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„Es scheint kein Zufall, dass das Theater der Dinge immer weiter in das künstlerische und menschliche Interesse rückt, ist es doch mit einer Form von Wahrnehmung verbunden, die das ‚vergessene Menschliche‘ (Walter Benjamin) an den Dingen ebenso meint wie die Bereitschaft, diese Theaterform als jenen Ort des ‚Dazwischen‘ zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Göttern und Menschen …“

Silvia Brendenal

Lektionen 7

Theater der Dinge

Ein Gemeinschaftsprojekt von Theater der Zeit,
der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin,
dem Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspiel e. V. und
der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart

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Lektionen 7
Theater der Dinge
Puppen-, Figuren- und Objekttheater
Markus Joss und Jörg Lehmann (Hg.)

© 2016 by Theater der Zeit

Verlag Theater der Zeit
Verlagsleitung Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer
Gestaltung: Sibyll Wahrig

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-069-8
eISBN 978-3-95749-107-7

Lektionen 7

Theater der Dinge

Puppen-, Figuren- und Objekttheater

Markus Joss und Jörg Lehmann (Hg.)

VORWORT

Silvia Brendenal

DIE PUPPE, DIE FIGUR – DAS DING

Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart des Puppen- und Figurentheaters

I. THEATER DER DINGE – EINE GESCHICHTE

MAGIE, RITUALE, MASKEN – DAS THEATER DER DINGE IM ANTIKEN GRIECHENLAND

Jörg Lehmann

Quelle 1

Sigmund Freud Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken

Quelle 2

Richard Weihe Die Masken der Tragödie

Quelle 3

Ernst-Frieder Kratochwil Kultischer und nichtkultischer Gebrauch von Masken und Figuren

FLIEGENDE ENGEL UND BUCKLIGE DÄMONEN

Florian Feisel und Markus Joss

Quelle 4

Anke Meyer Kasper – Spaßmacher mit Migrationshintergrund

Quelle 5

Kamil Kopania Puppentheater im Mittelalter – Neue Sichtweisen

Quelle 6

Abraham von Souzdal Rekonstruktion der tramezzo-Bühne

DIE MENSCHEN WERDEN MECHANISCH

Markus Joss

Quelle 7

Florian Nelle Das Theater als neue Welt

Quelle 8

Robert Jütte Das große Buch des menschlichen Körpers

Quelle 9

Wenzel Mraček Imitation des Lebens – was die Schildkröte uns lehrt

LITERARISIERUNG UND ENTZAUBERUNG: UND IN LEIPZIG WIRD EINE (KEINE) PUPPE VERBRANNT

Jörg Lehmann

Quelle 10

Enno Podehl Der unzeitgemäße Narr

Quelle 11

Gotthard Feustel Die europäische Aufklärung

Quelle 12

Lars Rebehn Johann Georg Geisselbrecht – Ein verkanntes Puppenspiel-Genie der Goethe-Zeit

GOTT ODER GLIEDERMANN. DIE PUPPE TANZT – UND WIRD ZUR METAPHER

Jörg Lehmann

Quelle 13

Heinrich von Kleist Über das Marionettentheater

Quelle 14

Lars Rebehn Kleist: Über das Metamorphosen-Theater

SEHNSUCHT NACH DEM GESAMTKUNSTWERK – UND DER ZWEIFEL AN DER SPRACHE

Jörg Lehmann

Quelle 15

Maurice Maeterlinck Androidentheater

Quelle 16

Richard Wagner Über Schauspieler und Sänger

Quelle 17

Richard Teschner Aus einem Brief an Paul Brann, undat. [zwischen Mai und Juli 1906]

NEUE KÖRPER AUF DIE BÜHNE – DAS THEATER DER HISTORISCHEN AVANTGARDEN

Markus Joss

Quelle 18

Guido Hiß Der Fall Jarry

Quelle 19

Edward Gordon Craig Der Schauspieler und die Über-Marionette

Quelle 20

Oskar Schlemmer Mensch und Kunstfigur

Quelle 21

Oskar Panizza Das Wachsfigurenkabinett. Abendmahl

GEGENWART I – DAS MATERIAL, DAS EREIGNIS, DIE NAHT

Markus Joss

Quelle 22

Tadeusz Kantor Die Realität des niedrigsten Ranges

Quelle 23

Meike Wagner Körper-Störung. Mediale Thesen zum Puppentheater

Quelle 24

Tim Sandweg Wir werden euch verzaubern – Versprengte Thesen, warum wir die Zukunft sind

GEGENWART II – DIE LITERATUR, DIE PUPPE, DAS ZEIGEN

Jörg Lehmann

Quelle 25

Knut Hirche Telefonat zwischen K.H. und M.H. – Aufgezeichnet am 4.9.1988, 23.10 Uhr

Quelle 26

Holger Teschke Im Theater der Dinge

II. GRUNDLAGEN DER AUSBILDUNG

Methoden

Hartmut Lorenz

DER LANGE WEG ZUR AUSBILDUNG

Puppenspielkunst unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungszone und der entstehenden DDR

Werner Knoedgen

DEN WIDERSPRUCH ZWISCHEN LEHRE UND KREATION AUSHALTEN

Jörg Lehmann

WISSEN, REFLEKTIEREN UND DIE BEFÄHIGUNG, DIE RICHTIGEN FRAGEN ZU STELLEN

Animieren

Melanie Sowa

DAS SPIEL MIT OBJEKTEN

Florian Feisel

RAUS AUS DER MITTE!

Wie das Verschieben des Schwerpunktes Platz für fremde Körper schafft

Friedrich Kirschner

DIGITALE OBJEKTE

Sprechen und Spielen

Ulrike Völger

SPRECHEN UND STIMME IM THEATER DER DINGE

Hans-Jochen Menzel

IMPROVISATION

Astrid Griesbach

MASKE – ZEIGEN DURCH VERDECKEN

Julika Mayer

DEN ZUFALL PROVOZIEREN

Arbeitsweisen, Praktiken und Ansätze im Fach Animation

Bauen und Führen

Karin Tiefensee und Ingo Mewes

EIN WERKSTATTGESPRÄCH

Michael Mordo

MARIONETTENBAU

Die Hände, die die Marionette bauen, und diejenigen, die sie spielen, sind die gleichen

Regina Menzel

PUPPENFÜHRUNGSTECHNIK

Die Fähigkeit, Puppen zu führen

Netzwerken

Susanna Poldauf

KLAPPERN GEHÖRT ZUR KUNST

Kulturmanagement für Puppenspieler

III. AUSBILDUNGSSTÄTTEN

Hochschulen im deutschsprachigen und internationalen Raum

Das Theater, die Welt des Scheins, gräbt sich sein Grab,

je mehr es sich um Wirklichkeit bemüht, und der Mime desgleichen,

wenn er vergisst, dass er vor allem künstlich ist. Die Mittel jeder Kunst

sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das Erkennen und

Bekennen ihrer Mittel.

Oskar Schlemmer, Tagebuch, September 1922

VORWORT

Das Gespräch mit Theatergängern oder -machern, die dem Puppenspiel, dem Figuren-, Objekt- oder Maskentheater, dem Schattenspiel oder Materialtheater … also all den Spielarten der Darstellung, die wir hier unter dem Oberbegriff THEATER DER DINGE zu fassen suchen, verbunden sind, kommt oft geradezu unweigerlich auf Erweckungserlebnisse. Das sind erste, überraschende, oftmals ausschlaggebende Begegnungen mit dieser Form von Theaterkunst. Meist sind es Liebeserklärungen.

Eine geht so: An einem heißen Sommertag in den 1990er Jahren saß ein frisch gebackener Absolvent der Fachrichtung Literatur- und Theaterwissenschaften in einem Keller der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und schaute kritisch-interessiert auf das Spiel eines Studierenden des Studiengangs Puppenspielkunst. Der Spieler probte an seinem Diplomstück und hatte ihn „dazugeholt“, er hätte „das doch studiert“, … außerdem waren sie befreundet, „komm doch mal vorbei“. Da saß er also und schaute angestrengt auf den ersten Versuch einer Szene, in der begehrt wurde. Diese steckte tief in der dadaistischen Logik einer Prosageschichte von Kurt Schwitters: Amanda, „die schönste Frau des Ozeanriesen Paffnich …“, und ihr Held Nasebyll hatten sich unter einem fadenscheinigen Vorwand endlich den Blicken der Mitreisenden ent- und in die Kabine des Kapitäns zurückgezogen. Nun ging es um einen der schwierigsten Vorgänge, nicht nur im realen Leben, sondern vor allem auf der Bühne: die beginnende Liebe zweier Menschen. Amanda begehrte Nasebyll, er sie – aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu wagen, das erlösende Wort zu sprechen. Wie oft hatte man sich bei der Bebilderung eines solchen sehr besonderen Moments schon fremdgeschämt, zu Hause auf dem Sofa, bei der Betrachtung einer Vorabendserie ebenso wie im Zuschauerraum des Stadttheaters. Der plötzlich zum Regisseur Erklärte hatte für diesen Vorgang keinen Vorschlag und versuchte, sich in einen unbestimmten Gesichtsausdruck zu retten. Trotz Kellerraum war es warm im Scheinwerferlicht. Der wiederholt suchende Blick in den Text hielt keine Rettung bereit. Die beiden Puppen warteten auf dem Spielbrett. Das Meer rauschte und die Zeit tropfte herein.

Da griff der Spieler an Amandas, so Schwitters, „schlanken Blusenhals“ (Amanda war eine Tischpuppe und hatte aus zu diesem Zeitpunkt vom plötzlichen Spielleiter noch nicht hinterfragten Gründen statt Beinen zwei Rollen), zog diesen etwas nach oben, ließ sie zu Nasebyll hinüberlugen, der immer noch so tat, als betrachte er durch das Bullauge, das eine Lupe war, das Meer: und dann fuhr Amanda auf ihren Rollen langsam, in zuerst unmerklichen, winzigen Bewegungen vor und zurück, hin und her, um dabei immer wieder (wie jetzt deutlich zu sehen war) schüchtern zu ihm zu blicken, dabei tanzend, wie ein Uhrpendel: eine poetische Unmöglichkeit. Ungeduld, Zögern, Warten, zum Sprung Ansetzen, die Angst, der Moment könne misslingen, keine Worte zu haben: Das alles war in dieser schlicht anmutenden Bewegung enthalten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ stand unmittelbar und in großen Lettern im Probenraum. Und dieser Zauber wurde zum Ereignis: Es quietschte, erst leise, dann unüberhörbar. Die Rollen aus Holz, das Material spielte beim Begehren mit, gaben den Rhythmus, die Atmosphäre des Vorgangs vor, die Szene war unendlich lustig, traurig, absurd, vor allem aber – beängstigend menschlich. Kein Wort war gesprochen worden, die Dinge spielten Theater.

Von diesem Moment an war der bis dato im eher akademischen Blick auf das Theater geschulte temporäre Spielleiter mit etwas ihm bisher Unbekanntem nachhaltig infiziert und blieb, nicht nur für die Dauer dieser Probe, neugierig auf seinem Stuhl sitzen, das Quietschen in der Inszenierung und eine Frage im Kopf.

Das Zustandekommen des vorliegenden Buchs ist vom anhaltenden Wunsch der Herausgeber beflügelt, den Zauber, das Überraschende des Anfangs dieser ersten Begegnungen mit dem Theater der Dinge im Nachhinein vielleicht besser lesen, verstehen zu können. Um der Frage nachzugehen: Was ist das Besondere, die Kraft, letztlich das magische Andere dieser Theaterform? Was ist es, das da von der Bühne herab in einer unerhörten Leichtigkeit, aber mit Nachdruck nach uns greift? Ist die Puppe, der Schatten, das Objekt, das Ding vielleicht so etwas wie das „mythische Element“ des Theaters?

Dieses Buch will eine Handreichung für all diejenigen sein, die sich für Spielformen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters interessieren. Wir fassen diese Spielarten der Darstellenden Kunst in dieser Publikation unter den Begriff Theater der Dinge und stellen dessen Spezifik und Historie, die Ausbildung und mögliche Arbeitsfelder vor. Durch Bündelung verstreuter Veröffentlichungen und durch eine Vielzahl von für diesen Band entstandenen Texten und deren Zusammenstellung wird eine Lücke im Diskurs und der Wahrnehmung dieser innovativen Spielart von zeitgenössischem Theater für Theaterschaffende, Lehrende und Lernende geschlossen.

Der 1. Teil des Buches ist der Historie gewidmet und beginnt mit einem einführenden Essay von Silvia Brendenal, in welchem die Bandbreite gewachsener Spielweisen im Theater der Dinge aufgezeigt wird. Es folgen in chronologischen Kapiteln Schlaglichter auf jene Momente der Geschichte des Gegenstandes, in denen die Puppe, das Objekt, das Ding auf der Bühne selbst zum Protagonisten, zum Impulsgeber für das jeweilige Theater wurde oder aber den Referenzpunkt für avantgardistische Entwürfe darstellte. Historische Quellen, Aufsätze und Gespräche werden zu diesen Momentaufnahmen geordnet und durch einleitende Texte der Herausgeber gerahmt.

Der 2. Teil des Bandes stellt die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater im Rahmen eines Studiums an einer Kunsthochschule vor.

Die Möglichkeit eines solchen Studiums ist in der deutschen Bildungslandschaft relativ jung. 1971/72 wurde der Studiengang Puppenspielkunst an der damaligen Staatlichen Schauspielschule, heute Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin gegründet. 1983 folgt der Studiengang Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. In den ersten Beiträgen des Kapitels kommen die langjährigen Leiter der beiden Studiengänge zu Wort und wir erfahren etwas über die gesellschaftliche Situation, in der diese Gründungen stattfanden, und einiges über die sich rasch abzeichnenden differenten methodischen und ästhetischen Feldbestimmungen.

Beiden Gründungen gemeinsam ist die Zuordnung der Studiengänge zu Hochschulen der Darstellenden Kunst, Studienziel in Stuttgart wie in Berlin ist die Entwicklung der Studierenden zu Darstellenden Künstlerinnen und Künstlern. Beiden Studiengängen ist aber immer auch eine starke Affinität zur Bildenden Kunst eigen, das Potential des Theaters der Dinge entspringt u. a. aus der Verortung an genau dieser Schnittstelle. Folglich sieht sich auch die Ausbildung in dieser Form der Darstellung mit der besonderen Herausforderung konfrontiert, die Elemente und Einflüsse aus Theater und Bildender Kunst sichtbar zu machen, innerhalb des Studiums zu gewichten, sie in wechselseitiger Beeinflussung nutz- und erlebbar zu machen – das ist die Kraftquelle, aber auch eine Herausforderung an Lehrende und Lernende zugleich, mitunter bis zum methodischen und künstlerischen Spagat.

Nach diesen beiden Texten zur Geschichte der Studiengänge berichten dann gegenwärtig Lehrende beider deutscher Hochschulen in Form von Essays und Gesprächen über ihre Setzungen, Erfahrungen und Visionen in und für ihre jeweiligen Ausbildungsbereiche. Dabei wurde versucht, das Studium der Zeitgenössischen Puppenspielkunst in Berlin und des Figurentheaters in Stuttgart nicht streng nach dem jeweiligen Curriculum abzubilden, sondern einzelne Bereiche von zu erlernenden Tätigkeiten und Fertigkeiten unter Schlagworten zusammenzufassen.

Teil 3 des Buches versammelt neben den wichtigsten Daten, Bewerbungszeiten etc. der beiden deutschen Hochschulen die Adressen und Kontaktmöglichkeiten aktueller Ausbildungsstätten.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Aufzählungen durchgängig die maskuline Schreibvariante verwendet.

Wir möchten uns ganz herzlich bei unserer Lektorin Nicole Gronemeyer für ihre leisen, aber beharrlichen Hinweise und bei Silvia Brendenal für freundschaftliche Beratung, Ansporn und elementare Unterstützung bedanken.

Markus Joss und Jörg Lehmann

Berlin, Juli 2016

Silvia Brendenal

DIE PUPPE, DIE FIGUR – DAS DING

Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart des Puppen- und Figurentheaters

Kasper tauscht Bett und Sarg mit der Großmutter. Er, der von der Staatsmacht Gejagte und zum Tode Verurteilte, versteckt sich in ihrem Bett, sie, die Todessehnsüchtige, kann sich endlich vom Leben verabschieden und es sich in entsprechend schönem Sarg gemütlich machen …

Einem Tänzer begegnet sein Alter Ego in Puppengestalt. Leidenschaftlich, vehement der Tanz dieses ungleichen Paares. Anziehung schwingt ebenso mit wie Ablehnung, der kurze Moment der Wahrhaftigkeit versucht, dem magischen der Illusion zu widerstehen …

Auf der Bühne die Performerin in golden leuchtendem, plissiertem Gewand. Mit nur wenigen Haltungen und Gesten deutet sie die dargestellte Figur an: Kleopatra. Skulptur, Maske, die Augen blind. Auf Gesicht und Körper projizierte Filmaufnahmen verfremden ihre starre Künstlichkeit …

Eine Figurenspielerin nimmt ihre vogelhaft anmutende, nahezu zerbrechlich wirkende Puppe auf die Schulter. Gemeinsam heben sie an zum Flug des Ikarus, zum Versuch, den Zwängen der Realität zu entkommen …

In buntes Papier eingewickelte Bonbons verwandeln sich in eine Schar spielender Geschöpfe. Aus dem Spiel schließen sie jenes aus, dessen Papierhülle eine andere ist. Vergessend, dass es auch ihr Schicksal ist, ausgewickelt und gelutscht zu werden …

Dies sind nur einige szenische Bilder aus dem breiten Spektrum der Ausdrucksformen des Theaters der Puppen, der Figuren, der Dinge, die von der künstlerischen Vielfalt dieses Theaters erzählen und gleichzeitig dessen Beziehungen zur Bildenden Kunst, zur Performance, zum Tanztheater, zum Schauspiel, zur virtuellen Medienwelt belegen. In kaum einer anderen Theaterkunst vollzog sich in den letzten drei Jahrzehnten eine so tiefgreifende, genreübergreifende Entwicklung wie im Puppen- und Figurentheater, kaum eine andere Bühnenkunst bewegte sich so gelassen und selbstverständlich auf jenem vielbeschworenen und oft gefürchteten Pfad der Grenzüberschreitungen.

Brunella Eruli, italienische Kunstprofessorin, fasste dieses Phänomen in einem prägnanten Satz zusammen: „Die gegenwärtige Theaterszene scheint von einem Gespenst heimgesucht zu werden: dem Gespenst der Puppe.“1 Wie viel Faszination, Irritation und Unerklärliches steckt in diesen Worten, die wohl auch das Unaufhaltsame der Entwicklung meinen. Die Puppe hat sich nach und nach mit den Schwesterkünsten des Theaters verbunden, folglich wurde die Öffnung des Genres vollzogen. Und trotz jener Stimmen, die vehement davor warnten (die Puppe riskiere den Verlust ihrer Tradition und damit den ihrer Wurzeln und letztlich ihrer Seele), scheint eine neue Generation von Regisseuren und Darstellern herangewachsen zu sein, die die Puppe mit neuem, vorurteilsfreiem Blick betrachten und in ihr die Trägerin kraftvoller Ideen und ursprünglicher Sichtweisen auf Ausdrucksmittel sehen, die das heutige Theater ausmachen: Körper, Material, Stimme, Bild, Wort und Raum. Das heißt, bzw. könnte heißen, dass sich das Puppen-, Figuren-, Objekt- oder Materialtheater und deren Schwesterkünste gegenwärtig in der gemeinsamen Suche nach einer Theatersprache begegnen, die die althergebrachte Beziehung von Subjekt und Objekt, von Rolle und Darstellung infrage stellt und die einem gewandelten bildnerischen bzw. ästhetischen Konzept zuzuordnen ist. Trotz des laut vernehmbaren Schreis nach Abgrenzung und Schutz des Genres lag und liegt in dieser gemeinsamen Suche eine unglaubliche schöpferische Provokation für das Puppen- und Figurentheater: Zurückgeworfen auf sich selbst durch die „fremde“ Aufmerksamkeit, ist es herausgefordert, immer wieder und neu das Eigene, das Besondere zu behaupten, somit den Belebungsprozess / die Animation als den zentralen Gestaltungsvorgang der Kunst des Puppenspiels immer wieder ins Zentrum jeglicher künstlerischen Auseinandersetzung zu rücken.

Und wo das geschieht, spricht die Puppe, das Objekt, das Ding seine eigene leise, unüberhörbare Sprache – wie in dieser Szene: Stille. Das Licht im dunklen Bühnenraum richtet sich auf einen länglichen Kokon. Eine Hand schält sich daraus hervor. Ein Rucken, ein Kratzen, ein Hin-und-her-Schwingen, schließlich fällt ein kleines Wesen heraus. Ein Mensch, androgyn, bar jeglicher Geschlechtsmerkmale. Abbild der Schöpfung an und für sich, das wagt, auf dem hoch oben gespannten, schwankenden Seil einen Abgrund zu überqueren, unbekanntem Ziel entgegen. Schritt für Schritt nähert es sich den wartenden menschlichen Händen – Halt und neuerliche Gefahr zugleich.2

Dass diese kunstvolle Sprache in Deutschland dennoch oft nicht gehört wird, bzw. überhört wurde und das Figurentheater wie kaum eine der anderen Darstellenden Künste um seine gesellschaftliche bzw. kulturpolitische Anerkennung ringt und ringen muss, hat seine Ursache vor allem darin, dass das Verständnis vom Puppen- und Figurentheater nach wie vor geprägt ist durch Klischees und Vorurteile.

Puppen- und Figurentheater, im öffentlichen Bewusstsein dem Kindertheater zugeordnet – was zunächst nichts Ehrenrühriges hat, wird doch das Repertoire des Puppen- und Figurentheaters tatsächlich von Inszenierungen für Kinder dominiert –, wird in vielen Fällen als pädagogisch-didaktisches Instrument verstanden, wird degradiert zur Kinderbelustigung, oft gleichgesetzt mit inhaltsloser Belanglosigkeit.

Eine andere künstlerische Realität wurde und wird von den Puppenspielern geschaffen. Ihre phantasievollen, poetischen Produktionen für Kinder verblüffen nicht nur durch den ungewöhnlichen ästhetischen Zugriff, sondern vor allem durch das schöpferische Bündnis, das die Macher mit den kindlichen Zuschauern eingehen. Schließlich machen die kleinen Zuschauer oft sicht- und erlebbar, was im Theater gewöhnlich verborgen bleibt: den aktiven Prozess des Wahrnehmens.

Auch das Puppen- und Figurentheater für Erwachsene – lange Zeit dem offiziellen Kunstbetrieb nicht mehr als eine Randnotiz wert – hat sich inzwischen zu einer unverrückbaren künstlerischen Größe in der deutschen Theaterlandschaft entwickelt. Seit über vier Jahrzehnten stellen sich Puppen- bzw. Figurenspieler, ausgebildet an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst, oder im Studiengang Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, der ästhetischen Herausforderung, die sich hinter der szenischen Entdeckung des Verhältnisses von Spieler und Figur, Körper und Material verbirgt. Entstanden sind viele herausragende Inszenierungen – jede für sich künstlerischer Ausdruck des stetigen Wandels der Beziehung zwischen den Akteuren und dem Material, sowie der Bereitschaft der Macher, die Grenze zwischen dem Wesen der Körper und dem Wesen der Dinge spielerisch zu überschreiten.

In der Bühnenadaption von Alessandro Bariccos Roman Novecento, in dem die Geschichte des Mannes erzählt wird, der Zeit seines Lebens das Schiff nicht verlassen hat, auf dem er geboren wurde, der die Gabe besaß, die Menschen zu erkennen, die Zeichen zu lesen, die sie trugen, und der sich entschied, mit dem Schiff, das gesprengt werden wird, zu sterben, haben Regie und Darsteller für diesen Moment des Todes ein Bild gefunden, das nahezu selbstverständlich diese „Überschreitung“ thematisiert: Der Darsteller löst sich von den Hüllen, die Novecento vorgaben, entkleidet sich bis auf die Haut, verlässt den Dampfer und kriecht in einen durchsichtigen, aufgeblasenen Ballon, der seinen nackten Körper aufnimmt. Als verpuppe er sich, rollt er sich in dieser durchscheinenden Hülle zusammen. Im grellen Lichtkegel entsteht der Eindruck, er schwebe einem Embryo gleich im Bühnenraum. Langsam, sehr langsam erlischt das Licht. Mensch und Material, Leben und Tod – so spürbar nahe.3

Die Puppe – auch wenn sie sich beharrlich zu wehren suchte, sie ist es, die die radikalste Wende in den vergangenen Jahrzehnten deutscher Puppen- bzw. Figurentheatergeschichte erfuhr. Nicht nur, dass in der Zeit politischer Wende, der Wiedervereinigung, unterschiedliche Theatersprachen aufeinandertrafen, auch das Verhältnis zur Puppe als Bühnengestalt hätte unterschiedlicher nicht sein können. In der DDR bekannten sich die Puppentheatermacher ganz bewusst zur Puppe, was einem politischen Statement gleichkam. Ging es doch auch um ein Bekenntnis zu einer Puppenspiel-Tradition, die per Doktrin nahezu zerstört worden war und dessen künstlerischer Anspruch sich in dem Begriff Puppenspielkunst formulierte, den Konstanza Kavrakova-Lorenz so definierte: „Puppenspielkunst – was ist das? Das Wort selbst, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt und als kürzeste Bezeichnung eines Programms auffasst, weist auf bestimmte Materialien (Puppe), auf Machart (Spiel) und auf Ziele bzw. Absichten (Kunst) hin. Alle drei Worte sind Begriffe, die einen sehr breiten historischen, kulturellen und sozialen Hintergrund besitzen und mit diesem Kontext, der individuell interpretierbar ist, in die Verknüpfung ‚Puppen-Spiel-Kunst‘ eingehen.“4

In den alten Bundesländern etablierte sich eine künstlerische Bewegung, die der inzwischen durch den Kommerz verschlissenen Puppenspiel-Tradition das kunstvolle, in Produktions- und Wirkungsweise völlig neue Verständnis eines Theaters entgegensetzte, das die Wechselbeziehung zwischen Mensch und gestaltetem Material, zwischen Lebendigem und Leblosem thematisierte. Begriffe wie Figurentheater, Material- oder Objekttheater etablierten sich, fassten Fuß und schufen zunehmend ein anderes öffentliches Bewusstsein für ein anderes Theater.

Eine Frau sitzt an der Nähmaschine. Sie näht Bettbezüge. Bezug für Bezug. Inmitten der tristen Monotonie dieser Tätigkeit entwickelt sich, Naht für Naht, ein absurdes Spiel: Auf Stoffbahnen, Fingerhut, Schere, Stecknadeln, Garn oder Geräusch der Maschine projiziert die Weißnäherin ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Merkwürdige Vorgängen nehmen Gestalt an, spiegeln die innere Zerrissenheit dieser Frau wider, der es am Ende nur mühsam gelingt, sich wieder zusammenzuflicken.5

So die Beschreibung nur einer der zahlreichen Inszenierungen, egal, ob in Ost oder West entstanden, die jene Brücke zu den philosophisch-theatralischen Dimensionen einer Theaterkunst schlugen, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Ding-Welt, zwischen Geist und Materie als eigenständig definierte, die das Entstehen und Vergehen, Beleben und Sterben, Beseelen und Verdinglichen tatsächlich zu ihrem Inhalt gemacht hat.

Und egal, wie man das dem Darsteller zur Seite gegebene Medium künstlerischen Ausdrucks auch nennen mag, ob nun Figur, Objekt oder Material, selbst die Puppe – nur traditionellerweise als Abbild von Mensch oder Tier in verkleinerter Form verstanden, also als eine Nachahmung, die anstatt der echten Menschen in Situationen gestellt wird, in denen sie sich stellvertretend verhält bzw. entsprechend behandelt wird – gesellt sich ihnen selbstverständlich zu, wissend, dass sie alle den Dingen zugehören. Den Dingen, die ihrer Beschaffenheit nach die Funktionen von Bildgestalt und Medium der Darstellung in dieser besonderen Theaterkunst zu übernehmen bereit sind. Theater der Dinge: Vielleicht wird dieser Begriff, den Konstanza Kavrakova-Lorenz für diese besondere Theaterkunst adaptierte und der nicht nur den Gedanken der Liaison von Darstellender und Bildender Kunst beinhaltet, sondern auch eine Bezeichnung für eine Theaterform ist, „die all die Phänomene zusammenfasst, deren Hauptelement ein dingliches ist“, deren Benennungen „auf eine Begegnung zwischen einer theatralischen Tätigkeit des/der Menschen und der Dingwelt in ihrer Darstellungsfunktion“6 hinweisen, irgendwann das Puppentheater, Figurentheater, Objekttheater, Materialtheater, Bildertheater, visuelle Theater aus Erklärungszwängen erlösen. Ist er doch nicht mehr und nicht weniger als eine begriffliche Klammer für all das, was in dieser Kunst an Ausdrucksvielfalt und schöpferischem Reichtum möglich ist. Und es scheint kein Zufall, dass das Theater der Dinge immer weiter in das künstlerische und menschliche Interesse rückt, ist es doch mit einer Form von Wahrnehmung verbunden, die das „vergessene Menschliche“ (Walter Benjamin) an den Dingen ebenso meint wie die Bereitschaft, diese Theaterform als jenen Ort des „Dazwischen“ zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Göttern und Menschen …

Silvia Brendenal (geb. 1949), Studium der Theaterwissenschaft in Berlin, Mitarbeiterin am Theater der Jungen Generation Dresden und Puppentheater Berlin, Redakteurin bei Theater der Zeit, double und Das andere Theater. Von 1992 bis 1997 war sie Direktorin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst und Künstlerische Leiterin des internationalen Figurentheaterfestivals FIDENA in Bochum. Von 1997 bis 2015 war sie Künstlerische Leiterin der Schaubude Berlin sowie zahlreicher internationaler Festivals. 2012 wurde sie zum „Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres“ durch den französischen Kulturminister ernannt und erhielt 2013 den Preis der ASSITEJ für besondere Verdienste für das Kinder- und Jugendtheater.

1Brunella Eruli: „Träger unbekannten Lebens“, in: Silvia Brendenal (Hg.): Animation fremder Körper, Berlin 2000, S. 30.

2Ein(s)ein, Inszenierung der Numen Company, Berlin.

3Inszenierung Novecento, Florian Feisel, Puppentheater Magdeburg, 2004.

4Vorlesungsmaterial von Prof. Dr. Konstanza Kavrakova-Lorenz an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Abt. Puppenspielkunst.

5Die Weißnäherin, Inszenierung des Materialtheater Stuttgart, 1995.

6Kavrakova-Lorenz, a.a.O.

I.

Theater der Dinge Eine Geschichte

MAGIE, RITUALE, MASKEN – DAS THEATER DER DINGE IM ANTIKEN GRIECHENLAND

„Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“

Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Das Theater im antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. steht zweifellos am Beginn einer beschreibbaren Theatergeschichte Europas. Allerdings ist schon solch ein rasch hingeschriebener Satz eine tollkühne Behauptung, berührt die Aussage in diesem Satz doch die zentrale Frage nach den Ursprüngen von Theater und die noch schwieriger zu beantwortende Frage: Was ist eigentlich Theater? Ab welcher Erscheinung eines Spiels, einer Darstellung sprechen wir heute eigentlich von „Theater“? In der attischen Polis werden vor rund 2500 Jahren die seit Urzeiten vorhandenen und praktizierten theatralen Handlungen von Menschen zum ersten Mal belegbar und nachhaltig institutionell gerahmt; das Theater beginnt, sich aus dem rein kultisch-religiösen Bereich und dessen Zweckgebundenheit zu lösen. Ob man allerdings geneigt ist, an diesem Punkt der Entwicklung schon in den aufklärerischen Optimismus Bertolt Brechts einzustimmen, der hier den Sprung aus dem kultischen Bereich heraus in ein Theater vollzogen sieht, dessen Ziel er fortan als Unterhaltung definiert, soll an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Einerseits führen die klare Trennung zwischen Spielenden und Zuschauer, die staatliche Organisation der Aufführungen, die Arbeitsteilung der künstlerisch Produzierenden und der Festcharakter in der Summe mit einiger Sicherheit zu einer neuen Stufe kultureller Kommunikation, zu Theater in seiner institutionalisierten Variante. Öffentlich, zentral und inmitten der Polis werden Fragen gestellt und behandelt, welche die Polis, ihre Verfasstheit und das Leben ihrer Bewohner direkt betreffen. Um es mit dem Romantiker Novalis zu sagen: „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.“ Auf der anderen Seite kann die religiös-kultische Anbindung und Einbindung der Aufführungen attischer Tragödien nicht übersehen werden. Von der Opferung zu Beginn der Feste, der zentralen Rolle des die Götter anrufenden Chores bis zu den verhandelten Stoffen: Das alles nimmt sich als eindeutiger Referenzpunkt in den Aufführungen aus. Aber, und das interessiert uns hier, welche Rolle spielen die Dinge in diesem Transfer aus dem kultischen Denken?

Lange vor diesem ersten Aufscheinen einer theatralen Hochkultur im 5. Jahrhundert v. Chr., von deren Setzungen und Maximen das Theater bis in unsere Gegenwart zehrt, in deren dramatischen Texten wir uns immer noch glauben gespiegelt zu sehen, finden wir bereits Formen theatraler Handlungen der Menschen, die z. B. die attische Tragödie aufnimmt, nutzt, und: auch bändigt. Und wir finden irritierende Gemeinsamkeiten – und wieder die Spur dessen, was wir hier das Theater der Dinge nennen.

Die bei vielen „Naturvölkern“ nachweisbaren Rituale der Opferung etwa haben einen klaren (rituellen) Ablauf, in dem Requisiten, Kostüme und Masken verwendet werden. Gegenstände können beschworen, an Gegenständen können Handlungen vorgenommen werden, die einem Toten oder nicht anwesenden Menschen, Geist, Gott gelten. Ein Ding kann für etwas anderes stehen – das theatrale Prinzip des als ob wird hier bereits sichtbar. Die Ahnen werden durch Dinge personifiziert oder durch deren besondere Behandlung stellvertretend zu Bindegliedern zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit oder Zukunft erfahren. Verwandlung, Ekstase, Rauschzustände werden angestrebt und genutzt, um in existenziellen Situationen Auskunft zu erhalten über den Willen der Götter, den Zeitpunkt der Ernte oder das Ende der Trockenzeit. Kern dieser Vorstellungen oder die Bedingung für dieses Denksystem ist der Animismus, der Glaube an die Beseeltheit auch der Dingwelt. Wie sonst sollte man etwa an einer Puppe aus Stroh eine Handlung ausführen können, die einem dadurch fortan aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Straftäter gilt? Zum Vorstellungs- und Denksystem des Animismus gibt ein Auszug aus Totem und Tabu von Sigmund Freud Auskunft. (Quelle 1)

Diese beiden Axiome – die religiöse Referenz und die die theatrale Kommunikation erst konstituierende Rolle von Dingen (die Maske) – gehen in die Erscheinung der attischen Tragödie ein. Ersteres manifestiert sich in der Gebundenheit der Aufführungen an den Mythos, Letzteres durch das Bindeglied der Maske. Diese konstituiert die griechische Aufführungspraxis in einer Form von Theater, welche zwar mit Menschen über den Menschen reflektiert (Novalis), aber die Götter zum Bezugspunkt hat – und diese sind nur mit Masken darstellbar, welche Richard Weihe beschreibt. (Quelle 2)

Der zentrale Ort, die Keimzelle des Theaters, der kreisrunde Platz der Orchestra, wird auch von den Mitgliedern des Chores nur maskiert singend, tanzend (und betend!) betreten, zentrales Requisit und Referenzpunkt der Handlung ist häufig ein Altar. Dies alles generiert eine Form der Darstellung, die keine Form von Realismus anstrebt, die deutlich auf etwas anderes, nicht in der Realität Vorhandenes verweist. „Zeus, wer immer du auch bist …“, heißt es uns fast ironisch anmutend im berühmten ersten Standlied des Chors in der Orestie des Aischylos. Das Spiel vergegenwärtigt etwas außerhalb Stehendes – und stellt dabei konsequenterweise nicht den Menschen als Spieler in den Mittelpunkt. Das Theater in antiker Zeit verfremdet diesen Menschen und sein Tun mittels Masken, in späterer Zeit auch durch Kothurne (Schaftstiefel mit erhöhten Sohlen), durch das Metrum der verwendeten Sprache, durch Tanz und Gesang.

Die großen Masken, in späterer Zeit noch kunstvoll ausgeschmückt, führen zu grotesken Verzerrungen des Spiels, die Gewänder haben weite, die Gesten optisch vergrößernde Ärmel. Aber auch in den Satyrspielen zeigen sich Überhöhungen des menschlichen Körpers; im derben, auch obszönen Spiel des Mimus etwa ist der allgegenwärtige aufgerichtete und grotesk vergrößerte Phallus zentrales Objekt und Zeichen. Dieses Spiel ist mit unserem gegenwärtigen Begriff des Schauspielens nur unzureichend zu fassen, der Mensch verkörpert nicht den Gott, er zeigt ihn, er verweist auf ihn. Ernst-Frieder Kratochwil spricht daher folgerichtig von Solisten, nicht von Schauspielern. (Quelle 3)

Die Maske selbst scheint somit das Bindeglied zwischen einer animistisch konnotierten Kulthandlung und dem theatralen Spiel zu sein. Das Theater als Anlage selbst befindet sich im kultischen Bereich Athens, am Südhang der Akropolis. Die Aufführungen finden im Rahmen von Festen statt, die Dionysos, dem Maskengott, gewidmet sind. Der Kult dieses Halbgottes mit den ihn im Zustand der Ekstase umtanzenden Frauen, ein Kult der Verwandlung, des Rausches und der Ekstase, findet Eingang ins antike Theater, umgeformt und: gebändigt. Interessant für uns ist es – wenn wir das attische Theater als Wiege der europäischen Theaterentwicklung ansehen – auf Spielweisen des heutigen Theaters zu schauen: mit seiner Forderung nach einer vermeintlichen Authentizität der Darstellung, mit seiner Fokussierung allein auf den Menschen, der, der Maske, des Textes und jeglicher Verfremdung, ja der Kunstfigur entkleidet, auf sich und seine Körperlichkeit zurückgeworfen, nur noch als Experte seiner selbst auftritt.

Ein anderer Berührungspunkt des Theaters der Griechen zu heutigen Formen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters findet sich in einer Spezifik der Spielweise: Das attische Theater, das für seine Szenen noch keine Innenräume kennt, nutzt – vor allem bei der Darstellung von Extremsituationen des menschlichen Lebens und Leidens – das Prinzip des Zeigens durch Verbergen und ist damit dem heutigen Theater der Dinge in seiner wirkungsstrategischen Absicht verblüffend nahe. Der Vorgang der skandalösen Selbstblendung des König Ödipus wird uns wortgewaltig berichtet, nicht gezeigt. Medeas Mord an den eigenen Kindern erleben wir durch deren Hilferufe und die ahnungsvollen Repliken des Chores, wir sehen das Grauen aber nicht. Auch das Theater der Dinge setzt durch die Rahmung bewusst auf den Ausschnitt und den kofabulierenden Zuschauer, der das nicht zu Sehende durch seine Imagination ergänzt, ja punktuell geradezu erst durch diese entstehen lässt. Das alles verschlingende, aber nur akustisch suggerierte Monster wird in der Imagination des Zuschauers dadurch nur noch gewaltiger. Der nicht vorhandene Körper eines Kopfs an Fäden, der zu seinen Füßen spricht, wird in unserer Vorstellung komplettiert. Es mag ein kühner Vergleich sein, aber der Bericht von Kassandras und Agamemnons Tod im nicht zu sehenden Bad im ersten Teil der Orestie ist in seinem Skandalon dem dramatischen Klagen des Kaspers verwandt, der uns vom Krokodil berichtet, welches sich in sein – nicht sichtbares, da unterhalb der Spielleiste überhaupt nicht vorhandenes – Bein verbissen hat.

In wichtigen Drehpunkten setzt das Spiel im antiken Theater genau wie unsere Darstellungskunst auf das Mittel des Epischen: Die Vorfälle werden berichtet, nicht dargestellt, und können so im Kopf des Zuschauers eine eigene Vorstellungswelt entfachen – die in ihrer Wirkung mitunter der Kraft einer trickreichen Darstellung voller Einfühlung und Schweiß weit überlegen ist …

Jörg Lehmann

Quelle 1

Sigmund Freud

Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken

Animismus im engeren Sinne heißt die Lehre von den Seelenvorstellungen, im weiteren die von geistigen Wesen überhaupt. Man unterscheidet noch Animatismus, die Lehre von der Belebtheit der uns unbelebt erscheinenden Natur, und reiht hier den Animalismus und Manismus an. […]

Was zur Aufstellung dieser Namen Anlaß gegeben hat, ist die Einsicht in die höchst merkwürdige Natur- und Weltauffassung der uns bekannten primitiven Völker, der historischen sowohl wie der jetzt noch lebenden. Diese bevölkern die Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohlwollend oder übelgesinnt sind; sie schreiben diesen Geistern und Dämonen die Verursachung der Naturvorgänge zu und halten nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die unbelebten Dinge der Welt für durch sie belebt. Ein drittes und vielleicht wichtigstes Stück dieser primitiven „Naturphilosophie“ erscheint uns weit weniger auffällig, weil wir selbst noch nicht weit genug von ihm entfernt sind, während wir doch die Existenz der Geister sehr eingeschränkt haben und die Naturvorgänge heute durch die Annahme unpersönlicher physikalischer Kräfte erklären. Die Primitiven glauben nämlich an eine ähnliche „Beseelung“ auch der menschlichen Einzelwesen. Die menschlichen Personen enthalten Seelen, welche ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern können; diese Seelen sind die Träger der geistigen Tätigkeiten und bis zu einem gewissen Grad von den „Leibern“ unabhängig. Ursprünglich wurden die Seelen als sehr ähnlich den Individuen vorgestellt, und erst im Laufe einer langen Entwicklung haben sie die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad von „Vergeistigung“ abgestreift. […]

Wie sind die primitiven Menschen zu den eigentümlich dualistischen Grundanschauungen gekommen, auf denen dieses animistische System ruht? Man meint, durch die Beobachtung der Phänomene des Schlafes (mit dem Traum) und des ihm so ähnlichen Todes und durch die Bemühung, sich diese jeden Einzelnen so nahe angehenden Zustände zu erklären. Vor allem müßte das Todesproblem der Ausgangspunkt der Theoriebildung geworden sein. Für den Primitiven wäre die Fortdauer des Lebens – die Unsterblichkeit – das Selbstverständliche. Die Vorstellung des Todes ist etwas spät und nur zögernd Rezipiertes, sie ist ja auch für uns noch inhaltsleer und unvollziehbar. Über den Anteil, den andere Beobachtungen und Erfahrungen an der Gestaltung der animistischen Grundlehren gehabt haben mögen, die über Traumbilder, Schatten, Spiegelbilder u. dgl., haben sehr lebhafte, zu keinem Abschluß gelangte Diskussionen stattgefunden. […]

Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte zu begreifen. Die Menschheit hat, wenn wir den Autoren folgen wollen, drei solcher Denksysteme, drei große Weltanschauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche. Unter diesen ist die erstgeschaffene, die des Animismus, vielleicht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt. […]

Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem Feind zu schaden, besteht darin, sich ein Ebenbild von ihm aus beliebigem Material zu machen. Auf die Ähnlichkeit kommt es dabei wenig an. Man kann auch irgendein Objekt zu seinem Bild „ernennen“. Was man dann diesem Ebenbild antut, das stößt auch dem gehaßten Urbild zu; an welcher Körperstelle man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere. Man kann dieselbe magische Technik anstatt in den Dienst privater Feindseligkeit auch in den der Frömmigkeit stellen und so Göttern gegen böse Dämonen zu Hilfe kommen. Ich zitiere nach Frazer [James George Frazer: The magic art and the evolution of kings. Macmilian and Co., London 1920, Bd. 1 S. 67]: „Jede Nacht, wenn der Sonnengott Ra (im alten Ägypten) zu seinem Heim im glühenden Westen herabstieg, hatte er einen bitteren Kampf gegen eine Schar von Dämonen zu bestehen, die ihn unter der Führung des Erzfeindes Apepi überfielen. Er kämpfte mit ihnen die ganze Nacht, und häufig waren die Mächte der Finsternis stark genug, noch des Tags dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden, die seine Kraft schwächten und sein Licht abhielten. Um dem Gotte beizustehen, wurde in seinem Tempel zu Theben täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs ein Bild seines Feindes Apepi gemacht, in der Gestalt eines scheußlichen Krokodils oder einer langgeringelten Schlange und der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnliche Zeichnung angebracht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar umwickelt, vom Priester angespuckt, mit einem Steinmesser bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem linken Fuß auf sie, und endlich verbrannte er sie in einem von gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem Apepi in solcher Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines Gefolges das nämliche. Dieser Gottesdienst, bei dem gewisse Reden hergesagt werden mußten, wurde nicht nur morgens, mittags und abends wiederholt, sondern auch jederzeit dazwischen, wenn ein Sturm wütete, wenn ein heftiger Regenguß niederging oder schwarze Wolken die Sonnenscheibe am Himmel verdeckten. Die bösen Feinde verspürten die Züchtigung, die ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten hätten; sie flohen, und der Sonnengott triumphierte von neuem.“

[…] Man erzeugt den Regen auf magischem Wege, indem man ihn imitiert, etwa auch noch die ihn erzeugenden Wolken oder den Sturm nachahmt. Es sieht aus, als ob man „regnen spielen“ wollte. Die japanischen Ainos z. B. machen Regen in der Weise, daß ein Teil von ihnen Wasser aus großen Sieben ausgießt, während ein anderer eine große Schüssel mit Segel und Ruder ausstattet, als ob sie ein Schiff wäre, und sie so um Dorf und Gärten herumzieht. Die Fruchtbarkeit des Bodens sicherte man sich aber auf magische Weise, indem man ihm das Schauspiel eines menschlichen Geschlechtsverkehrs zeigte. So pflegen – ein Beispiel anstatt unendlich vieler – in manchen Teilen Javas zur Zeit des Herannahens der Reisblüte Bauer und Bäuerin sich nachts auf die Felder zu begeben, um durch das Beispiel, das sie ihm geben, den Reis zur Fruchtbarkeit anzuregen. Dagegen fürchtete man von verpönten inzestuösen Geschlechtsbeziehungen, daß sie Mißwuchs und Unfruchtbarkeit des Bodens erzeugen würden.

Auch gewisse negative Vorschriften – magische Vorsichten also – sind dieser ersten Gruppe einzureihen. Wenn ein Teil der Bewohner eines Dayakdorfes auf Wildschweinjagd ausgezogen ist, so dürfen die Zurückgebliebenen unterdes weder Öl noch Wasser mit ihren Händen berühren, sonst würden die Jäger weiche Finger bekommen und die Beute aus ihren Händen schlüpfen lassen. Oder, wenn ein Gilyakjäger im Walde dem Wilde nachstellt, so ist es seinen Kindern zu Hause verboten, Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu machen. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so verschlungen werden wie die Linien der Zeichnung, so daß der Jäger den Weg nach Hause nicht fände. […]

Es unterliegt keinem Zweifel, was an all diesen Beispielen als das Wirksame betrachtet wird. Es ist die Ähnlichkeitimitativehomöopathische