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Die Autoren

Dr. Hans Frambach ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomische Theorie an der Universität Wuppertal. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des ökonomischen Denkens. Dr. Daniel Eissrich hat seine Forschungsschwerpunkte im Bereich Wirtschaftssysteme und deren Institutionen. Er ist Bundesbankdirektor im Zentralbereich IT der Deutschen Bundesbank in Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-86764-600-0 (Print)

ISBN 978-3-86496-926-3 (EPUB)

ISBN 978-3-86496-927-0 (EPDF)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft Konstanz und München 2016

Lektorat: Rainer Berger

Einband: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Zeichnungen (Portraits und Karte): Claudia Frisch, Jüterbog und Starnberg

Einbandmotiv: © TTstudio – fotolia.com

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24. D-78462 Konstanz

Tel. 07531-9053-0. Fax 07531-9053-98

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Inhalt

Prolog – Kirche und Wirtschaft

Seit ihrem Bestehen steht die Kirche mit der Ökonomie in enger Beziehung. Kirche, verstanden als Glaubensgemeinschaft und soziale Organisationsform von Religionen, ist in höchst unterschiedlicher Weise mit wirtschaftlichem Handeln und seinen Wirkungen verwoben. Ein einfacher Grund hierfür liegt in der Bereitstellung der materiellen Lebensgrundlagen der Menschen durch die Ökonomie. In der Ökonomie wird organisiert, welche Güter und Dienstleistungen wann und wo in welchen Mengen produziert werden, unter welchen Umständen Menschen arbeiten. Sie bestimmt maßgeblich die Verteilung der erwirtschafteten Einkommen und Vermögen und ist ausschlaggebend dafür, ob Menschen ausreichend versorgt sind, Mangelzustände erleiden oder sich gar in sozialen Missständen befinden. Sind Löhne fair, Arbeitsplätze sicher, oder werden Arbeitnehmer ausgebeutet, Rohstoffe ohne Rücksichtnahme auf die Interessen zukünftiger Generationen abgebaut, wird ergo die Umwelt übermäßig belastet? Diese und andere Fragen betreffen die Kirche unmittelbar. Es sind Fragen zu den Grundlagen des ökonomischen Handelns, die das Gemeinsame und Gemeinschaftliche, das Aufeinanderangewiesensein der Menschen in ihrem Tun und die dem Handeln zugrunde liegenden Werte und Werthaltungen berühren. Ebenso sind Fragen nach dem Sinn des Handelns angesprochen.

Auch über die direkte Teilnahme war und ist die Kirche unmittelbar mit dem Wirtschaftsprozess verbunden. Die mittelalterlichen Klöster hatten zentrale wirtschaftliche Bedeutung für viele Regionen Europas, und auch heute noch ist die Kirche selbst ein mächtiges Unternehmen – man denke etwa an die Institution Kirche als „mächtigsten Konzern Deutschlands“.1 Aber spätestens seit dem Armutsstreit im Franziskanerorden, der die Kirche ab dem 13. Jahrhundert beschäftigte, betrachtete sie ihre wirtschaftliche Rolle selbstkritisch. 800 Jahre später wünscht sich der neue Papst Franziskus in der Begründung seiner Namenswahl „eine arme Kirche für die Armen“.2 Sein neuer Finanzchef (und damit auch Chef der Vatikanbank „Istituto per le Opere di Religione“, IOR), Kardinal George Pell, erinnerte in einem Interview dagegen an ein Zitat Margaret Thatchers: „Wenn der barmherzige Samariter nicht auch ein bisschen Kapitalist gewesen wäre, hätte er auch nicht helfen können.“3 Und seit dem 31. Oktober 1517, an dem Martin Luther seine Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (Propositiones wider das Ablas) – die 95 Thesen – an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg gesandt hat (dass Luther persönlich die 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll, wurde von Philipp Melanchthon überliefert, ist aber historisch nicht eindeutig bewiesen), ist das Thema Geld und Kirche aus der Diskussion um das Verhältnis von Kirche und Ökonomie nicht mehr wegzudenken.

Heutzutage sind überzeichnende, bis ins Extreme gesteigerte Darstellungen über das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit anzutreffen. Da stehen auf der einen Seite die großen Themen der Kirche, das Elend in dieser Welt anbetreffend, präsentiert in Form von Szenarien des Massensterbens als Folge von Hungersnöten, Krankheit und Kriegen, die Schreckensbilder sterbender Kinder, die täglich durch die Medien geistern und für viele Zuschauer aufgrund der Gewöhnung den Schrecken verloren haben. Im Hintergrund steht der latente Vorwurf, was die Kirche, aber auch Politiker und Ökonomen leisten, um Abhilfe zu schaffen, sei zu wenig. Auf der anderen Seite entsteht ein Eindruck von den Themen, mit denen sich die Kirche anscheinend tatsächlich beschäftigt. Beispiele sind Debatten um die Integration christlicher Werte in die Corporate-Governance-Struktur von Unternehmen, die Forderung, dass Politiker ehrlicher und an christlichen Maßstäben orientiert agieren sollten, die Frage, ob politische Parteien, die das Wort christlich im Namen tragen oder sich in ihren Programmen auf christliche Werte berufen, diesem Anspruch tatsächlich gerecht werden. Auch die durch Kirchenaustritte verstärkten Finanzierungsprobleme hiesiger Kirchenverwaltungen, weil Veränderungen des Erhebungsverfahrens der Kirchensteuer die subjektive Zumutbarkeitsschwelle einzelner Mitglieder überschritten haben, geben Anlass genug, die Titelseiten mancher Tageszeitungen zu schmücken und das Programm mancher Talkshows zu füllen. Ebenso lassen Diskussionen um die Vatikanbank, die Prachtbauten oder die Verschwendungssucht einzelner Würdenträger das eigentliche Anliegen der Kirche fast nebensächlich erscheinen. An Problemen, unbeantworteten Fragen und Vorwürfen, die sich aus dem Verhältnis von Ökonomie und Kirche ergeben, mangelt es jedenfalls nicht, ebenso wenig an Empfehlungen, guten Ratschlägen, Mahnungen und Meinungen, wie die Dinge besser zu gestalten seien.

In der breiten öffentlichen Diskussion scheint die Auseinandersetzung mit den das Verhältnis von Ökonomie und Kirche berührenden Grundfragen in den Hintergrund getreten zu sein. Gemeinsamer Ausgangspunkt des Engagements jener, die sich zu solchen Grundfragen äußern, war und ist in der Regel die Kritik an bestehenden, vielfach als ungleich und ungerecht empfundenen sozialen und ökonomischen Zuständen. Diese Zustände werden häufig auf die egoistische und rücksichtslose Verfolgung privater Interessen, die Bildung und Ausnutzung von Machtpotenzialen sowie die mangelnde Fähigkeit der politischen Systeme, diesen Bestrebungen Einhalt zu gebieten, zurückgeführt. Mit anderen Worten, die Philosophie vom freien Spiel der Kräfte, vom Laufenlassen der Dinge, vom laissez-faire, laissez-passer, trägt Mitschuld.

Mit dem Zeitalter der Industrialisierung, das von England ausgehend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt, nimmt die seitdem das ökonomische Denken prägende klassische Nationalökonomie ihren Anfang. Mit dem Plädoyer für das Laissez-faire-System und dem Abbau all der unzähligen Vorschriften, Einschränkungen und Hindernisse, die in den Wirtschaftssystemen vor dem Industrialisierungszeitalter bestanden, geht eine bis dahin nicht vorstellbare Entfaltung wirtschaftlicher Leistungskraft einher. Die Staaten Westeuropas verzeichnen als Folge der Entfesselung der physischen und geistigen Arbeitskraft der Individuen ungeheure Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung. Freie Berufswahl und -ausübung, Befreiung des Grund und Bodens von vormals bestehenden Lasten, Gewinnung von Anbau- und Weideflächen, neue Erfindungen in der Industrie, Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, Ausweitung des Handels und der Gewerbe etc. Führen zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und des materiellen Wohlstands. Voraussetzung dafür sind technischer Fortschritt, voranschreitende systematische Ausnutzung der Arbeitsteilung und eine vermehrte Ansammlung von Produktionskapital. Theoretisch scheint dies durch die klassische ökonomische Lehre gerechtfertigt zu sein, die, so manche teilweise auch übersteigerte Kritik, einen ungezügelten Egoismus geradezu propagiert.

Die Kehrseite dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklung besteht in einem gesteigerten Konkurrenzkampf zwischen und innerhalb aller am ökonomischen Prozess beteiligten Gruppen mit der Folge von Monopolisierungsprozessen, die oftmals zur Zerstörung von Kleinbetrieben führen. Der Wettbewerb macht auch vor den Arbeitnehmern nicht halt. Im Kampf um die zum Lebenserwerb notwendigen Arbeitsplätze treten diese, rechtlich frei, unabhängig und unorganisiert, gegeneinander an. Vielfach zwingt die Situation am Arbeitsmarkt die Arbeitnehmer dazu, jede gebotene Arbeitsgelegenheit, selbst unter kaum zumutbaren Bedingungen, einzugehen. Tritt Arbeitslosigkeit ein, so sind Verarmung und Verelendung die meist unmittelbare Folge. Übermäßige, unregelmäßige, gesundheitsgefährdende Tätigkeiten, Nacht- und Kinderarbeit sind an der Tagesordnung, die Repressalien und Willkür, denen sich die Arbeitskräfte ausgesetzt sehen, enorm. Beispiele sind Erpressung durch die Aufseher, Auszahlung in Erzeugnissen des Unternehmens, Lohnabzüge, unregelmäßige Auszahlung oder Vorenthaltung der Löhne, Geldstrafen, Beschlagnahmung der Löhne, übermäßige Abzüge für Miete und Arbeitsgerät, Kündigung der Wohnung etc. Die Kritik an der Situation der Arbeiterschaft ist jedenfalls umfangreich und breit gefächert.4

Die Diskussion der positiven und negativen Seiten des freien Spiels der Kräfte wird über die klassische Nationalökonomik hinausgehend weitergeführt und oftmals auf die sich diametral entgegenstehenden Entwürfe von liberalistischem Kapitalismus einerseits und marxistischem Sozialismus andererseits hin zugespitzt, eine Polarisierung von ökonomischer Theoriebildung der Extreme, die bis zum heutigen Tag Gültigkeit beanspruchen kann. Karl Marx jedenfalls entwickelt mit seiner Theorie des Sozialismus einen der schärfsten und scharfsinnigsten Gegenentwürfe zur kapitalistischen Wirtschaftstheorie, der zudem durch seine theoretische Fundierung späterer Formen des real existierenden Sozialismus nachhaltige Wirkung entfaltet. Selbst im Brockhaus des 19. Jahrhunderts wird gegenüber den Selbstheilungskräften des Marktes kritisch angemerkt, dass die schrankenlose Freiheit, unbeschränkte und organisatorische Freiheit der Arbeit zur modernen Gefahr der Zentralisation von Kapital, Geist und Arbeit mit den negativen sozialen Strukturproblemen geführt habe. Infolgedessen sei das freie System grundsätzlich beizubehalten, jedoch bedürfe es erheblicher eingreifender Unterstützungsmaßnahmen.5

Die Suche nach dritten Wegen, Vermittlungsversuchen zwischen den beiden Extremen von Kapitalismus und Sozialismus, lässt nicht lange auf sich warten. Viel später, im 20. Jahrhundert, stehen in Deutschland an der Spitze dieses Suchprozesses solch gewichtige Konzeptionen wie der Ordoliberalismus und die soziale Marktwirtschaft. Deren Vertreter setzen sich ausnahmslos und intensiv mit den positiven und negativen Seiten des Kapitalismus und des Sozialismus auseinander und gelangen zu unterschiedlichen Lösungen. Diesen Lösungen ist das Primat eines grundsätzlich auf die Vorteile der Marktkräfte bauenden kapitalistischen Systems gemein, wobei dem Sozialismus unterliegende Grundprinzipien der Eingrenzung der schädlichen Wirkungen des Kapitalismus dienen.

Auf den Punkt gebracht: Dem Kapitalismus wird einerseits, aufgrund des freien Spiels der Kräfte, das Potenzial ungeheurer wirtschaftlicher Leistungsentfaltung zugetraut, andererseits werden jedoch die großen Gefahren zur Kenntnis genommen, die wegen mangelnder kollektiver Kontrolle entstehen können (für beide Seiten liegt große empirische Evidenz vor). Beim Sozialismus verhält es sich umgekehrt: Auf der einen Seite können durch zentrale staatliche Planung soziale Härten und Ungleichheiten besser gesteuert und ausgeglichen werden, auf der anderen Seite aber ist der Sozialismus faktisch nicht in der Lage, eine adäquate wirtschaftliche Versorgung der Gesellschaften zu sichern, von der Einschränkung der individuellen Freiheiten ganz zu schweigen.

Das Sichkümmern um die von den Schattenseiten der Ökonomie Betroffenen, die in Not und Elend leben, zählt seit jeher zu den vordersten Aufgaben kirchlichen Engagements. So wenden sich bereits früh prominente Kirchenväter sozialen Fragestellungen zu, wie Augustinus im 5. Jahrhundert n. C.,6 die Scholastiker der Dominikaner-und Franziskanerorden im 13. Jahrhundert mit herausragenden Vertretern wie Thomas von Aquin oder in Form der sich gegen überhöhte Zinsen und Wucher richtenden, 1745 von Papst Benedikt XIV. erlassenen Enzyklika Vix pervenit (Über die Erhebung von Zinsen).

* Wissen: Enzykliken

Der Begriff Enzyklika stammt aus dem Griechischen, εvкύкλιoς (sprich: enkyklios), und bedeutet im Kreis laufend. Eine Enzyklika ist ein päpstliches Rundschreiben in Form eines Lehrschreibens, das sich ursprünglich nur an die Bischöfe des Erdkreises, später teilweise an die ganze Kirche, alle Geistlichen, Gläubigen und schließlich sogar an alle Menschen guten Willens richtet und in grundsätzlicher und verbindlicher Weise Stellung zu theologischen, pastoralen oder auch gesellschaftlich relevanten Fragen bezieht. Eine Enzyklika kann aus wenigen Zeilen bestehen, aber auch den Umfang eines ganzen Buchs umfassen. Enzykliken sind Ausdruck der obersten Lehrgewalt des Papstes. Sie versuchen Antworten auf Fragen der Zeit zu geben.

Der Beginn einer spezifischen und systematischen Form der Stellungnahme zu sozialen Problemen vonseiten der katholischen Kirche erfolgt mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und fällt damit in eine für die Kirche bzw. den Vatikan schwierige Zeit des Umbruchs und der Veränderung, denn die Schattenseiten der Industrialisierung betreffen ganz Europa und nehmen auch Italien nicht aus. Nahezu über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg, spätestens aber seit der Zeit des Risorgimentos, der nationalen Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung, die 1815 nach der Aufteilung Europas im Anschluss an den Wiener Kongress einsetzt und mit der militärischen Einnahme des Kirchenstaats 1870 endet, bildet die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage ein zentrales gesellschaftliches Anliegen in Italien. Auch die Gründung des Königreichs Italien 1861 ändert nichts an der teilweise desolaten Versorgungslage der Bevölkerung und dem bestehenden Nord-Süd-Konflikt, der den reicheren industrialisierten Norden Italiens von dem stärker landwirtschaftlich strukturierten ärmeren Süden distanziert.

Italien und der Kirchenstaat

Der Kirchenstaat, jeglicher weltlicher Machtinstrumente beraubt und im Garantiegesetz (Gesetz des Italienischen Staates über die Vorrechte des Papstes und des Heiligen Stuhls und über das Verhältnis des Staates zur Kirche) von 1871 auf das Gebiet Vatikan, Lateran und päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo reduziert, steht in harter Auseinandersetzung mit der Regierung. Papst Pius IX. und seine direkten Nachfolger, Papst Leo XIII. und Papst Pius X., erkennen weder die gesetzlichen Regelungen für den Vatikan an noch das neue Italien und lehnen jede offizielle diplomatische Zusammenarbeit mit den Regierenden ab. Papst Pius IX. geht 1874 qua päpstlicher Bulle Non expedit sogar so weit, italienischen Katholiken die Teilnahme an demokratischen Wahlen in Italien zu verbieten. Angesichts der wachsenden Verarmung, insbesondere von Bauern und Landarbeitern aus dem Süden, aber auch der katastrophalen Arbeitsbedingungen in den industrialisierten Gebieten erhalten sozialrevolutionäre, anarchistische und sozialistische Bewegungen großen Zulauf.

Die Kirche selbst beharrt vor allem in der Zeit Pius IX. auf antimodernen Positionen, mit denen Machtanspruch und Traditionen der Kirche bewahrt werden sollen. Höhepunkte dieser Entwicklung sind die Veröffentlichung des Syllabus errorum 1864, eine Sammlung von 80 Thesen, die vom Papst als falsch verworfen werden (u. a. werden der Sozialismus und Liberalismus abgelehnt), und das I. Vatikanische Konzil 1870. Mit politischem Kalkül und Gespür versucht im Anschluss Papst Leo XIII., die Kirche für Themen der modernen Gesellschaft zu öffnen, ohne dabei einen großen Konflikt mit den starken konservativen Kräften in der Kirche riskieren zu müssen.

Im Jahr 1891 erscheint eine eigens die missliche Situation der Arbeiterschaft dieser Zeit thematisierende Enzyklika, Rerum novarum (Über die neuen Dinge), die u. a. dazu führt, dass Papst Leo XIII. fortan als der Arbeiterpapst bezeichnet wird. Rerum novarum steht am Anfang einer Reihe von Sozialenzykliken und Apostolischen Rundschreiben, deren Inhalte sich auf soziale und ökonomische Probleme beziehen.7

Der ersten Sozialenzyklika geht eine lang anhaltende Diskussion um die Vorzüge und Nachteile kapitalistisch und sozialistisch organisierter Wirtschaftssysteme voraus, was sich übrigens auch in späteren Enzykliken wiederholt, sodass die Positionierung der Kirche – zumindest aus der Sicht der ökonomischen Theorie – als ein Mittelweg aufgefasst werden kann. Die Kirche legt bei der Bewertung sozialer und ökonomischer Zustände Kriterien zugrunde, die über den Katalog rein politisch und ökonomisch motivierter Maßstäbe, wie sie in der ökonomischen Theorie verwendet werden, hinausreichen. Auf diese Weise erhalten die Sozialenzykliken einen eigenständigen Charakter, auf dessen Betonung die Kirche großen Wert legt.

* Zitat

Die kirchliche Soziallehre ist kein ‚dritter Weg‘ zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus […] sie ist vielmehr etwas Eigenständiges. Sie ist auch keine Ideologie, sondern die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene.8

* Wissen: Sozialenzykliken

Die Sozialenzykliken nehmen für sich keine Unfehlbarkeit in Anspruch, es wird sogar betont, dass die Kirche keinerlei technische Lösungen anzubieten habe und weit vom Anspruch entfernt sei, sich in staatliche Belange einzumischen.9 Die Kirche „legt ja keine wirtschaftlichen und politischen Systeme oder Programme vor, noch zieht sie die einen den anderen vor, wenn nur die Würde des Menschen richtig geachtet und gefördert wird“.10 Das Ziel der Sozialenzykliken wird in der Verkündigung sozialer Wahrheiten gesehen, deren Missachtung zum freien Spiel privater Interessen und Logiken der Macht mit den bekannten zersetzenden Folgen für die Gesellschaft führe.11 Der Zusammenhang mit ökonomischen Kernfeldern erschließt sich hieraus unmittelbar.

I. Die Arbeiterfrage – zwischen Kapitalismus und Sozialismus

Die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch den Prozess der Industrialisierung mit den Merkmalen der systematischen Arbeitsteilung, Technisierung und Mechanisierung, Rationalisierung und steigenden Kapitalintensität. Hinzu kommen die Ausweitung der Infrastruktur durch die Erschließung neuer Verkehrswege, Verbesserungen in der Übermittlung von Nachrichten sowie die Ausweitung des Finanzwesens, begleitet von Entwicklungen der Verstädterung und einem hohen Anstieg der Bevölkerungszahlen, der vor allem auf eine verbesserte Ernährungssituation, Fortschritte in der Medizin und eine Reduktion der Sterblichkeit von Kindern und Säuglingen zurückgeführt werden kann. So steigt in Deutschland die Bevölkerung von etwa 22,4 Millionen im Jahr 1816 auf über 49,4 Millionen Menschen im Jahr 1890, in Frankreich von über 29,1 Millionen im Jahr 1811 auf über 38,1 Millionen im Jahr 1891 und in Großbritannien einschließlich Wales und Schottland, im gleichen Zeitraum wie Frankreich, von fast 12 Millionen auf über 33 Millionen.12 In Deutschland ist ein Anstieg des Volkseinkommens von 13 Milliarden Mark im Jahr 1867 auf 48 Milliarden Mark im Jahr 1913 zu verzeichnen, der einer Steigerung des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens von 380 auf 780 Mark entspricht.13 Mit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt eine Periode der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Deutschland England deutlich überholt – in England hat sich die industrielle Produktion zwischen 1870 und 1913 verdoppelt, in Deutschland versechsfacht „aus einem Nachfolgerland wird ein Pionierland“.14

Mit dem Ausbau der wirtschaftlichen Leistungskraft in den Industrieländern vollzieht sich eine weitere Verschärfung in der Einkommensverteilung. Weit über 90 Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland gehören im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den untersten Einkommensstufen, während die Bezieher höherer Einkommen (über 6.000 Mark pro Jahr) bei etwa einem Prozent liegen.15 Die Struktur der Arbeiterschaft wandelt sich stark. Aus den arbeitenden Klassen der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem aus Landarbeitern, Tagelöhnern, Gesinde, Dienstboten, Heimarbeitern, Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern zusammensetzen, bildet sich die Arbeiterschaft oder das Proletariat als Klasse, in der die Industrie-und Fabrikarbeiter, jedoch neu binnendifferenziert, die prägende Gruppe darstellen.16 Arbeiter sind vor allem die Kinder von Eltern aus den handarbeitenden Klassen, namentlich der Landarbeiter, städtischen Tagelöhner, Heimarbeiter und Fabrikarbeiter, womit Geburt und Erbe zum zentralen Moment dessen werden, was einen Arbeiter zum Arbeiter bestimmt.17 Die Arbeit bildet den Mittelpunkt des Lebens eines Arbeiters und ist zunehmend den Mechanismen des Marktes, den Kräften von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ausgesetzt, die die Lebenssituation beherrschen. Dort, wo Arbeit verloren geht, Arbeitslosigkeit eintritt, ist dies oft gleichbedeutend mit dem Erleiden von materieller Not – jede wirtschaftliche Krise kann sich schnell in eine Existenzkrise wandeln.

Die Arbeit in jener Zeit ist, im Gegensatz zu heute, meist körperlich schwer und belastend, hinzu kommen die Gesundheit beeinträchtigende Faktoren wie Schmutz, Gestank, Lärm, Hitze, Licht-und Luftmangel, unzureichende hygienische Einrichtungen, geringer Gefahrenschutz und erdrückende Arbeitszeiten. Für die 1860er-Jahre wird eine wöchentliche Arbeitszeit von 78 Stunden, 1871 von 72 Stunden, Ende der 1880er-Jahre von 66 Stunden geschätzt, eine Entwicklung, die einen deutlich sinkenden Trend anzeigt. Gearbeitet wird das ganze Jahr hindurch, Urlaub gibt es vor dem 20. Jahrhundert für die Klasse der Industriearbeiter nicht.18 Löhne werden per Vertrag festgelegt, können aber vom Unternehmer, wenn die wirtschaftliche Lage es ihm geboten erscheinen lässt, herabgesetzt werden, oder es wird von ihm nach seinem Ermessen Kurzarbeit angeordnet. Wer dies nicht hinnehmen will, hat die Freiheit, zu gehen. Löhne werden als Individuallöhne verhandelt, d. h. abhängig von der individuellen Leistung des Arbeiters und unabhängig davon, wie viel Geld der Arbeiter zum Unterhalt seiner Familie benötigt. Ein Arbeiter, der sich auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Leistungskraft befindet, verdient mehr als ein alternder, dessen Kräfte nachlassen. Es ist durchaus üblich, dass die Familienangehörigen, die Frau und/oder die Kinder zum Familieneinkommen mit beitragen.

Als Antwort auf die mit den großen wirtschaftlichen Leistungen der Industriegesellschaften einhergehenden sozialen Probleme entsteht die Arbeiterbewegung, die weltweit großen Zulauf erhält. Politisch werden Tendenzen der Demokratisierung sichtbar. In Deutschland bildet die Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks (1883–1889) einen Meilenstein für die Sozialpolitik, mit ihren zentralen Bestandteilen einer Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Rentenversicherung (1889) als Pflichtversicherungen für Arbeiter und Angestellte unterer Einkommen. Ziel der Sozialgesetzgebung und verschiedener Arbeiterschutzmaßnahmen ist die Absicherung gegen die Risiken, denen die Arbeiter im Berufsleben ausgesetzt sind. Dies kann durchaus als Folge eines Legitimationszwangs der Herrschaftselite interpretiert werden, die die Sozialpolitik zunächst als „Instrument der ‚defensiven Modernisierung‘ gegen die politische Mobilisierung der Arbeiter einsetzte“.19 Somit können die Reformbestrebungen der Arbeiterschaft als starkes Motiv für die von der Regierung durchgeführte Sozialpolitik gewertet werden und weniger als deren direkte Ursache.

Arbeitervereinigungen existierten natürlich bereits vor dem 19. Jahrhundert. In England, dem Mutterland der Industrialisierung, schließen sich Arbeiter schon Ende des 17. Jahrhunderts zusammen, Vereinigungsverbote wie die General Combination Acts sind aus dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt. Nach der Aufhebung des Koalitions- und Streikverbots in den Jahren 1824/25 entstehen nationale Bewegungen, die jedoch immer wieder unterdrückt werden. Schließlich nimmt die Ausbreitung der Gewerkschaften ab 1840 wieder zu, 1864 gründen Arbeiter verschiedener Länder in London die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), die später Erste Internationale genannt wird. 1868 wird in Manchester der erste Gewerk-schaftskongress, der Trades Union Congress, abgehalten, und in den 1890er-Jahren sind die Gewerkschaften eine gesellschaftliche Tatsache. Für Deutschland sind einige wichtige Stationen von Arbeiterzusammenschlüssen in der folgenden Übersicht dargestellt.20

* Wissen: Arbeitnehmerzusammenschlüsse in Deutschland

In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts finden in Deutschland die ersten bedeutenderen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse im Zusammenhang mit der Märzrevolution statt.

1848 wird auf dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress in Berlin die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung gegründet, der im Frühjahr 1849 mit 170 Vereinen insgesamt 15.000 Mitgliedern angehören, sie wird 1854 verboten.

1868 gehen aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress der sozialistische Allgemeine Deutsche Arbeiterschaftsverband mit zwölf Berufsorganisationen und der liberale Verband der deutschen Gewerkvereine hervor.

1875 entsteht die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands aus der Vereinigung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Ferdinand Lassalles von 1863 mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei August Bebels von 1869.

1878 werden zwei erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt, was Bismarck zum Anlass nimmt, das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (Sozialistengesetz) durchzusetzen. 120 Berufsorganisationen sowie 17 gewerkschaftliche Zusammenschlüsse werden aufgelöst.

1890 erfolgt die Aufhebung des Sozialistengesetzes. Die der Sozialdemokratie nahestehenden Gewerkschaften schließen sich in der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands mit über 120.000 Mitgliedern neu zusammen.

1889 entstehen auf Anregung Papst Leos XIII. 280 katholische Arbeitervereine mit ca. 65.000 Mitgliedern neben den von Adolph Kolping ab dem Jahr 1846 gegründeten Gesellenvereinen, deren Hauptaufgabe in praktischer Sozialarbeit besteht.

1890 werden die 1882 gegründeten evangelischen Arbeitervereine (EAV) zum Gesamtverband der evangelischen Arbeitervereine, der 40.000 Mitglieder umfasst, zusammengeschlossen.

Die Entstehung von Rerum novarum

Spätestens in den 70er- und 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts erreicht die Arbeiterbewegung eine Bedeutung, der sich keine gesellschaftliche Institution gegenüber verschließen kann. Spät, aber nunmehr mit Nachdruck, verwandelt sich das Engagement einzelner Kirchenvertreter in eine gesamtkirchliche Bewegung, die sich den Problemen der Arbeiterschaft zuwendet. So werden u. a. katholische und evangelische Arbeitervereine gegründet oder neu organisiert. Der Höhepunkt dieser Entwicklung in der katholischen Kirche ist sicherlich die Veröffentlichung von Rerum novarum, der ersten Sozialenzyklika. Natürlich wurde die prekäre Situation der Arbeiter, bevor sie von der Kirche als drängendes gesellschaftliches Problem, mit dem man sich auch als Kirche offiziell zu befassen hatte, von dieser in den einzelnen Ländern wahrgenommen. Einige Beispiele sollen ein Bild davon vermitteln, auf welche Weise sich die katholische Kirche bereits auf internationaler Bühne mit dem Problem beschäftigte.

In Deutschland gibt es zahlreiche Belege für ein bereits früh einsetzendes soziales Engagement der Kirche. Allen voran organisieren der Elberfelder Pfarrer Adolph Kolping (1813–1865) und der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) praktische Unterstützung für die Arbeiter und nehmen zu den sozialen Problemen ihrer Zeit öffentlich Stellung. Von Kettelers Hauptwerk Die Arbeiterfrage und das Christentum erscheint 1864. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt seine Predigt an der Wallfahrtsstätte Liebfrauenheide bei Offenbach im Jahr 1869 vor Tausenden von Arbeitern, in der er eine systematische Sozialpolitik, Mitbestimmung der Arbeiter, Streikrecht, gerechte Löhne, Arbeitszeitverkürzungen und ein Verbot der Kinderarbeit einfordert.21 Diese und andere Äußerungen von Kirchenvertretern veranlassen den Kirchengegner Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels im September 1869 zu der Feststellung: „[…] habe ich mich überzeugt, dass speziell in den katholischen Gegenden energisch gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. […] Die Hunde kokettieren (z. B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongreß usw.), wo es passend erscheint, mit der Arbeiterfrage.“22 Vor allem die Schriften Kettelers sind es, die Papst Leo XIII. beim Verfassen seiner Sozialenzyklika beeinflussen.23 Auch in anderen europäischen Ländern ergreifen die lokalen Vertreter der katholischen Kirche Partei für die Arbeiter, in Frankreich etwa Adrien Albert Marie de Mun (1841–1914) oder Karl von Vogelsang (1818–1890) in Österreich.24

1869 wird in Philadelphia mit der Knights of Labor eine Selbsthilfeorganisation der Arbeiter gegründet, die in den 1880er-Jahren mit annähernd 800.000 Mitgliedern nicht nur zu einer der bedeutendsten, sondern zeitweise auch zur größten Arbeiterorganisation der USA avanciert. Welch zerrissenes Bild die katholische Kirche in Wahrnehmung und Umgang mit der Arbeiterbewegung in diesen Jahren abgibt und wie weit sie noch von dem vergleichsweise einmütigen Umgang gut zwei Jahrzehnte später, also in der Entstehungszeit von Rerum novarum, entfernt ist, zeigen die folgenden Ausführungen.

Wie viele ähnliche Einrichtungen in dieser Zeit ist auch die Knights of Labor in einer Art Geheimgesellschaft nach dem Vorbild der Freimaurer organisiert. In seiner Enzyklika Humanum genus von 1884 bezeichnet Papst Leo XIII. die Freimaurerei als „unreine Seuche“,25 eine Beschreibung, die eigentlich schon ausreicht, das Verhältnis des Vatikans zu den Freimaurern zu bestimmen. Bereits im Jahr 1825 hatte Papst Leo XII. alle Geheimgesellschaften verboten, was auch die bloße Mitgliedschaft einschloss.26 Die amerikanischen Bischöfe bewirken jedoch in den 1840er-Jahren eine stillschweigende Duldung von Arbeiterbruderschaften durch die Kirche.27 1883 zeigt der Erzbischof von Québec, Elzéar-Alexandre Taschereau, die Knights of Labor beim zuständigen Heiligen Offizium (damals noch die römische Inquisition) wegen Freimaurerei an. Taschereau reagiert damit auf gegen ihn selbst gerichtete Vorwürfe, er würde in seinem Amtsbereich nicht genügend gegen die Freimaurer vorgehen.28 1884 erlässt die Inquisition ein einfaches Verbot der Knights of Labor für das Gebiet Québec. Im Anschluss entbrennt eine heftige Diskussion über ein generelles Verbot, wodurch das Thema große Aufmerksamkeit in Presse und Öffentlichkeit erhält. Der Erzbischof von Baltimore, Kardinal James Gibbons, betont schließlich die grundsätzliche Bedeutung des Falls und dass es hier um soziale Missstände und öffentliche Ungerechtigkeiten gehe. Nun schaltet sich auch der Papst ein und 1888 hebt die Inquisition das Verbot auf.29

Mit der Causa Knights of Labor wurde in der katholischen Kirche ein Präzedenzfall für die Duldung gewerkschaftlicher Organisationen geschaffen, wie er bald in Rerum novarum Eingang finden sollte. Die Arbeitnehmervereinigung Knights of Labor entspricht gewiss nicht dem damaligen Ideal einer katholischen Arbeitervereinigung, doch verdeutlicht sie das zu dieser Zeit noch uneinheitliche, teilweise diffuse Verständnis von gewerkschaftlicher Organisation, dem zu begegnen alle beteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen erst einmal Erfahrungen sammeln mussten. Mit Genossenschaften, Korporativen, Gesellenvereinen, Geheimbünden und vielen anderen Organisationsformen versuchten die Arbeiter ihre Interessen durchzusetzen. Die Ziele der Arbeiter zu unterstützen, berechtigte Forderungen von überzogenen Vorstellungen zu differenzieren, ohne dabei eigene Werte, Traditionen und geübte Praxis aufzugeben, das war die große Herausforderung, der sich die Kirche zu stellen gezwungen sah.

Ein weiterer Fall, der vor der römischen Inquisition landete, ist der des New Yorker Priesters Edward McGlynn. McGlynn, ein Vertreter des neu entstandenen Typus Arbeiterpriester, gerät in Konflikt mit seinem Erzbischof Michael Augustine Corrigan. In dem Streit geht es einerseits um recht verwickelte disziplinarische Fragen, andererseits um McGlynns leidenschaftliche Begeisterung für die Ideen des (damals sehr populären) Ökonomen Henry George.30 So nimmt die Inquisition den Fall McGlynn zum Anlass, die Schriften Henry Georges einer genauen Prüfung zu unterziehen und aus dem Fall McGlynn einen Fall George zu machen.

In Henry Georges Hauptwerk Progress and Poverty (1879) ist das Grundeigentum von zentraler Bedeutung, wobei die Argumentation in weiten Teilen auf Erkenntnissen beruht, die schon seit François Quesnay (1694–1774), dem Begründer der physiokratischen Lehre, bekannt waren. Quesnay identifizierte in seinem Modell des Wirtschaftskreislaufs (Tableau économique) drei soziale Klassen als Träger der wirtschaftlichen Aktivitäten: die produktive Klasse (landwirtschaftliche Pächter), die Klasse der Grundeigentümer (classe disponible) sowie die Klasse der Gewerbetreibenden und Händler. Letztere wird auch als die sterile oder neutrale Klasse bezeichnet, da sie aus Sicht Quesnays zwar nützlich, aber nicht schöpferisch ist, die Güter nur umformt und lediglich um die geleistete Arbeit verteuert, insgesamt jedoch keinen volkswirtschaftlich bedeutenden Überschuss produziert. Laut Quesnay ist es die Landwirtschaft, die den kompletten Überschuss der Volkswirtschaft herstellt, davon aber nicht selbst profitiert, da dieser vollständig von den Grundeigentümern (vor allem dem Adel) verbraucht wird. Henry Georges Argumente sind ähnlich, das Bild vor Augen, dass die den wirtschaftlichen Überschuss einer Gesellschaft produzierenden Arbeiter und Bauern selbst meist im Elend leben, hingegen die Unternehmer eine Risikoprämie, den Zins auf ihr Kapital und zusätzlich den Lohn für die eigene Arbeit erhalten. Übrig bleiben also die Grundbesitzer, die eigentlich nichts anderes leisten, als den Boden zur Verfügung zu stellen, und sich dafür den gesamten volkswirtschaftlichen Überschuss aneignen. Die Quintessenz dieser Argumentation ist offensichtlich: Das Privateigentum an Grund und Boden ist letztlich die Ursache für die Armut in der Gesellschaft.

Henry Georges Lösungsvorschlag wird bekannt unter dem Konzept der sogenannten single tax: Eine Steuer soll den gesamten Profit aus der Vermietung von Grundbesitz abschöpfen. Aber damit nicht genug, die von George erwarteten Einkünfte aus dieser Steuer sind so hoch, dass er alle anderen Steuern abschaffen und damit der Wirtschaft einen starken Wachstumsimpuls geben will.31

Für die Inquisition impliziert Georges Vorschlag die Quasi-Enteignung der Grundbesitzer, was ihn in unmittelbare Nähe zum Sozialismus rückt. Mit folgerichtiger Konsequenz wird im Laufe des Verfahrens die Frage aufgeworfen, woran letztlich Sozialismus zu erkennen sei. Ein dabei entstandener Syllabus, der die verwerflichen Punkte des Sozialismus auflistet, ist leider verschollen. Nach mehreren Gutachten und langer Diskussion schließlich verurteilt die römische Inquisition die Lehre Henry Georges. Zuvor hatte sich aber Papst Leo XIII. in das Verfahren eingeschaltet und die Klärung des Privateigentums an Grund und Boden für die Sozialenzyklika reserviert.32 Außerdem sorgt der Papst dafür, dass das Urteil der Inquisition sub segreto, unter Geheimhaltung, erfolgt.33 Damit kommt es zu dem kuriosen Ergebnis, dass die Schriften von Henry George von der Inquisition zwar verboten werden, dieses Verbot selbst jedoch unter Geheimhaltung steht.

Ein weniger drastisches Beispiel, wie sich die Kirche auf internationalem Parkett mit der Arbeiterfrage auseinandersetzt, ist die von Kaiser Wilhelm II. initiierte internationale Arbeiterschutzkonferenz, die ab dem 15. März 1890 in Berlin tagt. Im Vorfeld war es zu einem persönlichen Briefwechsel zwischen Papst und Kaiser gekommen, in dem der Kaiser den Breslauer Fürstbischof Georg von Kopp als Delegierten zur Konferenz einlud und der Papst die Unterstützung der Kirche versicherte. Nachdem Bischof Kopp am 11. April 1890 dem Papst über die Konferenz berichtet hatte, wendet dieser sich mit einem Schreiben vom 20. April 1890 an den Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, den Kölner Erzbischof Philipp Krementz. Daraus resultiert ein sehr ausführlicher Hirtenbrief (22. August 1890), in dem die deutschen Bischöfe zur Arbeiterfrage Stellung nehmen.34 Die Bischöfe betonen, dass die Lösung der sozialen Frage nicht „der Privattätigkeit, dem freien Spiel der Kräfte oder gar dem Kampf ums Dasein“ überlassen werden dürfe, sondern dass Staat und Kirche zur Lösung der sozialen Frage zusammenarbeiten müssten.35

In den Jahren 1887 und 1889 gibt es erste Arbeiterpilgerzüge nach Rom. Papst Leo XIII. richtet in Ansprachen persönlich das Wort an die Pilger und bekundet seine Sympathie für die Sache der Arbeiter, die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe zugunsten der Arbeiter betonend.36 Im Oktober 1887 bittet die Union catholique d’études sociales et économiques a Fribourg, eine von mehreren katholischen Studienkreisen, die sich mit den sozialen Fragen der Zeit beschäftigen, Papst Leo XIII. um eine Sozialenzyklika. Spätestens im Frühjahr 1888 beschließt der Papst, diesem Wunsch nachzukommen und hierzu Vorschläge und Meinungen aus aller Welt einzuholen. Wahrscheinlich im Frühjahr 1890 beauftragt der Papst den Jesuiten Matteo Liberatore mit dem Entwurf für eine Enzyklika über die Arbeiterfrage. Einige Eckpunkte legt der Papst von vornherein fest: Die Enzyklika soll sowohl die Irrtümer des Sozialismus als auch des Liberalismus aufdecken, die Rechte des Einzelnen und der Familie gegenüber dem Staat klarstellen, die Notwendigkeit des Privateigentums aufzeigen und klären, welchen Beitrag der Staat zur Lösung der Arbeiterfrage zu leisten hat.

Der erste Entwurf der Enzyklika wird von Kardinal Tommaso Maria Zigliara überarbeitet. Während die Vorlage Liberatores eher die praktischen Fragen in den Vordergrund rückt, arbeitet Zigliara vor allem die philosophisch-scholastische Fundierung der Positionen heraus. Nachdem der Papst mit den ersten Ergebnissen nicht zufrieden ist, wird mit Kardinal Camillo Mazzella ein dritter anerkannter Experte für die Philosophie des Thomas von Aquin hinzugezogen. Zusammen mit Liberatore überarbeitet er den Text Zigliaras, die theoretischen Elemente werden gestrafft und einige Elemente des ersten Entwurfs wieder eingefügt. Zu dem neuen Manuskript bemerkt der Papst: „Die Materie ist jetzt vollständig, aber der Ton fehlt noch. Sie muß noch ganz verdauet und neu gefaßt werden.“37 Die Endfassung der Enzyklika liegt nunmehr in den Händen der Privatsekretäre des Papstes, Alessandro Volpini und Gabriele Boccali, die den Text noch einmal völlig neu strukturieren und verändern. Kaum einzuschätzen ist die persönliche Einflussnahme durch den Papst in dieser Phase, da er seine Änderungswünsche den Sekretären nur mündlich mitteilt.38

Rerum novarum – Papst Leo XIII. 1891

Die erste päpstliche Sozialenzyklika, Rerum novarum (Über die neuen Dinge), wird von Papst Leo XIII. im Jahr 1891 veröffentlicht. In der Einleitung von Rerum novarum werden Ausgangslage und Beweggründe prägnant und unmissverständlich formuliert:

* Zitat

Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten. Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen. Wieviel in diesem Kampfe auf dem Spiele steht, das zeigt die bange Erwartung der Gemüter gegenüber der Zukunft. Überall beschäftigt man sich mit dieser Frage, in den Kreisen der Gelehrten, auf fachmännischen Kongressen, in Volksversammlungen, in den gesetzgebenden Körperschaften und im Rate der Fürsten. Die Arbeiterfrage ist geradezu in den Vordergrund der ganzen Zeitbewegung getreten.39

Die soziale Frage mit der Arbeiterfrage in ihrem Mittelpunkt wird von der Kirche als zentrale Herausforderung des 19. Jahrhunderts wahrgenommen, und dies in nicht weniger drastischen und unverblümten Beschreibungen, wie sie in den Schriften der Historischen Schule, der damals populären Wirtschaftslehre, mit ihrem berühmten Vertreter Gustav von Schmoller (1838–1917), oder auch in Abhandlungen von Repräsentanten der sozialistischen Bewegung, allen voran Karl Marx, anzutreffen sind. Bezeichnenderweise trägt Rerum novarum die Überschrift Über die Arbeiterfrage und legt die Grundsätze dar, „welche für eine richtige und billige Entscheidung der Frage maßgebend sein müssen“.40

Schon zu Beginn der Enzyklika dringt Leo XIII. auf „baldige ernste Hilfe“ für die Arbeiter, „weil Unzählige ein wahrhaft gedrücktes und unwürdiges Dasein führen“.41