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Jakob Wassermann

Melusine

Jakob Wassermann

Melusine

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-32-1

null-papier.de/398

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Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

Schluß.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

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I.

We­ni­ge Men­schen ver­ste­hen es, ihre Wün­sche im Be­reich des Mög­li­chen zu las­sen. –

Nach mo­na­te­lan­gem Hun­gern war es Vidl Falk end­lich ge­lun­gen, ein Sti­pen­di­um von der Hoch­schu­le zu er­hal­ten. Mehr hat­te er nicht ge­wünscht. Er be­trach­te­te sich als ge­mach­ten Mann und streb­te, sich das Le­ben et­was ge­mäch­li­cher ein­zu­rich­ten. Mit der gan­zen Be­sit­zes­freu­de ei­nes Ka­pi­ta­lis­ten trug er sein Ver­mö­gen spa­zie­ren. Je­doch ver­mied er das Ge­drän­ge der Ver­kehrs­s­tra­ßen, denn er fürch­te­te sich vor Ta­schen­die­ben. Wenn er beim Mit­ta­ges­sen die Zei­tung zur Hand nahm, so stu­dier­te er zu­erst un­ter der Ru­brik »Lo­kal­nach­rich­ten« die Auf­zäh­lung der Dieb­stäh­le und der ver­lo­re­nen Geld­bör­sen.

Der plötz­lich ein­ge­tre­te­ne Reich­tum be­rausch­te ihn. Die schma­le, arm­se­li­ge Zel­le, in der er bis jetzt ge­haust, ekel­te ihn auf ein­mal an. Er kün­dig­te und ging aus, ein Zim­mer zu su­chen, das mit sei­nen Träu­men mög­lichst über­ein­stim­men soll­te. Der er­fin­de­ri­sche Sinn Münch­ner Ver­mie­te­rin­nen, der schon den Aus­hän­ge­zet­tel mit je­nen fei­nen Nuan­cen ver­sieht, wel­che auf den Preis schlie­ßen las­sen, er­leich­ter­te ihm das Su­chen.

Ei­nes Nach­mit­tags er­klet­ter­te er die zwei stei­len Trep­pen ei­nes ziem­lich vor­neh­men Hau­ses in der Heß­stra­ße. »Pen­si­on Ben­der« stand an der Kor­ri­dor­tü­re.

Ein klei­nes, zier­li­ches Fräu­lein führ­te ihn in das aus­ge­schrie­be­ne Zim­mer. Leut­se­lig und mit welt­män­ni­schem Be­ha­gen be­trach­te­te Falk die vier Wän­de des Zim­mer­chens und be­klag­te, daß kei­ne Ot­to­ma­ne oder »so was Ähn­li­ches« vor­han­den sei. Der­sel­be her­ab­las­sen­de jun­ge Mann hat­te sich vor noch nicht vier Ta­gen mit ei­nem Mit­ta­ges­sen be­gnügt, das aus ei­nem für zehn Pfen­ni­ge Äp­fel be­rei­te­ten Mus und mit ei­nem Abendes­sen, wel­ches aus pu­rem Schwarz­brot be­stand.

Mit iro­ni­schem Lä­cheln be­ob­ach­te­te ihn das jun­ge Mäd­chen. Es schi­en sei­ne Spott­lust mit Mühe zu zü­geln.

»Wa­rum la­chen Sie denn?«, frag­te Falk, in­dem er ein mög­lichst gut­mü­ti­ges Ge­sicht mach­te, füg­te aber so­gleich has­tig hin­zu, daß er das Zim­mer mie­ten wür­de. »Wer wohnt denn sonst noch bei Ih­nen?«, frag­te er, mit der Nase in der Luft schnup­pernd, denn es roch nach Weih­rauch.

Das Mäd­chen ließ ein hel­les, höl­zer­nes La­chen hö­ren und er­wi­der­te: »Ne­ben­an wohnt Dok­tor Bro­sam – er ist Arzt und er mag den Weih­rauch sehr gern –«

»Pfui!«

»Dann ein Fräu­lein von Erd­mann, eine Ge­lehr­te, und Fräu­lein Mir­beth. Das ist al­les.«

»Eine Ge­lehr­te –? Jung?«

Jetzt lach­ten sie Bei­de. –

Ge­gen Abend des nächs­ten Ta­ges – es war der 1. No­vem­ber – be­zog Falk sei­ne neue Woh­nung. Als er mit Auspa­cken und Ord­nen sei­ner Hab­se­lig­kei­ten fer­tig war, ging er in die Kü­che, um die Magd nach et­was zu fra­gen. Die Kü­chen­tü­re stand halb­of­fen und er woll­te sie schon auf­sto­ßen, als ihn der An­blick ei­ner weib­li­chen Ge­stalt, wel­che drin­nen ganz nahe an der Tür stand, dar­an hin­der­te. Die­se Ge­stalt war groß und schlank, fast ha­ger. Das ihm zu­ge­wand­te Pro­fil zeig­te her­be und un­schö­ne Li­ni­en, ja, es er­schi­en ihm fast ab­sto­ßend. So­viel er im Dun­keln ur­tei­len konn­te, war sie noch sehr jung; er hör­te eine schlep­pen­de und et­was ge­wöhn­li­che Stim­me, die mit dem Ton­fall ei­ner Er­mü­de­ten der Magd Er­klä­run­gen ir­gend wel­cher Art gab.

Vidl Falk wand­te sich rasch ab, um nicht ge­se­hen zu wer­den; aber in die­sem Au­gen­blick kam das Fräu­lein Ben­der aus dem Wohn­zim­mer und frag­te nach sei­nem Be­gehr. Wäh­rend er noch mit ihr sprach, ver­ließ das schlan­ke, jun­ge Mäd­chen die Kü­che und ging an ih­nen vor­bei. Falk sah ihr nicht ins Ge­sicht, ob­wohl er ihre Züge jetzt ge­nau hät­te se­hen kön­nen, da die Magd mit der Kor­ri­dor­lam­pe folg­te. Nur flüch­tig mus­ter­te er ih­ren Schlaf­rock von düs­ter­ro­ter Fär­bung mit den Auf­schlä­gen an der Brust und dem Bro­ka­tauf­putz. Doch ob­wohl er der Vor­bei­ge­hen­den durch­aus kei­ne Be­ach­tung schenk­te, hör­te er doch auch nicht dar­auf, was das klei­ne, spöt­ti­sche Fräu­lein Ben­der sag­te. Eine Un­ru­he, die frei­lich nur ei­ni­ge Se­kun­den dau­er­te, hat­te ihn dar­an ver­hin­dert.

»Wer war denn das?«, frag­te er nach­her ganz gleich­gül­tig die Klei­ne.

Das Mäd­chen streif­te ihn mit ei­nem kur­z­en Sei­ten­blick und sag­te mit ko­mi­scher, fast ko­mö­di­an­ti­scher Wich­tig­keit: »Das war Fräu­lein Mir­beth.«

Falk glaub­te et­was Ge­häs­si­ges aus dem Ton die­ser Ant­wort zu hö­ren, nicht ge­gen ihn, son­dern ge­gen jene Dame. Nach Mo­na­ten noch er­in­ner­te er sich der iro­ni­schen Be­to­nung des Na­mens und des über­le­gen ge­spitz­ten Mun­des mit der her­vor­tre­ten­den Un­ter­lip­pe.

Noch in der­sel­ben Nacht schrieb Vidl Falk die fol­gen­den, et­was ju­gend­lich klin­gen­den Sät­ze in sein Ta­ge­buch: »Ich bin ru­hig und glück­lich jetzt, – be­glückt von der Ein­sam­keit und al­ler­lei un­nüt­zen Ge­dan­ken. Und doch füh­le ich et­was Lee­res in mir, eine Lücke, ein Loch. Soll­te dies das Weib sein? Ich glau­be kaum. Man kann sich doch nicht nach dem Gift­be­cher seh­nen.«

Auf der ers­ten Sei­te die­ses Ta­ge­buchs be­fan­den sich in la­pi­da­ren Let­tern die prunk­vol­len Wor­te: Die rei­ne Wahr­heit.

II.

Fräu­lein Emi­lie von Erd­mann er­wach­te seuf­zend aus dem Mor­gen­schlum­mer. Das Auf- und Zu­klap­pen der Tü­ren hat­te ih­ren Schlaf ver­scheucht. Die di­cke, ält­li­che Dame stöhn­te sehr laut und hielt sich mit bei­den Hän­den den Kopf. Als der Lärm kein Ende nahm, mur­mel­te sie Flü­che und Schimpf­wor­te, ball­te bei­de Fäus­te ge­gen die un­sicht­ba­ren Fein­de drau­ßen und rief end­lich ver­zwei­felt aus: »Mein Le­ben ist ver­pfuscht!« Dann sank sie thea­tra­lisch in die Kis­sen zu­rück und hol­te ein Brust­bon­bon aus dem Schub­fach ei­nes klei­nen Ti­sches ne­ben dem Bett.

Sie emp­fand je­nes hef­ti­ge Un­be­ha­gen, das Je­den heim­sucht, der aus dem Schlaf zu den Sor­gen des Le­bens zu­rück­kehrt. Auch die Über­le­gung, wie­der um einen Tag äl­ter ge­wor­den zu sein, ver­stimm­te sie. Der Ver­fall ih­res Kör­pers war das Schau­spiel, wor­über sie täg­lich von neu­em grol­len muß­te. Und sie woll­te noch jung sein und zur Ju­gend ge­zählt wer­den. Aber mit fünf­zig Jah­ren ist man alt, der kunst­reichs­ten Mo­dis­tin zum Trotz.

Das Dienst­mäd­chen brach­te den Mor­gen­kaf­fee und Fräu­lein von Erd­mann be­schwer­te sich leb­haft über die Un­ru­he. »Liebs­te Anna«, sag­te sie mit vi­brie­ren­der Stim­me, »ich bin so elend, so krank. Se­hen Sie her«, (sie streck­te ihre Gicht­fin­ger aus den Kis­sen) »wis­sen Sie was das ist? Das ist der Hohn des Le­bens! Ge­ben Sie mir die Hand, Anna! Ich weiß, daß Sie es gut mit mir mei­nen. Ich war nicht im­mer so. Ich habe Tage des Glan­zes ge­sehn.«

Das Mäd­chen lä­chel­te kalt. Mit ke­cker Ver­trau­lich­keit be­trach­te­te es nach Dienst­bo­ten­art die gel­be, schwam­mi­ge Hand. Wie­der al­lein, nahm die Kran­ke ei­lig den klei­nen Spie­gel von der Wand und blick­te starr hin­ein. Sie zuck­te mit kei­ner Wim­per, ihr Ge­sicht nahm einen kö­nig­lich stren­gen und dann einen fins­tern, zür­nen­den Aus­druck an, und ihre ab­norm lan­gen, flei­schi­gen Ohr­lap­pen rö­te­ten sich.

Von neu­em wur­den drau­ßen die Tü­ren zu­ge­schla­gen, pol­tern­de Schrit­te er­tön­ten auf dem Kor­ri­dor, und der neue Herr rief nach Was­ser. Mit ei­nem Wut­schrei sprang das Fräu­lein aus dem Bet­te. Sie such­te nach ih­ren St­rümp­fen, und kram­te zu die­sem Zweck un­ter den am Bo­den lie­gen­den Wä­sche­stücken, Zi­gar­ren­schach­teln, Bü­chern, Zei­tun­gen, Brie­fen und Un­ter­rö­cken; so­gar auf dem Tisch such­te sie zwi­schen den Kaf­fee­tas­sen, Fla­schen und Spei­se­res­ten. Aber das Er­folg­lo­se ih­rer Be­mü­hun­gen er­ken­nend, be­gnüg­te sie sich da­mit, einen lan­gen, fal­ten­lo­sen Man­tel um die Schul­tern zu hän­gen, der das schmut­zi­ge Nacht­hemd nur schlecht ver­hüll­te, und bar­fuß in ein paar zer­ris­se­ne Pan­tof­feln von ehr­wür­di­gem Al­ter zu schlüp­fen. Sie woll­te schon hin­aus­ge­hen, aber zwei Grün­de hiel­ten sie von ih­rem Be­schwer­de­gang ab. Ers­tens, dach­te sie, wird mein Kaf­fee kalt und zwei­tens wäre die­se klei­ne Frau Ben­der fä­hig, mich we­gen der lum­pi­gen paar hun­dert Mark, die ich schul­dig bin, zu en­nu­yie­ren. Dies »en­nu­yie­ren« ge­fiel ihr; es ver­hüll­te das am Bes­ten, was zu den­ken sie sich schäm­te.

Nach dem reich­li­chen Früh­stück hat­te sie ihre Mor­gen­zigar­re an­ge­zün­det und sich in schö­ner Pose auf die Ot­to­ma­ne ge­legt. Da knarr­te die Tür in den An­geln und un­wil­lig wand­te die Lie­gen­de das Haupt. Sie sah Fräu­lein Mir­beth im Zim­mer ste­hen, dicht ne­ben der Tür, die das jun­ge Mäd­chen lang­sam ge­schlos­sen hat­te. Emi­lie von Erd­mann sprang auf. »Was – Sie, Fräu­lein!«, rief sie er­staunt.

Fräu­lein Mir­beth ant­wor­te­te nicht. Sie schau­te ge­ra­de vor sich hin, aber nicht auf einen be­stimm­ten Punkt, son­dern sie blick­te weit in die Fer­ne und sie schi­en et­was wahr­zu­neh­men, das mehr und mehr ihre Angst er­reg­te. Ihre Arme hin­gen schlaff an dem grau­en, wol­le­nen, schwarz­ge­mus­ter­ten Mor­gen­rock her­ab und ihre klei­nen, fei­nen, schma­len und ma­ge­ren Hän­de leuch­te­ten förm­lich durch das Zim­mer.

»Aber lie­bes Kind, was ha­ben Sie denn?«, rief Fräu­lein von Erd­mann er­schro­cken und hasch­te zärt­lich nach der Hand die­ses »Kin­des«, das einen Kopf grö­ßer war als sie.

Das jun­ge Mäd­chen mach­te noch im­mer kei­ne Be­we­gung. Wohl aber be­gan­nen die Na­sen­flü­gel zu be­ben und die schwar­zen Au­gen, die aus dem blas­sen Ge­sicht her­vor­leuch­te­ten wie zwei über­aus glän­zen­de Per­len, füll­ten sich mit Trä­nen. Be­stän­dig, ohne auf­zu­hö­ren, nag­te sie an der Un­ter­lip­pe und dann ging ein Zu­cken durch ih­ren Kör­per. Sie zit­ter­te. Plötz­lich mach­te sie zwei oder drei Schrit­te vor­wärts, – schnell als fürch­te sie zu fal­len, warf sich auf die Ot­to­ma­ne, leg­te den Kopf auf die ver­schränk­ten Arme und be­gann zu wei­nen, – lei­se und un­auf­halt­sam.

Fräu­lein von Erd­mann war rat­los. Mecha­nisch strich sie über das wir­re, dunkle, glanz­lo­se Haar der Wei­nen­den, das bei je­der Berüh­rung knis­ter­te wie Sei­de.

Die di­cke Dame such­te zu trös­ten. »Wer hat Ih­nen denn ein Leids ge­tan, Sie Arme? Ist es Ihr – Ihr Vor­mund, ist es die­ser schreck­li­che Oberst? Sa­gen Sie mir al­les. Un­be­sorgt dür­fen Sie sich mir an­ver­trau­en. Ich bin ver­schwie­gen wie das Grab. Ver­trau­en Sie mir, lie­bes Kind. Ist er denn in Sie ver­liebt, die­ser Oberst? Und hat er Sie be­lei­digt? Ver­trau­en Sie mir!«

Und sie dräng­te in das jun­ge Mäd­chen mit dem gan­zen Un­ge­stüm ei­ner Frau, die um je­den Preis ein Ge­heim­nis zu er­pres­sen sucht.

Fräu­lein Mir­beth rich­te­te sich auf. Sie drück­te einen Au­gen­blick die Li­der zu, wie um da­durch wi­der­wär­ti­ge Bil­der hin­weg­zu­scheu­chen und sag­te schroff. »Las­sen Sie mich!« Ihr Ge­sicht war voll Scham, und sie wuß­te nicht, wo­hin sie den Blick wen­den soll­te. Mit auf­ge­ho­be­nen Hän­den stand Fräu­lein von Erd­mann vor ihr und sag­te mehr als zehn­mal: »Ver­trau­en Sie mir!«

Das jun­ge Mäd­chen schüt­tel­te den Kopf und ent­geg­ne­te lang­sam: »Ver­zei­hen Sie, gnä­di­ges Fräu­lein. Ich war wohl recht dumm. Aber ich kann jetzt nicht re­den. Ver­zei­hen Sie mir.« Sie nick­te zer­streut und ging has­tig hin­aus.

Wü­tend, mit ver­ächt­lich zu­sam­men­ge­preß­ten Lip­pen sah ihr die di­cke Gnä­di­ge nach.

III.

Fräu­lein Mir­beth kehr­te in ihr Zim­mer zu­rück. Lan­ge Zeit ging sie auf und nie­der, mit großen Schrit­ten und schein­bar völ­lig los­ge­löst von al­lem, was sie um­gab. Sie war phleg­ma­tisch in ih­ren Be­we­gun­gen und ihr Ge­sicht ver­riet kei­ne in­ne­re Re­gung mehr. Aber et­was Freud­lo­ses und Hoff­nungs­lo­ses lag auf ihr wie No­vem­ber­reif. Beim ers­ten An­blick er­schi­en sie schlaff, müde und gleich­gül­tig.

Sie setz­te sich an den Schreib­tisch, nahm Fe­der und Pa­pier zur Hand und schick­te sich an, zu schrei­ben. Doch blieb es nur beim An­set­zen der Fe­der, de­ren Spit­ze sie stets ängst­lich be­trach­te­te. Of­fen­bar wuß­te sie ge­nau, was sie schrei­ben woll­te: Satz für Satz; aber die­se Sät­ze aufs Pa­pier zu brin­gen, war ihr un­mög­lich. Un­mu­tig warf sie die Fe­der fort und stütz­te den Kopf in die Hand. Jetzt muß­te sie auf­quel­len­de Trä­nen ver­schlu­cken und plötz­lich er­rö­te­te sie vor Scham oder vor Haß. Sie zog ein klei­nes, mit flot­ter Hand be­schrie­be­nes Stück Pa­pier aus der Ta­sche, ent­knit­ter­te es und sah län­ger als eine Vier­tel­stun­de dar­auf nie­der.

Da klopf­te es und das klei­ne Fräu­lein Ben­der trat her­ein. Mit ih­ren schwe­ben­den, et­was ge­sucht gra­zi­ösen Schrit­ten ging sie auf die re­gungs­los Da­sit­zen­de zu, faß­te sie bei der Hand und sag­te: »Was ist Ih­nen denn, Mely? Sie sind so ver­stört, schon seit ges­tern. So­gar Mama hat es be­merkt und hat ge­sagt, ich sol­le doch mal her­ein.«

Mely Mir­beth schüt­tel­te lang­sam den Kopf, wie je­mand, der fest ent­schlos­sen ist, sei­nen Kum­mer al­lein zu tra­gen. Aber im Nu war die­ser Ent­schluß bei ihr ver­ges­sen und die vo­ri­ge Schwä­che er­griff sie wie­der. Has­tig und su­chend er­faß­te sie die Hand des jün­ge­ren Mäd­chens. In die­ser un­will­kür­li­chen Be­we­gung lag ein Schwä­che­ge­ständ­nis und ein An­schmie­gungs­be­dürf­nis und dies wur­de von dem jun­gen Mäd­chen wohl ver­stan­den. Es nä­her­te sei­ne Lip­pen den Wan­gen Me­lys und frag­te lei­se: »Sie wa­ren bei Fräu­lein von Erd­mann?«

Mely lä­chel­te schuld­be­wußt.

»Das soll­ten Sie wirk­lich nicht tun«, fuhr die Klei­ne fort. »Wa­rum das? Die haßt uns ja doch, weil wir jün­ger sind als sie. Sie stirbt vor Neid um un­se­re Ju­gend.«

Me­lys Lä­cheln wur­de hel­ler und fröh­li­cher. Mit nai­ver Ver­wun­de­rung sah sie das zier­li­che Mäd­chen an, das ein so schar­fes und selb­stän­di­ges Ur­teil zu ge­ben wag­te. Man sah auch an der schnel­len Be­we­gung ih­rer Li­der, daß sie dar­über nach­dach­te. »Sie sind bös, He­le­ne«, sag­te sie end­lich, er­hob sich und be­gann wie­der ihr Um­her­wan­dern. »Ach He­le­ne«, rief sie nach ei­ner lan­gen Pau­se, »wenn Sie wüß­ten, was ich al­les durch­zu­ma­chen habe!«

He­le­ne Ben­der saß mit ver­schränk­ten Ar­men auf der Leh­ne des Fau­teuils und blick­te mit ih­ren klu­gen, grau­en Au­gen Mely an. Et­was Ungläu­bi­ges und Iro­ni­sches lag in ih­rem auf­merk­sa­men Blick. So klein sie war und so un­be­deu­tend sie aus­sah, so skep­tisch blieb sie ge­gen­über je­dem Ge­fühls­aus­bruch und um den schma­len Mund mit der vor­ge­scho­be­nen Un­ter­lip­pe lag stets ein gleich­gül­ti­ger Spott. Sie glaub­te nicht an Me­lys Lei­den, sie hielt jene für zim­per­lich und an­spruchs­voll und vor al­lem für ober­fläch­lich. Nur aus Neu­gier­de war sie her­ein­ge­kom­men.

Mely ahn­te nichts da­von. Sie ver­trau­te al­len Men­schen, au­ßer de­nen, die sie haß­te. Was man ihr sag­te, das glaub­te sie, selbst die plum­pen Lü­gen. In ih­rem Schmerz be­fan­gen, hielt sie es für un­mög­lich, daß je­mand an der Tie­fe die­ses Ge­fühls zwei­feln kön­ne. Sie setz­te sich und sag­te mit ih­rer jetzt wei­chen und ein­schmei­cheln­den Stim­me, die et­was Be­küm­mer­tes stets in sich hat­te: »Ich woll­te ja auf al­les gern ver­zich­ten, wenn ich nur mei­ne Ruhe hät­te. Mit nack­tem Brot nahm ich vor­lieb, – nur end­lich ein­mal ein an­de­res Le­ben. Die Auf­re­gun­gen, die Quä­le­rei­en, die Be­lei­di­gun­gen, – ich bin ganz krank.«

Und sie seufz­te tief auf, wie Kin­der tun, wenn sie sich aus­ge­weint ha­ben. »Sie wis­sen nicht, was das ist, He­le­ne«, fuhr sie trau­rig fort. »Sie ha­ben Ihre Mut­ter da und le­ben so be­quem und Sor­gen ha­ben Sie kei­ne. Aber ich bin ganz al­lein auf der Welt und die­ser Mann darf mich miß­han­deln wie er will, darf mich be­schimp­fen – o, ich bin ganz krank! Da hab ich wie­der einen Brief, sehn Sie He­le­ne, – da, was das ist! – Ich muß mich zu Tod schä­men.«

»Was ist es denn?«

»Ach – das kann ich Ih­nen ja gar nicht sa­gen. Es ist – er will – – nein, es ist un­mög­lich.« Ver­wirrt und voll Scham wand­te sich Mely ab. »Schon ein­mal hat er es ver­langt«, flüs­ter­te sie. »Und weil ich nicht will, muß ich mich quä­len las­sen, um nichts, um jede Klei­nig­keit.« Sie nahm den Brief und zer­fetz­te ihn ner­vös zwi­schen den Fin­gern. Dann ging sie zum Klei­der­schrank, nahm ihre Stra­ßen­ro­be her­aus und öff­ne­te mit ei­nem ein­zi­gen Riß die Knöp­fe ih­res Mor­gen­rocks.

»Ja – mö­gen Sie ihn denn nicht?«, frag­te He­le­ne schüch­tern. »Oder wie ist das?«

»Mö­gen! Er­schie­ßen könnt ich ihn.«

Das klei­ne Mäd­chen lä­chel­te ver­stän­dig. Sie trat zu Mely und er­griff de­ren bei­de Hän­de. »Sei­en Sie doch ru­hi­ger«, sag­te sie. »Ist es denn gar so schlimm? Wer weiß, viel­leicht stel­len Sie sich's nur so ent­setz­lich vor. Er ist doch oft recht nett mit Ih­nen. Wie viel Schö­nes hat er Ih­nen schon ge­schenkt.«

Die Trost­grün­de wa­ren ba­nal; doch auf Mely übte die stil­le, si­che­re und selbst­be­wuß­te Art die­ser Früh­rei­fen einen be­ru­hi­gen­den Ein­fluß. Sie strich mit der Hand über die Stirn und blick­te un­schlüs­sig vor sich hin.

»Was wol­len Sie denn tun?«, frag­te He­le­ne ängst­lich.

»Hin­über will ich. Al­les will ich ihm sa­gen. Sei­nen Brief will ich ihm vor die Füße wer­fen!«, stieß das jun­ge Weib her­vor. Sie hat­te ver­ges­sen, daß sie den Brief so­eben zer­ris­sen hat­te.

»Nicht – nicht das«, be­schwich­tig­te He­le­ne. »War­ten Sie noch bis heu­te Abend we­nigs­tens. Sie ma­chen es ja nur schlim­mer, – war­ten Sie.« Das Mäd­chen sprach sanft und zu­gleich über­le­gen. Doch Mely schüt­tel­te den Kopf. »Ich muß«, sag­te sie. »Ich bin sonst ganz un­glück­lich den gan­zen Tag.« Und wäh­rend sie sich an­klei­de­te, er­zähl­te sie. »Sehn Sie, He­le­ne, ich habe neu­lich zu mei­nem schwar­zen Kleid einen bun­ten Hut ge­kauft. Da gab's Skan­dal. Das sei ge­mein, sag­te er. Die Dienst­bo­ten tä­ten das. Ich wol­le mich auf­fal­lend klei­den, nur aus Ko­ket­te­rie. Ich soll ko­kett sein, He­le­ne, das ist doch lä­cher­lich, wie? Aber er will nicht, daß mich ein an­de­rer Mann nur an­schaut, des­we­gen soll ich kei­ne Far­ben tra­gen. Und dann das: ich habe drei­tau­send Mark Ver­mö­gen ge­habt, von der Mut­ter noch. Und als ich voll­jäh­rig war, – nein et­was spä­ter, vor drei Jah­ren war's, be­kam ich das Geld. Da hat er nicht auf­ge­hört, zu drän­gen, ich sol­le doch das Geld ver­brau­chen, und ich – so dumm! – ma­che die un­sin­nigs­ten Aus­ga­ben. Kurz, in sechs Mo­na­ten war al­les ver­putzt. Und wie ich dann das ers­te Mal von ihm Geld ver­lan­gen muß­te, da hät­ten Sie ihn se­hen sol­len. Ganz glück­lich war er dar­über, ganz weg vor Freu­de.«

He­le­ne war er­staunt. »Nun – das ist doch schön!«

»Aber ver­ste­hen Sie denn nicht? Jetzt war ich doch von ihm ab­hän­gig und er konn­te ma­chen mit mir, was er woll­te. Jetzt hieß es ge­hor­chen, – oder… Ver­steht! Sie nicht? Aber es ist beim Oder ge­blie­ben. O, es war ge­mein.«

Sie war fer­tig mit der Toi­let­te, nahm Hand­schu­he und Schirm und zur Tür ge­hend, sag­te sie leicht­hin: »Gelt, ich bin dumm, He­le­ne. An­de­re wür­den la­chen. Ach Gott und gra­de zu die­ser al­ten Erd­mann muß ich hin­ein. Wie dumm, wie dumm! Was denkt sich jetzt die.« Als ob sie aus sich selbst nicht klug zu wer­den ver­möch­te, schüt­tel­te sie ganz lang­sam den Kopf. Sie war un­zu­frie­den mit sich, auch des­we­gen, weil sie so of­fen ge­gen He­le­ne ge­we­sen war.

Als sie schon im Haus­flur an­ge­langt war, kehr­te sie wie­der um und ging in ihr Zim­mer zu­rück. Furcht und Mut­lo­sig­keit hat­ten sie er­faßt. Sie lehn­te sich in den Fau­teuil und schloß die Au­gen. Trotz des Man­tels, den sie nicht ab­ge­legt hat­te, fror sie aus dem In­nern her­aus. Wie Spreu im Win­de wir­belt, so stürm­ten die Ge­dan­ken in ihr durch­ein­an­der. Hei­ra­ten kann ich dich nicht, das wirst du doch ein­se­hen, zi­tier­te sie ner­vös lä­chelnd. Sei­ne Frau hat er zu Grund ge­rich­tet, dach­te sie und run­zel­te feind­se­lig die Stirn. Es war selt­sam, daß die­se Frau jetzt vor ihr stand, wie sie an ei­nem Mas­ken­ball des letz­ten Kar­ne­vals ko­stü­miert ge­we­sen: im ro­ten Pier­rot­ge­wand mit wei­ßer Zip­fel­müt­ze. Noch deut­lich ent­sann sie sich da­bei des glü­hen­den Ge­sichts, das oft mit ei­nem spä­hen­den und un­ter­wür­fi­gen Aus­druck dem Oberst sich zu­wand­te. Zwei Jah­re erst war sie tot. Sie war ein fei­nes Ge­schöpf ge­we­sen, klug und we­nig ko­kett, groß und in ih­ren Zü­gen der Sas­kia von Uhlen­burg ähn­lich. Sie war stets die Skla­vin ih­res Gat­ten ge­we­sen. Bis ins Un­be­deu­tends­te ging die­ser skla­vi­sche Zug an ihr, dies gänz­li­che und für An­de­re oft so un­be­greif­li­che Auf­ge­löst­sein im We­sen des Man­nes.

Mely rühr­te sich nicht. Ihre Lip­pen wa­ren nicht ge­schlos­sen, und sie hielt den Atem an. Und dann lä­chel­te sie so, als sei sie mit al­lem ein­ver­stan­den, was man mit ihr trei­be. Eine große Mü­dig­keit kam über sie, und sie heg­te den Wunsch zu schla­fen. Aber Bild auf Bild stieg her­auf: sie leb­te wie­der in ih­rer Ver­gan­gen­heit. Sie sah sich als Kind zur Volks­schu­le ge­hen; sie sah bei­de El­tern auf dem To­ten­bet­te lie­gen, und sie sah den al­ten, gü­ti­gen Herrn, den Va­ter des Obersts, der ihr ge­richt­li­cher Vor­mund ge­wor­den war. Dann blick­te sie in die hel­len, kah­len Klos­ter­gän­ge hin­ein, in de­nen sie zum ers­ten­mal mit ent­setz­ten Au­gen ge­stan­den. Wie fremd und fei­er­lich war dort die Welt! Sie hat­te ge­glaubt, die Mau­ern sei­en end­los und hin­ter ih­nen be­gän­ne das Meer. Sie hat­te sich ge­fan­gen, be­straft ge­fühlt in­mit­ten der gleich­ge­klei­de­ten Mäd­chen, un­ter der stren­gen Ob­hut der Schwes­tern. Ihre Sehn­sucht nach der Stadt war groß; die Sand­hau­fen am Bahn­damm er­schie­nen in ih­ren Träu­men, und die el­ter­li­chen Püf­fe und Prü­gel ka­men ihr vor wie süße Spä­ße. Sie muß­te merk­wür­dig schwie­ri­ge Din­ge aus­wen­dig ler­nen und vor je­dem, der sie an­sprach, ängs­tig­te sie sich. Sie fürch­te­te alle Men­schen mit Aus­nah­me des Ka­te­che­ten Ki­li­an, den sie mit der Fül­le ih­res zwölf­jäh­ri­gen Her­zens lieb­te. Er war ein schö­ner, blü­hen­der Jüng­ling, der nie­mals seit­wärts blick­te, auch nicht zu Bo­den, son­dern stets ge­gen Him­mel. In die­ser Zeit wur­de sie sehr fromm und sehr folg­sam und wur­de den An­dern als gu­tes Bei­spiel ge­prie­sen. Doch un­ver­ständ­lich war ihr nur das eine, daß sie für alle Men­schen, die sie kann­te, mit­be­ten soll­te. Das konn­te sie nie fas­sen. Wie sorg­sam und ge­wis­sen­haft hat­te sie stets ihre Sün­den no­tiert, um bei der Beich­te ja nichts zu ver­ges­sen: ich habe der Schwes­ter Cä­ci­lia in Ge­dan­ken un­recht ge­tan; ich war zu träg, um die sa­li­schen Kai­ser zu ler­nen; ich habe mich beim Auf­we­cken schla­fend ge­stellt, um noch län­ger im Bett blei­ben zu kön­nen – –

Wie lan­ge war das schon her! Wie schnell wa­ren die Jah­re hin­ge­gan­gen! All­mäh­lich hat­te sie die Welt drau­ßen ver­ges­sen, und sie be­griff nicht mehr, daß es au­ßer­halb des Klos­ters noch et­was von Wich­tig­keit und Be­stand ge­ben kön­ne. Welt­lich und sünd­haft wa­ren ihr jene Mäd­chen er­schie­nen, die, lus­tig und gu­ter Din­ge, das Le­ben son­nig fan­den und von ih­ren El­tern in der Stadt er­zähl­ten, von Kaf­fee­kränz­chen, Mu­sik und Tanz.

Ei­nes Um­stands er­in­ner­te sie sich mit Ent­set­zen und stets such­te sie ihre Ge­dan­ken dar­an zu ver­scheu­chen, nur um sich das Nach­füh­len je­nes Schre­ckens zu er­spa­ren. An ei­nem Os­ter­fest, kurz nach ih­rem fünf­zehn­ten Ge­burts­tag, ging mit ih­rem Kör­per et­was Neu­es, Un­be­greif­li­ches vor. Sie stand vor ei­nem Rät­sel, das sie tief er­schüt­ter­te. Noch sah sie sich mit zit­tern­dem Leib an den Fens­ter­pos­ten ge­lehnt und in den ver­reg­ne­ten Früh­lings­mor­gen hin­aus­schau­en. Sie wünsch­te aufs in­nigs­te, zu ster­ben, sie glaub­te ge­sün­digt zu ha­ben und wuß­te nicht, worin die­se Sün­de be­stand. Sie sah das Le­ben als et­was Fins­te­res und Ge­walt­tä­ti­ges vor sich ste­hen und fürch­te­te sich. Stun­den­lang in der Nacht lag sie wei­nend auf ih­ren Kis­sen, und die Qual der Ver­heim­li­chung er­drück­te sie. Sie schäm­te sich vor al­len, sie ver­steck­te sorg­fäl­tig die be­nutz­te Wä­sche, und kein Mensch fand sich, der das Dun­kel ih­rer kind­li­chen Phan­tasi­en ge­lich­tet hät­te. Einst, als ihre See­le durch das er­neu­te Auf­tre­ten des Un­ge­wohn­ten in Schre­cken ver­setzt war, ging sie, un­wis­send wie sie war, ins Bad. Da­rauf kam die furcht­ba­re Krank­heit, de­ren Fol­gen sie nie­mals ver­wun­den hat­te. Eine un­si­che­re Emp­fin­dung des Grolls und des Has­ses be­herrsch­te sie jetzt, wenn sie dar­an dach­te, wie­viel Schmerz ihr hät­te er­spart wer­den kön­nen durch die ver­stän­di­ge Of­fen­heit ei­ner Leh­re­rin oder ei­ner Freun­din.

Aber nie hat­te sie eine Freun­din be­ses­sen. Von Al­len war sie ab­seits ste­hen ge­las­sen wor­den. Et­was, das sie un­auf­hör­lich be­drück­te, et­was Hoff­nungs­lo­ses stand über ih­rem Le­ben.

Sie über­leg­te, was sie tun könn­te, um sich frei und un­ab­hän­gig zu ma­chen. Und doch, wel­che Angst emp­fand sie vor die­ser Frei­heit. Sie sah da­bei im­mer das Bild ei­nes ein­zel­nen Bau­mes auf ei­ner end­lo­sen Hei­de, und die­ses Bild der Hilf­lo­sig­keit mach­te sie schwach. Wenn ich doch nur einen Bru­der hät­te, dach­te sie, der mich vor Be­lei­di­gun­gen wie der heu­ti­gen schüt­zen könn­te. Dann dach­te sie an ihre Schwes­ter, die sich hat­te ver­füh­ren las­sen und die sich nun mit ei­nem Kind elend durch die Welt schlepp­te. Nie­mand durf­te wis­sen, daß sie eine Schwes­ter hat­te und wer das sei. Das hat­te sie dem Oberst ge­schwo­ren, und er hat­te ihr un­ter die­ser Be­din­gung er­laubt, das Mäd­chen zu un­ter­stüt­zen. »Aber sei vor­sich­tig da­bei; denn die Ge­sell­schaft, in der du ver­kehrst, und zu der ich dich em­por­ge­ho­ben habe, ist schlau und arg­wöh­nisch.«

Sie zer­knüll­te ih­ren Hand­schuh in der Faust. Ent­schlos­sen stand sie auf, und bald dar­auf ging sie mit has­ti­gen Schrit­ten dem Hau­se des Oberst The­walt zu. Ihre Au­gen blitz­ten vor Kampf­lust.

IV.

Es war Nacht, als sie die Woh­nung des Obersts ver­ließ. Sie muß­te ge­gen den Wind an­kämp­fen, der ih­ren Schlei­er auf­blies. Fest schloß sie den Mund, und mit weit vor­ge­beug­tem Kopf ging sie. Sie hat­te die Beglei­tung des Obersts aus­ge­schla­gen. »Nie mehr wer­de ich dies Haus be­tre­ten, nie mehr«, flüs­ter­te sie ver­zwei­felt, »ich Elen­de, ich Elen­de.«

Ganz be­lang­lo­se Din­ge fuh­ren ihr durch den Kopf. Es wäre schön, dach­te sie, wenn ich jetzt mit­ten durch den Wind rei­ten könn­te auf ei­nem wil­den Gaul, wie neu­lich drau­ßen am See.

In der Pen­si­on saß man beim Tee. Fräu­lein von Erd­mann, ein pol­ni­scher Ad­li­ger, Dok­tor Bro­sam, Frau Ben­der und He­le­ne wa­ren da. Die Her­ren er­ho­ben sich, als Mely ein­trat. Sie at­me­te noch hef­tig vom Trep­pen­stei­gen und preß­te eine Hand auf die Brust. Zer­streut nick­te sie, wo­bei sie kei­nen der An­we­sen­den an­sah, und die Zäh­ne schau­ten un­ter den schwel­len­den Lip­pen her­vor, ohne daß sie je­doch lä­chel­te.

»Neh­men Sie viel­leicht noch eine Tas­se Tee, Fräu­lein Mir­beth?«, frag­te Frau Ben­der, und ihre großen, blau­en Au­gen leuch­te­ten da­bei. Sie lach­te fröh­lich, als Mely be­jah­te und zeig­te ihre pracht­vol­len Zäh­ne.

Es ent­stand eine pein­li­che Pau­se, so daß Mely den Arg­wohn faß­te, man habe sich über sie un­ter­hal­ten. Dar­über er­schrak sie; denn nichts fürch­te­te sie so sehr, als das, was man hin­ter ih­rem Rücken über sie sprach.

»Nein, wel­cher Sturm heu­te!«, sag­te sie end­lich zö­gernd. Sie fing den spöt­ti­schen Blick auf, den die Erd­mann mit dem Dok­tor wech­sel­te, und ihr Arg­wohn wur­de be­stärkt. Wie sie in den Dok­tor ver­liebt ist, die alte Schach­tel, dach­te sie. Wie sie sich her­aus­ge­putzt hat über ih­rem Schmutz. Sie lä­chel­te He­le­ne ver­ständ­nis­in­nig zu, die, als be­grif­fe sie nicht, mit ei­nem kaum sicht­ba­ren, ver­wun­der­ten Kopf­schüt­teln ant­wor­te­te.

»Das ist noch gar nichts, – der Wind ge­nügt nicht«, er­wi­der­te der Dok­tor, be­hag­lich schlür­fend. »Um die un­ge­sun­de Sumpf­luft un­se­rer Zu­stän­de zu ver­nich­ten, müß­te ein ganz an­de­rer Sturm ge­hen.«

»Sie So­zia­list!«, seufz­te Fräu­lein von Erd­mann heiß und nä­her­te ihre Hand dem Arm des Dok­tors.

»Sie hab­ben ab­ber garr kei­ne Käl­te hier«, sag­te der Pole wich­tig. »In Ruß­land – ooh! Was für Käl­te, was für Käl­te! Wer­de ick Ih­nen eine Ge­schich­te er­zäh­len. Vo­rikes Jahr fahrt ein Pfar­rer rus­si­scher in ein vil­la­ge Um­ge­gend von Kiew. War serr kalt. Schnee so hoch und Wind ei­si­ker. Und wie Ab­bend kommt, lau­fen, – wie sakt man: loup, des loups? –«

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