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Nr. 2886

 

Der Schwarze Sternensturm

 

Im Kampf gegen die Gyanli – die RAS TSCHUBAI im Zentrum einer Schlacht

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1. Der Medienwart

2. RAS TSCHUBAI

3. Der Medienwart

4. Die Schlacht beginnt

5. Der Medienwart

6. Irrtümer

7. Der Medienwart

8. Weiteres Chaos

9. Der Medienwart

10. Wo ist der Feind?

11. Der Medienwart

12. Es wird brenzlig

13. Der Medienwart

14. Die Katastrophe

15. Der Medienwart

16. Der Tod kommt mit einem Lächeln

17. Der Medienwart

18. Der Weg in den Untergang

19. Der Medienwart

Stellaris 55

Vorwort

»Eine Gottheit an Bord« von Robert Schweizer

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Im Jahr 1522 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) befindet sich Perry Rhodan fernab der heimatlichen Milchstraße in der Galaxis Orpleyd. Dort liegt die Ursprungswelt der Tiuphoren, eines Volkes, das unendliches Leid über viele Welten gebracht hat, ehe der ominöse »Ruf der Sammlung« sie dorthin zurückbeorderte.

In Orpleyd muss Perry Rhodan erkennen, dass die Galaxis seltsamen, nicht vorhersehbaren Zeitabläufen unterliegt – manchmal vergeht die Zeit innerhalb der Sterneninsel langsamer als im restlichen Universum. Zudem herrschen dort die Gyanli nicht nur über die Tiuphoren – sie arbeiten auch auf ein nebelhaftes Ziel hin.

Allmählich kristallisiert sich für Rhodan die Vermutung heraus, dass aus Orpleyd eine Materiesenke entstehen soll – eine Entwicklungsstufe, von der gemeinhin angenommen wird, sie liege zwischen jener der Superintelligenzen und der der Chaotarchen. Ein Name taucht dabei auf: KOSH, das Lot.

Von alldem weiß die Mannschaft der RAS TSCHUBAI noch wenig, die ebenfalls nach Orpleyd geflogen ist, um Perry Rhodan zu retten. Ihnen begegnet dort DER SCHWARZE STERNENSTURM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Col Tschubai – Der Nachfahre eines legendären Teleporters verfasst und bearbeitet Chroniken.

Allistair Woltera – Der Funk- und Ortungschef der RAS TSCHUBAI ist zum Beobachten verdammt.

Sergio Kakulkan – Der Kommandant der RAS TSCHUBAI muss am Ende lächeln.

Daran würde er sich niemals gewöhnen. An dieses Wirrwarr zweier vermeintlicher Schwärme, wütenden und rivalisierenden Fluginsekten nicht unähnlich, die kaum durchschaubare Muster in die Schwärze des Weltalls zeichneten. Sie durchdrangen einander, attackierten einander, töteten einander.

So nahm Perry Rhodan die Schlacht wahr, die am Rande des Lichfahnesystems tobte. Kampfeinheiten der Gyanli fielen über terranische her. Und im Zentrum stand die RAS TSCHUBAI.

Terranische Kugelraumer stießen in einen Abwehrverbund ihrer Gegner vor, versetzten ihm kleine Stiche und zogen sich rasch wieder zurück, um sich der Gegenangriffe ihrer Feinde zu erwehren. Die Gyanli wiederum brachten kleinere Einheiten in den Einsatz, die Aufmerksamkeit auf sich zogen und sich einkesseln ließen. Sekundenbruchteile positronischer Rechnerverzögerung reichten, um anderen Teilen der gyanen Flotte Vorteile zu verschaffen und undeutliche Frontverläufe neu abzustecken.

Gewiss; es steckte eine gewisse Ästhetik in diesem Treiben. Eine Schönheit, die sich vor allem aus der Perfektion der Manöver ergab. Schließlich wurden die Schiffe von Positroniken gesteuert, die für irrwitzige Präzision sorgten.

»Sie sind keine Insekten«, sagte Rhodan.

»Wie bitte?«, fragte Pey-Ceyan, die neben ihm nahe dem Cockpit-Teil der ODYSSEUS stand und ebenso angespannt wie er den Fortgang der Raumschlacht beobachtete.

»Es ist nichts«, wiegelte Rhodan ab.

»Wir müssen eingreifen«, meldete sich Attilar Leccore zu Wort. »Das ist die RAS TSCHUBAI. Die Terraner sind bis nach Orpleyd gereist, um uns ... dich zurückzuholen und ...«

»Die ODYSSEUS ist kein Schlachtschiff«, widersprach Rhodan. »Mit unserer Offensivbewaffnung bringen wir die Gyanli bestenfalls zum Lachen.«

»Du willst in Deckung bleiben und einfach nur zusehen?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?«

Attilar Leccore, der so aussah, wie er als Chef des TLD ausgesehen hatte, ballte die Hände zu Fäusten. Immer wieder. Schließlich senkte er den Kopf. »Nein«, sagte er.

Rhodan dachte darüber nach, einen Funkspruch abzusetzen und auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht konnte man ihn an Bord holen, vielleicht konnte er das Kommando übernehmen und den terranischen Schiffsschwarm dirigieren.

Nein. Die Situation war zu verworren. Er musste abwarten und hoffen.

1.

Der Medienwart

Stunden zuvor

RAS TSCHUBAI

 

»Mein Name ist Col Tschubai. Ich bin Medienwart an Bord jenes Schiffs, das so heißt wie mein Urahn.«

Wie diesen begann ich jeden einzelnen Eintrag in mein Holotagebuch, nachdem ich es geöffnet und mit leichtem Druck auf die persönlich geprägte Sensortaste aktiviert hatte.

»In der Milchstraße ist der sechzehnte September 1522 Neuer Galaktischer Zeitrechnung angebrochen. Doch die heimische Galaxis ist bloß ein weißer Klecks zwischen vielen anderen, kaum zu finden in den Sternkarten. Das Licht der Milchstraße muss hunderteinunddreißig Millionen Jahre reisen, um hier anzukommen.«

Ich wägte meine Worte sorgfältig ab, so, wie ich es immer tat. »Es ist ruhig an Bord des Schiffs, aber es ist auch eine sonderbare Nervosität zu spüren. Es liegt etwas in der Luft. Einige Besatzungsmitglieder sind gereizt, andere zeigen Vorfreude auf einen Kampf, die ich nicht nachvollziehen kann. Die Mehrheit all jener, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe, ist ängstlich.« Ich unterbrach die Aufnahme und dachte kurz nach, bevor ich fortfuhr: »Niemand will hier sterben, so fern der Heimat.«

Ich desaktivierte das Holotagebuch und legte es zur Seite. Vor der zweiten Tasse Kamtscha-Tee wollten meine Gedanken nicht so recht zueinanderfinden. Ich benötigte stets eine Weile, um zu Beginn meines Dienstes zu mir zu kommen.

Ich würde meinen Eintrag später beenden. Vorerst wollte ich mich um die Routineabfragen kümmern. Ich öffnete also die von ANANSI eingerichtete Nachrichtenbox und hörte Botschaften ab. Sie stammten großteils aus wissenschaftlichen Abteilungen und betrafen Routinefälle. Nichts davon reizte mich.

Selbst die sonst so üblen Beschimpfungen von Prote Folleur wirkten langweilig und abgestanden auf mich. Dem Forscher, Dozent eines Orchideenfachs namens Gurradosozologie, war ständig langweilig. Er gab zu allem und jedem unwirsche Kommentare ab. Diesmal allerdings begnügte er sich mit einigen wenigen Fäkalbegriffen. Er verzichtete darauf, meine Mutter, meinen Urahn und andere Verwandte in seine Schimpforgien mit einzubeziehen. Auch er war angespannt.

Dann entdeckte ich jene Nachricht, die mich aus meiner Lethargie riss. Die, sofern sie denn der Wahrheit entsprach, diesen Tag zu einem ganz besonderen machen würde.

Ich las die Botschaft laut vor.

»Habe ein Fragment der Erstversion von BARS entdeckt. Interesse? Ich bin gegen vier Uhr Bordzeit beim Trans-Spot in Ogygia. Ein Freund.«

Mit heftig klopfendem Herzen sortierte ich die weiteren Nachrichten. Ich arbeitete sie binnen einer Stunde durch und beantwortete das, was zu beantworten war.

Anschließend setzte ich mich wieder an die geheimnisvolle Nachricht und ließ sie mithilfe der Analyseeinheit meines hochgerüsteten Rechners doppelt und dreifach überprüfen.

Nichts.

Der Unbekannte hatte keinerlei Spuren hinterlassen, die mir seine Identität verrieten. Weder sagte die Botschaft etwas über ihn aus, noch über das Terminal, über das er die Nachricht an mich geschickt hatte.

Ein Freund ... War dies eine Falle? Wollte mich Folleur reinlegen und in irgendeiner Art und Weise bloßstellen?

Nein. Folleur war ein bedauernswertes Genie, das all seine Energie in die Erforschung gurradscher Lebensweisen investierte und andere Lebewesen darüber hinaus mit sonderbarer Wut verfolgte. Er war in psychosozialer Behandlung und litt selbst am meisten unter seiner ... Krankheit.

Aber Folleur war so, wie er war. Ein Fachidiot, der über seine Profession hinaus völlig isoliert war. Er war nicht dazu in der Lage, komplexe Intrigen zu spinnen.

Es klopfte, ich ließ öffnen. New Dlaug trat ein, einer meiner Freunde. Er umarmte mich, grinste und reichte mir einen Kamelriegel. »Hab ich gefunden«, sagte er.

»Du findest häufig etwas in deiner Küche.« Ich erwiderte das Lächeln.

»Ach was! Das Zeug schmeckt bestenfalls zehn Leuten an Bord der RAS TSCHUBAI, und du bist der Einige, der keine Zahnschmerzen beim Kauen bekommt. Zähes, getrocknetes Kamelfleisch ... Bäh!«

Ich befeuchtete die Packung, die Schutzfolie löste sich auf. Vorsichtig roch ich am dunkelroten Fleischstreifen und biss hinein. Ja, es war zäh. Aber der Geschmack war einzigartig.

Dlaug goss Kamtscha-Tee ein und ließ sich auf einen der beiden Stühle vor meinem Schreibtisch fallen. »Ich habe das posbische Interakt-Märchen Blech-Blues endlich durchgespielt, das du mir empfohlen hast. Möchtest du meine Meinung hören?«

»Natürlich«, sagte ich ohne viel Interesse. »Sprich mir deine Gedanken ein. Ich werde sie heute Abend, spätestens morgen in der Früh via Bordnetz zur Verfügung stellen.«

»Das ist alles, was du an Begeisterung aufbringen kannst? Seit Tagen nervst du mich, dass ich Blech-Blues beurteilen soll. Sagtest du nicht, es wäre das nächste große Ding an Bord?«

»Natürlich, natürlich. Es ist großartig. Mir allein glauben die Leute oftmals nicht.« Ich biss so fest wie möglich in den Kamelriegel und kaute auf dem abgerissenen Stück herum. »Aber ich habe gerade andere Sachen im Kopf.«

»Und zwar?«

»Es geht um eine Antiquität.«

»Spann mich nicht länger auf die Folter, Col! Manchmal machst du mich verrückt mit deiner Bedächtigkeit.«

»Na schön.« Ich rief die Datei des Unbekannten auf, drehte die Holodarstellung und ließ Dlaug sie lesen.

»BARS. Fragment. Erstversion.« Er zuckte mit den Schultern. »Das sagt mir gar nichts.«

»Ist das dein Ernst?«, blaffte ich ihn an, lauter, als ich es vorgehabt hatte. Leiser fuhr ich fort: »Es handelt sich bei BARS um die Chiffre für einen der begehrtesten Filme, der jemals gedreht wurde. Um einen zweidimensional komponierten und ausgestalteten Film aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert alter Zeitrechnung.«

»Also um einen jahrtausendealten Schinken. Na und? Was ist so besonders an ihm?«

»Man munkelt, er wäre ein Kunstwerk von kaum gekannter Qualität. Er ist, so erzählt man, im Jahr 2264 im Terrania City Theatre uraufgeführt worden, das Publikum hätte getobt. Drei Monate lang wäre der Film gelaufen, allerdings bloß in einer gekürzten Version. Bis der Regisseur eine einstweilige Verfügung vorlegte und dafür sorgte, dass alle Daten-Streams vernichtet werden mussten.«

»Alle?! Wie ist das möglich? Es bleiben immer irgendwo Kopien hängen. Das Datennetz ist seit dem Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts so eng gewebt, dass so gut wie keine Informationen verloren gehen.«

»In diesem Fall gelang es, BARS aus dem Gedächtnis der Menschheit zu löschen.«

»Nochmals: Das ist unmöglich!«

»Womit wir beim zweiten Teil des großen Rätsels wären, das BARS umgibt. Das Mondgehirn NATHAN spielte in diesem Fall eine sehr sonderbare Rolle. Es unterstützte den Regisseur auf allen Linien. So drang NATHAN angeblich in Subroutinen externer Positroniken ein und vernichtete über Jahrzehnte hinweg alle existierenden Back-ups. Einerlei, welchen Namen sie trugen, welches Dateiformat sie hatten, wie gut sie versteckt und chiffriert gewesen waren.«

»Ich verstehe.«

»Wenn du wie ich Medientechnologie studiert hättest und als Medienwart arbeitetest, wäre BARS auch für dich so etwas wie der Heilige Gral. Man hört davon bereits am ersten Tag an der Universität. Man stellt Theorien über Filminhalte auf, man macht sich selbst auf die Suche.«

Dlaug deutete auf die Holonachricht. »Warum aber bringt dich eine anonyme Nachricht auf den Gedanken, dass ein Filmschnipsel von BARS ausgerechnet an Bord der RAS TSCHUBAI gelangt sein könnte?«

»Das ist nicht irgendeine Nachricht.« Col öffnete eine beigepackte Datei, ein Bild erschien. Es zeigte einen Blick aus der Totalen auf Terrania City, so, wie die Stadt vor mehreren Tausend Jahren einmal ausgesehen haben mochte.

»Sieh dir diese Gruppe Menschen im Vordergrund an. Es handelt sich um vier Schauspieler, die im dreiundzwanzigsten Jahrhundert als Heroen des modernen Films galten. Auch wenn darüber kaum Informationen existieren, so geht man davon aus, dass sie bei Projekt BARS mitgewirkt haben. Allen voran die zauberhafte Vesper Auchthoer ...«

»So. Jetzt reicht's mir.« New Dlaug erhob sich. »Du bist als Medienwart an Bord der RAS TSCHUBAI für die mediale Verwaltung aller Kunstformen verantwortlich. Dank dir können wir uns vergnügen, entspannen, alte Kunst neu entdecken, uns von den Anstrengungen des Alltags erholen. Du bist ein wichtiger Teil der Gemeinschaft. Aber diese BARS-Geschichte ist hirnrissig. Die Suche nach einer ... einer Legende hat nichts mit deiner eigentlichen Aufgabe zu tun. Lass das gefälligst bleiben!«

Ich erschrak angesichts der Heftigkeit, mit der mich Dlaug angriff. Hatte er recht? Verlor ich meine eigentlichen Pflichten aus den Augen?

»Ich verstehe«, sagte ich leise.

»Und natürlich wirst du trotzdem zu diesem Treffpunkt in Ogygia gehen, nicht wahr?«

»Ich kann nicht anders, Dlaug. Schon die geringste Möglichkeit, dass jemand ein Fragment von BARS entdeckt haben könnte ...«

»Du bist so ganz und gar nicht nach deinem Urururgroßvater geschlagen, Col.«

»Ich glaube schon. Er galt als zäh und hartnäckig.«

»Aber er versteckte sich nicht hinter Datenclustern. Er war ständig unterwegs. Erlebte Abenteuer und lebte im Jetzt. Rettete Leben, stand an der Seite Perry Rhodans.«

»Ich bin zufrieden mit dem, was ich bin und was ich habe, Dlaug.«

»Ich weiß.« Er lächelte. »Ich bewundere dich, Freund. Ich wünschte, ich wäre wie du völlig mit mir im Reinen.« Er griff in seine Tasche, zog einen weiteren Kamelriegel hervor und reichte ihn mir. »Hoppla! Wie das da bloß hineingeraten ist? Und wie es bloß in deinen Besitz übergegangen ist?« Dlaug zwinkerte mir zum Abschied zu und verließ mein Quartier. Er ließ mich allein zurück, allein mit meinen Zweifeln.

 

*

 

War ich wirklich zufrieden mit meinem Dasein? Reichte es, in aller Ruhe einer Arbeit nachzugehen und sich tagaus, tagein mit Filmen, Audio-Dateien, virtuellen Kunstwerken und Ausstellungen – kurzum: mit der Verwaltung eines riesigen künstlerischen Fundus – abzugeben? Oder hatte das Leben für einen wie mich mehr zu bieten?

Nein. Ich war ein glücklicher, zufriedener Mensch.

Ich packte einiges Gerät zusammen und machte mich auf den Weg nach Ogygia.

2.

RAS TSCHUBAI

Zentrale

 

Allistair Woltera betrachtete das Geschehen mit professioneller Distanz. Er war Funker und Orter. Er bereitete jene Daten auf, die ANANSI ihm lieferte, und goss sie in Formen, die für andere Mitglieder der Zentrale jeweils am besten handhabbar waren.

Er zog einen Holostreifen unter den vielen anderen hervor, die ihn und seine Sesselstation umgaben. Der Streifen zeigte das kleine Lichfahnesystem aus der Totalen und zoomte dann rasch auf das Kampfgeschehen hinab, das die Entscheidungsträger der RAS TSCHUBAI seit nunmehr zwanzig Minuten in Atem hielt.

Gyanlischiffe aller drei bekannten Kampfklassen tummelten sich in einem kugelförmigen Bereich mit einem Durchmesser von wenigen Lichtminuten. Sie ähnelten altterranischen U-Booten und durchpflügten den Raum mit beachtlicher Geschwindigkeit.

Den Besatzungen war Kampferfahrung anzumerken, ganz im Gegensatz zu ihren Feinden. Die Tiuphoren Orpleyds reisten und kämpften in Hantelschiffen, die den Einheiten ihrer Feinde hoffnungslos unterlegen waren. Sie hielten keinem Vergleich mit den Bestien stand, die mit ihren Sichelschiffen die Milchstraße zweimal verheert hatten.

»Abschuss«, kommentierte Woltera einen weiteren Treffer, der den Schutzschirm einer tiuphorischen Hantel belastete, ihn grell aufleuchten ließ und bei der Ableitung der Energien kurzzeitig zu einem dünnen Riss im Raum-Zeit-Gefüge führte.

Es handelte sich um einen Wirkungstreffer. Das Schiff platzte auf, eine grüngelbe Explosionsblume entstand und fiel gleich wieder in sich zusammen. Schiffstrümmer trieben in alle Richtungen davon, große wie kleine.

Jägereinheiten der Gyanli lösten sich von größeren Raumern. Sie machten Jagd auf Tiuphoren in ihren Fluchtschiffen und vernichteten sie gnadenlos. Die Herrscher Orpleyds legten dieses Mal keinen Wert auf Gefangene. Sie vernichteten, sie töteten.

»Sie haben Freude daran«, behauptete Sarah Vanderest, eine von Wolteras Stellvertreterinnen. Sie nahm einen Teil ihres Glitzerglänzer-Wangenschmucks ab und gruppierte ihn um. Das tat sie gewiss gut zehnmal während jeder Arbeitsschicht. »Sie verrichten ihre Arbeit langsam und gemächlich. Nicht aus purem Sadismus, vermute ich. Die Gyanli wollen Zeichen setzen. Sie beweisen ihren Feinden, dass sie ihnen in jeglicher Hinsicht überlegen sind.«

»Mag sein.« Woltera wollte sich nicht auf derlei Diskussionen einlassen. Er musste Distanz zu seiner Arbeit wahren. Alles andere schadete seinem Gemüt.

ANANSI bot mehrere neu aufgestellte Rechenmodelle zu den Schiffsbewegungen der Gyanli an, kommentierte sie rasch und verteilte sie an einzelne Stationen der Zentrale.

Die Semitronik hatte sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen beschäftigt. Sie behauptete, dass die Schlacht in einem Verhältnis von etwa hundertzwanzig zu eins zugunsten der Gyanli verlief.

Die Rechenarbeiten wurden durch die Gegebenheiten erschwert. Die RAS TSCHUBAI verbarg sich im Ortungsschatten von Lichfahne A, einer der beiden Sonnen des Systems, die einander umkreisten, mit der Welt Tiu in ihrem Zentrum, in einem geozentrischen und künstlich erzeugten System. Manche Daten mussten angesichts der erschwerten Bedingungen gereinigt und mehrfach überprüft werden, bevor sie freigegeben werden konnten. Das Doppelsternsystem erzeugte mitunter sonderbare Effekte, die sich auf die Ergebnisse der sensiblen Sensoren niederschlugen.

Das Zusammenspiel mit den anderen Stationen der Zentrale funktionierte ausgezeichnet. Woltera hielt sich lange genug auf dem Schiff auf, um sich als Teil eines wunderbar eingestimmten Orchesters zu fühlen. Sie alle in diesem riesigen Raum – vom Kommandanten über die Verantwortlichen für Schiffsverteidigung, Triebwerke und Bordmaschinen, Navigation, Funk und Ortung bis hin zu wissenschaftlichen Beiräten und Vertretern vieler anderer Einheiten – funktionierten bestens. Auch und vor allem in Situationen, da höchst komplexe Entscheidungen getroffen werden mussten.

Allistair Woltera warf Sergio Kakulkan einen Blick zu. Der Kahlkopf diskutierte hinter einem Intimfeld intensiv mit Jawna Togoya, seiner Posbi-Beraterin. Ihrer beider Sesselstationen waren einander zugekehrt. Zwischen den beiden tanzten virtuelle Raumschiffe auf und nieder, Teile des Schlachtgeschehens, das die beiden beobachteten.

Jawna hatte einige Zeit das Kommando über die RAS TSCHUBAI innegehabt und war dann auf die ATLANC gewechselt. Nachdem sie erneut an Bord der RAS gekommen war, hatte sie keinerlei Ambitionen auf ihr einstiges Amt gezeigt und war freiwillig ins zweite Glied zurückgetreten. Sie, die Posbi mit eigener ... Seele, hatte es stets verstanden, ihr Ego hintanzuhalten.

Woltera ließ sich die Unterhaltung zuschalten, während er die Bewegungen der Gyanlischiffe weiter beobachtete und in strategische Bilder umarbeitete. Das Gespräch war für die Offiziere der Zentrale freigegeben. Außer ihm hörten fünf weitere Abteilungsleiter zu.

»... wir wissen viel zu wenig über die hiesigen Umstände«, sagte Kakulkan eben. »Die Rolle der Gyanli mag geklärt sein. Doch willst du nach all unseren Erfahrungen in der Milchstraße die Tiuphoren als arme, unschuldige Opfer verteidigen?«

»Du siehst, was ich sehe, Kommandant.« Togoya verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Gyanli scheren sich wenig um Konventionen. Sie töten um des Tötens willen. Die Analysen sind eindeutig.«

»Ach ja? Wissen wir denn, ob es eine Verbindung, einen Kontakt zwischen den hiesigen Tiuphoren und der Flotte gibt, die in der Milchstraße gekämpft hat? Wir brauchen mehr Informationen, bevor wir in die Schlacht eingreifen.«

»Wir haben alles, was wir wissen müssen«, mischte sich Gucky in die Unterhaltung ein. Der Mausbiber kam mit Trippelschritten näher an die beiden heran. »Es gibt eine moralische Verpflichtung zur Hilfeleistung.«

»Aber ...«

»Ich weiß, worauf du hinaus möchtest, Sergio: Wir besitzen keinerlei formale Legitimation, etwas zu unternehmen. Die RAS TSCHUBAI hat einzig den Auftrag, nach Perrys Spuren zu suchen und ihn zurück in die Milchstraße zu bringen.«

ANANSI bombardierte Woltera mit weiteren Datenkonvoluten. Es waren so viele, dass er sich kurzerhand aus dem Gespräch ausklinkte und Analysen erstellte.

Nur kurz betrachtete er ein Bild aus dem zentralen Bereich ANANSIS, einige Decks oberhalb der Zentrale. In einem von silbernen Fäden und kristallin glitzernden Strukturen durchzogenen Raum standen Taja Zanabazar und Vetulon Culsander, zwei Betreuer der Semitronik. Beide wirkten müde. Sie redeten abwechselnd auf den mädchenhaften Avatar ein.

Woltera schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgaben. Neue tiuphorische Hantelraumer tauchten auf. Sie waren von der Oberfläche Tius gestartet und warfen sich mit bemerkenswerter Wucht in die Schlacht.

Woltera stellte rasch einige Vergleiche an. Nein, die Orpleyd-Tiuphoren waren keinesfalls mit jenen vergleichbar, die die Milchstraße verwüstet hatten. Sie gingen ungestüm zu Werke. Ihnen fehlte jenes künstlerisch-ideenreiche Element, dessen sich der Tomcca-Caradocc Accoshai gerühmt hatte. Und nirgendwo waren Banner zu sehen, in denen die Tiuphoren die höherdimensionalen Mentalkomponenten ihrer Feinde und der eigenen Verstorbenen sammelten.

Woltera schloss seine Arbeiten ab und folgte dann wieder der Unterhaltung. Sergio Kakulkan untermauerte eben seinen Standpunkt mit dem genau umrissenen Auftrag, den sie vor Verlassen der Milchstraße mit auf den Weg bekommen hatten.

»Cai Cheung verlangte erstens, dass wir nach Perry suchen, ihn gegebenenfalls aus dem Banner der Tiuphoren befreien und zurück ins Hoheitsgebiet der Liga Freier Terraner schaffen. Zweitens will sie, dass wir den Status der Tiuphoren abklären. Geht weiterhin eine Gefahr von ihnen aus? Besteht die Möglichkeit, dass sie in die Milchstraße zurückkehren und an uns rächen? Und drittens ...«

»... drittens entscheiden wir beide und Gucky darüber, ob wir dieser Gefahr vor Ort und mit der RAS TSCHUBAI begegnen«, ergänzte Jawna Togoya.

»Es war keine Rede davon, dass wir uns in die internen Angelegenheiten dieser Galaxis einmischen.«

»Was wir im Staubgürtel rings um die Galaxis bereits getan haben. Nicht wahr, Sergio?«

»Wir suchten nach Spuren von Perry!« Kakulkan erhob seine Stimme. »Wir sind nicht hier, um in fremde Auseinandersetzungen oder gar Kriege einzugreifen.«

»Und wie sieht es mit der moralischen Verpflichtung aus? Das Bordbuch besagt ...«

»Das Bordbuch lässt sich in diesem Fall in alle Richtungen interpretieren, Jawna. Es ist Ermessenssache, was und wie viel wir tun.

Aber sieh dir doch mal den Fortgang der Schlacht an: Die Gyanli sind schreckliche Feinde. Die RAS TSCHUBAI würde mit einem Dutzend oder mehr ihrer schweren Einheiten fertigwerden. Alles, was darüber hinausgeht, bedeutet unabschätzbare Gefahr für fünfunddreißigtausend Besatzungsmitglieder.«

»Ich möchte eine Risikoabschätzung durch ANANSI«, mischte sich Gucky in die Unterhaltung ein. »Wir kennen die meisten Parameter der Schlacht. Wir beobachten sie seit einer halben Stunde. Sie läuft auf Sparflamme, ein Ende ist nicht abzusehen. Ich möchte wissen, wie lange sich dieses Gemetzel hinziehen wird, mit wie viel Leid wir noch rechnen müssen.«

Woltera zog instinktiv die Schultern ein. Kakulkan war ein höchst umgänglicher Mensch. Doch er vertrug es ganz und gar nicht, an Bord der RAS TSCHUBAI wie ein Lakai herumkommandiert zu werden. Gleich würde er in die Luft gehen, gleich ...

»Also schön«, sagte er zum Mausbiber. »Lasst uns die Sache durchrechnen.«

Er gab die Anweisungen an die wissenschaftlichen Abteilungen sowie an ANANSI weiter und kümmerte sich dann wieder um die üblichen Aufgaben, die ihm als Kommandanten vorbehalten waren. Togoya unterstützte ihn, als wären sich die beiden niemals in die Haare geraten.

Wobei das Wort »Haare« bei Sergio Kakulkan nur ein Euphemismus sein kann. Er hat ja nicht einmal Augenbrauen.

 

*

 

Woltera beteiligte sich – so gut es ging – an der Arbeit der Wissenschaftsabteilungen. Er lieferte Rohdaten, ließ sie nach unterschiedlichen Lesarten deuten, stellte Hochrechnungen an, stets unterstützt von ANANSI. Der Avatar des Bordgehirns, ein kleines Mädchen, hockte neben ihm in einer der Sesselstationen und starrte ihn mit großen Augen an. Ab und zu machte es einfach wirkende Handbewegungen – und die Datenholos vor Woltera vermehrten sich weiter.