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Christof Tannert

Die neuen Fälle des Hauptkommissars Stilz: Edward





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Zuvor: Hauptkommissar Stilz

 

Es war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, dem leitenden Hauptkommissar Stilz, dass er einmal wichtigster Mann in der Mordabteilung sein würde, wichtiger als der Chef. Ehemaliger Chef, denn der war soeben nach oben versetzt worden, ein Verwaltungsbeamter, ein Jurist, den das Laufbahnrecht weiter nach oben gespült hatte. Das war freilich immer so gewesen, daran nörgelte niemand, solange diese Person einen in Ruhe seine Arbeit machen ließ. Nun aber war es eine Frau geworden, die Mordabteilung hatte jetzt eine Chefin. Juristin natürlich, hochbegabt natürlich. Schlimm war, dass die Frau Ambitionen hatte, frauenrechtlerische vor allem, und wenn Stilz nicht ohnehin oft von Sodbrennen geplagt und gelegentlich mürrisch und unleidlich gewesen wäre: das hätte für ihn einen weiteren Grund für seine Magenübersäuerung und folglich seinen Antrag auf vorgezogenen Ruhestand abgeben können. Das ließ er kaum verhüllt durchblicken, als ebendieser Antrag -zu Stilz´ Verdruss ein bisschen zu schnell und ein bisschen zu unkompliziert, ohne jede weitere Rücksprache also, ohne ihn zum Bleiben zu drängen also- als also dieser Antrag auf vorgezogenen Ruhestand positiv beschieden worden war. Als ob die so ohne weiteres ohne ihn auskämen! Noch gab es keinen kniffligen oder irgendwie sonderbaren Fall, den sie nicht ihm, zumindest jedenfalls ihm auch, vorlegten.

 

Und da wurde ihm wieder einer avisiert. Aber diesmal schien alles trivial zu sein. Eine ansehnliche Frau mittleren Alters hatte ihn zur Anzeige gebracht, Leiterin eines Wohnheims für Jugendliche mit stark verminderter Bildungsfähigkeit. Da war ein geistig behinderter Jugendlicher, Albert mit Namen, im Heim an einer Pilzvergiftung gestorben, und zwar fast gleichzeitig mit seiner Mutter. Die hatte ihn besucht, und offensichtlich hatten sie gemeinsam eine giftige Pilzmahlzeit eingenommen.

 

„Das kann kein simpler Unfall gewesen sein!“, meinte die Heimleiterin mit Nachdruck, da müsse wenn schon nicht Vorsatz, so doch mindestens grobe Nachlässigkeit dabei gewesen sein. Jedenfalls sehe sie es als ihre Pflicht an, genaueste Untersuchung zu fordern. `Mindestens´, dachte Stilz seinerseits, `könnte das auch ein Fall von Vernachlässigung der Aufsichtspflicht gegenüber Schutzbefohlenen, und zwar mit Todesfolge gewesen sein´. Das aber genau wollte die gut informierte und überaus resolute Dame offensichtlich vor allem und schnellstens geklärt wissen, dass sie ihr Heim korrekt führe, dass es da keine Nachlässigkeiten gegenüber schutzbefohlenen Menschen gäbe, denn ein solcher Vorwurf, berechtigt oder nicht, würde auf ihr Heim und somit auf sie selbst zurückfallen, solange das nicht gründlich geklärt war. Wenn es aber kein Unfall gewesen sein sollte, wäre ihr auch ein Verdächtiger bei der Hand, der frühere Lebensgefährte der nun toten Mutter, ein Arzt, der schon längere Zeit wieder von ihr getrennt lebe. Der sei Pilznarr und habe mit Albert Waldspaziergänge gemacht, dort auf dem Dorfe, aber auch hier, und Pilze gesammelt, absonderlich aussehende zum Teil, aber er habe ihr auf Rückfrage versichert, dass er die alle genau kenne und sogar Albert viele davon auch schon. Kein Wunder, dass da nun etwas passiert sei, was, daran möge sie gar nicht denken.

 

Bis dahin war nach dem Einmaleins des langgedienten Kriminalisten alles normal, sah er davon ab, dass ein Tötungsverbrechen nie normal sein konnte. Falls es denn eins war.

 

Schwierig war es, den Hergang zu rekonstruieren. Bisher stand nur die Todesursache fest. Pilzvergiftungen. Mit dem Grünen Knollenblätterpilz. Erst bei der Autopsie war das zweifelsfrei geklärt worden, also ziemlich spät nach dem Verzehr, denn erbrochen hatten die Vergifteten kaum, was für eine solche Pilzvergiftung untypisch war. Ein Zufall war ihnen zu Hilfe gekommen, es waren geringe Speisereste in einem nicht ordnungsgemäß geleerten Mülleimer auf Alberts Heimetage gefunden worden, verschimmelt schon, aber der chemischen Analyse noch zugänglich. Die waren von der Kripo sicher gestellt worden und gaben den letzten Aufschluss: Da waren tatsächlich Grüne Knollenblätterpilze geschmort worden. Verwertbare Spuren auf irgendwelche andere Personen als Mutter und Sohn allerdings hatten sie trotz routinierter und sorgsamer Untersuchungen nicht finden können. Ob es also ein Verbrechen oder nur ein Unfall oder auch Selbstmord war, stand überhaupt nicht fest. Auf den ersten Blick sah es eher nach einem Unfall aus.

 

Stilz zeigte sich demgemäß vom Ansinnen seiner Chefin nicht erbaut, diese eher simple Sache als `Fall´ übernehmen zu sollen. Es war ja wohl unter seinem Niveau. Und die feministische Spitze, die die neue Chefin nun hinterher schob, war lächerlich. Sie meinte nämlich, hier könne ganz gut ein abgewiesener Liebhaber zum Mörder geworden sein und zweifach Rache an der ihn verschmähenden Frau geübt haben, dieses mögliche und nur allzu oft zutreffende Motiv in der nach wie vor männerdominierten Gesellschaft wäre wohl als erstes abzuklären. Stilz rollte die Augen und blickte flehentlich auf seinen Assistenten. Jetzt schloss die neue Leiterin der Mordabteilung vorläufig ab mit der Bemerkung, dass da ein „ganzer Haufen Korrespondenz sichergestellt“ worden sei und so etwas wie ein Tagebuch bei der Frau Clara-Rosa Günder („ein schöner Name, finden Sie nicht?“), der nun Toten. Diese Frau Günder hätte verschiedene hin- und hergegangene Briefe und Briefkopien von sich und ihrem Lebensgefährten akribisch eingesammelt und irgendwelche Texte dazu geschrieben. Sie sei an einem Buchverlag tätig gewesen und hätte womöglich an einem biografischen literarischen Werk gesessen, dessen Fragmente in ihrer Wohnung nicht sehr geordnet umherlägen.

 

Hier, meinte die Chefin nun, sollten sie vor allem ansetzen. Vielleicht, ja ziemlich wahrscheinlich enthielten diese Textstücken Erhellendes. Auf jeden Fall dürfte sich ein Spektrum von Personen aus diesen Texten extrahieren lassen, die mit den Toten in irgendwelchen Beziehungen standen. Wenngleich diese Aufzeichnungen vielleicht auch viel Dichtung enthielten, könnten sie bei sorgfältiger Analyse doch wertvolle Hinweise liefern, neben Namen womöglich auch ganze Persönlichkeitsbeschreibungen, ganze Typologien und Psychogramme, gab sie ihnen mit auf den Ermittlungsweg. „Na, das ist doch was für Sie, lieber Hauptkommissar. Zumindest die Briefwechsel sollten schon mal gleich unter die Lupe genommen werden, denn die sind ja nun mit Sicherheit keine pure Dichtung, die sind doch eine authentische Quelle.“

 

„Na denn“, meinte Stilz, als die Chefin gegangen war bärbeißig zu seinem persönlichen Assistenten Werner, den er seit kurzem in der Gruppe hatte, „jetzt wissen Sie ja wohl, womit Sie´s die nächste Zeit zu tun haben: Briefe lesen.“

 

Werner, Stilz´ junger Mitarbeiter, ein Mann, der sich mit erstaunlicher Zähigkeit in eine Sache verbeißen konnte, brummelte Unverständliches, trollte sich und tauchte erst zwei ganze Tage später wieder auf. Dann allerdings prall von Mitteilungsbedürfnis. „Chef“, verkündete er, „die Sache mit den Pilztoten ist schwieriger. Ich habe mich auf dem Dorf umgehört, wo die lange Zeit zu Hause waren. Die Kindsmutter war mit einem Arzt liiert, sie hat dort mit dem zusammen gelebt, sich aber vor einiger Zeit von ihm getrennt. Vorläufig getrennt, meinte die Pastorin dort. Eifersucht als Motiv scheint komplett auszuscheiden, zumindest wenn man sich den Briefwechsel ansieht. Der Mann war eine Art Ziehvater für den Jungen. Der biologische Vater hat sich unbekannt verkrümelt und kommt in den Briefen nur ganz am Rande vor. Falls aber dieser Arzt beteiligt war, ist Unfall unwahrscheinlich, solche Leute spielen mit Waldpilzen nicht russisches Roulette.“

 

„Soso“, brummelte Stilz nur und ließ sich nun doch den Bericht kommen, der alle erwähnten Texte, Briefe und Literaturstücken, einschloss.

 

Kapitel 1 Briefwechsel

Berlin, 3.6.82


Sehr geehrter Herr Dr. Hirschfeld!


Vor einer Woche waren mein Mann und ich bei Ihnen zur genetischen Familienberatung. Sie und Ihre Kollegen haben uns mitgeteilt, dass das Kind, das ich gebären soll und will, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit geistig behindert sein wird, und Sie haben auf die Möglichkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruches hingewiesen.


Zusammen mit meinem Mann habe ich nun eine Woche nachgedacht. Wir haben den Entschluss gefasst, unser Kind nicht abzutreiben. Ich werde es austragen, und wir freuen uns auf seinen Eintritt in diese Welt. Es wird vielleicht schwer sein, aber wir werden seinen Weg sorgsam und liebevoll begleiten. Natürlich hoffen wir, dass Ihre Prognose falsch oder doch zu krass ist.


Ich habe an Sie persönlich geschrieben, weil ich den Eindruck habe, dass Sie sich sehr intensiv und über das Maß dessen hinaus, was man gemeinhin erwartet, für Ihre Patienten engagieren. Dafür danke ich Ihnen. Ich bin überzeugt davon, dass Sie den Rat zum Abbruch einer Schwangerschaft nie leichtfertig geben. Ich hoffe, dass Sie mir glauben, dass wir uns unseren gegenteiligen Entschluss nicht leicht gemacht haben.


Hochachtungsvoll Clara-Rosa Günder



Genetische Familienberatung

Forschungslabor

Dr. sc. med. Edward Hirschfeld



Dr. H./Sch. Berlin 18.6.82

Werte Frau Günder!


Vielen Dank für Ihren Brief vom 3.d.M. Natürlich bin ich überzeugt davon, dass Sie sehr sorgfältig entschieden haben. Ich kenne nun Ihre Beweggründe im Einzelnen nicht und kann mich deshalb nicht damit auseinandersetzen, aber ich möchte Sie doch noch gerne auf eines hinweisen: Falls Ihr Entschluss mitbedingt ist durch Erwägungen über eine eventuelle Schwierigkeit, künftige Schwangerschaften herbeizuführen oder dabei ausschließen zu können, dass nicht die gleiche Situation wie jetzt wieder auftreten könnte, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Unsere diagnostischen Möglichkeiten einerseits und andererseits unsere Möglichkeiten, Ei- und Samenzelle im Reagenzglas zur Befruchtung zu bringen und auf einem frühen Stadium der Embryonalentwicklung in den Uterus zu transplantieren, sind heute so weit, dass wir Ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem gesunden Kind zusammen mit Ihrem Mann verhelfen können. Wir nennen dieses Verfahren der Befruchtung IVF, In-Vitro-Fertilisation. Die im Laborglas befruchteten Eizellen bzw. frühen Embryonen können wir dann daraufhin prüfen, ob sie von ihrem Erbgut her intakt sind, so weit jedenfalls, wie das heute geht, und nur eine solche versuchen wir dann in die Gebärmutter einzusetzen.


Es gelingt uns oft, soll heißen: zu einem Viertel der Behandlungen. Da sind wir international mit an der Spitze! Da wären Sie bei uns gut aufgehoben.


Vielleicht prüfen Sie also Ihre Situation doch noch einmal unter diesem Aspekt und teilen mir Ihre Entscheidung schnell mit, denn die zu erwartenden Behinderungen bei dem Kinde, das Sie jetzt austragen wollen, dürften schwer sein. Es handelt sich um das, was gemeinhin unschön als „Mongolismus“ bezeichnet wird, auch als „mongoloider Schwachsinn“, wissenschaftlich um das Langdon-Down-Syndrom, und zwar hier in einer speziellen seltenen und schweren Form. Eine starke allgemeine Intelligenzminderung wird dann sehr wahrscheinlich, auch Beeinträchtigungen der körperlichen Entwicklung. Allerdings gibt es oft eine gewisse, meist aber sehr begrenzte Bildungsfähigkeit. Und eins kommt hinzu: die Kinder sind frühzeitig im Gesicht auffällig und werden von der Umwelt als so Betroffene ziemlich sofort erkannt und dann leider oft als „Mongos“ diskriminiert. Und das bleibt lebenslang so, weil sie eine andere Augenfalte haben, eben die sogenannte Mongolenfalte. Manche Eltern ertragen das nur schwer.


Mit vorzüglicher Hochachtung und Grüßen auch an Ihren Mann

Ihr

Dr. Edward Hirschfeld




Genetische Familienberatung

Forschungslabor

Dr. sc. med. E. Hirschfeld

Berlin, 30.9.82


Sehr geehrter Herr Kollege Liebsch!


Ich bin an der von Ihnen vorgeschlagenen Kooperation zur Erforschung von Krebskrankheiten interessiert und halte die Idee, dazu überzählige Embryonen aus der IVF zu nutzen, für sehr überlegenswert. Ich selbst habe dazu konkrete experimentelle Vorstellungen, die ich unbedingt verfolgen möchte.


Einverstanden bin ich mit Ihrer Federführung in der Sache. Ich denke, einer sollte da den Hut aufhaben, sodass es möglichst wenig Bürokratie gibt.


Auf eine Schwierigkeit möchte ich allerdings hinweisen: Laborexperimente an menschlichen Embryonen, auch wenn sie in unserem Falle bei einer künstlichen Befruchtung übrig geblieben sind und irgendwann vernichtet werden müssen, das ist eine brisante Angelegenheit, und eigentlich besteht ja eine Art Konsens, dass sie zu unterbleiben haben. Andererseits gibt es wohl kaum ein geeigneteres Material für diesen Forschungsansatz wie eben den mit sog. überzähligen Embryonen. Und es geht ja um Krebs, um oft großes Leid also. Ich würde deshalb denken, wenn man da gegeneinander abwägt, kann man wohl sagen, dass eine sorgfältig ausgearbeitete Versuchsreihe gerechtfertigt ist.


Ich habe das für mich gegeneinander abgewogen, ich mache definitiv mit!


Trotzdem möchte ich vorschlagen: Wir sollten uns selbst verpflichten, die Experimente auf frühe Embryonalstadien zu beschränken, also genau festzulegen, wie alt dieses besondere Versuchsobjekt maximal sein darf. Das sollte Konsens sein, auch wenn das kein wirklicher Embryo mehr werden kann, da keine Einpflanzung erfolgen soll. Und wir sollten auch Leute befragen, die von Ethik etwas verstehen.


Ihr

Edward Hirschfeld



Institut für Immuntechnik

Direktor: Prof. Dr. Dr. Liebsch


Prof. L./Sch. Berlin, 5.10.82


Lieber Kollege Hirschfeld!


Schön, dass Sie mitmachen! Unsere letzten Gespräche waren doch schon sehr ergiebig. Wenn wir so weitermachen, kann die Sache in ein/zwei Monaten offiziell losgehen. Inoffiziell läuft es ja schon. Der Minister ist sehr an dieser neuen Form der internationalen Zusammenarbeit interessiert und dass wir unseren Standortvorteil, sprich: unseren Staat, bezüglich der Gesetzeslage und der Geheimhaltung usw. nutzen!


Natürlich werden wir über einen vernünftigen Geheimnisschutz reden müssen, schon weil es ja überall auch Leute gibt, die einem in die Suppe spucken wollen, denn die Sache ist, was das Material angeht, tatsächlich brisant, da haben Sie Recht. Ich weiß, dass dieser Gruber von der sog. Freien Universität in West-Berlin sehr erfreut über unsere Teilnahme ist, weil er alleine bei sich zu Hause kaum damit durchkäme und im Nu tausend Ausschüsse und Bürgerinitiativen vor der Nase hätte. Schönes Beispiel für diese bürgerliche Doppelmoral, die Chose! Da soll so ein Zellhaufen plötzlich Menschenwürde haben, aber in Indien dürfen die Kinder verhungern, wenn sie nur vorher Profit bringen.


Trotzdem: sinnvoller (und taktvoller!) Geheimnisschutz! Die Genossen von der Staatssicherheit werden sich die Sache und die Leute genau ansehn. Haben die mir schon gesagt.


Was Ihren Vorschlag der Hinzuziehung von professionellen Ethikern angeht, so bin ich allerdings gar nicht Ihrer ansonsten immer sehr geschätzten Meinung. Wir würden uns, glaube ich, selbst ein Bein damit stellen, auch hinsichtlich der notwendigen Diskretion, oder kennen Sie auch nur einen aus dieser Gilde, der sich auf unserem Gebiet genügend auskennt und begreifen und also vernünftig abwägen könnte, um was es da letztlich geht? Ich nicht. Schon gar keinen Theologen, die sind doch sowieso am Aussterben! Jedenfalls, solange vom Ministerium (und von der Sicherheit!) grünes Licht gegeben wird, haben wir keinen Grund zögerlich zu sein. Wenn da jemand zuständig ist, so doch die dort, oder? Und, wie gesagt, es geht nicht um Foeten und gar etwa solche im Mutterleib. Da will ich natürlich auch nicht `ran, niemand von uns will das hier, wir sind doch hier nicht in Korea (Südkorea).


Herzlich

Ihr Liebsch




Berlin, 14.10.82

Sehr geehrter Herr Dr. Hirschfeld!


Über Ihre Anteilnahme freuen wir uns sehr. Wir danken Ihnen für Ihren Brief vom 18.Juni!


Ihr Angebot bezüglich eines „Retortenbabies“ betreffend allerdings muss ich doch sagen, dass das für uns keine Frage von Bedeutung ist. Wieder achte ich sehr Ihr Engagement und die Bemühungen Ihrer Wissenschaft. Womöglich vermindert die Reagenzglasbefruchtung tatsächlich einiges Leid in der Welt. Ich selbst bin skeptisch und „instinktiv“ dagegen. Aber was nun unsere Situation angeht, so haben wir uns die Frage nach weiteren, „besseren“ Schwangerschaften gar nicht gestellt.


Kann gut sein, dass wir weitere Kinder haben werden.

Jetzt freilich geht es einzig und allein um Bettina oder Albert. Wahrscheinlich Albert, denn meine Mutter sagt, wenn die Beschwerden am Anfang der Schwangerschaft groß sind, wird´s ein Junge.


Also, wir wollen Albert (oder Bettina) so haben, wie er (sie) nun heranwächst, lieber stramm und in jeder Hinsicht gut ausgestattet als behindert natürlich, lieber normal- als schwachsinnig. Abtreibung aber kommt nicht in Frage.

Ich möchte gerne, dass Sie das ein bisschen verstehen. Nun sind Sie keine Frau und haben deshalb das Gefühl, dass in Ihnen ein Mensch heranwächst nie gehabt und werden’s nie haben können. Sie sehen die Angelegenheit rein rational, und ich muss versuchen, auf Ihre vernünftig und zu unserem Wohl gemeinten Argumente einzugehen.


Wenn ich Sie und Ihre beiden Kolleginnen zur Beratung richtig verstanden habe, dann wollen Sie nicht


Erstens: dass ich mehr leide, als sich vermeiden lässt, und Sie meinen, ein behindertes Kind bedeutet für die Eltern auf jeden Fall einen Leidzuwachs.

Zweitens: dass ein Mensch geboren wird, der mehr leiden muss als die meisten um ihn herum.

Drittens: dass die Gesellschaft unnötig belastet wird.


Das scheinen moralische Argumente zu sein, für mich sind sie’s nicht. Ein neuer Mensch, das bedeutet zunächst Freude, und wahrscheinlich gibt es Eltern von behinderten Kindern, die entrüstet zurückweisen würden, dass sie mehr litten als andere, ja die vielleicht behaupten würden, dass sie mehr Freude haben als andere. Aber ich will keinem naiven Zweckoptimismus huldigen. Wahrscheinlich leiden die meisten betroffenen Eltern unter der Behinderung ihrer Kinder. Zu fragen wäre, wovon das eine Folge ist, von der Behinderung als solcher oder aber von einem Druck aus dem sozialen Umfeld und dadurch anerzogenen, aber aus meiner Sicht höchst fragwürdigen Eitelkeiten? Zu fragen wäre, ob man (ich) sich ein Umfeld von toleranten Menschen schaffen und von seinen (meinen) eigenen Eitelkeiten loskommen kann. Vielleicht ziehen wir aufs Land, denn dort kommt man/frau womöglich einfacher mit behinderten Menschen zurecht, weil die dort im Alltag mehr präsent sind und nicht in der Anonymität der Großstadt verschwinden. Wahrscheinlich gebe ich meinen Beruf für längere Zeit auf oder betreibe ihn auf Sparflamme. Nicht um mich an das Baby zu „verströmen“, sondern um mein einmaliges Leben sinnvoll zu leben. Wenigstens den Versuch zu einem Gelingenden Leben, wie es manche Philosophen wohl nennen und für zentral halten, will ich machen. Klingt pathetisch, ich weiß, aber ich meine es ernst.



den




Ihre





Berlin, 20.10.1991














E. Hirschfeld












Ihre