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Inhalt

Impressum

Prolog

Teil 1 Flammen

1 Im Süden – Kuna

2 In der Festung – Miranu

3In Soluray – Vira

4

5 In Soluray – Vira

6 Im Süden – Sainor

7 Auf dem Schlachtfeld – Kuna

8 Im Süden – Liben

9 Im Süden – Quamaro

10 In Soluray – Azaria

11 Im Süden – Kuna

12 In der Nalareschlucht – Luron

13 An der südlichen Grenze – Liben

14 In Soluray – Miranu

15 Im Saal – Miranu

16

17 In Soluray – Azaria

18 Im Saal – Hur

19 Südlich Solurays – Azaria

20

21 Südlich Soluray – Azaria

22 In Soluray – Hur

23

24 In Soluray – Hur

25

26 Im Süden Solurays – Sainor

27

28 Im Süden von Soluray – Azaria

29

30

31

32 In Soluray – Sainor

33 In Soluray – Vira

34 In Soluray – Liben

35 In Soluray – Azaria

36 In Soluray – Riuk

37 In Soluray – Sainor

38

39 Südlich Solurays – Kuna

40

41

42 In den Trümmern Solurays – Sainor

43 In den Trümmern Solurays – Vira

44

45 An der Front – Scares

46

47 Auf dem Weg – Sainor

48 Über Soluray – Hur

49

50 In den Trümmern Solurays – Azaria

51

52 Im Germintal – Azaria

53

54 Im Süden – Quamaro

55

56

57

58 Auf der Reise – Quamaro

59 In der Festung – Kuna

60

Teil 2 Magie

61

62 In der Festung – Kuna

63 Nahe der Festung – Azaria

64

65 Im Norden – Dol

66 Westlich der Festung – Hur

67

68

69 Im Norden – Quamaro

70

71 Dols Hütte – Luron

71 Im Norden – Miranu

72

73 Im Norden – Kuna

74

75 Im Norden – Kuna

76

77 Dols Hütte – Dol

78

79 Im Norden – Rumaro

80 Im Süden – Gilan

81 Im Lager – Sainor

82

83 Auf dem Weg – Kuna

84

85

86

87

88 Im Süden – Kuna

89 Im Süden – Azaria

90

91 Im Süden – Azaria

92

93 Im Süden – Kuna

94 Im Süden – Gilan

Epilog

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-596-5

ISBN e-book: 978-3-99048-597-2

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfotos: Anastasia Rasstrigina, Captblack76 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Isabella Schneider (1)

www.novumverlag.com

Prolog

Im Osten erklomm die Sonne die ersten Handbreit ihres Weges und zauberte strahlendes Licht auf unendliche Schneefelder.

Sie schenkte dem Schnee glitzernde Kristalle. Sie ließ das Eis der Seen glänzen. Sie durchschien den Wind des Landes und gab ihm Reinheit.

Ganz im Norden, in den Bergen, suchte man sie zuallererst. Ein Zwerg, aus den Hallen der Herrscherin in seine Heimat zurückgekehrt, stieg an die felsige Oberfläche und wartete gespannt auf sie. Er sah über das Land hinweg in Richtung Süden.

In der Hafenstadt Markun saß eine besorgte Witwe am Tisch, sah auf das zart rote Fenster und dachte an ihre Zwillinge. Im Nebenzimmer wachte eine Mutter über ihren Sohn, dessen Vater der Königin verpflichtet war, während ein Sonnenstrahl ihre Wange erwärmte.

In Sweda stieg ein junger Stadthalter aus seinem Bett, küsste seine noch schlafende Frau, hüllte sich in eine Decke und betrat den Balkon. Er sah auf das rauschende Meer unter sich, den schneidenden Wind um sich und die Sonne vor ihm, die sein Haar feuerrot brennen ließ, und er dachte an seinen Bruder.

Zwischen Stein und rauschendem Wasser in der Tiefe, in der Nalareschlucht, schien die Sonne auf Soldatenhelme, die mit dem Felsen verschmolzen zu sein schienen, und auf Schwertklingen, die noch blutrot glänzten. Zwischen ihnen, von Eiskristallen bedeckt, kauerte ein Hirschgeweih, und dieser Hirsch sah hinauf in die Sonne und dachte einen Augenblick lang nicht an den nahen Feind.

Die Sonne schien auch im Zentrum des Landes, auf einer Lichtung, auf eine halb abgetragene Veranda einer vom Hang verschlungenen Hütte. Ein altes Gesicht lächelte angesichts ihrer Helligkeit und tausende Falten zierten die weiße Haut, so weiß wie die hunderten von Blüten, die um die Hütte ihre Köpfe aus dem Schnee der Sonne zuwandten.

Im Süden, weiter im Süden, als es sich jeder Mann des Windes zugetraut hätte, tobte ein Kampf zwischen Rebellen und Soldaten des Windes. Ein Adler, ein Tiger und die Königin des Windes waren der Kern der Schlacht. Sie kämpften, brüllten und schrien und ihre Waffen fingen die Sonne nicht mehr ein, so dreckig und blutig waren ihre Klingen und Klauen. Die ganze Nacht schon hatten sie alles gegeben und bald würde es vorbei sein. Bald hätten sie ihren Feind besiegt und sie könnten ihre Waffen senken und ihre Toten bergen. Bald. Noch nicht jetzt und noch nicht das letzte Mal, aber bald. Der Tiger richtete sich auf und brüllte donnernd und ein einziger reiner weißer Zahn fing einen Sonnenstrahl ein.

Auch in Soluray schien die Sonne am Morgen. Der Schnee der Nacht betäubte die Gassen und die Schenken. Es wurde geschrubbt und eingeheizt und gefüttert. Fuhrwerke fuhren aus dem nahen Wald mit frischen Nizabüschen durch die Straßen und hungrige Tiere schrien ihnen entgegen. Junge Geliebte schlichen sich nach Hause und alte Greise hockten sich vor die Tür, um Pfeife zu rauchen.

Ein schwarzer Mann, auch noch zu so später Stunde gerissen lächelnd, bedankte sich bei drei in Tücher gehüllten Männern in einem kleinen Hinterhof, reichte ihnen je einen Beutel Münzen und zog sich zurück, um nach dieser erfolgreichen Nacht zu ruhen. Er atmete einmal tief durch und lehnte sich an die Tür hinter ihm. Neben ihm schien die Sonne durch ein Fenster auf drei gefesselte und geknebelte Rebellen am Boden vor ihm. Er lächelte ihnen zu.

Das Festungsgelände lag still im Herzen der Stadt. Einzelne Bedienstete kehrten die steinernen Wege des Außenareals. Aus den zahlreichen Schornsteinen stieg beständig Rauch auf. Die breiten Gänge und das weitläufige Treppenhaus im Kern der Anlage waren ruhig. Hi und da huschte ein Diener hinter Wandteppichen oder Gemälden aus einem versteckten Gang in das Zimmer seines Herrn oder seiner Herrin, ab und an hörte man ein klapperndes Geräusch aus der Küche, wo man bereits das Essen aus den Zuchthallen des Adels in ein zauberhaftes Frühstück verwandelte. Der Tag würde beginnen.

Im südlichen Trakt der Festung in Soluray fand die Sonne ihren Weg durch zwei hohe Fenster in eine weite, fast leere Halle. Im Kamin prasselte leise ein Feuer, davor lag eine kleine Gestalt in Decken gehüllt. Graues Haar blitzte auf, als das Licht die müden Lider des Kindes zucken ließ. Doch eigentlich hatte die Sonne etwas anderes gesucht und natürlich gefunden. Unter den beiden Fenstern stand ein Sarg aus Glas. Sein Boden war hölzern, mit Mustern geziert und mit feinen, braungrünen Gräsern ausgelegt. Im ersten Sonnenstrahl schienen Eis und Schnee und Wind dort drinnen zu toben und zu singen und zu tanzen. Das Glas machte den Anschein zu bersten. Die Person dort drinnen schien sich jeden Moment zu regen und sich aus den Scherben zu erheben.

Nur tat sie es nicht. Nicht einmal die Sonne sollte die weiße Anmut dort drinnen zum Leben erwecken. Nicht einmal Licht auf Licht und strahlende Schönheit auf strahlender Schönheit schien sie zu wecken. Sie lag still. Tag um Tag, Sonnenaufgang um Sonnenaufgang, trotzdem suchten ihre Strahlen jeden wolkenfreien Morgen nach dem Wind in ihr.

Zuletzt erreichte die Sonne eine dunkle Gestalt. Sie stand in der unendlichen Weite der Germinebene, nur begrenzt durch den Fluss, weit entfernt, das Harurgebirge fern im Norden und südlich durch die Stadt Soluray. Die Gestalt war ein Moony und die Sonne schien in dieser weißen Unendlichkeit auf eine Haarpracht, so schwarz wie die finsterste Nacht ohne Mond und Sterne. Auf Haut, so dunkel wie das edle Holz der ältesten Bäume und Augen, so grundlos und rußfarben schimmernd wie Edelsteine aus den tiefsten Hallen der Zwerge im Norden.

Die Gestalt auf der Ebene stand starr. Der Wind wehte in ihrem langen Haar. Er verfing sich in ihren düsteren Tüchern. Er strich um ihren kräftigen Körper. Er war bei ihr, unwiderruflich. Tief in ihr.

Der Blick der Gestalt war gen Süden gerichtet. Sie sah auf das Schloss, das die Sonne vor dem Horizont glitzern ließ. Sie sah die Balkone und Türme. Sie sah die im Wind tanzenden Fahnen dieses Landes und den darauf dargestellten schwarzen, in Flammen stehenden Pferdekopf.

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In ihrem Herzen jedoch sah die Gestalt Licht. In Schnee und Eis, so schien es, blitzte in ihrem Inneren ein Gesicht auf. Es war jung und schmal, die helle Haut rein. Weiße Haarsträhnen, aus einem langen Zopf gelöst, bewegten sich im Wind darum. Die blauen Augen strahlten unter weißen Augenbrauen und weißen Wimpern.

Dieses Gesicht, ging es der Gestalt durch den Kopf, dieses Gesicht.

Diese Frau würde sie suchen und finden.

Und sei es das Letzte, was sie tun würde.

Teil 1
Flammen

1
Im Süden – Kuna

Blut.

Der Geschmack von Blut im Maul des Tigers stellte das Schaben der Waffen um ihn herum in den Schatten, während er mit langen Schritten durch das Lager ging. Er lenkte ihn vom stechenden Geruch der Männer ab. Brachte ihn davon ab, hinter jeder hell klingenden Schwertklinge einen Angriff zu erwarten.

Er ließ ihn an das denken, was er gerade getan und gesehen hatte. Half ihm, sich zu konzentrieren. Auf seine Pflicht, die Herrscherin zu beschützen, auf sein Ziel, die Rebellen zur Strecke zu bringen.

Aber vor allem erinnerte er Kuna nicht an sie.

Er hörte Libens müde Schritte hinter sich. Ihre vor Blut und Silber glänzende Rüstung klirrte leicht. Napo und Nail gingen hinter ihr, Hur und Sainor an ihren Seiten.

Er konzentrierte sich auf das Wesentliche.

Sie war noch hier. Bei ihm. In Sicherheit.

Die niedrigen Zelte der Männer um ihn herum strotzten dem Wind und dem Schnee. Hunderte kleine Feuer schickten Rauchsäulen in den unruhigen Himmel. Wolken schoben sich vor die Sonne und trotz des noch immer hellen Lichtes fing es an zu schneien.

Während Kuna als Erster in das höhere Zelt der Herrscherin huschte, verwandelte er sich. Geschmeidig richtete er sich auf, und das flammende, von verwirrenden schwarzen Streifen durchzogene Fell wich den Leinen der Laurusnixen, dem Wams und der Jacke aus Fell und Leder sowie dem ledernen Schutz an den Unterarmen und der Brust. Seine Schritte in den leichten Stiefeln glitten lautlos über den vereisten Schlamm und das Eis des Zeltinneren, seine stechenden, grüngelben Augen sahen in jeden Schatten. Das helle Leinen der Zeltwände bewegte sich ununterbrochen im Wind des Lagers. Der Wind folgte ihm durch den Zelteingang und strich ihm durch die kurzen schwarzen Haare, versuchte seine Fäuste sanft zu lösen.

Nach einem Moment folgten ihm die anderen. Die Königin kam herein, ein wenig gebeugt hier drinnen, wo sie niemand mehr beobachtete. Hur, noch immer seinen Streitkolben in der Hand. Nail, sich wortlos und mit zusammengebissenen Zähnen eine Wunde an seinem Oberschenkel mit einem Streifen seines zerrissenen Wamses zubindend. Sein schulterlanges Haar war blutverklebt. Sainor und Napo kamen zum Schluss. Einen Moment länger als nötig blieb Kunas Blick an Sainor hängen, an den Schatten unter seinen Augen und den angestrengt zusammengekniffenen Augenbrauen.

Liben ließ sich mit einem leisen Seufzen gegen die Truhe hinter sich sinken. Sie legte ihren silbrigen Helm neben sich und zog sich die Handschuhe aus. Ihre leisen Bewegungen waren das einzige Geräusch in dem lichten und doch ein wenig düsteren Zelt.

Einen Moment lang rang Kuna sich dazu durch den eisigen Geruch des fallenden Schnees draußen zu riechen. Er schluckte und atmete tief durch. Dann löste er langsam seine Fäuste.

Die Herrscherin legte auch ihre Handschuhe neben sich und sie strich sich das Haar zurück, während sie schweigend in die Runde sah. Es wurde wenig gesprochen in letzter Zeit. Seit sie Soluray verlassen hatten.

Einen tiefen Atemzug lang dachten sie alle daran: an das Blut, mit dem sie gerade zu hunderten den Schnee getränkt hatten. An die Leben, die dort für den Wind geendet hatten. Auf beiden Seiten.

Schließlich nickte Liben langsam. Ihre Stimme war leise, ihre Worte gingen im Wind und dem Schnee und den Geräuschen der Männer und Tiere außerhalb dieses hohen Baldachins beinahe unter. „Wir sehen uns später, im Zelt des Feldherrn.“

Schweigend verließen sie die Königin. Nail humpelte.

Kuna und Hur nahmen links und rechts des Eingangs ihre Stellung ein. Sie würden Liben nicht mehr allein lassen. Sie gaben alles und bekamen nur Libens Sicherheit. Ihre Macht. Ihr Sein. Das mussten sie beschützen.

Liben. Sie war die Erste. Es gab nichts anderes, was Kuna hätte tun müssen. Seine Pflicht war für sie zu sterben. Sie war das Wichtigste in seinem Leben. Durch seine Verpflichtung ihr gegenüber lebte er.

„Kuna …“, begann Hur, leise wie immer. „Du musst dir nichts vormachen.“

Kuna presste seinen Kiefer aufeinander und stoppte sein unbewusstes Murmeln. Das tat er zu oft in letzter Zeit. Wo war seine alte und sture Entschlossenheit geblieben? Wo war seine Kaltschnäuzigkeit, seine Abwehr, wenn er sie brauchte?

Er wusste die Antwort, würde sie sich aber nicht eingestehen. Kuna schwieg. Er ballte seine Hände hinter dem Rücken wieder zu Fäusten.

„Kuna, du hast dich verloren. Du solltest … solltest dich wiederfinden.“

Wieder gab Kuna keine Antwort und ließ sich auf alle viere sinken. Seine Tiergestalt bewahrte ihn davor, die Fassung zu verlieren. Er verdrängte Hur und seine vergeblichen Versuche ihn wiederzubeleben. Ihn wieder dorthin zurück zu holen, von wo er hinabgestürzt war.

„Du weißt, dass sie es nicht gewollt hätte, dich so zu sehen.“

Das war jetzt neu. So weit ging er nun nicht oft. Aber mehr würde er nicht wagen.

Sie war tabu.

„Auch Sarpen nicht. Sieh dir Sainor an: Er kämpft um die Ehre seines toten Bruders. Dank ihm wird niemand Sarpen vergessen. Du solltest dir ein Beispiel an ihm nehmen.“

Ein Wagen ratterte laut an ihnen vorbei. Von drinnen hörte man die leise Stimme der Magd, die Liben half sich aus der Rüstung zu schälen. Ein Reiter galoppierte auf sie zu, bog aber im letzten Moment in die anschließende Zeltreihe ab. Kunas Herzschlag raste kurz, dann atmete er tief durch. Er hatte alles im Blick.

Würde sich nicht ablenken lassen. Liben.

Sein Schweigen aber sagte mehr als tausend Worte. Er würde nicht mit Hur darüber sprechen. Er würde es mit keinem tun. Es gab nichts zu besprechen. Er ging damit auf seine Weise um. Hur grub nur in Erinnerungen und Gefühlen herum, die er schon lange begraben hatte. Die er lernte zu vergessen und den Schmerz zu unterdrücken.

„Kuna, Zoe ist tot! Sieh es ein! Wie lange willst du noch um sie trauern?“

Auf diesen Satz hin schoss Kunas Blick herum und bohrte sich in Hurs dunkle Augen. Es folgte ein so wütendes Knurren seinerseits, dass Hur nun endlich abwehrend die Hände hob und schwieg.

Der Tiger saß da und legte eine unbewegte Miene auf. Seine Narbe schützte ihn vor langen Blicken und seine blitzenden Fänge vor Diskussionen.

Für die wenigen, die noch nicht wussten, was in Soluray geschehen war, wirkte der Tiger an der Seite der Königin unnahbar und pflichtbewusst. Für andere war er jedoch eiskalt, erbarmungslos und schweigsam. Er galt als aggressiv und tödlich.

Tief in seinem Innern aber wurde Kuna verletzt. Nicht verletzt, sondern zerfetzt. Nicht zerfetzt, sondern ausgehöhlt.

Allein. Er war allein.

2
In der Festung – Miranu

Der Saal war groß. Und hell. Mit glänzenden Fliesen und wunderbaren Mustern an den Wänden. Die hohe Decke und die Säulen in den Ecken waren mit Gestalten des Windes bemalt. Die Fenster waren groß. Der Raum war ein Geschenk an den Wind.

Strahlend.

Der richtige Ort für sie.

Draußen schneite es. Dicke Flocken, die sich friedlich auf den Fensterbänken sammelten und still Geborgenheit schenkten. Hin und wieder drückte sich eine gegen die Scheibe des größten Fensters. Der Schnee war wunderbar. Er ließ das Festungsgelände dort draußen ruhig werden.

Miranu wandte sich vom Fenster ab. Sie sah durch das Glas auf Zoe. Der richtige Ort für sie. Reglos lag sie da. Vollkommen bewegungslos. Und in Miranus Augen doch vollkommen, auf ihre eigene Art und Weise. Sie sah noch immer weich aus, noch immer stark. Ihre Hände waren über dem dunklen Kleid gefaltet, doch sie sahen noch immer zäh aus. Der Dolch in ihren Fingern schimmerte. Der Bogen mitsamt dem Köcher lag neben ihr, Seite an Seite mit ihrem so pedantisch gehüteten Jagdmesser. Ihre Augen waren geschlossen, doch umrahmt von ihren weiß schimmernden Wimpern und Augenbrauen. Ihr Körper eingehüllt in ihre langen weißen Haare.

Miranus Blick verschwamm und sie wandte sich auch von ihr ab. Sie ging die paar Schritte hinüber zum Feuer und schlang sich ihre Decke fest um die Schultern. Lina war heute schon hier gewesen und auch ihre neue Freundin, die Lady.

Jetzt erwartete Miranu niemanden mehr und das freute sie. Sie mochte es nicht zu sprechen, jetzt, da es alle von ihr erwarteten. Und sie mochte es nicht, wenn jemand sie aus ihren Gedanken riss, jetzt, da sie doch das Einzige waren, was sie noch hatte.

Liben mit ihrem Gefolge war schon lange im Süden, an der Front, um Krieg zu führen. Um das zu tun, worauf sie so lange gewartet hatte. Tagtäglich riskierten sie ihr Leben. Tagtäglich schlief Miranu in Unwissenheit ein. Doch es war nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das Alleinsein hatte schon nach Zoes Tod begonnen. Niemand war nach Sarpens und Zoes Verschwinden mehr derselbe. Miranu dachte sich insgeheim, wie viel Glück sie gehabt hatten, dass sie fast vergessen hatten, wie glücklich sie doch in ihrer Gruppe waren. Dass sie fast vergessen hatten, wie viel Glück sie alle mit ihren Gefährten gehabt hatten.

Also war sie nun allein. Wie alle anderen auch.

Das Lager aus Pölstern, das sie sich vor dem Kamin eingerichtet hatte, diente Miranu gleichzeitig als Bett sowie als Versteck ihrer kleinen Habseligkeiten. An Zoes Sarg, der nahe am größten Fenster stand, hatte sie an dessen Fuß ein kleines Windspiel gehängt. Sobald jemand die weit entfernte Tür zum Saal öffnete, fand der Wind den Weg zu ihr und ließ es sanft klingen.

Unter ihrem Polster hatte sie eine kleine Figur, nicht größer als Hurs Handfläche, versteckt. Er hatte sie ihr gegeben, kurz bevor er Liben an die Front gefolgt war. Es war eine Mischung aus einem Pferd und einer Katze. Das Pferd bildete die linke Seite und die Katze die rechte. Es schien, als wären beide zwischen ihren Augen durchtrennt worden und nun nahtlos wieder miteinander verschmolzen. Eine aufrecht stehende Katze und ein aufrecht stehendes Pferd, elegant, mit großen, dunklen Augen, geschnitzt von jemandem, den sie nicht kannte. Hur gab sie ihr, denn er war der Meinung, sie war bei ihr besser aufgehoben. Miranu hatte seine scheue Geste erkannt und hütete sie nun mit Bedacht.

Ebenfalls mit Bedacht sah Miranu jeden Tag auf das Bild, das sie sich, nachdem man Zoe gewaschen und neu angezogen hatten, genommen hatte. Sie glaubte nicht, dass jemand davon wusste. Zoe hatte es in ihrer Reisejacke, in der Brusttasche aufgehoben. Ein Bild, das Arel und sie zeigte, auf einem Markt, lächelnd.

Jeden Tag holte sie es hervor und sah Zoe an. Jeden Tag hielt sie Zoe damit in ihrem Herzen lebendig.

Lebendig. Ihre letzten Atemzüge kamen Miranu ebenfalls täglich in den Sinn. Diese jedoch nicht freiwillig. Nicht mit schmerzender Freude.

Nur mit Schmerz.

Was war eigentlich nicht mit Schmerzen verbunden gewesen an diesem Tag? Nicht zu sprechen von den Stunden im Lazarett, von den Schreien und Tränen, nein.

Damals im Saal. Was war eigentlich geschehen? Was? Alles, was Miranu sah, waren einzelne Bilder. Eindrücke. Nur Bruchteile. Und doch viel zu viele.

Das erste Bild von Kuna mit der Katze im Arm am Eingang des Saales. Suchend hatte sein Blick geschweift. Dann sein Weg durch die Menge, stoßend, brüllend, alle überragend. Zoe am Boden, ihre Augen nur auf Kuna gerichtet. All die Zeit, jeden Augenblick, jeden Atemzug. Ihre Augen auf seinen.

Libens weinendes Gesicht. Wirklich und wahrhaftig menschlich, weinend.

Zoes blutende Gestalt, sich verwandelnd, immer wieder, nicht wissend, woher sie denn noch die letzten Kraftreserven holen sollte.

Unendlich lange das Bild von Kuna und ihr, ihre Pfote in seine Jacke gekrallt, seine großen Hände, die ihren Kopf hielten, die Augen nur aufeinander, nichts als Liebe und Trauer in ihren Gesichtern. Lange.

Zum Schluss hin alles ganz schnell. Zoes letzte Reaktion auf Miranus erste Worte, Kunas Kuss, Libens saubere Hand auf Zoes blutverschmierter, Linas Ruf am Eingang, Arels markerschütternder Schrei als Letztes.

Dann das Stocken. Das langsame Sinken ihrer Hand aus Kunas Jacke. Die erste und die letzte Träne, die der Schneeleopardin aus dem blauen Auge über die helle Wange lief.

Stille. Obwohl Miranu jetzt wusste, dass sie am Feuer saß, kam sie nicht umhin zu zittern, als sie an die Stille dachte.

Die Stille, in der Zoes letzter Atemzug geklungen hatte wie ein tosender Sturm, wie rauschende Flüsse, wie reißende Lawinen. Wie ein Windspiel. Ihr letzter Atemzug, fast nicht zu hören, so wenig Kraft hatte sie gehabt.

Ihre Augen waren starr geworden. Auch Kunas. Einen Moment lang hatte es ausgesehen, als wäre sein Herz mit dem ihren stehen geblieben, als wären sie zusammen am Boden des Saales in Soluray zu einer ewig verschlungenen Statue gefroren.

Nach Stunden, so war es Miranu vorgekommen, hatte Hur sich bewegt und ihr sanft die Augen geschlossen. Liben war aufgestanden, fassungslos. Sainor und Nail waren zurückgewichen, erschrocken.

Es war Hur gewesen, der nach einer Ewigkeit Kuna auf die Beine gezogen hatte. In dieser Ewigkeit schien die Zeit sich mit der Stille verschworen zu haben. Sie schienen sich aneinander messen zu wollen. Doch Miranu konnte mit Sicherheit sagen, dass es Hur Dutzende Minuten gekostet hatte, um Kuna davon zu überzeugen, dass er noch Beine hatte neben den Armen, die die leblose Zoe hielten. Und dass diese Beine auch in der Lage waren sich zu bewegen. Und dann, dass es wohl besser wäre, Zoe ins Freie zu bringen. Dass es besser wäre, sie eine Weile im Wind zu lassen. Besser, als sie hier unter so vielen Augen liegen zu lassen. Und immer noch Kunas Blick. Seine Augen, sein Ausdruck in dem geschundenen Gesicht …

Miranu zuckte zusammen und konnte sich einen Schrei gerade noch verkneifen, als jemand hinter ihr anfing zu sprechen. Freudig und laut anfing zu sprechen. Nicht gerade passend zu ihren Gedanken.

„Miranu!“, hastiges Atmen, sich nähernde Schritte. Jetzt wusste Miranu schon, wer zu ihr kam. Und tief in ihr drin, durch all die schmerzende Erinnerung, keimte Freude in ihrem Herzschlag auf. Ganz kurz, dann entkam ihr ein Lächeln. Ihre neue Freundin.

„Miranu“, sagte Lady Vira noch einmal und war dann schon bei ihr. Miranu drehte sich um und sah ihr entgegen. Die Lady trug ein grünes Kleid mit sandfarbenen Enden an Ärmeln und dem Saum. Mit ihren goldenen Haaren und der hellen, melierten Haut im zierlichen Gesicht sah sie aus, als wäre sie geradewegs dem Wald entsprungen.

„Ein Brief ist für dich gekommen.“ Sie lächelte, während sie sich neben Miranu auf den Pölstern und Decken niederließ. Vira roch immer leicht nach Kräutern und frischen Trieben, egal wo sie war. Sie sagte nichts dazu, wie Miranu hier lebte und sie war auch die Einzige, die keine Worte von ihr erwartete. Was gut tat.

„Ich habe ihn bekommen, aber er ist an dich adressiert – es wusste wohl keiner, wo du zu finden warst.“ Da Miranu nur gespannt dasaß und nicht widersprach, brach Vira das rote Siegel und nahm das gefaltete Blatt heraus. Sie atmete tief ein, während sie es öffnete, und ließ ihren Blick erstaunt einen Augenblick über das volle Pergament schweifen.

Miranu berührte sie erwartungsvoll am Arm und sah ihr ins Gesicht, während sie wartete. Sie konnte ohnehin nicht lesen, aber einen Brief hatte sie noch nie bekommen.

„Er ist von Liben. Unterzeichnet von ihr, Sainor und Hur.“ Vira schluckte. Miranu sah, dass sie sich die erste Zeile mehrmals durchlas, bevor sie ihre Stimme fand.

„Liebe Miranu, es geht uns allen gut, wir sind weitgehend unverletzt. Das ist wohl das Wichtigste und auch das, was wir dir wünschen. Dass es dir gut geht. Dass gut für dich gesorgt wird. Dass du glücklich bist.

Unsere Kämpfe sind lang und schwer, doch wir haben Erfolg: Die Moral unserer Truppen ist stark und unsere Siege sind häufiger zu zählen als unsere Niederlagen. Wir rücken immer wieder ein Stück weit nach Süden vor. Wir riechen den Südwind.“

Vira hielt inne. „Hier ist Libens Unterschrift. Der nächste Absatz ist von Sainor. Er ist nicht sehr lang. Also: Miranu, unsere kleine Kämpferin. Ich möchte dir hiermit sagen, dass mein Bruder und ich immer ein Auge auf dich hatten. Auch jetzt noch, da er tot ist und ich tagelang entfernt, solltest du wissen, dass du nicht allein bist. Falls du irgendetwas brauchen solltest, bitte jemanden, mir zu schreiben. Falls du ein Problem hast, einen Verdacht, Sorgen, dann schreib mir. Sarpen hätte mehr für dich getan, als du dir denken würdest. Ich werde seinen Willen dich zu beschützen mit Freude weiterführen. Ich passe auf dich auf.“

Miranu bemerkte nicht, dass Vira schon einige Atemzüge still war. Miranu sah ins Feuer. Tränen standen ihr in den Augen. Oft genug dachte sie noch immer an Sarpen. An seine Witze und Ratschläge und Warnungen. An die leisen Gespräche mit seinem Bruder vor dem Feuer und die leichte Art, wie sie miteinander über alles geredet hatten.

Vira drückte Miranus Hand, bevor sie leise den letzten Absatz vorlas: den von Hur.

Meine liebe Miranu“, Viras Stimme war leise und Miranu erwiderte den Händedruck. „… Ich möchte nicht ausschweifen. Ich will dir nur erzählen, woher ich die Holzfigur habe, die jetzt dir gehört. Du bist erst der zweite Mensch, dem ich von ihr erzähle. Es tut mir leid, dass ich es dir nur durch einen Brief sagen kann, aber ich habe Angst, dass ich zu lange warte. Der Tod lauert hier im Süden überall. Diese Figur soll nicht in Vergessenheit geraten.

Vielleicht weißt du schon, dass Liben nicht immer hier im Süden war. Bevor Zoe kam, unternahmen wir viele Reisen mit ihr, wir verbrachten jedoch auch viel Zeit im Schloss. Schon damals waren wir auf der Suche nach einer dritten Leibwache. Es kam nur ein Moony in Frage und zusätzlich sollte es noch eine Frau sein. Es gibt nicht viele weibliche Moonys, die hierfür in Frage kommen.“

Viras Blick schweifte kurz von den säuberlich geschriebenen Zeilen zu Miranu. Miranus Augen waren die ganze Zeit auf die der Lady gerichtet.

„Du weißt, dass es nicht viele weibliche Moonys gibt? Und dass diese wenigen meist nur harmlose Tiere in sich tragen?“

Miranu nickte.

„Natürlich weißt du das …“ Viras Stimme schweifte kurz ab und sie sah Miranu nur an, dann schüttelte sie kurz den Kopf und las leise weiter.

„Die erste erwähnenswerte Kandidatin war auch schon diejenige, in die ich mich verliebte. Ja, so fremd das auch klingen mag – ich weiß darum Bescheid – ich habe mich verliebt. Sie wurde trainiert und geprüft und jede freie Minute, die wir erübrigen konnten, verbrachten wir zusammen. Und obgleich wir von Beginn an wussten, dass unser Zusammensein keinerlei Zukunft hatte, versanken wir in Gefühlen zueinander.

Es kam, wie es kommen musste: Sie wurde abgelehnt. Ich kann dir jetzt nicht Genaueres dazu sagen, aber zu großen Teilen auch wegen ihrer Herkunft wurde sie nicht als Leibwache aufgenommen. Ihre Ausbildung wurde abgebrochen, sie wurde nach Hause geschickt. Es schmerzte uns beide, doch wir hatten uns ohnehin keine Hoffnungen gemacht. Wir trennten uns im Guten voneinander, trotzdem verlor ich einen Teil meines Herzens an sie. An die Frau, die das Herz einer Löwin in sich trägt.“

Vira stockte und hielt kurz inne. Auch Miranu war überrascht, überwältigt davon, den Adler von sich selbst schreiben zu hören. Unter dem Polster umklammerte sie die Figur. „Lies bitte weiter“, flüsterte sie Vira zu.

„Die zweite Frau kannten wir schon länger, doch sie lebte bis dahin im Stillen in unserer Nähe. Sie bat darum ausgebildet zu werden und ihr Wunsch wurde erfüllt. Sie lernte zu kämpfen und sie lernte zu denken, so, wie wir es taten, und sie war gut. Sie ähnelte in ihrem Inneren Zoe sehr, sie war genauso willensstark, genauso mutig, genauso stark. Doch sie war auch ein paar Jahre älter und daher belastbarer und zäher, von Beginn an. Dieses Mal war es keine Liebe auf den ersten Blick für uns, doch sie blieb länger und es schien, als wäre sie die Richtige. Erst Momente, bevor Zoe zu uns in den Saal gestolpert kam, erfuhren wir von Liben, dass sie sie abweisen würde. Dass sie sie bereits abgewiesen hatte. Liben hatte all die Wochen nie vorgehabt sie zu behalten. Und dann war plötzlich Zoe im Saal und sie wurde geprüft und ein letztes Mal nach Hause geschickt. Sobald sie weg war, lief ich durch die Gänge, um die Frau zu suchen, von der ich mich noch nicht verabschiedet hatte. Doch ihr Zimmer war schon leer. Sie war verschwunden. Ich habe sie bis heute nicht mehr wiedergesehen. Sie hatte Wildheit im Herzen gehabt. Und ein Teil von mir war an sie verloren gegangen. Sie hatte die Wildheit eines Wildpferdes in sich gehabt. Unbändig und zügellos.

Miranu, Vira atmete tief durch. „… Diese Figur soll an die beiden erinnern, an ihre Kraft und Treue. Wenn ich mich nicht mehr erinnere, denke daran, sie haben mir nur Gutes getan. Jetzt weißt du so einiges über mich, das außer dir nur Kuna weiß. Kuna, mein alter Freund. Er ist hier irgendwo, wahrscheinlich vor Libens Zelt. Auch wenn er es nicht ausspricht, weiß ich, dass er an dich denkt. An dich und an deine Wache bei Zoe. Danke dafür. Danke, dass du dort bist und das hier gelesen hast. Falls ich sterbe, dann leben die Teile meines Herzens noch weiter.

Ich versiegle jetzt diesen Brief und gebe ihn noch heute der schnellsten Eule des Lagers mit auf Reisen. In den Norden, zu dir. Hur.“

3
In Soluray – Vira

Sie hoffte, ihr Vater würde in der Hölle schmoren.

Lady Vira hoffte, er würde dort unten verrotten und bestraft werden, für das, was er allen angetan hatte. Was er seinem Land angetan hatte. Dem Wind.

Aber am schlimmsten – er hatte nicht damit gerechnet, was er ihr damit angetan hatte.

Sie, als eine treue Dienerin des Windes, als eines seiner Kinder … Wie sollte sie mit dem Wissen weiterleben und weiter dienen, dass ihr Vater ein Verräter ihres eigenen Fleisch und Blutes wurde?

Irgendwie schaffte sie es jedoch. Dem Wind sei Dank, dass sie in genau der Nacht, in der der Narr Buna an die Rebellen verraten hatte, heimlich abgereist war. Sie hatte ihre Vermutungen und Pläne gehabt, wollte aber in Soluray erst davon Abstand nehmen und die Lage aus einer anderen Perspektive betrachten. Als sie jedoch in der Stadt ankam, ihre Diener und Pferde erschöpft, ihre Kleider zerschlissen wie die einer Bäuerin und ihr Körper von Kämpfen und Überfällen müde, hatte sie sogleich bei ihrer Anreise erfahren, dass sie hier nicht überaus erwünscht war. Es hatte Vira eine Menge Überzeugungskraft gekostet, die Wichtigsten in der Burg – unter anderem Lady Morlin – davon zu überzeugen, dass sie nichts mit den Plänen ihres Vaters zu tun gehabt hatte. Es war ihr nicht möglich gewesen alle Ratsmitglieder und andere Adelige für sich zu gewinnen. Die meisten waren misstrauisch und schon ein wenig neurotisch durch den langen Krieg.

Lady Vira war dieses Verhalten zu Anfang fremd gewesen. Sie hatte in Buna eine schöne Kindheit verbracht. Als die einzige Tochter in ihrer Familie wurde sie schon von klein an als die bescheidene und mitfühlende Herrscherin der Stadt angesehen. Während sie ihren Vater nur zu Essenszeiten oder Familiensitzungen zu Gesicht bekam, war ihre Mutter ein fester Bestandteil ihres Lebens. Von ihr hatte sie gelernt mit Bogen und Schwert, Messer, Gabel und Dolchen umzugehen.

Ihre Mutter war auch die Einzige, die ihr Geheimnis gekannt hatte.

Dieses Geheimnis hatte ihr zu einer Ausbildung verholfen, die diejenige ihrer Mutter noch übertrumpft hatte. Vira konnte kämpfen. Aber nicht nur das.

In Soluray hatte sie also um ihre rechtmäßige Stellung im Rat zu kämpfen. Nur durch einige Gefälligkeiten, die ihre Mutter in früheren Jahren geleistet hatte, konnte sie an den runden steinernen Tisch zurück.

Dort angekommen war sie dann doch enttäuscht. Lord Romun, der stellvertretend für die Königin die Sitzungen leitete, gestaltete sie langwierig und nur zu dringendsten Zeiten. Er sprach einzig über die wichtigsten Probleme des Volkes, die Verteidigung im Süden überließ er den Generälen. Er war feig und faul gewesen, hatte sich nicht von seinem Leben am Hof abbringen lassen wollen.

Da Lady Vira sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und sich ihre gerade zurückerkämpfte Achtung nicht verderben wollte, entschloss sie sich, im Untergrund ihr Netz zu spinnen.

Zu Anfang fing sie nur an, sich in der Nacht aus der Burg zu schleichen und die Diebesviertel Solurays zu durchstreifen. Mit ihrem langen Mantel und ein paar zerrissenen Kleidern ihrer Reise fiel sie nicht sonderlich auf, und als sie dann zufällig in eine Streiterei zwischen einer Gruppe Dieben und Rebellen hineingezogen wurde, entschied sie sich kurzerhand für die Seite, die ihr Vater vorgezogen hatte.

Sie zögerte nicht lange, sondern tötete die ersten Rebellen in ihrer Tiergestalt.

Durch das Vertrauen und das Können von Viras Mutter war es ihr erspart geblieben, sich öffentlich zu zeigen, und stattdessen konnte sie ihre Ausbildung in Libens Schloss vollenden. Ihre Verwandlung war ein Geheimnis gewesen und sie wollte es vor den anderen Ratsmitgliedern so lange wie nur möglich ebenfalls versteckt halten.

Von diesem Moment an, da die Diebe sie ehrfurchtvoll und ängstlich angesehen hatten, begann sie die Fäden ihrer Courage zu weben. Sie nahm Kontakt mit Riuk auf – wenngleich sie ihn niemals persönlich sah – und heuerte ein paar ihrer Vertrauten von Buna an, um auf ihrer Seite zu kämpfen. Aber nicht nur ihre wenigen Verbündeten aus der Burg, die sich in ihren Vierteln herumtrieben, sondern auch wildfremde Menschen, die den richtigen Ohren lauschten und die richtigen Fragen stellten, kamen durch ihren schon bald erlangten Ruf zu ihr und verlangten nach Aufträgen. Nach einer Möglichkeit etwas zu unternehmen, anstatt dem Rat zuzusehen, wie er langsam aber sicher zu Grunde ging.

Und auch wenn sie persönlich mit ihren Anhängern nicht sehr viel gegen die Rebellen ausrichten konnten, gab es ihr wenigstens das Gefühl etwas zu verändern.

Zu diesem Zeitpunkt war die Königin noch untergetaucht, und auch wenn sie aller Mutter war, waren die Menschen in dieser Zeit ein wenig enttäuscht von ihrer Herrscherin. Sie brauchten etwas zu tun. Sie warteten mit geöffneten Händen auf Arbeit.

Lady Vira gab den Tatkräftigen diese Aufgaben.

„Guten Abend, my Lady.“ Die fast nicht zu sehende Gestalt im Schatten der Mauer nickte einmal und huschte in die Kammer links des Tores.

Einen Moment später glitt das Gitter eine Armlänge hinauf, gerade so weit, dass Vira sich darunter hindurch beugen konnte.

Ohne einen Blick zurück ging sie mit sicheren Schritten über die Zugbrücke. Sie konnte von Glück reden, dass beide Wächter, die ihr jedes Mal die zwei Tore öffneten, in Buna treue Leibwachen gewesen waren. Nur durch ihr Vertrauen der Lady gegenüber konnten sie es verantworten sie schier jede Nacht passieren zu lassen.

Die Nacht war hell und tausende Sterne beleuchteten die hölzerne Brücke. Vereinzelt rieselten Schneeflocken aus den verstreuten Wolken am Himmel. Alles war in ein angenehm blaues Licht getaucht. Gerüche der Schenken und Bauernhäuser aus der Stadt schlugen ihr entgegen und sie rümpfte die Nase. Die Nähe zu den ärmeren Vierteln hier erinnerte sie jedoch nur an ihre Aufgabe.

Mit ihrer rechten Hand rückte sie den Bogen an ihrem Rücken zurecht. Sie prüfte den flachen Sack mit Pfeilen. Alles war griffbereit. Es war soweit. Sie musste sich beeilen.

Sobald sie im Schatten der ersten Häuser angekommen war, zog sie sich ihre Kapuze tiefer in die Stirn und hüllte sich in ihren dicken schwarzen Mantel, dessen Saum den eisigen Boden hinter ihren geschmeidigen Stiefeln streifte und sanft den fingerdicken Neuschnee aufwirbelte. Sie war sich ihrer nach hinten gebundenen Haare sicher, schon zu oft hatte sie darauf geachtet, ihre strahlend blonde Mähne zu verdecken. Ebenso war sie sich ihrer bereiten Sinne und den leisen Schritten hinter sich bewusst, die zu Harlev, der Frau des verstorbenen Zow, gehörten. Die starke, aber vor allem unendlich wütende Gesellin folgte ihr meist, sobald sie die Stadt durch das westliche Tor betrat. Sie nahm eine Art Leibwächterfunktion ein, auch wenn Vira das für nicht nötig hielt.

Vira dachte noch einmal an ihre Aufgabe. War sie sich denn überhaupt sicher?

Heute Morgen war sie mit dem Wissen aufgewacht, dass eine ihrer Jugendfreundinnen, Lady Wonur, tatsächlich auf der Seite der Rebellen stand. Letzte Nacht erst hatte sie erfahren, dass die Verräterin – die in ihrer Spinnengestalt die Zwergin Una beinahe getötet hatte – in der fünften Sektion der Rebellen handelte, die Gruppe der Spione, die für jede andere Abteilung einzusetzen waren. Spione für die Schenken, die Schmiede, die Schneider. Spione für die Festung.

Den ganzen Tag lang hatte sie darüber gegrübelt.

Die gesamte Abteilung anzugreifen, also das völlige Haus, in dem sich Lady Wonur in der Nacht aufhielt, war reiner Wahnsinn. Es zu planen würde mehrere Tage in Anspruch nehmen. Bis dahin hätten sie ihren Standpunkt schon gewechselt und die ganze Arbeit wäre umsonst gewesen.

Diese Verräter wussten, wie sie sich in Soluray verstecken konnten. Sie wussten sich zu verteidigen und den Menschen der Stadt das Leben schwer zu machen. Sie waren wie einige korrupte Winzlinge mitten in einem Ameisenhaufen. Rebell war das richtige Wort für Schrecken um diese Zeit des Krieges. Noch nie waren sie so flink und wandelbar gewesen. Noch nie hatten sie so viele Möglichkeiten gehabt unterzutauchen.

Und doch – Vira war voller Elan. Es musste getan werden.

Sie würde es heute Nacht beenden.

4

Stunden vergingen. Tage vergingen. Wochen vergingen.

Hier, in der Dunkelheit, gab es keine Zeit. Nur Dunkelheit. Und Warten.

Schmerz.

Leise schluchzend blieb ich reglos liegen. Ich war allein mit der Schwärze um mich herum. Keiner antwortete. Es blieb still.

Totenstille.

Ich blickte in die Dunkelheit und nahm meine kalten Fingerspitzen wahr. Die Kälte wanderte weiter meine Arme hinauf, an meiner Taille hinunter bis zu den Zehen. An den Waden wieder hinauf bis in mein Herz, wo sie klirrend verblieb. Mein Schädel pochte. Trotzdem blieb ich liegen.

Sand würde knirschen bei all meinen Bewegungen. Sand knirschte auch zwischen meinen Zähnen. Der Sand war überall. Er klebte und rieb auf jeder Handbreit Haut auf meinem Körper.

Ich lag auf dem Rücken, mein dünnes Nachthemd war schweißtrunken und Tränen rannen mir still über die Wangen. Sie hinterließen salzige Spuren, sie nahmen immer wieder den gleichen Weg, bis sie sich in meinen verfilzten Haaren sammelten. Nicht einmal diese gaben in dieser Schwärze ein klein wenig Licht. Meine Halskette schien Tonnen zu wiegen und mir schwer wie ein Pferd auf die Brust zu drücken. Ich konnte nicht atmen.

Klar denken konnte ich schon lange nicht mehr. Das tat der Schmerz. Er entlockte mir alles sagende Schreie und Schluchzer. Ich war nicht mehr als ein geschundener Körper dort unten. Gedemütigt und ausgelaugt. Umschwirrt von seiner kranken Stimme und seinen leeren Versprechungen.

Lediglich ein paar Erinnerungen drangen zu mir durch. Verzerrt und zu schön, um wahr zu sein. Sie weckten etwas in mir, das mir half den Schmerz zu ertragen. Und doch erlosch es immer wieder. Nur für kurze Zeit vermochte ich zu träumen von Bruchstücken von etwas, eines Lebens, an das ich mich nicht erinnern konnte.

Die Träume fingen an mit seinem weichen Fell. Intensives Rotorange. Dick gegen die Kälte, geschmeidig gegen den Wind. Weich in meiner Handfläche. Dieses Gefühl blieb mir immer am längsten von diesen atemzuglangen Gedanken.

Dann noch glückliches Lachen einer Mutter, die ihre Kinder wieder um sich weiß. Ein leises Summen, beruhigend und heilend, mit der dazugehörigen kleinen Hand, die sich sanft auf meine Stirn legt. Das Gefühl harter Muskeln und starker Arme. Seidige Federn, die im Sonnenlicht glänzten. Und wieder er, seine gelbgrünen Augen. Sein Körper so nah an meinem, dass dort kein Wind mehr dazwischen Platz fand. Er war um uns, verband uns.

Dann war da noch sie. Eine kleine und schwache Anwesenheit. Ein minimaler Glaube an mich. Ich saugte ihn gierig auf und war in der Lage auch noch den nächsten Schmerz zu überstehen.

Noch nicht alles war verloren. Nicht nur sie gab mir Kraft.

Wörter, die mich noch hier hielten, eine Ebene unter dem echten Leben. Mir halfen, noch nicht ganz aufzugeben. Namen, verlorene Gesichter.

Liben. Miranu. Hur. Arel, Lina, Sainor, Nail.

Kuna.

Mein Licht in der Leere und meine Kraft in Momenten des Schmerzes.

Aufgeben war noch nie meine Stärke gewesen.

„War das schon alles …?“, wisperte ich heiser und stützte mich auf einen Ellbogen.

5
In Soluray – Vira

Vira sah auf.

Ihre Ohren gespitzt, ihr goldenes Fell gesträubt.

Jemand war noch im Haus. Sie lauschte. Schritte waren an der Tür zu vernehmen. Vier Paar Schritte. Leise Schritte auf dünnen Sohlen, weiche Tücher, die sich nur mit einem leisen Rascheln bewegten. Ein feiner Duft von Weihrauch und Kohle, mit der sie sich manchmal Muster um Augen und Hände malten.

Drei Diebe.

Und noch jemand. Die vierte Person trug einen langen schweren Mantel, der auf dem hölzernen Boden strich. Die vierte Person war die einzige Frau, sie roch anders und mehr nach … Tier. Ein Moony. Roch auch sie nach Weihrauch?

Vira richtete sich auf, trat über einen toten Rebell in den Gang hinaus und sah ihnen entgegen. Es war dunkel, doch sie erblickte dennoch die vierte Gestalt als Erstes. Sie sah ihr bereits entgegen, beschenkt mit demselben Gehör und denselben scharfen Augen wie Vira. Eine Moony durch und durch. Sie war groß und schlank. Ihre Kleidung unter dem Mantel bestand aus Fellen und Riemen, die nicht nur die Felle, sondern auch allerhand Waffen über ihren Muskeln befestigten. Sie machte einen halben Schritt auf Vira zu, trat vor die Diebe und musterte sie ebenfalls. Die Art, wie sie sich bewegte, so sicher und wachsam, erinnerte Vira schlagartig an Omar und Verus.

„Lady Vira?“, sprach ein Dieb, als er an der Moony vorbei auf sie zuging. Seine Tücher bedeckten schier sein ganzes Gesicht genauso wie den Rest seines Körpers. Hinter seinem linken Auge zierte ein verschlungenes Muster seine Schläfe.

„Ja, ich bin hier.“ Mit diesen Worten trat Vira einen weiteren Schritt in den Gang und wurde nun durch die letzte brennende Fackel beleuchtet.

„Ihr habt das Lager allein angegriffen?“

„Ja, das habe ich. Ich hatte gute Gründe. Ich hörte, dass schon mehrere Männer dieses Haus verlassen hatten, um ein neues Versteck zu suchen. Mehr habe ich nicht verstanden.“

„Der Anführer?“

„Er war nicht anwesend. Möglicherweise in einem anderen Haus.“

„Generäle?“

„Niemand. Sie würden Soluray nur aufsuchen, um mit dem Anführer der Stadt zu sprechen. Und das war dieser hier ganz bestimmt nicht.“

Der Dieb atmete tief durch. „Gefangene?“

„Ja.“ Und auf diese unerwartete Antwort hin weiteten sich die Augen des Mannes einen Moment verwundert.

„Wer?“

Vira zögerte einen Moment. „Lady Wonur. Sie war im Kriegsrat.“

„Eine Lady? Aus dem Kriegsrat? Bei den Rebellen?“

„Nehmt sie mit und bringt sie Riuk. Sie ist bewusstlos, ich muss bald wieder in die Burg. Findet heraus, wie sie in Kontakt mit ihnen gekommen ist oder ob sie die Festung schon mit dem Willen betreten hat uns zu verraten.“

Der Dieb nickte langsam, sah auf die ein Dutzend toten Rebellen im ersten der zwei Zimmer rechts von ihm und die weiteren Reglosen im Gang vor ihm. Er sah nicht, wie viele im Zimmer hinter der Lady lagen. Er überlegte, wie er die Gefangene transportieren sollte, dann kam er abermals auf seinen eigentlichen Grund für die Suche nach Lady Vira zurück.

„My Lady, wir haben Kunde von Riuk.“ Auf diese Worte des Diebes hin riss sich Vira aus dem tiefen Blick des Moonys los und sah ihn wieder scharf an. „Er schickt euch Hilfe …“

„Ich brauche keine Hilfe“, unterbrach ihn Vira barsch. „Und Riuk weiß das. Ich will nicht, dass irgendjemand unter meinem Kommando zu Schaden kommt.“

Der Mann schnaubte und wartete, bis Vira wieder auf seine Worte horchte. „Riuk weiß natürlich um eure Wünsche, doch auch er gibt euch Informationen weiter und auch er bietet euch Schutz, wenn ihr verletzt seid oder verfolgt werdet.“

Der Dieb wartete. Viras Stimme verhehlte nicht ihre Abneigung. „Dann ist das so etwas wie eine Gefälligkeit, die ich ihm schulde? Seine Hilfe anzunehmen?“

„Es ist eher eine weitere Gefälligkeit seinerseits. Er gibt euch noch weitere Informationen und eine helfende Hand dazu, die ihr, ich zitiere, bestimmt nicht ablehnen werdet.“ Er hob die Augenbrauen bis unter seine Tücher hinauf und sah deutlich zu Vira, dann zu der Gestalt an seiner Seite, die ihn um ein paar Handbreit überragte. Vira sah wieder zu ihr. Sie sah dunkel aus.

Und als sie die Kapuze ihres Umhangs zurückschlug, da dachte die Lady abermals dasselbe: Sie sah dunkel aus.

Schwarze lange Locken hingen ihr lose über den Rücken und die Schultern nach vorne und ihre Augen schimmerten ebenfalls schwarz im flackernden Licht der Fackel. Ihre Hände und ein Teil ihres rechten Auges, über die Schläfe bis hinab an ihren Hals und unter ihren Fellen weiter, waren wie bei den Dieben mit Mustern bedeckt. Jedoch feinere, filigraner gearbeitete und dauerhafte Muster. Schwarze Farbe tief in der dunklen Haut der jungen Frau.

„Darf ich vorstellen, Lady Vira“, murmelte der Dieb. Er und seine beiden Begleiter traten einen Schritt zurück. Sie warteten auf die Worte der Fremden.

Auch Vira wartete angestrengt. Gänsehaut strich ihr über den Rücken, wenn sie in die Augen der Moony sah. Eine leise Ahnung aus ihrer Erinnerung ließ sie nicht los.

Als die fremde Gestalt schließlich mit einer fast rauen, ruhigen Stimme zu sprechen begann, noch im Akzent des Nordens und den seltsamen Umlauten des entferntesten Nordens, da lief es nicht nur Vira erneut eiskalt den Rücken hinunter.

„Ich komme aus dem Norden“, sagte sie deutlich und langsam, „aus der Festung der Königin und den Bergen dahinter. Ich komme im Auftrag von Dol und Riuk. Ich bin ein Moony, ausgebildet unter Verus und Omar. Ich habe Kenntnis über die ältesten Schriften des Schlosses unserer Herrscherin und ich weiß um die Bedeutung der Männer des Windes sowie um die der Frauen des Windes. Ich kenne den Grund für die Stimmen in Miranus, Eurem und meinem Kopf. Ich bin auf der Suche nach Zoe, der einen, die den Tod bezwungen hat, und ich bin hier, um mit euch zu kämpfen.“