. Die Fenster auf dieser Station ließen sich nicht grundlos nur kippen und waren zusätzlich mit Gittern versehen.

Selbst wenn sie tatsächlich eines aufhebeln könnte, bei dem keine Stahlkonstruktion den Weg versperrte, wie sollte sie die fünf Stockwerke nach unten überwinden?

Mit zusammengebundenen Bettlaken?

Das war lachhaft.

 

Die letzten Wochen hatte sie damit zugebracht, untätig darauf zu hoffen, dass ein Wunder geschah. Erst die Worte der Ärztin hatten sie nun aufgescheucht.

Zwangseinweisung.

Verflucht, wenn sie weiter wie eine leblose Puppe durch die Gänge schlurfte und sich in diese Klapsmühle einsperren ließ, dann konnte sie sich gleich die Schlaftabletten ihrer Zimmernachbarin einwerfen.

Sie spürte, wie alle Wärme ihre Wangen verließ, und starrte in die Dunkelheit hinaus, ohne etwas zu sehen.

DAS war es.

Wie hatte sie so dämlich sein können?

Sie war von dieser Brücke in den Fluss gesprungen und gerettet worden. Was wäre passiert, wenn es keinen Fluss gegeben hätte?

Sie hatte völlig sinnlos darauf gewartet, dass es von allein passieren würde; dass sie aufwachen und wieder in Sijrevan sein würde. Aber so einfach war das nicht. Sie würde nicht einfach einschlafen und ein Tor in diese andere Welt durchschreiten. Der einzige Weg, um nach Hause zu kommen, war der Sprung durch Zeit und Raum.

Sie musste wiederholen, was sie getan hatte ... aber diesmal richtig.

 

Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Scheibe.

Sie musste hier raus!

Je schneller, desto besser.

Hinter ihr öffnete sich die Tür und Licht flammte an der Zimmerdecke auf.

„Sie sind noch wach?!“ In der Stimme der Nachtschwester klang ein vorwurfsvoller Unterton mit. Wahrscheinlich hatte Lee sie gerade von ihrer Lieblingsserie im Fernsehen losgerissen.

Okay, das Einschlagen irgendeiner Fensterscheibe fiel flach, wenn schon ein harmloser Schlag gegen das Glas das Pflegepersonal auf den Plan rief.

Über die Schulter hinweg warf Lee der Schwester einen mürrischen Blick zu, blinzelte gegen das helle Licht und sah wieder zum Fenster. Alles, was sie dort noch erkannte, war ihr eigenes Spiegelbild.

Sie war sich selbst fremd.

In Sijrevan hatte sie vergessen, dass ihr das Haar zuvor weit bis über ihren Rücken gereicht hatte. Der lange Zopf machte einen ganz anderen Typ aus ihr.

Die Kurzhaarfrisur, die sie in dieser anderen Welt getragen hatte, war deutlich praktischer gewesen. Wäre sie die letzten Tage nicht so teilnahmslos gewesen, hätte sie vielleicht schon versucht, sich den Zopf abzuschneiden.

Andererseits gab man ihr hier nicht einmal eine Papierschere in die Finger und ihre Weigerung, mit jemandem zu sprechen, verhinderte einen Besuch beim krankenhausinternen Friseur.

Missmutig betrachtete sie ihr Gesicht.

Ihre Wangen waren ebenso eingefallen wie auf dem Schlachtfeld vor Callahan-Castle und ihre Augen waren längst ausdruckslos geworden.

Seufzend öffnete sie die Faust, legte die Hand gegen die kalte Fensterscheibe und ließ ihre Finger daran hinabgleiten. Sie brauchte frische Luft! Sie wollte den Himmel dort draußen nicht mehr durch diese fleckige Barriere betrachten.

Tief durchatmend, lehnte sie die Stirn an das Glas. Abermals schloss sie die Lider. Von den Haarspitzen bis zu den Zehen spürte sie das Verlangen, endlich heimzukehren - und dieses Zuhause lag nicht mehr in dieser Welt.

Es war Meilen und Jahrhunderte entfernt. Sie wollte nicht länger nur in ihren Erinnerungen schwelgen.

Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Sie musste hier weg - jetzt!

 

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und die Finger bohrten sich unangenehm in ihr Fleisch. Als sie die Augen aufschlug und den Kopf wandte, erblickte sie Gallowains arrogantes Antlitz vor sich; ein überhebliches Lächeln lag auf seinen Lippen.

Seine Stimme klang als leises Echo in ihrem Kopf nach.

„Habe ich dich also wieder!“

Wut und Hass tobten durch ihre Venen und machten ihr das Atmen schwer. Die Emotionen schnürten ihr die Kehle zu.

Nicht er!

Nein!

Instinktiv stieß sie den rechten Arm hoch, schlug seine Hand beiseite und riss ihn mit der Linken zu sich heran.

Dann drosch sie ihm die rechte Faust mit solcher Gewalt gegen die Brust, dass er keuchend rückwärts taumelte, stürzte und bewusstlos liegenblieb.

Ihr Blick flackerte.

Punkte tanzten vor ihren Augen und schufen sekundenlang ein verwirrendes Bild aus flimmernden Lichtreflexen. Als sie wieder klar sehen konnte, entdeckte sie das hell erleuchtete Krankenzimmer vor sich.

Erschrocken schnappte sie nach Luft.

Die Nachtschwester lag schwer atmend auf dem Boden vor dem Bett von Lees Zimmernachbarin, die immer noch tief und fest schlief.

Besorgt eilte sie zu der Frau hinüber, ging neben ihr in die Knie und legte ihr zwei Finger an den Hals. Der Puls ging gleichmäßig. Dennoch befürchtete sie, dass ihr Schlag mehr Schaden angerichtet hatte, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe.

Nachdem Lee ein gutes halbes Jahr lang ihre Sinne so ausgiebig trainiert hatte, war ihre Reaktion nichts anderes als instinktive Verteidigung gewesen. Ihr war nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen, zu hinterfragen, ob es tatsächlich Gallowain war, der vor ihr stand.

Ihre überreizten Nerven hatten ihr etwas vorgegaukelt.

Verdammt, sie hatte die Frau nicht verletzen wollen!

Ihr Blick glitt über die Gestalt, die vor ihr lag, und blieb an dem Schlüsselbund hängen, der der Schwester aus der Tasche gefallen war.

Plötzlich war Lee von kalter Ruhe erfüllt.

Da war sie, die Chance, auf die sie gehofft hatte.

Entweder sie traf nun ihre Entscheidung und handelte, oder sie würde in weniger als vier Tagen unter Hunderten von Verrückten ihr Dasein fristen müssen - aus Dreinaeheim gab es kein Entrinnen.

Entschlossen griff sie nach den Schlüsseln und eilte zur Tür. Sie wusste, dass sich der Pfleger, der nachts Dienst schob, normalerweise im Stationszimmer aufhielt. Wenn er ihr jetzt in den Weg trat, würde ihr keine andere Wahl bleiben, als sich auf eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm einzulassen. Sie war sich trotz ihres Schlags gegen die Schwester nicht sicher, ob sie fit genug war, ihn außer Gefecht zu setzen.

Verstohlen lugte sie in den Korridor.

Der Plan, der gerade in ihrem Kopf Gestalt annahm, war riskant, aber wenn sie vorsichtig war und ein bisschen Glück hatte, würde es ihr vielleicht gelingen. Ihre Finger krampften sich fest um den Schlüsselbund, als sie die Zimmertür bis auf einen schmalen Spalt hinter sich zuzog.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!

 

Lautlos eilte sie den Flur entlang.

Als sie die Glastür erreichte, die zu den Gemeinschaftsräumen der Station führte, reckte sie den Hals und sah zum Schwesternzimmer hinüber.

Der Pfleger hockte unübersehbar hinter den Scheiben des erleuchteten Stationszimmers und arbeitete am Computer. Der Monitor tauchte sein Gesicht in kaltes, weißes Licht und er senkte immer wieder den Blick, um etwas auf der Tastatur zu tippen.

Gut, offenbar war er mit Arbeit beschäftigt und würde die Schwester in den nächsten Minuten nicht vermissen. Allerdings konnte sie nicht einfach an ihm vorbeispazieren, die Glastür zum Hauptkorridor aufschließen und hinausmarschieren. Dafür hätte sie links am Stationszimmer vorbeilaufen und die offenstehende Tür passieren müssen.

Er würde sie unweigerlich sehen und ihr bliebe keine andere Wahl, als sich mit ihm einen Kampf zu liefern. Sie befürchtete allerdings, dass sie diesen Kerl nicht mit reiner Körperkraft überwältigen konnte. Sie wusste zwar ein Schwert zu führen, aber nicht die Fäuste.

Lees Blick fiel auf die Tür rechts vom Stationszimmer.

Dahinter lag der Personalraum, wo Pfleger und Schwestern sich umzogen und ihre privaten Dinge verschlossen. Sie überlegte.

Wenn sie es schaffte, dorthin zu gelangen, konnte sie sich vielleicht andere Kleidung besorgen und einen Weg finden, hier herauszukommen - unerkannt und ohne Verletzte.

Sie reckte den Hals.

Der größte Bereich zwischen der Glastür, hinter der Lee kauerte, und dem Personalraum lag im Halbdunkel. Sie hatte eine reelle Chance, ihn durchqueren zu können.

Wenn der Mann allerdings auf die Idee kam, das Licht einzuschalten, würde er sie augenblicklich entdecken. Sie sollte handeln, solange er abgelenkt war.

Vorsichtig drückte sie die Tür auf und quetschte sich durch den Spalt.

Nur keine unnötigen Geräusche verursachen!

 

Sie streifte die Gummipantoletten, die immer ein leises Quietschen auf dem Linoleum verursachten, von den Füßen und schlich in gebückter Haltung quer durch den offenen Speiseraum.

Der Herzschlag, der in ihrer Kehle hämmerte, machte ihr das Atmen schwer. Vermutlich hätte ihr rasender Puls im Moment jedes Messgerät kollabieren lassen. Sie zwang sich zur Ruhe.

Als sie das Stationszimmer passierte, trennten sie nur noch zwei Meter von der Tür zum Personalraum. Doch diese zwei Meter waren von einem großen, viereckigen Fleck aus Licht versperrt, das aus dem Schwesternzimmer schien. Nervös blieb sie im Schatten stehen und richtete sich vorsichtig auf. Der Pfleger saß mit dem Rücken zu ihr und tippte offenbar konzentriert einen Bericht ab.

Bislang hatte er sie noch nicht bemerkt.

Vorsichtig ging sie wieder in die Knie, schlich weiter und trat schließlich in das Licht. Über die Schulter hinweg vergewisserte sie sich, dass der Pfleger nach wie vor seiner Arbeit nachging.

Ihre Finger zitterten, während sie sich bemühte, so lautlos wie möglich den passenden Schlüssel an dem Bund zu finden, ohne dabei Geräusche zu verursachen.

Das Blut rauschte mittlerweile so laut in ihren Ohren, dass sie immer wieder nervös zu dem Pfleger hinübersah, während sie einen Schlüssel nach dem anderen ausprobierte.

Der Mann schien zwar völlig vertieft, doch das bedeutete keineswegs, dass er nicht irgendwann seine Kollegin vermissen würde.

Endlich ließ das Schloss sich drehen. Lee drückte die Tür auf und schlüpfte in die Dunkelheit des dahinterliegenden Zimmers, ehe sie sie wieder schloss. Mit einem erleichterten Seufzer tastete sie nach dem Lichtschalter und presste sich mit dem Rücken an die Wand.

 

Ein paar Leuchtstoffröhren brummten leise und tauchten den Raum nach wenigen Sekunden in Helligkeit. Sich aufrichtend, schaute Lee sich aufmerksam um.

Eine Reihe schmaler Schränke, die an die Spinde aus Schulzeiten erinnerten, standen zu ihrer Linken an der Wand. Ihre Augen irrten über die darauf angebrachten Schildchen, bis sie den Namen der Krankenschwester las.

Vorsichtig zog sie an der Tür und stellte erleichtert fest, dass sie unverschlossen war. Im Inneren fand sie Kleidung und Schuhe.

Ein Grinsen huschte über Lees Lippen.

Wie leichtsinnig ... jemand würde die Gute noch beklauen!

Rasch warf sie ihren Bademantel zu Boden, zog sich den Krankenhauspyjama über den Kopf und schlüpfte in Jeans und eine karierte Bluse. Die Kleider waren ein bisschen groß, aber für ihre Zwecke würde es reichen. Die Schuhe waren eindeutig zu klein, also musste sie die Gummipantoletten wieder anziehen, die sie neben der Glastür zurückgelassen hatte.

Entschlossen krempelte sie die Hosenbeine bis zu den Knien hoch, öffnete den Ausschnitt der Bluse und schob den Kragen nach innen. Dann warf sie sich den Bademantel wieder über. Nachdem sie gewissenhaft dafür gesorgt hatte, dass von der Alltagskleidung nichts zu sehen war, schloss sie den Spind und stopfte ihren Pyjama in den Mülleimer neben der Tür.

Den Schlüsselbund umklammernd, löschte sie die Lampen, ging in die Knie und verließ, nach einem sichernden Blick, wachsam den Raum. Der Pfleger saß immer noch an seinem Computer und arbeitete.

Lee huschte durch das Halbdunkel zu der Glastür, schlüpfte in ihre Gummilatschen und blickte zu dem Mann im Stationszimmer zurück.

 

Er wirkte genervt.

Einen Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, tippte er mit lustloser Miene auf der Tastatur herum. Sein Nachtdienst bereitete ihm offensichtlich wenig Freude.

Sie eilte zurück in den Korridor und erreichte unbehelligt ihr Zimmer, wo die Schwester immer noch bewusstlos auf dem Boden lag.

Ihr Atem ging regelmäßig und ruhig. Allerdings war sich Lee ziemlich sicher, dass spätestens morgen ein wirklich übles Hämatom auf ihrem Brustbein prangen würde. Das schlechte Gewissen verdrängend, presste sie die Lippen aufeinander.

Reue war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.

Wenn sie sich nicht für den Rest ihres Lebens irgendwo einsperren lassen wollte, musste sie ihren spontanen Plan skrupellos durchziehen. Es gab jetzt ohnehin kein Zurück mehr.

Entweder ... oder!

Die Schultern gestrafft, schob sie den passenden Schlüssel in das Schloss der Zimmertür und öffnete sie bis zum Anschlag. Dann fuhr sie sich mit beiden Händen ins Haar, zerzauste ihre ohnehin schon nachlässig gebundene Frisur und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, der in dem kleinen Badezimmer hing.

Sie sah aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen und hätte sich nur schnell einen Bademantel übergeworfen.

Perfekt!

Sie eilte zur Glastür des Schlaftrakts. Tief durchatmend, drückte sie den Rücken durch und legte eine Hand gegen den Türdrücker.

Ihr Plan war riskant, aber es war die einzige Chance, die sie hatte. Eine weitere Gelegenheit würde sich ihr nicht bieten.

Jetzt oder nie!

Showtime!!!

 

Sie riss die Tür auf und stürzte winkend hindurch.

„Hilfe!“

Ihr Ruf hallte durch den großen, leeren Raum.

Der Pfleger im Stationszimmer hob ruckartig den Kopf und stand mit der gleichen Bewegung von seinem Platz auf. Er betätigte einen Schalter und in dem großen Speiseraum flammten die Lichter auf. Als er Lee erkannte, trat er mit gefurchter Stirn aus dem Stationszimmer und kam ihr entgegen.

Sie gestikulierte wild in seine Richtung.

Er wirkte verblüfft, versuchte sich aber offensichtlich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn überraschte, sie sprechen zu hören.

„Was ist denn los?“ Seine Stimme hatte den typischen, beruhigenden Klang aller Pflegekräfte, die täglich mit Menschen wie ihr zu tun hatten. Er hob beschwichtigend die Hände. „Beruhigen Sie sich, Frau Heiduck.“

Sie winkte ihm hektisch zu, schüttelte den Kopf und wandte sich dem Schlaftrakt zu.

„Die Schwester ... sie ist ohnmächtig!“ Winkend forderte sie ihn auf, ihr zu folgen, und lief übertrieben unruhig zu ihrem Zimmer zurück. Nervös von einem Fuß auf den anderen tretend, blieb sie vor der Tür stehen und wartete, bis er bei ihr war.

Sie deutete hektisch hinein.

Er blieb stehen, sah in das Zimmer und maß Lees erschrockenes Gesicht mit prüfendem Blick. Dann eilte er nach kurzem Zögern zu seiner Kollegin.

„Wie ist das passiert?“, fragte er.

„Sie ist einfach umgefallen“, erwiderte Lee leise.

Er beugte sich über die Schwester, sprach sie an und prüfte ihre Vitalwerte, dann zog er sein Handy aus der Tasche, vermutlich, um Hilfe anzufordern.

Er war beschäftigt.

 

Lee zog die Tür so leise wie möglich zu und drehte lautlos den Schlüssel im Schloss um. Sie war überzeugt, dass die Tür ohne Weiteres von der anderen Seite aufzuschließen war, also blieben ihr nur Sekunden, bis er entdeckte, was sie getan hatte.

Diese Sekunden musste sie nutzen!

Sie hatte in den letzten Tagen genug Zeit verstreichen lassen, in denen sie sich im Selbstmitleid gesuhlt und der Situation ergeben hatte.

Lee nahm den Schlüsselbund an sich, machte auf dem Absatz kehrt und verließ hektisch den Schlaftrakt. Nachdem sie die Glastür, die sonst immer offenstand, abgeschlossen hatte, rannte sie an dem Stationszimmer vorbei und zu der zweiten Glastür, die sie vom rettenden Hauptkorridor trennte.

Gleich hatte sie es geschafft!

Sie hörte den Pfleger gegen die Zimmertür hämmern. Ihr Pulsschlag erhöhte sich, während sie einen Schlüssel nach dem anderen ausprobierte, um die Tür aufzuschließen.

Endlich!

Als der Schlüssel im Zylinderkopf verschwand und sie ihn umdrehen konnte, schluchzte sie erleichtert auf. Im nächsten Moment zuckte sie erschrocken zusammen, als der Alarm ausgelöst wurde.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Einer Eingebung folgend, machte sie einen Schritt auf das Stationszimmer zu und griff nach dem Feuerzeug, das direkt neben der Tür auf einem Päckchen Zigaretten lag.

Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit“ stand in großen, schwarzen Lettern auf weißem Grund. Lee grinste und schnappte sich den überquellenden Papiereimer unter dem Schreibtisch.

Da war was dran.

 

Sie postierte den Eimer mitten im Gang, ließ die Flamme des Feuerzeugs auflodern und entzündete die Papierfetzen. In Bruchteilen von Sekunden flackerte ein hübsches Feuer in dem Eimer. Es würde keinen großen Schaden anrichten, aber sobald der obere Plastikrand zu schmelzen begann, würde es nicht nur fürchterlich stinken - die Rauchentwicklung von verbranntem Kunststoff war enorm.

Erneut trat sie in das Stationszimmer, nahm den großen Locher, der auf dem Schreibtisch stand, und zog die Anschlagsleiste heraus, die zur Justierung des Papierformats gedacht war. Dann trat sie wieder in den Korridor und schlug mit dem Locher die Glasscheibe des Feueralarms ein.

Ein ohrenbetäubendes Heulen erklang, kaum dass sie den Knopf gedrückt hatte, und übertönte sogar den Alarm, den der Pfleger ausgelöst haben musste.

Als sie sich umdrehte und sich der Glastür zum Hauptkorridor zuwenden wollte, sah sie, wie der Pfleger sich gerade aus dem Krankenzimmer befreite und in den Gang hinausstolperte.

Er hielt das Mobilteil eines schnurlosen Telefons in der Hand und brüllte hinein. Seine Laune war eindeutig als miserabel zu bezeichnen und der Blick, mit dem er sie bedachte, als er sie bemerkte, hätte sie unter anderen Umständen vermutlich tot umfallen lassen.

Mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst erschreckte, trat Lee gegen den Mülleimer und der mittlerweile lichterloh brennende Inhalt ergoss sich über den Boden des Speiseraums.

Es war keine wirkliche Barriere für jemanden, der wutentbrannt in ihre Richtung stürmte, und außer fürchterlich stinkenden Brandflecken im Linoleum würde es auch keinen weiteren Schaden anrichten. Aber es war ähnlich wie mit dem Mülleimer ... der Qualm war beißend.

Sie rannte zur Tür, die auf den Hauptkorridor hinausführte, und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Gerade noch rechtzeitig, denn der Pfleger hatte die Tür zum Schlaftrakt aufgeschlossen und stürmte nun wie ein D-Zug auf sie zu.

Mit der Schulter stemmte sie die Haupttür auf und schlüpfte hindurch. Auf der anderen Seite wirbelte sie herum, drückte die Tür mühsam zu und rammte die Anschlagsleiste des Lochers darunter.

 

Der Pfleger, der sie fast eingeholt hatte, rannte mit voller Wucht dagegen. Sein Kopf knallte gegen das zentimeterdicke Glas und er kippte wie ein gefällter Baum nach hinten. Benommen hob er den Kopf und starrte sie an, als käme sie nicht von diesem Stern.

Lee hielt sich nicht mit ihrem Gewissen auf.

Die Leiste würde seinem wütenden Ansturm nicht lange Einhalt gebieten und seine Benommenheit würde sich schnell verflüchtigen. Sie dachte allerdings gar nicht daran, hier stehenzubleiben und darauf zu warten, dass er sich erholte.

Rasch drehte sie sich um und lief zum Treppenhaus. Im gleichen Moment, in dem sie die Tür aufriss, reagierte die Sprenkelanlage des Klinikums auf die Rauchschwaden, die das brennende Linoleum verursachte, und Lee war innerhalb weniger Sekunden komplett durchnässt.

Schreie und Gekreisch erklangen, unzählige Menschen stürmten durch das Treppenhaus und Lee wurde von genau dem Chaos in Empfang genommen, auf das sie gehofft hatte.

Panische Patienten und aufgeregtes Personal eilten die Stufen hinab und Richtung Notausgang. Das kalte Wasser, das auf sie alle niederging, ließ die meisten noch schneller laufen. Ihr Überlebensinstinkt und die Angst sorgten dafür, dass sich jeder selbst der Nächste war. Niemand achtete darauf, woher Lee kam.

Der Feueralarm jaulte durch das Gebäude.

Lee mischte sich unter die Flüchtenden und rannte mit ihnen die ersten Stufen hinunter, während sie sich die Kapuze des Bademantels über den Kopf zog.

Einige Männer stürmten durch die unter ihnen liegende Tür ins Treppenhaus. Sie waren mit Feuerlöschern bewaffnet und rannten zum fünften Stock hinauf. Als sie ihnen hinterherschaute, konnte sie nur noch flüchtig erkennen, wie sie durch die Tür zu ihrer Station verschwanden.

Keine zehn Sekunden später erreichte sie mit den anderen Flüchtenden die Etage, auf der der Notausgang lag. Sie streifte den Bademantel im Laufen von ihren Schultern und ließ ihn unauffällig hinter die Tür fallen, während sie diese einen Augenblick lang aufhielt.

Dann rannte sie mit dem Strom weiter und in die kühle Nachtluft hinaus. Unter ihren Füssen spürte sie ein kaum wahrnehmbares Beben.

Euphorie und Aufregung beflügelten ihre Schritte.

Sie war frei!

 

***

 

Irgendwo in der Ferne vernahm sie Sirenengeheul, aber Lee ließ sich nicht aufhalten. Sie war gerannt, bis ihre Lungen gebrannt hatten. Nur eine kurze, gehetzte Pause hatte sie sich erlaubt, ehe sie in einen langsamen, stetigen Laufrhythmus verfallen war, der nicht so an ihren Kräften zehrte und ihr noch Luft zum Atmen ließ.

Nicht, dass sie besonders viel Wert auf dieses Leben hier legte, aber sie wollte nicht irgendwo bewusstlos aufgegriffen werden, um sich anschließend in der Irrenanstalt von Dreinaeheim wiederzufinden - und jetzt konnte sie nicht mehr mit einer milderen Strafe rechnen.

Während ihrer bisherigen Flucht hatte sie sich zum Teil durch Büsche geschlagen und im seitlichen Dickicht der Straßen versteckt. Glücklicherweise war es schon relativ spät und bis auf vereinzelte Nachtschwärmer waren kaum noch Menschen unterwegs.

Lee blieb schwer atmend neben dem letzten Baum stehen, versuchte sich zu sammeln und schaute sich aufgeregt um. Zu ihrer Erleichterung war auf dem letzten Teilstück des Autobahnzubringers kein einziger Wagen an ihr vorbeigefahren.

Der Himmel über ihr zeigte ein erstes zartes Grau.

Sichernd blickte sie sich um. Die Sirenen und das Geheul von Feuerwehr und Polizei waren beinahe verklungen. Nur in der Ferne konnte sie noch etwas von dem Chaos erahnen, das sie in dem Klinikum verursacht hatte.

 

Sie hatte eine Krankenschwester niedergeschlagen, den Pfleger außer Gefecht gesetzt und versucht, ein Feuer im Krankenhaus zu legen - jetzt hielt man sie nicht mehr nur für verrückt, sondern für gemeingefährlich.

Was sie danach in Dreinaeheim erwarten würde, wollte sie sich nicht einmal vorstellen!

Zehn Leitpfosten bis zur Brücke!

Sie musste das schaffen!

Der Puls hämmerte hart gegen ihre Schläfen und ihre Muskeln brannten. Sie war zwar im Umgang mit einer Waffe fit gewesen, aber sie war weder eine Langstreckenläuferin, noch hatte sie je viel Gefallen am Joggen gefunden.

Der Wagen fuhr vorbei. Vielleicht hatte man sie dank der Mittelleitplanke gar nicht gesehen.

Der Schweiß lief ihr in den Kragen der Bluse.

Sie konnte fühlen, wie sich an der Innenseite beider Füße ein paar unangenehme, brennende Blasen bildeten und die Haut sich abschälte. Sie begann zu humpeln.

Verdammt!

Drei Leitpfosten, vier, fünf.

Sirenengeheul erklang irgendwo hinter ihr.

Sie versuchte, rascher zu humpeln.

Ihr Blick war starr auf das Brückengeländer gerichtet.

Nur noch knapp zweihundert Meter.

Ihr Blutdruck schoss in die Höhe, ihr schwindelte.

Nicht aufgeben!

Sie ignorierte die Schmerzen und begann wieder zu laufen. Hundert Meter noch!

Sie spürte das Licht mehr als dass sie es sah, während es sie von hinten erfasste. Das Lärmen der Sirene war eindeutig das der Polizei.

Lee grub ihre Zähne in die Unterlippe und mobilisierte ihre letzten Reserven.

Nur noch fünfzig Meter.

Sie hätte die Gummilatschen von sich geschmissen und wäre barfuß weitergelaufen, wenn das keine Verzögerung mit sich gebracht hätte.

Zwanzig.

Zehn.

Fünf.

Jemand brüllte etwas, das sie nicht verstand - nicht verstehen wollte.

Sie ließ sich schwer dagegen fallen und schwang sich mit einem letzten Aufbäumen drüber. Aus dem Augenwinkel sah sie Gestalten, die sich durch die Dunkelheit hektisch in ihre Richtung bewegten.

„Halt! Bleiben Sie stehen.“

Wenn sie diesen Worten Folge leistete, war ihr Leben endgültig vorbei. Sie stieß sich vom Geländer ab, kletterte auf die Balustrade und begann sich außen an der Brüstung entlangzuschieben.

Ihr Körper schrie vor Schmerz und Pein, doch sie gönnte ihm keine Pause.

Sie erkannte, dass die Böschung zurückwich und langsam der Abgrund unter ihr sichtbar wurde. Sie tippelte weiter auf dem engen Streifen entlang, während sie sich krampfhaft an dem schmalen Handlauf festhielt.

 

Wo war der zweite?

Versuchte er, oben von der Straße an sie heranzukommen?

Sie wollte nicht, dass den Beamten etwas zustieß, aber sie würde sich auch nicht von ihnen aufhalten lassen.

Sie hatte fast die Mitte der Brücke erreicht.

Sie schaute über die Schulter nach unten. Fast zweihundert Meter freier Fall.

Diesmal konnte sie niemand mehr retten.

Mühsam drehte sie sich einmal um die eigene Achse, bis die Balustrade sich kalt gegen ihren Rücken presste, und hob mit einem erleichterten Durchatmen das Kinn an.

Ein grandioser Ausblick, wirklich wunderschön.

Sie wandte den Kopf und sah zu dem jungen Polizisten hinüber, der in seiner Bewegung innegehalten hatte und sich krampfhaft an die Brüstung klammerte.

Sein Gesicht war kalkweiß und sie sah die Angst in seinem Blick. Er würde diese letzten Meter nicht überwinden. Die Panik hielt ihn plötzlich mit eiserner Faust fest und ließ nicht zu, dass er sich noch mehr als einen Schritt nach vorn bewegen konnte.

„Kommen Sie zu mir, Frau Heiduck.“

Lee schüttelte den Kopf.

Wenn es nur ein schlechter Scherz des Schicksals gewesen war, der sie beim letzten Mal in diese andere Welt geschickt hatte, dann war sie bereit, nun die Konsequenzen zu tragen.

Sie gehörte nicht länger in dieses Jahrhundert und mit jeder Faser ihres Seins sehnte sie sich zurück an die Seite ihres Mannes. Zurück in das Leben, das nun untrennbar mit ihr verbunden war. Entweder würde sich der Sprung nach Sijrevan wiederholen, oder sie würde sterben.

Ihre Lider hoben sich und sie sah, wie die Sonne sich viel schneller als erwartet über den Horizont hinaufschob. Sie fühlte die Wärme, in die das Licht sie tauchte, und die gleißende Helligkeit, die viel intensiver war als normalerweise.

Schemenhafte Umrisse schienen vor ihr zu entstehen, als würde sich ein gigantisches, geflügeltes Wesen aus dem Feuerball heraus auf sie zu bewegen.

Sie sah zu ihm hinüber.

Lee lächelte ihn an.

Tief durchatmend, breitete sie die Arme aus und ließ sich nach vorne fallen. Sie spürte den Wind, der an ihren Kleidern zerrte, die Schwerkraft, die sie unnachgiebig nach unten zog. Für einen winzigen Moment war die Welt so klar und rein wie nie zuvor - es gab kein Leid, kein Elend, keinen Hass.

Ganz gleich, was kam, das Leben hier war vorbei.