cover
Heinz-Jürgen Schönhals

Ende eines Kapitels und Neuanfang

oder: Ralf Terlindens Entschluss, ein Realist zu werden (überarbeitete Version)





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Ein Ende und ein Neuanfang

oder: Ralf Terlindens Entschluss, ein Realist zu werden

 

Roman

 

Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

Überarbeitete Ausgabe, Februar 2021

 

 

Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals

Inhalt

Ralf Terlinden, von seiner Freundin Alina verlassen (die sich obendrein noch seinem besten Freund zuwendet), ist am Boden zerstört. Er bricht sein Studium der Philosophie ab und versucht einen Neuanfang im Studium der Rechte. Ralfs Mutter schlägt vor, ihr Sohn solle sich in die Obhut ihres Bruders begeben, des renommierten Rechtsprofessors Wolf, der die Eignung seines Neffen für das Rechtsstudium testen soll. Wolf ist dazu bereit. So beginnt Ralf das Studium der Jurisprudenz an der Universität in F. Dort freundet er sich mit dem Jura-Studenten Alexander Lüth an, der, ein Boxbegeisterter, ihn oft zu Boxveranstaltungen mitnimmt. Nicht nur die zerstörte Liebe zu Alina, auch die Philosophie lassen Ralf weiterhin nicht los. Während der Examensfeier von Niki Froloff, einem alten Freund von Alexander, lernt Ralf Nikis Cousine, die hübsche Studentin Iris Lerche kennen. Die Examensfeier, von eitlen, wichtigtuerischen Erzählungen verschiedener Gäste geprägt, endet mit einem Skandal. Ralf Terlinden, der sich in Iris Lerche verliebt hat, blitzt bei seinem Versuch, sich Iris zu erklären, ab. Enttäuscht über seinen zweiten Reinfall in der Liebe, sucht er nach Ablenkung. Alexander Lüth rät ihm, sich den Film „Werther Zwo“ anzusehen, der werde ihn von seinem Liebeskummer ein für alle Mal heilen. Dieser Film handelt von der unglücklichen Liebe eines Studienrats zu der Muslimin Yamina El Hadi, die als Assistentin an der Schule des Lehrers arbeitet. Die Liebe werde in dem Film, wie Alexander es ausdrückt, als „magische Katastrophe“ dargestellt. Doch statt „Werther Zwo“ wird der Film „Das Lächeln einer Sommernacht“ gezeigt, der Ralf nur in Maßen gefällt. Am nächsten Tag sieht er, wie die Anglistikstudentin Iris Lerche sich eine Jura-Vorlesung über trockenes Sachenrecht anhört. Ralf, überzeugt, Iris sei seinetwegen in den Hörsaal gekommen, stürmt anschließend zu Iris‘ Wohnung, kann dort aber nur den endgültigen Absagebrief der Anglistikstudentin von deren Zimmerwirtin entgegennehmen. - Das Weitere wird gegen Ende des Romans dargestellt.

 

Inhaltsverzeichnis

1. Teil: In der Sackgasse

Kap. 1: Ralf Terlinden am Boden

Kap. 2: Suche nach Erklärungen

Kap. 3: Erinnerungen an das alte Studium

Kap. 4: Erkrankung; Abbruch des Studiums

 

2. Teil: Versuch eines Neuanfangs

Kap. 1: Wechsel des Studiums

Kap. 2: Schale Erfahrungskost bürgerlicher Verwandter

Kap. 3: Alexander Lüth, der Freund

Kap. 4: Boxkämpfe

Kap. 5: Vorwurf der Weltferne

Kap. 6: Gespräch über Nietzsche

 

3. Teil: Neue Erfahrungen I

Kap. 1: Zum Rapport bei Professor Wolf

Kap. 2: Eine Examensfeier und

Kap. 3: deren skandalöses Ende

Kap. 4: Studentin Iris Lerche

 

4. Teil: Das Kino als Fluchtpunkt

Kap. 1: Diskussion über die Examensfeier

Kap. 2: Der Film „Das Lächeln einer Sommernacht“

Kap. 3: Ein junger Mann, dem Ralf Terlinden

           zweimal im Wald begegnet

 

5. Teil: Neue Erfahrungen II

Kap. 1: Eine Sachenrechtsvorlesung mit Folgen

Kap. 2: Professor Dr. jur. Wolf oder der Wille zur Macht

Kap. 3: Schuldgefühle

Kap. 4: Eine Lehrprobe in Klasse 7c

Kap. 5: Die Beschwörung der Liebe Gottes

Kap. 6: Noch einmal: zu neuen Ufern

 

 

Personen:

Ralf Terlinden - Student, Protagonist

Ingrid Terlinden, geb. Wolf – Ralfs Mutter

Wilhelm Terlinden – Ralfs Vater

Harro Terlinden – Ralfs Onkel

Erna Terlinden – Ralfs Tante

Professor Dr. Heiner Wolf - Rechtsprofessor

Harley Parker - US-Studentin

Sophie Hofmann - Studentin

Alexander (Alex) Lüth - Jura-Student,

               Ralfs Studienfreund

Walter Ebeling, Student der Philosophie

Niki (Niklas) Froloff - Jura-Absolvent, Alex’ alter Freund

Iris Lerche - Studentin der Anglistik

Galina Melnikow - Niki Froloffs russische Verlobte

Dr. Rüdiger Froloff - Staranwalt, Nikis Vater

Waltraud Froloff - seine Frau

Kai Froloff, jüngerer Sohn von Rüdiger

Herr Grube-Reiners, ein junger Mann, dem Ralf

                Terlinden zweimal im Wald begegnet.

Gäste auf Niki Froloffs Examensfeier:

Dr. Burkhard Müller-Hochgräfe - Rechtsanwalt

Hedwig Müller-Hochgräfe - seine Frau

Ilona Schmelzer - Rechtsreferendarin

Klaus Olberding - Jura-Absolvent, Ilonas Freund

Walter Freese - Nikis Freund

Gerda Freese - seine Frau

Reiner Kehl - Fachanwalt für Steuerrecht

Helga Kehl - seine Frau

Dr. Alfons Gramberg - Bankdirektor

Marianne Gramberg - seine Frau

Dieter Stuckmann, ein Freund von Dr. Froloff

 

Zeit: jüngere Vergangenheit

 

1. Teil: In der Sackgasse Kapitel 1: Ralf Terlinden „am Boden“

Die Eumeniden ziehn, ich höre

sie, zum Tartarus. Die Erde dampft

erquickenden Geruch und ladet mich

auf ihren Flächen ein, nach Lebensfreud

und großer Tat zu jagen.“

(Goethe, Iphigenie)

 

(„…jeder Mitleid-Erfüllte könnte seine nach außen gekehrte Seelenpein besichtigen, und je nach Charakter gucke der eine erstarrt, der andere bestürzt auf das ihnen zur Schau gebotene traurige Schicksal.“)

 

Ralf Terlinden hatte einige Semester Germanistik und Philosophie mit Erfolg studiert, da trat ein Ereignis ein, das ihn aus der Bahn warf. Ab sofort quälte ihn täglich das Empfinden, sein Leben nähere sich bereits jetzt schon dem Ende, zumindest sei er an einem Punkt angelangt, wo ihm von allen Seiten nur noch Sackgassen, verbaute Wege, Niemandsland entgegenstarrten. Er war gerade mal 22 Jahre alt, das heißt in einem Alter, in dem man eigentlich frohgemut und optimistisch in die Zukunft blickt. Eigentlich! Doch wenn man sich damit abfinden muss, dass sein Lebensglück von einem anderen zerstört worden ist, kommt einem jeder Zukunftsoptimismus abhanden. Dieses Lebensglück war Terlinden einst in Gestalt seiner Freundin Alina Krawinkel erschienen und hatte lange Zeit, fast vier Jahre, als antreibende Kraft in seinem Leben gewirkt. Plötzlich jedoch, beinah von einem Tag zum anderen, hatte Alina ihn verlassen. Das wäre an sich noch kein Weltuntergang gewesen. Schließlich kann sich die Liebe oder jedenfalls das, was wir gemeinhin so nennen, bei jedem unversehens davonstehlen, mit der Folge, dass der Liebende oder die Liebende statt Liebe nur noch Leere, Mangel, Stillstand empfindet. Bei Ralfs Freundin mag das so gewesen sein. Dass jedoch Alina unmittelbar darauf ein Verhältnis mit seinem besten Freund, Alfred Krämer, begann, bedeutete für Ralf Terlinden einen K.o. - Schlag. Sein Studium konnte er nicht fortsetzen, dazu befand er sich viel zu sehr in einem Stadium des Grübelns, das oft seine ganze Zeit ausfüllte.

Was hatte er falsch gemacht? - grübelte er unausgesetzt. Warum haben seine Freundin und sein Freund ihm einen derartigen Haken verpasst, dass es ihn umhaute, wobei er ständig das unerträgliche Gefühl nicht loswurde, der Schwinger hätte obendrein seine Gesichtszüge zum Entgleisen gebracht und seine Umgebung, die Leute, die an ihm vorbeigingen, die Freunde und Bekannten, mit denen er zu tun hatte, würden das sofort merken, das heißt, sie würden klar erkennen, wie seine Physiognomie anhaltend nach links oder rechts verrutscht sei und unaufhörlich zucke? Da diese Leute ihn fast immer eindringlich musterten, schloss er aus ihrem Verhalten außerdem noch, sein in Verwirrung geratenes Innenleben liege klar zutage, jeder Gaffer, jeder Zyniker, jeder Mitleid-Erfüllte könnte seine nach außen gekehrte Seelenpein besichtigen, und je nach Charakter gucke der eine erstarrt, der andere bestürzt auf das ihnen zur Schau gebotene traurige Schicksal oder auch - mancher jedenfalls - glotze einfach unverhohlen und sadistisch, um sich an der grauenvoll verzogenen Mimik eines Unglücklichen zu weiden.

Es vergingen einige Monate, in denen wir Ralf Terlinden mit seinen selbstquälerischen Grübeleien zunächst mal alleine lassen wollen.

Ungefähr ein halbes Jahr später hielt sich Ralf in seinem angemieteten Studentenzimmer in der Universitätsstadt M. auf. Er war wegen der dramatischen Begebenheiten seiner jüngsten Vergangenheit immer noch stark bekümmert. Darauf deuteten seine etwas grämlichen Gesichtszüge hin sowie seine hellgrauen, im Augenblick düster dreinschauenden Augen. Er saß an seinem Arbeitstisch, trug noch seine blaue Windjacke, als wäre er eben erst zur Tür hereingekommen; dazu hatte er eine beige Cordhose an. Den Kopf hatte er in beide Hände gestützt und ließ seine derzeit freudlosen Gedanken weiter in der jüngeren Vergangenheit herumschweifen. Manchmal erhob er sich von seinem Stuhl und ging im Zimmer auf und ab. Dieses war klein und kärglich möbliert. Außer einem halbhohen Kleiderschrank, einem Holzbett und dem erwähnten Arbeitstisch sah man noch einen stark abgenutzten, dunkelbraunen Kunstledersessel in einer Ecke stehen und an der Wand ein hängendes Bücherregal, auf dem Ralf Studienbücher und einige Studienhefte lagerten. Noch zu erwähnen wäre ein verschlissener braunroter, den ganzen Raum ausfüllender Teppich, in welchen undefinierbare schwärzliche Figuren eingearbeitet waren.

Neben dem Schrank standen ein großer schwarzer Koffer sowie eine leere Reisetasche. Es hatte den Anschein, als ob der Student Ralf Terlinden im Begriffe wäre, seiner Studentenbude Lebewohl zu sagen. Jedoch war von einer Aufbruchsstimmung noch von einer Reiselust zunächst nichts zu bemerken, im Gegenteil: der Student saß starr auf seinem Stuhl, als wäre er dort festgenagelt und sein Interesse gelte weder dem Reisekoffer noch der Reisetasche, sondern ausschließlich dem Fenster, das hinter dem Schreibtisch eine Aussicht nach draußen ermöglichte, allerdings nur eine karge, gleichgültige, nämlich auf die Dächer der umliegenden Häuser.

Ralfs Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück.

Klar, seine Freundschaft mit Alfred Krämer war zerbrochen - so überlegte er, und er überlegte solches nicht zum ersten Mal -, auch seine Liebe zu Alina Krawinkel glich einem zerrütteten Gebäude, das in naher Zukunft, wegen der harten, einen definitiven Schlussstrich ziehenden Ereignisse, unweigerlich zusammenbrechen musste. Halb betäubt hatte er damals, nachdem er von dem Verrat der beiden Kenntnis erhalten, zunächst dagestanden, hatte mehrmals den Kopf geschüttelt wie einer, der noch nicht ganz bei Sinnen ist, als ob er auf diese Weise seine wild durcheinanderschießenden Gedanken wieder in geordneten Bahnen sammeln könnte. Die Straße, auf der er bisher munter vorangeschritten, hatte abrupt geendet, danach folgte … jenes bereits erwähnte Niemandsland, dessen Anblick er nicht länger ertragen wollte. Hier gab es für ihn nur eines: raus aus der Sackgasse, weg von der Einöde, egal wie! Auf jeden Fall: schnellstmöglich!

Doch das war leichter gesagt als getan, denn die Einöde, sprich: das Alleinsein, musste ihm erhalten bleiben und damit das Grübeln, das ständige Reden mit sich selbst mit all den destruktiven, todtraurigen Gedanken. Zeitweise war die Umwelt um ihn herum derart versunken, dass er sich einbildete, er wäre mutterseelenallein auf der Welt und wüsste nicht, was hinter ihm lag und wohin seine Lebensreise, gemäß seiner Entwürfe und Zielsetzungen, eigentlich gehen sollte. Hatte ihn sein Gedächtnis im Stich gelassen? Wo befand er sich eigentlich?

Er versuchte sich zu orientieren: Aha, vor ihm lag jene Einöde - wie gesagt! Und hinter ihm? – ja, jetzt erinnerte er sich: hinter ihm lag ein viersemestriges Studium, und noch weiter dahinter: seine Jugend. Er hatte sie in einer Kleinstadt namens Waldstätten verbracht. In einem behüteten und intakten Elternhaus war er aufgewachsen, als zweites von drei Kindern. Sein Vater, Rechtsanwalt und Steuerberater, und seine Mutter, welche die drei Kinder großzog, sorgten dafür, dass sie alle sich im Elternhaus aufgehoben und geborgen fühlten. Die Schulzeit konnte er sicher absolvieren und mit dem Abitur erfolgreich abschließen. Danach begann er ein Studium der Germanistik und Philosophie. Diese Zeit war nicht nur von seinem gewissenhaften Arbeiten und Nacharbeiten von Vorlesungen im Seminar der Universität erfüllt, sondern auch – jedenfalls vorübergehend – von der Liebe zu einem Mädchen und – wie er meinte – überstrahlt von der Liebe dieses Mädchens zu ihm. Es handelte sich um die erwähnte Alina Krawinkel, die er kurz nach dem Abitur kennenlernte.

Nichts mehr davon! sprach der in seiner Studentenbude Sitzende plötzlich laut zu sich, und mit einer unwirschen Handbewegung versuchte er die Erinnerungen an Alina wegzuwischen. Im Rückblick auf diese Jahre empfand er nur noch Schmerz und Wut. Dieses Kapitel musste für ihn abgeschlossen sein, vor allem jener letzte Abschnitt, der ihm durch Alinas und Alfred Krämers Verrat wie ein Abgrund vorkam. Auf keinen Fall wollte er in diesen Abgrund noch einmal hineinschauen; das heißt – schränkte er bald ein wenig ein – auf keinen Fall wollte er zu tiefe Blicke in den Abgrund werfen, aber einige Blicke schon, allerdings nur kurze, flüchtige. Denn er empfand immer noch ein gewisses Bedürfnis, sich mit jener letzten Phase einmal noch auseinanderzusetzen. Sicher werden ihm dabei viele eigene Fehleinschätzungen und Irrtümer, beruhend auf Unbedarftheit, Naivität und Ignoranz, begegnen. Doch egal! Diesen Abschnitt einfach, sozusagen unkommentiert ins Vergessen abzuschieben – das wollte er nicht.

Ralf Terlinden stand von seinem Stuhl auf, ging im Zimmer einige Schritte auf und ab, dann zog er seine Windjacke aus und hängte sie in den leeren Schrank, aus dem alle seine Kleidungsstücke, Hemden, Unterwäsche, Schlafanzüge und sonstige Anziehsachen, bereits entfernt und in seinem Koffer verstaut waren. Also stand doch seine Abreise bevor! Danach nahm er eine bequeme Wolljacke vom Garderobenhaken und zog sie sich über. Es war etwas kühl im Zimmer geworden. Deshalb drehte er den Drehknopf des Heizkörpers einige Markierungen weiter und setzte sich wieder an seinen Tisch. Eilig hatte er es nicht mit seinem Aufbruch, seinem Weggang von M. Die Erinnerungen hatten ihn einmal mehr gepackt. Sie zwangen ihn, weiter melancholische Blicke zurück in seine ungute Vergangenheit zu senden. Das Fenster ihm gegenüber, durch welches er wiederholt in die Ferne schaute, ermöglichte ihm allenfalls eine Aussicht zwischen zwei Schrägdächern hindurch zu einem fernen Waldzug. Der versank jedoch momentan in den blassgrau schwebenden Schleiern des morgendlichen Dunstes bis zur Unkenntlichkeit.

Dieser lausige Blick aus dem Fenster, dachte er; dazu noch der graue, beinah undurchdringliche Dunst! Beides kam ihm wie ein Symbol seines derzeitigen Elends vor. Wohin er auch schaute, nichts als steile, abschüssige Dächer, mit teils zerbrochenen oder verrutschten, teils unregelmäßig, das heißt in verschiedenen Grautönen reparierte Ziegeln. Sogar die dürftige Aussicht in die Ferne, zwischen zweien dieser Schrägdächer hindurch, war ihm heute verwehrt. Und wenn er sich in seiner halbdunklen, popeligen Studentenbude umsah, mit all den kargen, minderwertigen Möbeln, kam ihm jeder Elan abhanden, nach irgendeinem Ansatz für eine Initiative zu einem Neubeginn zu suchen.

Kapitel 2: Suche nach Erklärungen

 („eine zu gefühlsbetonte, idealistische Einstellung zur Welt und zu den Menschen.“)

 

Ralf fragte sich zum wiederholten Male - und diese Kardinalfrage ließ ihn einfach nicht los: warum hat Alina Krawinkel ihn verlassen? Lag es an seinem Charakter, seiner oft zu gefühlsbetonten, idealistischen Einstellung zur Welt und zu den Menschen? Alina hatte ihm einmal derartiges angedeutet. Der mit mehr Realitätssinn ausgestattete, nüchterne Erfolgsmensch sagte ihr vielleicht mehr zu, indessen der empfindsame, literaturbegeisterte Liebhaber romantischer Gedichte keinen Anklang bei ihr fand. Ralf Terlinden gehörte zweifellos zu den letzteren, wogegen Alfred Krämer, der sich mehr an Tatsachen orientierte, der fester mit beiden Beinen auf der Erde stand - immerhin machte er eine Ausbildung als Banklehrling, genau wie Alina - ganz sicher zur ersten Kategorie gehörte. Doch andererseits – Ralf kamen Zweifel. War es nicht eigentlich unwahrscheinlich, dass Alina derart kühl kalkuliert und nur, weil ihr der pragmatisch veranlagte, nüchterne Verstandesmensch Alfred mehr zusagte, die Seiten gewechselt hatte? Kam nicht eine andere Erklärung der Wahrheit viel näher, dass nämlich einfach die Neigung, das Gefühl, die Leidenschaft den Ausschlag gegeben? Unstet und launisch, wie das Liebesgefühl oft geartet ist und gerne wie eine muntere Biene von Blume zu Blume schwirrt, hatte dieses offenbar und aus unerfindlichen Gründen den Adressaten gewechselt, der von nun an Alfred Krämer hieß, indessen der alte Liebhaber, teils entsetzt und erregt, teils traurig, in sich gekehrt zurückblieb, mit anderen Worten: er, Ralf Terlinden, hatte dummer Weise - ein kühler Beobachter seiner vermaledeiten Situation würde sagen: tragischer Weise das zorn- und leiderfüllte Nachsehen gehabt - und hatte es immer noch!

Die Unberechenbarkeit der Liebe – ja, sie schien ihm als Begründung noch am plausibelsten. Vielleicht auch traf beides zu, eine Mischung also aus Liebe und Kalkül?!

Dann kam noch die Wahl seines Studiums dazu. Hatte sie eventuell seiner etwas weltfremden Art, die Alina so gar nicht schätzte, Vorschub geleistet? Eigentlich war er bisher überzeugt gewesen, dass er das ihm angemessene Studienfach gewählt hatte, zumal die ersten Erfolge bis zur Zwischenprüfung ihm das sichere Gefühl vermittelten, die richtige Wahl auch im Hinblick auf seine Talente getroffen zu haben. Er war früher in der christlichen Jugendarbeit tätig gewesen, hatte es also gelernt, vor Jugendlichen aufzutreten, mit ihnen zu diskutieren und christliche Andachten abzuhalten. Sie wurden – so hatte er immer den Eindruck gehabt – von den Jungen auch geschätzt. Deshalb sagte er sich, dass er später für den Beruf des Lehrers vielleicht oder wahrscheinlich oder sogar ganz gewiss talentiert sei. Doch alle diese sicheren Erwartungen, diese Selbstvergewisserungen, vor allem das so wichtige Selbstbewusstsein waren jetzt, nach seinen kreuzunglücklichen Erlebnissen, über Bord gespült, und Selbstzweifel, Unsicherheit und Unschlüssigkeit hatten stattdessen die Oberhand bekommen. So glaubte er nämlich bald nicht nur, sondern sein Glaube verfestigte sich mehr und mehr zu der Gewissheit - zumindest vorübergehend -, dass eine der Ursachen für seine gegenwärtige Misere in der falschen Wahl seines Studiums gelegen habe. Nicht dass einer, der sich für das Studium der Germanistik und der Philosophie entscheidet, leichter auf den Irrweg der falschen Visionen, der Trugbilder und täuschenden Herzenswünsche gerät - so etwas würde er nicht im Entferntesten behaupten und es wäre ganz sicher auch mit keinem Argument zu begründen. Jedoch hatte das Studium vielleicht mit dazu geführt, und zwar speziell bei ihm, dass er zu oft und zu gerne rosige Nebelschwaden erzeugte, hinter denen das wahre, eigentliche Wesen der Welt nur verschwommen, jedenfalls für ihn nicht deutlich genug erkennbar wurde.

Ralf Terlinden, weiter am Tisch seiner Studentenbude sitzend, versank wieder in seinen Erinnerungen, wobei seine schweren Gedanken dieses Mal in die Zeit seiner Studienjahre in M. zurückkehrten.