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Gefördert vom Fonds Darstellende Künste e. V. mit Mitteln des Bundes auf Empfehlung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags und des Beschlusses des Stiftungsrats der Kulturstiftung des Bundes

Unterstützt mit Mitteln des Bundesverbands Theater im Öffentlichen Raum und von Günter Jeschonnek

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Darstellende Künste im öffentlichen Raum

Ein Projekt vom Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum und Fonds Darstellende Künste

Recherchen 127

© 2017 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Redaktion: Günter Jeschonnek, Mitarbeit: Matthias Däumer

ISBN 978-3-95749-087-2

Darstellende
Künste im öffentlichen Raum

Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen

Herausgegeben von Günter Jeschonnek

Ein Projekt vom Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum und Fonds Darstellende Künste

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Gewidmet allen freien Theater-
und Tanzschaffenden,
die sich selbstbestimmt
für ihre experimentellen
und fragilen Wege entschieden haben
.

Inhalt

Clair Howells

Der öffentliche Raum – eine Bühne von 360 Grad

Günter Jeschonnek

Über die Kunst, Erinnerungen wachzuhalten und ins Heute und Morgen zu transformieren

UNORT-PROJEKTE

Matthias Däumer

Vom Unort zur Verunortung

Theater Willy Praml

Heine – Wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx wie er im Traum in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Straße rauf und runter fuhr. Stationen eines Traumas

Theater Titanick

Lost Campus

Das letzte Kleinod

Exodus

Freies Theaterteam Karen Breece/Jurgen Kolb

Dachau//Prozesse

werkgruppe2

Blankenburg

TheatreFragile

Out of Bounds – GEHschichten eines Stadtteils

Verein für Raum und Zeit e. V.

Das Haus :: Acht Räume Acht Spieler Ein Zuschauer

Irina Pauls

Second Splash

bodytalk

Bonnkrott – Eine Stadt tanzt

Ender/Kolosko

Das Zentrum lebt!

Constanze Fischbeck, Daniel Kötter, Jochen Becker

state-theatre/translokal #1

The Working Partys

Rettungsschirme

Theater Anu

Expedition Thälmannpark

Anna Peschke/Uwe Lehr

Gräsertheater

Futur3

Zum goldenen Leben

Aktionstheater PAN.OPTIKUM

Zeit heilt alle Stunden

Philipp Hauß

Wunderblock – Deutschland, Deine Speicher – 50 Jahre Super 8

Angie Hiesl und Roland Kaiser

ID-clash

INTERNATIONALES SYMPOSIUM

Begrüßung und Impulsreferate

Erstes Podium

Zweites Podium

Drittes Podium

Viertes Podium

DISKURS

Frauke Surmann

ÄSTHETISCHE IN(TER)VENTIONEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM

Grundzüge einer politischen Ästhetik

Hilke Berger

„UND JETZT BITTE ALLE: INTERVENTION“

Über die Kunst der Partizipation zwischen Instrumentalisierung und Aktivierung

Katja Drews

CREATIVE SPACING

Die Performativität des sozialen Raums und die Transformationspotenziale darstellender Künste im öffentlichen Raum

Thomas Kaestle

WIE FUNKTIONIERT DEMOKRATISCHE KUNST?

Hilmar Hoffmanns Thesen zur Kunst im Stadtraum

Barbara Hoidn

DEMO:POLIS

The Right to Public Space

Florian Matzner

STREIFZÜGE DURCH DEN ÖFFENTLICHEN RAUM

Anmerkungen zu Stadt und Öffentlichkeit im frühen 21. Jahrhundert

Florian Heilmeyer

MENTALE MONUMENTE

Vom dauerhaften Wert des Temporären in der Stadt

Hanno Rauterberg

AB NACH DRAUSSEN!

Wie ausgerechnet das Internet eine Renaissance des öffentlichen Lebens befeuert

Vanessa Weber und Gesa Ziemer

URBANITÄT KURATIEREN?

Plädoyer für einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff durch Kunst

Hilke Berger und Thomas Kaestle

SCHULTERBLICK NACH VORN

Ein später Dialog zum Symposium

ANHANG

Gesamtstatistik – Theater im öffentlichen Raum

Geförderte Projekte – Theater im öffentlichen Raum

Die Kraft der Evaluation

Ein Interview von Felicitas Kleine mit Günter Jeschonnek

Autorinnen und Autoren

Genese und Danksagung

DER ÖFFENTLICHE RAUM – EINE BÜHNE VON 360 GRAD

Der öffentliche Raum hat in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit von vielen Künstlern erhalten, sowohl in den theoretischen Diskursen als auch in Auseinandersetzungen um die künstlerische Praxis. Bildende und darstellende Kunst, Performance- oder Installationskunst haben ihn als Schaffensfeld und Arbeitsraum entdeckt. Das Theater im öffentlichen Raum nutzt diesen seit jeher als Bühne. Es ist die Form des Theaters, die sich gezielt in städtisches Leben einbringt: Plätze im öffentlichen Raum werden in ganz besondere Bühnen verwandelt und damit auch in einen neuen Bedeutungszusammenhang für die Menschen vor Ort gebracht. Eine Vorstellung im öffentlichen Raum ist eine künstlerische Unterbrechung des Alltags, ein „Überfall“ auf das Alltagsleben mittels Kunst.

Der im Jahr 2007 veröffentlichte Bericht der Enquête-Kommission des Bundestags zur Situation der Kultur in Deutschland erläuterte, dass das Genre „identitätsstiftend ist für breite soziale Schichten und für zentrale Orte der Städte“. Für Momente scheinen die Warnungen vom Verfall der städtischen Gesellschaft, von der kulturellen Spaltung und vom Publikumsschwund im Theater vergessen – das Theater im öffentlichen Raum hat sich aus stadtsoziologischer Sicht und für die darstellenden Künste zu einem zukunftsweisenden Genre entwickelt.

Der Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum e. V. vertritt seit 2006 die Interessen von Veranstaltern, Künstlern und Produzenten, mit dem Ziel, diese Theaterform als eigenständiges Genre im Bereich der darstellenden Künste zu fördern. Er versteht sich als Sprachrohr der Künstler und Organisatoren und als Ansprechpartner für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Der Bundesverband setzt sich für die künstlerische und professionelle Anerkennung seiner Mitglieder und für die gesamte Theaterlandschaft ein – eine Anerkennung, die dem Genre innerhalb und außerhalb Europas längst zuteilwird.

Das Sonderprojekt Unorte, das gemeinsam mit dem Fonds Darstellende Künste im Sommer 2012 initiiert wurde und für das der Haushaltsausschuss des Bundestags 600 000 Euro bewilligte, ermöglichte die Förderung von 18 Produktionen im und für den öffentlichen Raum, die in diesem Buch vorgestellt werden. Für den Bundesverband stellen das Sonderprojekt, das Berliner Symposium zu diesem Thema und das vorliegende Buch wichtige Meilensteine für die künftige Arbeit dar.

Das Buch erscheint elf Jahre nach der Gründung des Bundesverbands und es dokumentiert eindrucksvoll die Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen sowie die aktuelle gesellschaftliche und kulturpolitische Relevanz der Eroberung des öffentlichen Raums durch das Theater. Mit dem Buch gelingt es, die von den Künstlerinnen und Künstlern gewählte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Orten und Themen zu beschreiben und nachhaltig festzuhalten. Zugleich stellt die Publikation eine Sammlung der Texte dar, die auf dem internationalen Symposium Darstellende Künste im öffentlichen Raum im März 2015 vorgetragen wurden, ergänzt durch hervorragende aktuelle Gastbeiträge.

Der Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum e. V. beteiligt sich auch finanziell am Erscheinen der Publikation. Möge dieses komplexe Buch einen Beitrag dazu leisten, dass das Genre differenzierter wahrgenommen und besser verstanden wird.

Als Vorsitzende des Bundesverbands Theater im Öffentlichen Raum bedanke ich mich bei allen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte zur Verfügung gestellt haben.

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Günter Jeschonnek, der für die Redaktion und die sinnvolle Zusammenstellung aller Texte als Herausgeber verantwortlich zeichnet. Er hat in seiner ehemaligen Funktion als Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste das Sonderprojekt überhaupt erst ermöglicht. Ohne seine Kontakte und sein ehrenamtliches Engagement wäre die vorliegende Publikation nicht zustande gekommen.

November 2017, Clair Howells

Erste Vorsitzende Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum e. V.

ÜBER DIE KUNST, ERINNERUNGEN WACHZUHALTEN UND INS HEUTE UND MORGEN ZU TRANSFORMIEREN

Die vorliegende Publikation schließt das Sonderprojekt „Unorte – Theater im öffentlichen – Raum“ ab. Dazu gehörten die Realisierung von 18 bundesweit geförderten Projekten professioneller freier Künstlergruppen und ein anschließendes internationales Symposium. Für diese Theaterprojekte wurde 2013 in der Ausschreibung als Zielsetzung formuliert, „Unorte zu theatralen Wirkungs- und zeitweiligen neuen Lebensräumen zu transformieren und somit zu nachhaltigem Bewusstsein für die ursprüngliche Bedeutung dieser Unorte sowie zu Diskursen für kreative Nutzungskonzepte anzuregen.“ Dafür warb der Fonds Darstellende Künste in Kooperation mit dem Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum Sondermittel des Deutschen Bundestages in Höhe von 600 000 Euro ein, welche die Kulturstiftung des Bundes zur Verfügung stellte. Weil es sich um eine Komplementärförderung des Bundes handelte, musste über Kommunen und Länder mindestens ein weiterer Finanzierungsanteil von 25 Prozent akquiriert werden. Das gelang den Künstlergruppen mit zusätzlichen 750 000 Euro überaus beeindruckend, sodass insgesamt ein Budget von 1,35 Millionen Euro zur Verfügung stand.

Nach Beendigung der Inszenierungsphasen aller Projekte Ende 2014 stand für mich als Geschäftsführer des Fonds und Leiter des Sonderprojektes fest, dass von diesen außergewöhnlichen künstlerischen Arbeiten möglichst viele freie Theater- und Tanzschaffende erfahren müssten. Ich dachte an einen internationalen Diskurs für das gesamte Spektrum der darstellenden Künste im öffentlichen Raum, der über Transformationen von Unorten hinausgehen sollte. Dafür sprach auch die Bilanz unter statistischen Gesichtspunkten: Die Künstlergruppen erweiterten ihre Teams auf insgesamt 470 Beteiligte, die mit 150 Aufführungen in 23 deutschen Kommunen sowie in Israel und Bangladesch mehr als 25 000 Zuschauer erreichten.

In Absprache mit den Gremien des Fonds und dem Bundesverband folgte im März 2015 das mehrtägige Symposium in Berlin. Dort kündigte ich am Ende an, eine Publikation herauszugeben, in der die Projekte und das Symposium dokumentiert werden. Nun ist es geschafft, der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit dieser künstlerischen Interventionen und temporären Transformationen in Form des vorliegenden Buches etwas Bleibendes zu geben und damit die leidenschaftliche und fantasiereiche Arbeit dieser Künstlergruppen und aller Beteiligter des internationalen Symposiums nachhaltig zu würdigen. Darüber hinaus konnten renommierte Autoren für Gastbeiträge gewonnen werden, die sich seit Jahren mit der Thematik auseinandersetzen. Diese Texte komplettieren das Buch zu einem wichtigen und nachhaltigen Impulsgeber.

Im ersten Kapitel des Buches beschreiben die Künstlergruppen ihre Projekte hinsichtlich ihrer jeweiligen Schaffens- und Wirkungsästhetiken, ihrer Aneignungs- und Auseinandersetzungsstrategien am Unort und mit kommunalen Verwaltungen. Sie berichten über die Zusammenarbeit mit neu gewonnenen Partnern, partizipative Einbindung des gesellschaftlichen Umfelds und die Resonanz beim Publikum, den Medien und Kulturverwaltungen. Auch erste Selbsteinschätzungen gehören dazu, wie z. B. die Frage, ob ihre ästhetischen Interventionen den gewählten Unort nachhaltig beeinflussen.

Diese kompakten Darstellungen entstanden bereits für das Symposium und wurden dort nach einer Matrix formaler Vorgaben hinsichtlich der Ausschreibungskriterien präsentiert. In dieser Form habe ich sie mit ausgewählten Inszenierungsfotos für das Buch übernommen. Umfangreichere Projektbeschreibungen und Darstellungen, wie filmische Ausschnitte, Fotos und Medienberichte, sind auf den jeweiligen Webseiten der Gruppen eingestellt. Das gilt auch für neue Produktionen, die nach dem Sonderprojekt entstanden.

Den Projektdarstellungen schließen sich eine Einführung zu relevanten Unort-Theorien und detaillierte Aufführungsbeschreibungen sowie Einordnungen in diese Theorien und Fragen sozialer Nachhaltigkeit an. Diese Texte wurden von Matthias Däumer verfasst, den ich für das Sonderprojekt als akademischen Fachberater gewinnen konnte. Er war am gemeinsamen Sichtungsprozess der 165 eingereichten Projektanträge aus allen Bundesländern und den nachfolgenden Kuratoriumssitzungen beteiligt. Des Weiteren hatten Matthias Däumer und ich die Möglichkeit, fast alle Inszenierungen zu sehen. Die wenigen Projekte, die er nicht besuchen konnte, beschreibe ich in diesem Kapitel. Seine wie auch meine Texte sind Ergebnis unseres konstruktiven Gedankenaustauschs. Wir waren von den Experimenten der Künstlergruppen, den Transformationen der von ihnen ausgewählten Unorte und den facettenreichen Einbindungen von Experten des Alltags, Laiendarstellern und Einwohnern vor Ort sehr beeindruckt.

Im Mai 2016 befragte ich die jeweiligen künstlerischen Leiter, wie sie rückblickend die Ausschreibung zum Sonderprojekt einschätzen und ihre Inszenierungen mit den nachhaltigen Folgewirkungen innerhalb der Kunstsparte einordnen. Bei dieser Form der Evaluation interessierte mich auch, was ihre künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum grundsätzlich behindert, ob sie die Fortsetzung eines ähnlichen Sonderprojektes befürworten und welche Bedeutung sie künftigen ästhetischen Interventionen im öffentlichen Raum geben. Die Zusammenfassung der Reflexionen schließt das erste Kapitel ab.

Im zweiten Kapitel sind die lebendigen Diskussionen und themenorientierten Impulsreferate des internationalen Symposiums zum breiten Spektrum ästhetischer, konzeptioneller und kulturpolitischer Fragen zu den darstellenden Künsten im öffentlichen Raum sowie zu Diskursen zum öffentlichen Raum im Allgemeinen zusammengefasst. In den vier Podiumsrunden und zwölf einleitenden Impulsreferaten analysierten und diskutierten 45 interdisziplinär agierende Fachleute aus Theorie und Praxis Fragen der gesellschaftlichen Relevanz des öffentlichen Raumes und die Wirkmächtigkeit der in ihm intervenierenden Künstler.1 Sie erörterten neue ästhetische Handlungsfelder und kulturpolitische Rahmensetzungen sowie Strategien für die Stärkung dieser Kunstsparte. Zwei Fazit-Beiträge bilanzieren die unmittelbaren Eindrücke von den Debatten und schließen dieses Kapitel ab.

Die offenen Diskussionsrunden der insgesamt 250 anwesenden Künstler, Wissenschaftler, Kuratoren, Förderer und Kulturpolitiker sind zusammengefasst an das Ende der jeweiligen Podien gestellt. Der lebendige Gestus des mündlich Vorgetragenen während des Symposiums wurde erhalten.

Alle Beteiligten des Symposiums plädierten für die Herausgabe des vorliegenden Buches zur Kunstsparte darstellende Künste im öffentlichen Raum, mit dessen Erkenntnissen und Empfehlungen der notwendige kulturpolitische Aushandlungsprozess und einzuleitende Paradigmenwechsel begleitet und unterstützt werden soll. Insgesamt wurde eine überaus positive Bilanz des Symposiums gezogen. Gefordert wurde eine spürbare Erweiterung und Verbesserung der Förderstrukturen und Arbeitsbedingungen der professionellen freien Theater- und Tanzschaffenden – insbesondere durch effizientere und offensivere Kooperationen von Kommunal-, Landes- und Bundespolitik.

Im dritten Kapitel stellen zehn Autoren aus Wissenschaft und Forschung, angewandter Kuratoren- und Kunstpraxis sowie internationaler Publikationstätigkeit ihre jeweiligen Sichtweisen auf die gesellschaftlichen und künstlerischen Gestaltungs- und Transformationsprozesse im öffentlichen Raum zur Diskussion. Das breite Spektrum der Beiträge umfasst temporäre und nachhaltige Auswirkungen für Städte, den ländlichen Raum und die Gesellschaft insgesamt. Es werden Fragen nach dem individuellen Recht auf öffentlichen Raum, die Definition und Übertragung von Nachhaltigkeit auf künstlerische Projekte und die Ambivalenz partizipativer Beteiligungen aufgeworfen. Die Rolle des Politischen, des Privaten und des Öffentlichen bei ästhetischen Interventionen sowie Auswirkungen digitaler Medien im öffentlichen Raum werden ebenfalls erörtert. Die hier versammelten Beiträge sind zum Teil exklusiv für dieses Buch geschrieben oder dankenswerterweise zur Verfügung gestellt worden

Ein zweites Fazit, das ein Jahr nach dem Symposium unter dem Eindruck nachfolgender Debatten zur Gesamtthematik entstand, schließt den Diskurs ab. Die beiden Autoren befragen sich im Dialog, welche Prioritäten und Empfehlungen sie ins Zentrum künftiger Strategien für die darstellenden Künste im öffentlichen Raum stellen würden und werfen dabei diskutierbare Fragen auf.

Aus Kapazitätsgründen konnte die umfangreiche Literaturliste leider nicht ins Buch aufgenommen werden.2

Das Buchprojekt ist zugleich der Abschluss meiner langjährigen Tätigkeit als Berater und Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste. Das im Anhang aufgenommene Interview beschreibt beispielhaft diese Zeit.

Die positive Resonanz zum Gesamtprojekt seitens der geförderten Künstlergruppen, der Einwohner und Zuschauer vor Ort, der Teilnehmer des Symposiums und der kommunalen Verwaltungen wirft erneut die Frage auf, ob und wann es ähnliche Nachfolgeprojekte geben soll und kann. Diese Überlegungen standen auch während der Inszenierungs- und Aufführungsphasen immer wieder im Raum und durchzogen viele Statements während des Symposiums. Es ging vielen eben um eine ganz praktische Nachhaltigkeit des Geleisteten.

Meine Antwort auf diese Forderung ist: Ja, sie muss es angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des öffentlichen Raumes geben. Gerade hier werden essentielle Fragen gestellt: Wie wollen wir zusammenleben und wie müssen wir unsere öffentlichen Räume gestalten?

Für Folgeprojekte braucht es den politischen Willen der Verantwortlichen in den Kommunen und Ländern, auch, um den Bund zu überzeugen, sich als Komplementärförderer zu beteiligen. Und selbstverständlich sind auch die Künstlerinnen und Künstler, ihre Verbände, Förderinstitutionen, Kuratoren und Wissenschaftler gefordert, bewährte Fördermodelle weiter zu entwickeln und vor allem neue Ideen zu konzipieren, welche die Politik überzeugen und Stabilität und Perspektiven für diese besondere und äußerst fragile Kunstsparte ermöglichen.

Am Geld allein können Veränderungen nicht scheitern. Wirtschaftlich wie auch hinsichtlich der Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte geht es der Bundesrepublik Deutschland so gut wie lange nicht. Und wie oft wird immer wieder betont, dass es bei Förderungen von Kunst und Kultur um Investitionen in die Zukunft geht und Kulturpolitik zugleich Stadtpolitik ist.3 Und zudem sind sich inzwischen auch alle Parteien darin einig, dass die permanente Selbstausbeutung freier Künstler ein unhaltbarer Zustand ist.

Ähnlich wie bei diesem Sonderprojekt plädiere ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen für thematische Ausschreibungen von Sonderprojekten bzw. für mehrjährige Fördermodelle mit Anforderungsprofilen, die im Dialog mit Künstlern entstehen. Mit diesem Sonderprojekt gaben die Gremien des Fonds lediglich eine konkrete Rahmung vor, die eine breite Vielfalt der ästhetischen Handschriften und Auswahl unterschiedlichster Unorte eröffnete. Im Zentrum der konzeptionellen Überlegungen aller 18 Künstlergruppen standen zuerst Fragen nach geeigneten Unorten und danach, wie sie mittels ästhetischer Interventionen zu temporären Heterotopien verwandelt werden können. Jedes einzelne Projekt war ein Experiment, ein ästhetisches und soziales Laboratorium, auf das sich die Gruppen wie auch der Fonds einließen – ohne zu wissen, was letztlich in der Öffentlichkeit zu betrachten ist und wie das Publikum darauf reagiert. Dafür stellten der Bund, Länder und Kommunen finanzielle Ressourcen für die einzelnen Projekte mit jeweils 40 000 bis zu 200 000 Euro zur Verfügung.

Die freien Theater- und Tanzschaffenden benötigen für ihre künftigen Experimente und Laboratorien deutlich nachhaltigere politische Rahmenbedingungen sowie bessere finanzielle Ausstattungen. Ihre Erwartungen an uns sind auch mit diesem Buch begründet – machen wir uns dafür gemeinsam stark!

November 2017, Günter Jeschonnek

1Grundsätzlich wird in der Buchreihe „Recherchen“ aus Gründen der Lesbarkeit geschlechtergerechte Sprache nicht durch Binnen-I, Sternchen o. ä. gekennzeichnet. Es sind jedoch stets Personen jeglichen Geschlechts gemeint.

2Verfasserin: Frauke Surmann, online verfügbar unter www.theater-im-oeffentlichenraum.de.

3Vgl. Deutscher Städtetag: Kulturpolitik als Stadtpolitik. Positionspapier des Deutschen Städtetages, September 2015. Online: http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/veroeffentlichungen/mat/positionspapier_kulturpolitik_als_stadtpolitik_sept_2015.pdf (Zugriff am 15.11.2017).

Unort-Projekte

Matthias Däumer

VOM UNORT ZUR VERUNORTUNG

Bei dem 2010 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz abgeschlossenen Projekt „Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung“1handelte es sich um den Versuch, den Begriff Unort über kulturtheoretische Ansätze anders zu fassen als bloß über die pejorative Vagheit eines Orts, mit dem irgendetwas irgendwie nicht stimmt. Theoretische Leitlinien, um das Phänomen besser beschreiben zu können, waren damals mehr als genügend vorhanden. So war es eher das Ziel, angesichts der Schwemme raumtheoretischer Ansätze seit dem sogenannten spatial turn, das Beschreibungsinstrumentarium für den Unort möglichst einzuschränken, um einen handhabbaren Kommunikationsrahmen für eine Tagung und später dann ein Buch abzustecken.

Drei Denkmuster erwiesen sich dabei aus der Fülle an Theorie als entscheidend. Als erstes ist Marc Augés Konzept der Nicht-Orte (non-lieux) naheliegend,2 vor allem deshalb, weil es der gängigen Bedeutung eines Orts, mit dem irgendetwas irgendwie nicht stimmt, am nächsten kommt – mit der Spezifizierung, dass bei Augé das Irgendetwas und das Irgendwie benannt werden. Ihm geht es vor allem um „Transitorte“, Orte also, die nur passager durchmessen werden und dabei dem Individuum nicht (oder nicht mehr) die Möglichkeit bieten, sich selbst in ihnen zu sehen. Das heißt, dass man diese Orte identitätslos durchmisst, ohne Verankerungen in einer historischen oder kulturellen Zugehörigkeit. In kulturpessimistischer Haltung sieht Augé in der kapitalistischen Gesellschaft die Tendenz, dass auch ehemals identitätsstiftende und -bewahrende Orte zu diesen Nicht-Orten werden. Schaut man sich die Entwicklung deutscher Innenstädte an – mit ihrer enervierenden Redundanz der immer gleichen Markennamen, der immer gleichen Vergnügungsmöglichkeiten, des immer gleichen Impetus, der Identität mit Anpassung zu verwechseln droht –, ist man gewillt, Augé zuzustimmen. Jedoch ist man ebenso gewillt, dieser Tendenz entgegenzuwirken, nicht pessimistisch beschreibend, sondern optimistisch an einer Besserung zu arbeiten. Diesen Impetus kann man bei Augé durchaus vermissen.

Das zweite Denkmuster führt in eine andere, weniger wertende Richtung: Michel Foucault beschreibt in „Von anderen Räumen“3 in einem ersten Schritt Orte, die von der Gesellschaft ausgegliedert wurden (beispielsweise Gefängnisse und Bordelle), um bestimmte Funktionen zu erfüllen, die im Mainstream unterdrückt werden. Ausgehend von diesen sogenannten funktionalen Heterotopien analysiert er Ausgrenzungen, die freiwillig und nach eigenen Regeln vollzogen werden. Zu diesen Regeln gehören spezifische Exklusions- und Inklusionsmechanismen; doch besonders charakteristisch erscheint eine Spiegelfunktion, die bewirkt, dass sich innerhalb der Heterotopien das Gesamte der Gesellschaft wiederfinden lässt, oft in verkleinertem Maßstab oder aber im symbolischen Verweis. Foucault stellt fest, dass diese Unorte die Tendenz besitzen, ein eigenes Zeitverständnis zu entwickeln. So werden sie zu Heterochronien, die es ermöglichen, dass der Ort in seiner historischen Dimension durchlässig wird, dass sich also seine Geschichte wortwörtlich re-präsentiert.

In diesem Punkt aber stehen Foucaults Heterotopien den Nicht-Orten Augés diametral entgegen. Man kann zu dem Schluss kommen, dass es zwar verbindende Elemente zwischen den Unorten gibt, dass ihre letztendliche Ausprägung jedoch von dem abhängig ist, was man mit ihnen macht, dass es also eine wie auch immer beschaffene Handlung ist, die entscheidet, ob aus einem speziellen Ort ein transitärer und ahistorischer Nicht-Ort oder aber eine die Gesellschaft und ihre Geschichte en miniature spiegelnde Heterotopie wird.

Ausgehend von diesem Kippmoment wurde es entscheidend, einen weiteren Denker einzubeziehen, der den Weg vom theoretischen Unort zu den Praktiken des Verunortens und somit zu den Entscheidungsleitungen zwischen Nicht-Ort und Heterotopie ebnen würde. Solch ein Übergang findet sich in der Differenzierung von Ort (lieu) und Raum (espace), die Michel de Certeau in seiner Monografie Kunst des Handelns vornimmt.4 Er unterscheidet Ort und Raum nach dem Kriterium einer nicht weiter spezifizierten Handlung. Der Ort meint die physikalische Präsenz einer Straße, eines Gemäuers, einer Bühne. Wenn mit diesen Orten etwas gemacht wird, das Element der dynamischen Handlung zur statischen Physis hinzutritt, entsteht der Raum. Denkt man diese Unterscheidung weiter, kommt man zu der Frage: Kann es nicht auch Räume geben, die zwar durch eine raumkonstituierende Handlung entstehen, die jedoch in ihrer Eigenart unabhängig von den physikalischen Gegebenheiten sind, sich gar von diesen emanzipieren?

Als Denkmuster für diese Kategorie des Unorts mag zunächst das Spiel eines Pantomimen dienen: Dieser vollzieht auf der Bühne, dem Ort, Handlungen, die den Betrachter glauben machen, es befinde sich beispielsweise eine gläserne Wand in seinem Bewegungsfeld, an die er grimassierend prallen kann. Die Wand ist, was die Örtlichkeit angeht, nicht existent. Nur der durch den performativen Akt konstituierte Raum kennt sie und lässt die unsichtbare Wand entgegen den physischen Gegebenheiten der Bühne zum entscheidenden Movens aller weiteren Handlungen des Pantomimen werden. Was ist diese Wand? Sie ist kein Ort und dennoch Raum – ein Unort.

Der Weg von der Theorie zur Handlung, die das Wesen des Unorts als ent-historisierter oder aber die Historie symbolisierender entscheidet, ist kurz. Natürlich kann die unsichtbare Wand jene sein, die den Pantomimen vom Zugriff auf seine eigene Identität trennt oder aber auch einfach eine vergangene Wand, die im Sinne der Foucault’schen Heterochronie symbolisch in den Raum gezaubert wird.

Diese Zauberei war es im Ungefähren, die ich erwartete, als mich Günter Jeschonnek, der damalige Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, als akademischen Berater für das Unort-Projekt anfragte. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich zum Gremium stieß, war die Ausschreibung ohne Kenntnis der Publikation Unorte von 2010 schon verfasst, und ich konnte mir nicht sicher sein, ob meine eigenen Gedanken wirklich zum Kommenden passen würden. Doch ich wurde nicht enttäuscht.

Im folgenden Jahr wurde die Frankfurter Kurt-Schumacher-Straße zum Rhein, Emdener Kasernenmauern zur Schiffsbordwand, im Bonner Loch tanzten Obdachlosigkeiten, eine Lagerbaracke, neu errichtet, ward Schnittpunkt der Geschichte und aus Pottstraßen wurde der Nibelungenhort gehoben. Das Staatstheater war auf der Flucht, Plattenbauten: ausgelotet, eine Lokhallendurchquerung: descensus, Gentrifizierungen wurden Naturgebilde und Super 8 lernte wieder Laufen. SS-Prunk wurde biografischer Abgrund und das Paradies mit dem Bollerwagen durchmessen. Ein Garten wuchs zur Alternative, Zuchtareale wurden zersetzt, entäußert das Innere einer Psychiatrie und Badehäuser neu bewässert.

Diese raumkonstituierenden Handlungen waren stets gesellschaftlich bereichernd: über ein Re-Präsentieren der Geschichte, ein aktives Neu-Verorten des Verlorenen und eine Ort-Werdung des Unfassbaren. Nachhaltig generierten die Projekte ein kulturelles Kapital, das in seiner Wirkmacht nicht nur für die Projekte selbst, sondern für die generelle Notwendigkeit spricht, Theater im öffentlichen Raum in deutschsprachigen Gebieten zu stärken.

Denn dieses Genre bildet – und dies sehe ich im harten Kontrast zu den Vorgängen auf übersubventionierten Guckkastenbühnen – eine neue (und zugleich uralte) Form des politischen Theaters, das nicht (wie Augé) kulturpessimistisch beschreibt, sondern dem Kritischen rituell entgegenwirkt; nicht wie Agitprop durch Programme und Parolen, sondern durch die Bereitstellung von Heterotopien, in denen der Zuschauer das Ganze des Politikums am Stellvertreter durchlebt. Damit offeriert Theater im öffentlichen Raum die Möglichkeit, den utopischen Wandel am eigenen Körper erfahrbar zu machen, nicht als fremdbestimmte Revolution, sondern als freiwilliger Wandel des Selbst.

Ich habe versucht, diese Wirkung in den Beschreibungen der insgesamt 18 Unort-Projekte festzuhalten. Die Texte sind – das kann und will ich nicht leugnen – subjektiv geprägt. Sie versuchen, Flüchtiges in Schrift festzuhalten und können so dem Gesamteindruck und dem erfahrenen Wandel nie gerecht werden. Doch trotzdem hoffe ich, dass sie dazu dienen, ein Bild von den Aufführungen und ihrem jeweiligen Stellenwert im Vorgang der fortschreitenden positiv gewendeten Verunortung zu verdeutlichen. Und ebenso hoffe ich, dass aus ihnen hervorgeht, was für eine große Freude es mir bereitet, zu sehen, dass das eigene theoretische Schreiben einen Weg in die lebendige und engagierte Praxis finden durfte.

1Vgl. Däumer, Matthias/Gerok-Reiter, Annette/Kreuder, Friedemann (Hg.): Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2010.

2Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1994.

3Vgl. Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“, übers. von Michael Bischoff, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006, S. 317–329.

4Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988.

Theater Willy Praml

HEINE – WACHT AUF UND ERZÄHLT SEINEM FREUND KARL MARX WIE ER IM TRAUM IN EINEM KAHN DIE KURT-SCHUMACHER-STRASSE RAUF UND RUNTER FUHR. STATIONEN EINES TRAUMAS

Ziel des Projekts

Mit Heinrich Heine im Gepäck, dem deutschen und jüdischen Dichter und Schriftsteller von europäischem Rang, dem Romantiker und Gegner der Romantik in einem, machen wir, das Theater Willy Praml, uns auf den Weg, Stadtgeschichte wandernd zu erforschen. Dazu wollen wir ein ungewöhnliches Stadtareal nutzen, mit den Mitteln des Theaters in den Gedächtnisraum der christlich-jüdischen Vergangenheit der Stadt eindringen, den Blick auf eine unter dem Asphalt der Großstadt begrabenen Geschichte lenken und einen verschwundenen Ort von historischer Dimension – wenigstens im Denken – neu erfinden. Die archäologische Aura und reale Erinnerungskulisse der Relikte der ehemaligen Frankfurter Judengasse und der einschlägigen Straßen und Plätze um das Museum Judengasse herum, bieten eine unvergleichliche Voraussetzung für die theatrale Umsetzung der Heine’schen Textfragmente. Dies alles, das Ambiente eines in dreihundert Jahren sich ständig verändernden und rasant überlagernden Stadtareals gilt es, im Sinne der Heine’schen Rekonstruktions- und Erinnerungstechniken zu nutzen und an die heutige Bevölkerung weiter zu vermitteln. An jedem dieser Orte vollzieht sich einer der Monologe/Dialoge/Chöre unserer Inszenierung, lösen die Bilder einander ab, verweisen auf die nächste Schicht von zu erinnernder Geschichte, während das heutige Leben der Großstadt vom theatralen Geschehen des Abends keine Kenntnis nimmt, aber den Blick des Beobachtenden schärft.

Heine – der Flaneur – geht Ihnen voran. Zeigt Ihnen, wo’s lang geht. Führt Sie an Orte, die Sie noch nie so gesehen haben. Obwohl Sie schon oft dort waren. Macht den Blick frei auf ungewöhnliche Szenerien und lässt Sie eigenartige Augenblicke erblicken – dort, wo Straßenbahnen dominieren. Und macht das Unsichtbare sichtbar. Bringt das Pflaster zum Sprechen und den Asphalt zum Bersten. Lässt Sie mitten im Verkehr der Großstadt träumen, vom „Vater Rhein“, vom venezianischen Shylock, vom deutschen Kaiser und von der Loreley. Und zuletzt stirbt Heine als Protestant, nein, als Jude, nein als Atheist, nein, als – Seehund liebender Grönländer. Ja, als Grönländer! Unter dem freien Frankfurter Abendhimmel des ehemals katholischen, schönen Dominikanerklosterhofes – in der Hoffnung, dass er, der „Narr des Glücks“, im Himmel seine geliebten Seehunde wiederfinden wird. Stationen eines Traumas – das am Ende aber doch eine Vision sein wird: die der Schönheit, die die Welt für immer verändert. Das wird der Heine schon machen!

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Fotos: © Seweryn Zelazny

Das war die Gebrauchsanweisung für Zuschauer.

Resonanz, Herausforderungen und Wünsche

Der bespielte Stadtteil – immerhin ein Viertel der historischen Innenstadt – bot den tausenden unbedarften Zuschauern in insgesamt 21 Vorstellungen etwas komplett Unbegreifliches: Der im Weltkrieg mit untergegangene und darauf in der Nachkriegszeit wieder aufgebaute östliche Teil der heutigen Frankfurter Innenstadt stellt sich in beispielloser metropolitaner Trostlosigkeit dar. Viele der Frankfurter Zuschauer, Alteingesessene wie Zugezogene, standen während der Heine-Aufführungen kopfschüttelnd vor der Kurt-Schumacher-Straße, einem der Zentren des Theaterparcours, und konnten nicht verstehen, dass es hier einmal etwas anderes gegeben haben könnte als Verkehr und hässliche Häuser. Ein Unort von wahrhaft nationaler Dimension.

Vor dem Hintergrund, dass es sich hier um das älteste und damals größte jüdische Ghetto Europas handelt, hat es sich die Stadt Frankfurt immerhin zur Aufgabe gemacht, den Verlauf der für das christlich-jüdische Gedächtnis dieser Stadt so wichtigen historischen Judengasse wieder ins Blickfeld seiner Bewohner wie seiner Gäste zu rücken. Aber mehr als ein paar videobestückte Schaukästen, die museale Einblicke in das Verschwundene gewähren, sind bisher auch nicht ins planerische Visier geraten. Und der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann forderte zu Recht in seinem Geleitwort zum Heine-Projekt 2013: Eine Stadt soll doch nicht nur verkehrsgerecht funktionieren, sondern auch Flanierräume schaffen, die es den Menschen ermöglichen, die wechselhafte Geschichte ihrer Stadt unmittelbar erleben zu können? Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, und mit Heine, dem Flaneur par excellence, können wir Zeitgenossen, auch wenn das Heine-Projekt 2013 abgeschlossen ist, immer mal wieder dieses Stadtareal auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufsuchen und die Geschichte, die an diesem Ort stattgefunden hat, wenigstens im Denken festhalten. Bis vielleicht eines Tages sich eine der nachfolgenden Generationen der Aufgabe gewachsen sieht, auch visuell diese erlebbar werden zu lassen.

Die mehreren tausend Zuschauer des fünf Stunden dauernden Heine-Parcours haben durchaus ihr Interesse angezeigt, dass solche Stadtkorrektur gewünscht ist und haben ihr Engagement bekundet, sich dafür einsetzen zu wollen. In mehreren die Theater-Aufführungen ergänzenden Stadtführungen und in diversen Nachfolgeveranstaltungen zur Geschichte der Stadt, ihres Wiederaufbaus nach 1945 und zur kulturellen Bedeutung von Theater im öffentlichen Raum konnte das raumund zeitgreifende Heine-Projekt 2013 als eine die Stadtgesellschaft auf ungewöhnliche Weise tangierende Großveranstaltung zu Ende gebracht werden.

Uraufführung: 16.8.2013, Frankfurt am Main

Beteiligte: Künstlerische Leitung und Stab 21 Personen,

10 professionelle Darsteller, 4 Musiker, 23 Sänger, 13 Helfer

Aufführungen: 21

Zuschauer: 4000

Länge der Aufführung: ca. 250 Minuten (inklusive Pause)

Eintritt: 7 bis 22 Euro

Akteure

Seit 1991 gibt es das Theater Willy Praml nun schon in Frankfurt am Main – mit inzwischen gut hundert Produktionen. Ursprünglich an wechselnden, oft auch – den jeweiligen Stoffen entsprechend – an theaterfremden Orten produzierend und seit dem Jahr 2000 schließlich an einen Ort gebunden: an die Frankfurter Naxoshalle. Hier hat der Unternehmer Julius Pfungst im Jahr 1871 den Grundstein für eine der bedeutenden Frankfurter Industrieproduktionsstätten gelegt, die Firma NAXOS-Union. Herstellerin des weltberühmten Schmirgelpapiers. 1989 wurde die Produktion in Frankfurt eingestellt.

Als wir im Jahr 2000 begannen, unsere ursprünglich nomadenhaft angelegte Theaterarbeit auf diesen Ort zu konzentrieren, da war die Industriebrache – im bevölkerungsreichen Stadtteildreieck Bornheim/Nordend/Ostend gelegen – schon zu einer Art „Bronx“ verkommen. Seither haben wir Theaterleute uns bemüht, dieses bedeutende Relikt der industriellen Revolution als Ressource für neue Möglichkeiten künstlerischer und kultureller Produktion zu nutzen, auszubauen und weiterzuentwickeln.

Aus dem über Jahre gewachsenen Provisorium wurde und wird ein Veranstaltungsort, der neben dem Theater immer auch ein Podium für Kino, Musik und kulturelle Aktivitäten vielfältiger Inhalte und Formate war und bleiben will. Über 120 Jahre lang wurde an diesem Ort gemischt, geschliffen, gepresst, gehärtet und gedreht. Seit dem Jahr 2000 schleifen und feilen wir Theaterleute hier an Texten, Stoffen und Mythen unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Rauheit des Ortes ist unser Programm. Der Ort hat dem Theater seinen Stempel aufgedrückt und umgekehrt. Entstanden sind seither großräumige, von der Geschichte, den räumlichen Entfaltungsmöglichkeiten und dem vormaligen Geist der Arbeit geprägte Inszenierungen. Und prägende Eindrücke für die eigene Weltwahrnehmung, die Sie aus diesem Ort – der Geschichte und Gegenwart zugleich ist – beziehen können.

Regie: Willy Praml, Dramaturgie, Bühne, Darsteller: Michael Weber, Produktionsleitung: Tobias Winter, Kostüme: Paula Kern, Komposition: Sepp’l Niemeyer, Timo Willecke, Klarinette: Markus Rölz, Yu Zhao, Chorleitung: Thomas Hanelt, Dokumentarfilm: Otmar Hitzelberger, Organisten: Felix Ponizy, Paul Schäffer, Regieassistenz: Rebekka Waitz, Produktionsassistenz: Leona Aleksandrovic

Kontakt:

www.theater-willypraml.de

Matthias Däumer

UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND, ÜBER DER STRASSE DER RHEIN

I

Jede gelungene Architektur ruht auf einem Fundament. In den altehrwürdig mahnenden Mauerresten, über denen das Frankfurter Jüdische Museum steht, nimmt die Heine-Architektur Willy Pramls (Regie) und Michael Webers (Textfassung/Räume) ihren Ausgang. Das Publikum steht verstreut zwischen diesen schulterhohen Wänden, als die zehn Hauptdarsteller ansetzen. An verschiedenen Orten rufen sie Sätze über den Verlust Jerusalems aus, kurze Sätze, an vielen Stellen, sodass das Publikum keine Möglichkeit hat, sich zu orientieren, Stimmen und Sprecher einander zuzuordnen oder den Raum als eigenen, beherrschten zu erfassen. Zerrissen zwischen den Stimmen kann es die Diaspora als räumliche Identitätslosigkeit am eigenen Leib erfahren.

Soweit die spezifisch jüdische Fundamentierung; was folgt, ist die biografische. Bevor sich die Gruppe der primären literarischen Grundlage der Inszenierung, Heinrich Heines Fragment Der Rabbi von Bacharach, zuwendet, kann das Publikum nun zwischen mehreren Stationen wählen, an denen einzelne Darstellende mit Schildern ausgestattet für Etappen aus Heines Lebenslauf werben. So ist das Publikum dazu gezwungen, durch Eigeninitiative Orientierung im Leben und Schaffen des Autors herzustellen. Dabei ergeben sich äußerst reizvolle Wechselwirkungen zwischen dem Raum und den Performances, etwa als die Loreley, gekleidet in ein schillerndes Paillettenkleid und beseelt mit rheinischer Frohnatur, ihre Geschichte auf den Mauern der Mikwe thronend zum Besten gibt: Ertrinken im deutschen Rhein, Ertrinken im Wasser des jüdischen Rituals – die Assoziationen schlagen Wellen.

Die selbstständige Erkundung des Raums, wie man nach dem Besuch von drei der insgesamt sechs Stationen erfährt, ist dabei nicht ohne Konsequenzen: Denn auf ein akustisches Signal hin enden die Einzeldarstellungen – und das nicht Besuchte bleibt verloren. Eine gelungene inhaltliche Aktivierung des Publikums und ein unmissverständliches Signal dafür, dass man im Folgenden als verantwortungsvoller und d. h.: raumkonstituierender wie ko-fabulierender Teil der Aufführung verstanden wird.

Auf dem Steg über den Mauerresten bündeln die Darsteller nun das Geschehen. Eine letzte Vorbereitung auf den kommenden Text findet statt: Heines Erfahrung des Trommelns als Grundlage aller sprachlichen Vermittlung bildet den sprach-formalen Bestandteil des Fundaments. Dieser kommt zum Tragen, als anschließend im Freien, an der Seitenmauer des Museums, chorisch und mit musikalischer Pointierung der erste Teil der Geschichte von Rabbi Abraham und seiner schönen Frau Sara vorgetragen wird. Die Erzählung vom jüdischen Leben der Gemeinde und dem schrecklichen Moment, in dem die Protagonisten gewahr werden, dass ihre Vernichtung bevorsteht, wird in einer ebenso ungewöhnlichen wie hypnotischen Prosodie dargeboten. Über die Syntagmen hinweg unterlegt das Sprechen der Darsteller und die teils illustrative, teils kontrastive Live-Musik den Text mit Rhythmen, einem Trommeln, das elementarer als die Sprache selbst die Atmosphären des Texts zu transportieren vermag – und nicht nur die Atmosphären, das wäre dann doch zu neoromantisch, sondern auch schreckliche Politika wie beispielsweise die militant untertrommelte Heiligsprechung des Werner von Bacharach.

Hatte sich der Darstellungs-Raum bisher kontinuierlich erweitert, so erlangt diese Öffnung an der folgenden Station ihren Höhepunkt. Die Szene, in der Rabbi Abraham und Sara vom charonartigen, stillen Wilhelm in einem Boot über den Rhein gefahren werden, wird an der großen Kreuzung Kurt-Schumacher-/Batton-Straße dargestellt. Die Zuschauer stehen in vier Gruppen an den Eckpunkten der Kreuzung und tragen Kopfhörer, aus denen schon zu Beginn das Geräusch fließenden Wassers ertönt, sodass sich mühelos und noch bevor die Darsteller überhaupt in Aktion treten der Feierabendverkehr Frankfurts und der Strom der vorbeieilenden und leicht irritiert dreinschauenden Passanten zum Kulissenbild einer Rheinlandschaft wandeln: So unfreiwillig deutsch-romantisch war die Kurt-Schumacher-Straße wohl noch nie.

In der nun folgenden Szene zeigt sich eine ungewöhnliche Stärke der Inszenierung, denn die bedrohliche Melancholie, welche die Passage in Heines Text auszeichnet, wird hier durchsetzt mit Momenten der augenzwinkernden Ironie, die einem anderen Autor nicht unbedingt, Heine jedoch umso stärker angemessen erscheint. Neben rudernden Darstellern, die die Verkehrsinseln zu Booten werden lassen, bewegen sich andere entlang des Rechtecks der Fußgängerampeln. Da wischt eine in pseudo-sakraler Geste mit einem Palmwedel die Gehsteige. Eine Gruppe dunkel beschleierter Männer wandelt schwarzromantisch. Ein anderer, mit Surfbrett ausgestattet, unterwandert die Romantik mit Bahamasflair. Loreley torkelt mit Sektflasche und als die Kopfhörer schwermütige Lieder säuseln, fährt ein Auto vorbei, auf dessen Anhänger ein Klavier steht. Bei letzterem bin ich mir nicht sicher, ob es eine Koinzidenz war, ebenso wenig wie der rote Streifen am Abendhimmel („dünne[r], an den Himmel genüpfte[r] Lichtf[a]den“), der dem Rhein ein kommunistisches Spiegelbild zu werfen scheint. Die Frage nach der inszenatorischen Hand scheint auch eher sekundär, wenn sich der Mehrwert eines Theaters im öffentlichen Raum zeigt: Bei einer stringenten Semantisierung des Raums werden selbst die zufälligsten Augenblicke Teil des Sinngefüges und die Bedeutungserzeugung fließt wie selbstverständlich in die Verantwortung des Betrachters.

Eine Pause tut aufgrund der Untermalung durch eine Rap-Einlage des zuvor bermudaischen Surfers der Spannung keinen Abbruch; ebenso wenig die Aufteilung des Publikums in drei Gruppen, die den mit Paddeln und organisatorischem Langmut ausgestatteten „Fremdenführern“ zu drei verschiedenen Spielorten folgen. An diesen wird die Erzählung der fliehenden Protagonisten abermals durch Subtexte angereichert. Der (für meine Route) erste Teil des szenischen Triptychons besteht aus einem Disput zwischen dem gläubigen Konvertiten „Dr. Heinrich Christus Heine“ und der hedonistischen Mathilde, die den Raum der Heiliggeistkirche mit einer knapp an der Blasphemie vorbeischlitternden Eloquenz bespielen: Da staffiert sich zu Orgelteppichen, die an Ligeti erinnern, der Konvertit als Gekreuzigter mit poppigem Jesus-T-Shirt aus (ein sehr schönes Bild für Heines Abkehr vom Judentum, die stattfand, während er den Rabbi verfasste), es fliegen Gesangsbücher und Altarreden werden mit lasziv geöffneter Bluse gehalten.

Die ambivalente Stimmung dieser Szene spaltet sich in den folgenden auf: Mit wenigen Schritten verlässt man die Kirche und gelangt in das Atrium des Stadtplanungsamts. Dort herrscht eine ausgelassene Politisierung, die die Dynamik von Heines Wintermärchen noch zu überrunden scheint. Um ein großes stadtplanerisches Modell überschlagen sich zwei musikalisch untermalte Darsteller in allgemein politischen und auch frankfurterischen Pointen (z. B. zu Fluglärm oder Bauplanungen am Osthafen). Als dann ein klappriger Barbarossa mit Frankfurter Dialekt aus dem Fahrstuhl steigt, ist der Höhepunkt der lächelnden Abrechnung mit nationalen wie regionalen Mythen erreicht.

Düstere Töne werden dann in der Unitarischen Kirche angestimmt. Hier führen ein Drummer und ein Darsteller Heines Auseinandersetzung mit dem Shakespeare’schen Shylock und das formale Motiv der universal-kommunikativen Rhythmen zusammen. Den Raum mit artistischen Bewegungen, bedeutungsschwerer Emotionalität und münzwerfenden Gehässigkeiten durchmessend, entlässt einen die Szene agitiert und gedankenvoll in die mittlerweile dunklen Straßen Frankfurts.

Nur um einen direkt wieder aus dieser Gefahr bürgerlicher (und damit Heine unangemessener) Kontemplation zu reißen, als ein Männerchor (die Gespenster der Kreuzungsszene) jiddische Schmähgesänge und (Selbst-)Ironien zum Besten gibt. Plötzlich fährt ein Bus mit der ungewöhnlichen Aufschrift „Bacharach“ vor und die Zuschauer werden in Begleitung von den Darstellern des Rabbis Abraham und der schönen Sara Richtung Konstablerwache gefahren. Die Eindrücke, die in Heines Geschichte der großstädtische Flitterkram auf die junge Protagonistin macht, wird so auch vom Publikum wortwörtlich erfahren, ebenso wie der Riss in der urbanen Semantik hin zum jüdischen Viertel, den eine einsteigende Karikatur des jüdischen Narren vermittelt. Das wehmütige Ende von Heines Text überträgt sich trotz oder gerade wegen des ungewöhnlichen Transitraums eines Busses und man wird in die im Innenhof des ehemaligen Dominikanerklosters errichtete Matratzengruft entlassen.

Der volle Titel der Inszenierung lautet Heine wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx, wie er im Traum in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Straße rauf und runter fuhr