Cover

Über das Buch

Als Katrin im Januar 1987 nach Australien reiste, ahnte sie nicht, dass sie dort Gavin, die Liebe ihres Lebens, finden würde. Nur wenige Monate später machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie bedenkenlos annahm. Für diesen ungewöhnlichen Mann war die 27-jährige Lehrerin gern bereit, ihre Heimat am Thunersee, ihre Familie und ihre Freunde zu verlassen und nach Down Under zu ziehen. Bald schon aber zeigten sich die ersten Schwierigkeiten. Warum, fragte sich Katrin, lässt Gavin sich durch Kleinigkeiten dermaßen aus der Ruhe bringen? Warum verhält er sich Gästen gegenüber so taktlos? Warum hat er ein so großes Bedürfnis, allein zu sein? Warum interessieren ihn die Gefühle anderer nicht? Und vor allem: Warum steht er mir nie zur Seite, wenn es mir nicht gut geht? Die emotionale Unbeholfenheit ihres Mannes machte ihr immer mehr zu schaffen. Mehr als einmal war Katrin, inzwischen Mutter zweier Kinder, der Verzweiflung nahe. Aber aufgeben war für sie keine Option, und so suchte sie nach einer Erklärung für Gavins Verhalten. Siebzehn Jahre nach der Hochzeit war die Diagnose endlich gestellt: Asperger-Syndrom. Katrin begann sich intensiv mit diesem Autismus-Phänomen auseinanderzusetzen, machte eine Ausbildung zur psychologischen Beraterin und eröffnete ihre eigene Praxis, um Menschen mit dem Asperger-Syndrom und deren Partner zu beraten und Ehen retten zu helfen.

»Im Buch Allein zu zweit beschreibt Katrin Bentley als Fachperson und als Gattin ihren vom Asperger-Syndrom betroffenen Ehemann Gavin in all seinen Besonderheiten. Liebevoll in seinen positiven, aber auch schonungslos in seinen schwierigen Seiten. Dennoch ist das Buch nie einseitig im Sinne von ›ich, die Normale‹ und ›er, der Schwierige‹. Der Autorin gelingt es, überzeugend aufzuzeigen, dass eine Asperger-Ehe nur gelingen kann, wenn beide Seiten Anstrengungen unternehmen, den anderen besser zu verstehen und aufeinander zuzugehen. Eigentlich so wie in jeder Ehe. Und gerade deshalb ist das Buch ein doppelter Glücksfall, denn nicht nur Asperger-Betroffene und deren Partner und Partnerinnen können viel von Katrins und Gavins Geschichte profitieren, sondern auch alle anderen Menschen, die sich auf eine langjährige Beziehung mit all ihren Stolpersteinen einlassen. Allein zu zweit ist durchaus ein Lehrbuch, wie eine Ehe gelingen kann – jedoch so flüssig und ehrlich geschrieben wie ein Roman und zeitweise so spannend wie ein Krimi.«

Thomas Girsberger,
Psychiater und Autor des Ratgebers
Die vielen Farben des Autismus

Über die Autorin

Katrin Bentley
© Marc Bentley

Katrin Bentley, geb. 1960 in Thun, machte das Lehrerseminar, reiste 1987 nach Australien, lernte dort Gavin, ihren zukünftigen Mann und Vater ihrer beiden Kinder, kennen und ließ sich später in Australien nieder. Das Zusammenleben erwies sich als schwierig; warum, das wurde dem Paar erst siebzehn Jahre später klar, als es herausfand, dass Gavin vom Asperger-Syndrom betroffen ist. Heute ist Katrin Bentley eine Expertin auf dem Gebiet von Asperger-Ehen. 2007 schrieb sie unter dem Titel »Alone Together« ein Buch, das auf Englisch und auf Japanisch veröffentlicht wurde, und legt jetzt unter dem Titel »Allein zu zweit« ein neues Buch für den deutschen Sprachraum vor. Katrin Bentley lebt in Brisbane, kommt aber immer wieder in die Schweiz, um auch hier Seminare zu geben.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© Wörterseh, Lachen

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
4. Auflage 2022

Die Originalausgabe erschien 2015 als Hardcover mit Schutzumschlag

Lektorat: Brigitte Matern
Korrektorat: Claudia Bislin und Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Foto Umschlag: Nick Kuhn, Newspix
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-03763-309-0 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-058-7 (Originalausgabe)
ISBN 978-3-03763-578-0 (E-Book)

www.woerterseh.ch

Katrin Bentley

Allein zu zweit

Mein Mann,
das Asperger-Syndrom
und ich

WÖRTERSEH

Für meinen Vater, der mich gelehrt hat, das Leben zu genießen und daran zu glauben, dass es auch in den schwierigsten Situationen immer einen Weg gibt.
Sein Optimismus und seine Sorglosigkeit inspirieren mich auch heute noch, die Welt immer wieder positiv zu erleben.

Inhalt

Anstelle eines Vorworts –
ein Brief von Gavin an seine Frau

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Das Asperger-Syndrom

Anstelle eines Nachworts –
Gedanken von Gavin, über …

Dank

»Menschen mit Asperger-Syndrom führen einen lebenslangen Kampf, um die verwirrende und komplizierte Welt zu verstehen, die voller Doppeldeutigkeiten und irreführender Gespräche ist und deren gesellschaftliche Erwartungen absolut keinen Sinn ergeben. Ihr Kampf ist nicht sichtbar, er beeinträchtigt nicht ihre Intelligenz, aber die Folgen, die diese Störung auf Beziehungen hat, können verheerend sein. Sie treffen auch die Menschen, die mit ihnen leben – ihre Partner, ihre Eltern und ihre Kinder. Es ist eine Familiengeschichte, die Anerkennung und Unterstützung braucht.«

Maxine Aston

Anstelle eines Vorworts – ein Brief von Gavin an seine Frau

Liebe Katrin

Es gibt so vieles, das ich Dir sagen möchte, aber ich habe Angst, mich falsch auszudrücken; und immer, wenn das passiert, wird es schwierig für mich, auf eine positive Art weiterzukommunizieren. Mich zurückzuziehen, ist dann leichter, als nach Erklärungen zu suchen, für die mir die Worte fehlen.

Ich weiß nicht, was Glücklichsein ist, aber das Gefühl der Zufriedenheit kenne ich. Ich habe ein Ziel, arbeite darauf hin, und wenn ich Erfolg habe, bin ich zufrieden. Aber wie sehr ich mich auch anstrenge, überschwängliche Freude empfinde ich nie. Lange Zeit dachte ich, dass ich eines Morgens aufwachen würde und ebenso fühlen könnte wie andere Menschen. Heute weiß ich, dass das nie geschehen wird. Meine Andersartigkeit war nicht nur eine Phase. Mein Anderssein – das bin ich. Es könnten tausend Menschen um mich herum sein, und ich wäre trotzdem allein. So gesehen ist alles, was ich bisher mit Dir erleben durfte, ein unglaublich schönes Geschenk. Ich fühle zwar keine emotionalen Höhen und Tiefen, aber dank Dir habe ich viel unternommen und gesehen.

Du und die Kinder, Ihr seid mir wichtig. Ich versuche, das zu zeigen, indem ich Euch gebe, was ich meiner Meinung nach zu bieten habe: Ich kann Fähigkeiten weitergeben, finanzielle Sicherheit bieten und schöne Ferien planen. Ich versuche auch, andere emotional zu unterstützen, und glaube, das sogar gut zu machen. Aber das Feedback meiner Mitmenschen zeigt mir, dass das nicht der Fall ist. Meine vielen Gedanken und Belehrungen, die ich weitergebe, sind wohl zu verwirrend.

Die Liebe zu Dir drücke ich in meiner Liebessprache aus und nicht in Deiner. Es ist mir bewusst, dass ich das ändern sollte, aber in dem täglichen Stress ist es schwierig, immer wieder neue Kniffe zu lernen. Trotzdem möchte ich, dass Du ein erfülltes Leben hast und glücklich bist, dass Du Dich geliebt, geschätzt und verstanden fühlst. Ein Leben ohne Dich könnte ich mir nicht vorstellen.

Gavin

1

Um Mitternacht an Silvester 2003 saß ich mutterseelenallein im Garten. Der Abend hatte schön begonnen. Erst gingen wir alle zusammen essen, dann schauten wir uns zu Hause einen Film an. Mittendrin bat ich Gavin, kurz die DVD anzuhalten; als ich nach wenigen Minuten zurückkam, waren alle im Bett. Verblüfft ging ich ins Schlafzimmer, aber Gavin hatte bereits das Licht ausgeknipst. »Was ist denn passiert?«, fragte ich enttäuscht, ich wusste doch, wie sehr sich Marc und Nadia immer auf das gemeinsame Anstoßen freuten. »Die Kinder haben herumgealbert. Als ich sie bat, still zu sein, und sie nicht aufhörten, habe ich sie ins Bett geschickt«, erklärte Gavin und drehte sich weg. Auf meine Frage, ob er denn nicht wenigstens mit mir anstoßen wolle, reagierte er nicht.

Traurig setzte ich mich draußen auf einen Liegestuhl und hatte wieder einmal niemanden, dem ich ein gutes neues Jahr wünschen konnte. Ich hörte das Gelächter der Nachbarn und dachte sehnsüchtig an all die lustigen Silvesternächte in der Schweiz, die ich einst im Kreis meiner Freunde verbracht hatte. Als nebenan die Sektkorken knallten, stieß ich selbst mit mir an und fragte mich, was das neue Jahr wohl bringen würde.

Gavin kam mir vor wie eine komplizierte Rechnung, egal wie ich sie anpackte, sie ging einfach nicht auf. Ich wusste einzig und allein, dass er nicht so funktionierte wie andere Menschen. Da ich niemanden zum Reden hatte, griff ich zum Tagebuch und schrieb:

»Das letzte Jahr war schöner als das davor. Marc geht es wieder besser, und den Autounfall haben wir mit großem Glück mehr oder weniger heil überstanden. Sonst ist aber alles beim Alten, unsere Ehe ist nach wie vor anstrengend, und Gavin macht mir immer mehr Sorgen. Seine Laune wechselt in Sekundenschnelle, während sein Gesichtsausdruck immer gleich bleibt. Er scheint verschiedene Persönlichkeiten zu besitzen. Mal redet er ununterbrochen, dann zieht er sich tagelang zurück. Gesprächen über Gefühle weicht er aus. Manchmal stellt er Fragen wie ›Was ist Glück?‹ oder ›Wie weiß man, dass man jemanden liebt?‹. Er scheint keine Ahnung zu haben, was in ihm vorgeht.

Wenn er ein Projekt anpackt, erledigt er das mit unglaublicher Exaktheit, was er von mir natürlich auch erwartet, aber mir fehlt leider die Fähigkeit zu einer solchen Präzision. Sein ausgeprägter Perfektionismus benötigt viel Zeit und führt dazu, dass er lieber gar nichts macht als etwas, das seinen Ansprüchen nicht genügt. Größere Projekte stressen ihn enorm, da er oft den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.

Abends im Schwimmklub trägt er eine Sonnenbrille, weil ihn das starke Neonlicht stört. Sonnencreme auf der Haut findet er schrecklich, und auch bestimmte Leintücher verträgt Gavin nicht. Kälte macht ihm dagegen nichts aus, er kann selbst bei Eis und Schnee in Shorts herumlaufen. Er weigert sich, mich moralisch zu unterstützen, und zeigt kaum Mitgefühl. Bin ich mal traurig, scheint er verärgert und geht mir aus dem Weg. Der Ausdruck ›Es tut mir leid‹ ist ihm fremd. In all den Jahren hat er sich nie für etwas entschuldigt, der Fehler liegt immer bei andern. Für ihn gibt es nur einen Weg, nämlich seinen. Er allein hat recht, andere Ansichten akzeptiert er nicht.

In seinem Kopf scheint es genaue Verhaltensregeln zu geben, die er strikt befolgt und deren Einhaltung er auch von uns verlangt. Jede unerwartete Veränderung, jede Abweichung vom Gewohnten stresst ihn. Wollen wir etwas unternehmen, fällt ihm sofort ein, was schieflaufen könnte, deshalb bleiben wir meist zu Hause. Er motiviert oder lobt nie und teilt anderen seine Meinung unverblümt mit.

Immer wieder bin ich überrascht von seinem erstaunlichen Gedächtnis für Fakten und Zahlen. Noch Jahre später kann er sich genauestens an Preise, Telefon- oder Kontonummern erinnern. Vor kurzem sagte er: ›Ich wünschte, alle Menschen hätten statt Namen Nummern, dann würde ich sie nie vergessen.‹ Beim Tennisspiel behält er jeden Ballwechsel, jeden Aufschlag, jeden Fehler, alle Zwischenstände und Resultate im Kopf. Es ist, als ob er ein Videogerät im Gehirn hätte, das alles aufnimmt und für den späteren Gebrauch speichert. Er kann auch Filme jederzeit wieder im Kopf abspielen und übernimmt gern Rollen aus diesen, wenn wir miteinander reden – ich habe dann eher das Gefühl, mich mit Jack Nicholson zu unterhalten als mit Gavin.

Aus irgendeinem Grund scheint er dauernd unter Strom zu stehen, sogar beim Fernsehen. Ganz besonders zeigt sich das, wenn er ein Spiel seines Lieblingsfootballteams anschaut. Er folgt dem Geschehen mit einer solchen Intensität, dass jeder Muskel angespannt ist. Manchmal habe ich Angst, dass er dabei einen Herzinfarkt erleidet, vor allem, wenn dem Gegner ein Goal gelingt. Über Kleinigkeiten kann er sich extrem aufregen und wird dann sehr verletzend. Kurze Zeit später aber hat er den Vorfall bereits wieder vergessen.

Gavin ist wie ein Kristall, der je nach Lichteinfall in den verschiedensten Farben funkelt. Oder wie eine Wundertüte, bei der man nie weiß, ob darin eine Süßigkeit liegt oder einem ein Frosch an die Nase springt. Ich spüre, dass er ein guter Mensch ist und dass vor allem Stress sein Verhalten bestimmt. Woher dieser kommt, weiß ich leider nicht.«

Am nächsten Morgen sagte Gavin aus heiterem Himmel: »Vielleicht bin ich Autist.« Lachend winkte ich ab und erklärte, dazu rede er zu viel. Ich war mir sicher, dass er keine autistischen Züge trug, trotzdem wollte ich in den nächsten Tagen die Symptome dieser Entwicklungsstörung unter die Lupe nehmen. Will man ein Rätsel lösen, muss man schließlich jeder Spur folgen, egal, wie schwach sie ist. Was immer es sein mochte, ich konnte nicht mehr lange so weiterleben. Meine Unruhe wurde täglich größer. Ich musste unbedingt herausfinden, was mit Gavin los war, bevor ich meine Lebensfreude völlig verlor.

Doch beginnen wir von vorn. Als junges Mädchen hatte ich davon geträumt, einen Mann zu heiraten, der mein Romeo, mein Beschützer und mein bester Freund ist. Meine Eltern hatten mir vorgelebt, dass eine Ehe beglückend ist und man heiratet, um das Leben gemeinsam zu meistern und zu genießen. Doch als ich meinem Traummann nach Australien folgte, musste ich lernen, dass das nicht selbstverständlich ist.

2

Ich wurde am 11. Mai 1960 im Spital Thun geboren. Meine Eltern hatten zu der Zeit bereits einen dreijährigen Sohn und freuten sich, nun auch ein Töchterchen zu haben. Wir wohnten im Schönau-Quartier in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses, und mein Vater war Lehrer an der Mädchensekundarschule Thun, wo er so beliebt war, dass einige Schülerinnen angeblich weinten, als er eines Tages einen Verlobungsring trug. Meine Mutter arbeitete bis zu ihrer Hochzeit als Chefsekretärin, dann wurde sie Hausfrau und schaute zu uns Kindern.

Wir waren nicht reich, aber ich hatte immer alles, was ich mir wünschte. Meine Großmutter, die auf einem Bauernhof aufgewachsen war, nähte mir wunderschöne Kleider, in denen ich mir wie eine Prinzessin vorkam. Leider durfte ich sie nur an besonderen Tagen tragen, weil bei meinen Eskapaden immer wieder Löcher in den Strümpfen entstanden. Ich war ein abenteuerlustiges Kind, und da wir in einem Block wohnten, hatte ich immer viele Spielgefährten. Im Sommer bauten wir im Sandkasten Burgen, verkleideten uns als Indianer, spielten Sitzball und Badminton oder fuhren Trottinett.

Manchmal flog ich auf einer der Schaukeln, die es zwischen den Wohnblöcken gab, so hoch ich konnte. Dabei wünschte ich mir, dass es mir eines Tages gelingen würde, über die Berge hinweg nach Italien zu springen. Mir gefiel dieses Land mit den feinen Gelati, den tollen Lasagnen und dem riesigen Meer. Unsere jährlichen Familienferien dorthin waren für mich immer ein Höhepunkt des Sommers.

Aber auch in Thun war es zu dieser Jahreszeit schön. Sobald es warm wurde, durfte ich mit meiner Familie ins nahe gelegene Strandbad, das mit seinen vielen Becken, dem Sprungturm und dem schönen See Besucher aus der ganzen Welt anlockte. Meist nahmen wir ein Picknick mit, aber an besonderen Tagen aßen wir im Restaurant Wienerli und Kartoffelsalat.

Selbst im Winter langweilte ich mich nie. Mein Kinderzimmer mit Sicht auf die Alpen war ein Paradies, in dem ich stundenlang spielte. Egal, ob ich meine Puppen verarztete, im Krämerladen imaginären Kunden Waren verkaufte, zeichnete, malte, Puzzles legte, mich verkleidete, als Postbeamtin Einzahlungsscheine ausfüllte oder ganz einfach Büchlein anschaute, glücklich war ich immer. Brauchte mein Bruder eine Spielgefährtin, war ich gern bereit, auch mit Autos zu spielen oder seine Indianer mit Cowboys anzugreifen. Kamen Freunde zu Besuch, passte ich mich ihren Wünschen an, und wenn ich genug vom Spielen hatte, ging ich ins Wohnzimmer und tanzte zu meinen Lieblingsplatten. »Schön ist es, auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein«, sang ich inbrünstig, bis meine Mutter hereinkam und die Lautstärke zurückdrehte – worauf ich mich verlegen nach einer neuen Beschäftigung umsah.

Sobald genug Schnee lag, packte ich meinen Schlitten, wanderte auf den kleinen Hügel hinter unserem Block und sauste übermütig mit den Nachbarskindern hinunter. Hatten wir genug vom Schlitteln, bauten wir Schneemänner oder hohe Burgen. In einem besonders kalten Winter gelang es uns sogar, eine Schlittschuhbahn anzulegen, auf der wir Pirouetten drehten. Ich wirkte dabei vermutlich nicht sonderlich elegant, aber das war mir egal. Hauptsache, wir hatten es lustig.

Kurz vor Weihnachten war es bei uns besonders gemütlich, da ich mit meiner Mutter Geschenke für die Verwandten basteln durfte. Ich war zwar kein Basteltalent, leimte, malte und klebte aber voller Freude, bis der Küchentisch farbig war und die Teller trotz heftigem Schrubben beim Abendbrot fast kleben blieben. In der Sonntagsschule führten wir jedes Jahr ein Krippenspiel auf, bei dem ich einmal sogar die Maria spielen durfte. Stolz spazierte ich an Josefs Arm durch die Kirche und genoss es, meine langen Haare einmal offen tragen zu dürfen. Im Alltag hatte ich Zöpfe, weil ich sonst immer zerzaust gewesen wäre. Am Heiligabend sangen und musizierten wir, dann las uns mein Vater die Weihnachtsgeschichte vor. Begeistert bewunderte ich dabei die schöne Dekoration und atmete den Duft von Kerzenwachs ein. Die folgende Bescherung erfüllte immer alle meine Wünsche, und oft konnte ich danach vor lauter Freude kein Auge zutun.

Meine Kindheit empfinde ich als ein Bilderbuch voll schöner Erinnerungen, bis ich mit sechs Jahren in den Kindergarten musste. Aus unerfindlichen Gründen konnte mich die Kindergärtnerin nicht ausstehen. Immer wieder zerriss sie vor den Augen der anderen Kinder meine Zeichnungen und sagte: »Du kannst nicht zeichnen.« Das stimmte aber nicht, im Gegenteil! In meinem Zimmer, vor dessen Fenster ein wunderschöner Kirschbaum stand, hatte ich bisher immer freudig mit Ölkreiden, Buntstiften und Wasserfarben gemalt. Meine Figuren waren groß, dick und sehr farbig, und auf jeder Zeichnung lachte eine strahlende Sonne.

Obwohl ich sichtlich darunter litt, hörte die Kindergärtnerin nicht auf, mich täglich vor allen herunterzumachen, doch ich war noch zu klein, um meinen Eltern von ihren verletzenden Worten zu erzählen. Ich sagte ihnen bloß, dass ich nicht mehr in den Kindergarten gehen wolle. Sie dachten wohl, ich hätte einfach keine Lust, etwas zu lernen, und da mich der Kindergarten ja auf die Schule vorbereiten sollte, schickten sie mich trotzdem hin. Ängstlich würgte ich morgens mein Frühstück hinunter, hatte große Mühe, abends einzuschlafen, und verlor bald einmal jegliche Freude, auch am Zeichnen.

Meine Mutter ging meist früh zu Bett. Konnte ich nicht einschlafen, schlich ich mich manchmal vor ihre Schlafzimmertür und klopfte schüchtern an, bekam jedoch keine Antwort. Traurig ging ich dann zurück in mein Zimmer und fühlte mich zum ersten Mal im Leben so richtig verlassen. Meine Eltern waren sich dessen nicht bewusst; ich hätte wohl nur lauter klopfen müssen, wollte sie aber nicht wecken. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich immer noch wach lag, obwohl so kleine Mädchen doch längst hätten schlafen müssen. Aber die Angst vor der Kindergärtnerin saß mir tief in den Knochen, und oft hörte ich die Kirchturmuhr drei schlagen, bis mich der Schlaf endlich erlöste. Das war mit ein Grund, dass ich später Lehrerin wurde. Ich schwor mir, dass meine Schüler sich nie vor mir fürchten müssten.

Zum Glück durfte ich oft zu meiner Großmutter. In ihrem gemütlichen Haus war die Welt immer in Ordnung. Von ihr erfuhr ich Liebe und Geborgenheit, wie ich sie später nie mehr fand. Ich ging sie häufig besuchen und durfte mindestens zweimal im Jahr zu ihr in die Ferien. Sie spielte mit mir, kochte mein Lieblingsessen, erzählte mir Geschichten, half mir, Drachen zu basteln, und sammelte Kastanien mit mir, aus denen wir kleine Männchen und Tiere machten. Da sie wie ich gern draußen war, gingen wir oft picknicken oder spielten stundenlang im Freien, wobei ich die Prinzessin war und sie meine Dienerin. Ich hatte dann immer das Gefühl, wunderschön zu sein, obwohl ich ein wenig pummelig war.

Blieben wir zu Hause, durfte ich ihr im Garten helfen und mit meiner kleinen Gießkanne die Blumen wässern. Oder ich sammelte Schnecken und bespritzte sie mit Wasser, um zu sehen, welche am schnellsten vorwärtskroch. Bei meiner Großmutter durfte ich mich herrlich schmutzig machen, abends wusch sie mich dann liebevoll und sang dazu lustige Lieder. Bei schönem Wetter wusch ich Puppenkleider und hängte sie an einer kleinen Wäscheleine im Garten auf, dann kochte ich meinen Puppen einen Brei aus Wasser und Sand, den ich mit Rosenblättern dekorierte. Waren sie satt, setzte ich mich unter den Zwetschgenbaum und malte Bilder, die meine Großmutter freudig an die Wand hängte. Abends erzählte sie mir Geschichten, und wenn ich trotzdem nicht einschlafen konnte, durfte ich es ihr sagen.

Die Fürsorge meiner Großmutter half mir, die schwierige Zeit im Kindergarten besser zu ertragen. Als ich im Frühjahr in die Schule kam, gefiel es mir dort sofort ausgezeichnet. Die Lehrer waren nett, und ich hatte viele Freunde, mit denen ich mich auch heute noch bestens verstehe. Eines Tages rief mir ein Junge »Hüpfi« zu. Als ich ihn verblüfft fragte, was er damit meine, grinste er und sagte: »Der Name passt zu dir, weil du jeden Tag in die Schule hüpfst.« Vergnügt warf ich meine Zöpfe über die Schultern und sagte: »Ich gehe eben unheimlich gern dorthin.« Vier Jahre später kam ich prüfungsfrei in die Sekundarschule, an der mein Vater als Lehrer tätig war.

Auch diese Zeit habe ich in bester Erinnerung. Ich weiß noch, dass sich meine Lebensfreude immer wieder in Lachanfällen zeigte, die ich nur schwer unterdrücken konnte. Verzweifelt kniff ich dann den Mund zusammen, um nicht herauszuplatzen, musste aber trotzdem lachen, bis mir die Tränen kamen. Mein fröhliches Lachen schallte durch die Gänge der Sekundarschule, später durch die des Lehrerinnenseminars. Eine Kollegin sagte mir vor kurzem, dass mein Lachen ihr geholfen habe, diese für sie anstrengende Zeit zu überstehen. Trotz meiner Fröhlichkeit und Lebenslust konnte ich die Worte der Kindergärtnerin nie ganz vergessen. Sie hatten mein Selbstwertgefühl tief erschüttert, und wenn ich etwas Neues anfing, war mein erster Gedanke immer: »Das kann ich nicht.«

Ansonsten war meine Kindheit sehr schön. Ich hatte liebevolle Eltern, die sich um mich kümmerten und mir alles gaben, was ich brauchte. Beide waren seit der Schulzeit ineinander verliebt, und ihre Liebe war unglaublich tief. Mein lebhafter Vater konnte sich in Gegenwart meiner eher stillen Mutter herrlich erholen, und es gab kaum Momente, in denen sie nicht ein Herz und eine Seele waren.

Da mein Vater neben Sprachen und Geschichte auch Sport unterrichtete, war unsere Familie immer aktiv. Ich selber war zwar nicht sehr sportlich, genoss es aber, draußen zu sein. Ich lernte früh schwimmen und war kaum aus dem Wasser zu bringen; im Turnen hing ich jedoch wie ein Kartoffelsack am Reck. Mein Vater, der mehrere Jahre bernischer Rekordhalter im 3000-Meter-Lauf war und auch in anderen Disziplinen brillierte, gab mir aber nie das Gefühl, unsportlich zu sein. Stattdessen spornte er mich immer wieder an und lehrte mich schon mit sechs Jahren, Ski zu fahren. Wie ungeschickt ich mich auch anstellte, er blieb immer fröhlich und half mir geduldig, meine Ängste zu überwinden. Bald einmal stand ich sicherer auf den Brettern und fahre auch heute noch begeistert die Pisten hinunter.

Als ich zwölf Jahre alt war, zog unsere Familie in eine neue Wohnung mit einer riesigen Dachterrasse, von der aus man eine tolle Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau, den Niesen, das Stockhorn und die Blüemlisalp hatte, deren Schönheit und Ruhe wie Kraftquellen auf mich wirkten.

Etwa zur gleichen Zeit trat unsere Familie in den Tennisclub Thun ein, der mehr oder weniger direkt am See lag. Die Jahre dort habe ich noch heute in bester Erinnerung. Mein Vater wurde bald einmal Präsident der Anlage, und ich gewann dort Freunde fürs Leben. Wir spielten Tennis, erzählten uns Witze, schleckten Eis und erfrischten uns anschließend im kühlen See. Obwohl ich nicht sehr erfolgshungrig war, spielte ich immer besser Tennis und wurde mit sechzehn Jahren in meiner Kategorie drittbeste Juniorin des Berner Oberlands, worauf ich unheimlich stolz war. Auch später gewann ich T-Shirts, eine Tennistasche und einen großen Pokal, doch das Resultat eines Spiels blieb für mich immer zweitrangig: Im Vordergrund standen die Freude über gelungene Ballwechsel und die Kameradschaft mit meinen Klubgefährten. Das ist mir noch heute wichtiger als Erfolg!

Ich genoss meine Jugend in Thun. Auch Jahre später gab es nichts Schöneres für mich, als in dem klaren Wasser des Sees zu schwimmen und die wunderschönen Berge zu betrachten. In solchen Momenten spürte ich ganz deutlich, dass ich hierhergehörte. In Sommernächten radelte ich mit meinen Freunden am See entlang nach Oberhofen in unsere Lieblingsdisco. Hatten wir keine Lust zum Tanzen, segelten wir auf eine der kleinen Inseln, machten ein Lagerfeuer und grillten unter den Sternen. Im Herbst wanderten wir durch die bunt gefärbten Wälder. Zog Nebel auf, machte ich es mir zu Hause gemütlich und las oder fuhr auf einen der Berge, um das unter mir liegende Nebelmeer zu bewundern. Ich werde diese Zeiten nie vergessen, waren wir doch alle so sorglos und voller Hoffnung auf die Zukunft.

3

An einem schönen Frühlingstag im Jahr 1980 hielt ich endlich das Lehrerdiplom in den Händen und begann sofort mit der Stellensuche. Wenig später bekam ich eine Zusage von der Primarschule in Jegenstorf, einem Bauerndorf nördlich von Bern. Dort hatte ich am Anfang nur ein Zimmer und verbrachte das Wochenende nach wie vor in Thun. Oft fuhr ich sogar an freien Nachmittagen heim in die elterliche Wohnung und korrigierte die Arbeiten der Kinder am See oder zu Hause auf der Terrasse mit Sicht auf die Berge.

Mein Beruf gefiel mir ausgezeichnet, er erfüllte mein Bedürfnis nach Abwechslung und Kreativität. Ich liebte den Umgang mit den Kindern und konnte ihren Wunsch nach Bewegung und Fröhlichkeit und ihre Freude an Geschichten nur allzu gut verstehen. Wurden sie beim ersten Schnee unruhig, unterbrach ich schnell die Rechenstunde und ging mit ihnen nach draußen, wo sie sich nach Herzenslust austoben konnten. Saßen sie später mit roten Wangen und glänzenden Augen wieder an ihren Pulten, lösten sie die Aufgaben schneller denn je.

Ich war mit Leib und Seele Lehrerin und nahm mir fest vor, immer ausgeglichen, fröhlich und geduldig vor meinen Schülern zu stehen. Sie zu verängstigen, lag mir fern, denn Angst spornt nicht an, sie blockiert, das wusste ich genau. Stattdessen versuchte ich, ihre Freude am Lernen zu wecken und ihnen Selbstvertrauen zu geben. Am Beispiel des Hausbaus zeigte ich ihnen, wie gut es ist, dass wir alle unterschiedliche Fähigkeiten haben. Ein Architekt allein kann kein Haus bauen, es braucht auch Elektriker, Schreiner, Maurer und Büropersonal, damit das Projekt gelingt. Die Kinder und ich waren nicht bloß eine Klasse, sondern eher eine Familie, bei der Toleranz, gegenseitiges Verständnis, Motivation, Ehrlichkeit und gute Zusammenarbeit an erster Stelle standen.

Mit der Zeit übernahm ich auch sogenannt schwierige Schüler von anderen Lehrern. Ich machte das gern und freute mich, wenn ich sah, dass sie sich mit ein wenig Verständnis, klaren Abmachungen und Mithilfe der Klassenkameraden wieder integrieren ließen. Ich war damals Unterstufenlehrerin, aber bald einmal wandten sich auch ältere Schüler mit ihren Problemen an mich. Gern nahm ich mir Zeit für sie. Die Oberstufenlehrer lachten damals über meinen Erziehungsstil, ich ließ mich davon aber nicht beirren, weil ich sah, wie das Selbstvertrauen der Teenager wuchs und sie ihr Leben besser in den Griff bekamen. Dem Schulinspektor fiel mein Engagement und meine Freude am Lehrerberuf auf, und so wurde ich bereits mit knapp 23 Jahren Übungslehrerin. Ich durfte also künftigen Lehrern und Lehrerinnen in meiner Klasse das Unterrichten beibringen. Ich hoffte, dass sich meine Freude auf sie übertragen würde, und genoss es, wenn mir das gelang und sie über die anfänglichen Unsicherheiten hinweg zu ihrem eigenen Lehrstil fanden.

Ich war auch Mitglied einer weit über den Ort hinaus bekannten Amateurtheatergruppe, die unter anderem Stücke von Leo Tolstoi, Peter Shaffer, Gerhart Hauptmann und John Patrick in Mundart aufführte. Unsere Vorstellungen waren meist schon Wochen vor Spielbeginn ausverkauft. Drei Jahre lang spielte ich in verschiedenen Produktionen eine Hauptrolle. Das war zwar sehr zeitaufwendig, gleichzeitig aber auch sehr erfüllend. Oft stand ich fünf Abende in der Woche auf der Bühne und kam kaum je vor Mitternacht ins Bett. Ich versuchte auch, in meinen Schülern die Freude an der Schauspielerei zu wecken, und schrieb Musicals und Theaterstücke für sie, die sie dann am Ende des Jahres aufführten.

Mit 24 Jahren war ich vollkommen glücklich mit meinem Leben. Unter der Woche lebte ich nun in meiner eigenen gemütlichen, nordisch eingerichteten Dreizimmerwohnung in Jegenstorf, und an den Wochenenden fuhr ich nach Thun, um meine Familie und meine Freunde zu sehen. Dann, am 3. November 1984, es war ein Samstag, rief plötzlich meine Mutter in der Schule an und teilte mir bestürzt mit, dass mein Vater eine Lungenembolie erlitten habe. Ich ließ meine Klasse in der Obhut einer anderen Lehrerin und fuhr, so schnell ich konnte, ins Spital. Als man mich nicht zu meinem Vater ließ, wurde mir klar, wie ernst die Lage war: Die Ärzte kämpften um sein Leben.

Der Anblick meiner Mutter brach mir fast das Herz, wusste ich doch, wie sehr sie ihn liebte. Ich drückte ihre zitternden Hände und redete beruhigend auf sie ein, aber sie schien mich nicht zu hören und wimmerte nur leise vor sich hin. Zusammen mit meinem Bruder und seiner Frau warteten wir und hofften, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber je länger wir warteten, desto größer wurde unsere Besorgnis. Endlich ging die Tür auf, ein Oberarzt kam auf uns zu und teilte uns sachlich mit, dass es ihm leidtue – »Wir haben alles versucht, konnten ihm aber nicht helfen. Er ist vor fünf Minuten gestorben.« Das kann doch nicht sein!, wollte ich schreien, er war doch so fit, so gesund und so lebensfroh! Aber da hatte der Arzt das Zimmer bereits wieder verlassen, um sich um andere Leben zu kümmern.

Nie werde ich diesen Tag vergessen, an dem ich in der Intensivstation zum letzten Mal das Gesicht meines geliebten Vaters sah. Ich stützte meine Mutter, die immer wieder versuchte, ihn aufzuwecken, und nahm tränenüberströmt Abschied von dem Mann, der meine Kindheit mit so viel Sonnenschein und Freude erfüllt hatte. Die Liebe meiner Eltern war so groß, und sie hatten noch so viele Pläne. Nun stand meine Mutter plötzlich allein da.

Die nächsten Tage verbrachte ich an ihrer Seite und versuchte, ihr etwas Halt zu geben, dabei hatte ich selber keinen mehr. Starr saß ich am Tag der Beerdigung, an dem sich mindestens 700 Menschen in der Thuner Stadtkirche versammelt hatten, um Abschied von meinem Vater zu nehmen, neben meiner Mutter und versuchte, mich auf die vielen Reden zu konzentrieren. Mein Vater war ein fröhlicher, positiver Mensch und hatte sich sein Leben lang für das Wohl seiner Mitmenschen eingesetzt. Er war mein Freund, mein Vorbild und meine Inspiration.

Mein Vater war im Spätherbst gestorben, der Winter danach war trostlos und schwierig. Ich besuchte meine Mutter, sooft ich konnte, aber die Lücke, die mein Vater hinterlassen hatte, klaffte wie eine offene Wunde zwischen uns. Ich versuchte, für sie da zu sein, hatte aber selbst keinen Ort, wo ich auftanken konnte. Sicher wären meine Freunde für mich da gewesen, aber ich fand keinen Trost darin, mit ihnen über meinen Verlust zu reden.

Kurz bevor mein Vater starb, hatte ich mich auf sein Drängen hin bei einem Hallentennisturnier angemeldet, an dem ich nun natürlich nicht teilnehmen wollte. Mein Tennislehrer ermunterte mich jedoch, dennoch anzutreten, was ich dann mit großem Widerwillen auch tat. Ich gewann das Turnier und damit die Tennistasche, von der mein Vater so geschwärmt hatte. Ich stellte sie daheim auf den Tisch und dachte an die schönen Zeiten, die mein fröhlicher Vater und ich im Tennisklub verbracht hatten. Er wäre stolz auf mich gewesen – aber eben, er war nicht mehr da.

Weihnachten verbrachten meine Mutter und ich allein, da mein Bruder arbeiten musste. Es war alles so trostlos ohne meinen Vater, aber wir versuchten, positiv zu bleiben – auch er hätte es so gewollt. Im Januar lernte ich meinen späteren Freund kennen. Ich mochte ihn auf Anhieb, und ihm schien es nicht anders zu ergehen. Er brachte wieder Fröhlichkeit in mein Leben, und das brauchte ich dringend, um für meine Mutter da sein zu können. Wir gingen Ski fahren, besuchten Rockkonzerte, spielten Tennis und kochten zusammen. Er war ein begeisterter Windsurfer und versuchte, auch mir diesen Sport näherzubringen, aber ich hatte kein Talent dazu. Viel lieber schwamm ich im See oder spielte mit Freunden am Ufer Frisbee.

Es war nicht meine erste Beziehung, aber so glücklich wie mit ihm war ich noch nie. Mein Freund wohnte mit einem Kollegen in der Nähe des Thunersees. Gern wäre ich mit ihm zusammengezogen, aber da er vor mir in einer sehr engen Beziehung gelebt hatte, wollte er jetzt, obwohl er mich liebte, erst einmal seine Freiheit genießen. Ich verstand, dass er viel Zeit mit seinen Kollegen und auf dem Wasser verbringen wollte, kam mir allerdings manchmal etwas überflüssig vor. Es lag mir fern, meinen Freund zu bedrängen, denn wenn wir uns sahen, hatten wir es immer schön. Aber bloß immer nur auf ihn warten mochte ich auch nicht, dazu war ich zu unternehmungslustig. Und so beschloss ich im Sommer 1986 spontan, mich auf eine Australienreise zu machen. Als ich meinen Freund fragte, ob er mitkommen wolle, überraschte mich seine Absage nicht. Er konnte nicht freinehmen und wollte später lieber einmal Südamerika sehen.

Als ich den Plan, nach Down Under zu reisen, mit meinen Freunden besprach, rieten sie mir ab. »Das ist ein Land für Männer«, sagten diejenigen, die sich bereits in das Land der giftigen Schlangen, Spinnen und Krokodile gewagt hatten. Aber ich lachte nur. Jetzt erst recht! »Du sprichst ja kaum Englisch«, war der Einwand meiner Mutter, und da musste ich ihr recht geben. Französisch und Italienisch konnte ich sehr gut, Englisch hingegen hatte ich in der Schule nicht gelernt. Das war allerdings kein Grund, mein Vorhaben aufzugeben. Im Gegenteil, ich hoffte, in Australien meine Englischkenntnisse verbessern zu können. Ich besuchte noch einen Anfängerkurs in Bern, lernte in der kurzen Zeit aber nicht viel mehr als »Where is the bus station?«.

Am 3. Januar 1987 war es dann endlich so weit. Ich saß im Flugzeug und warf einen letzten Blick auf die Felderlandschaft der Schweiz, die sich langsam entfernte. »Auf tolle drei Monate!«, sagte ich und hob schmunzelnd mein Glas Rotwein. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Reise mein Leben für immer verändern würde.

4

Die erste Zeit verbrachte ich bei Freunden meiner Eltern in Perth, die mich ins australische Leben einführten. Eines Tages fuhren wir mit ihren bereits erwachsenen Kindern in die Nähe von St. Margaret River und campierten dort in der Wildnis. Ich fand das toll, und als sie mich fragten, ob ich mit ihnen an den Strand spazieren wolle, war ich sofort begeistert. Alle trugen feste Schuhe, da es aber bloß ans Meer ging, zog ich meine Sandalen an. Bald stellte ich fest, dass das kein Spaziergang war, sondern eine dreistündige Wanderung. Es war unheimlich heiß, und wir mussten über etliche Stacheldrahtzäune klettern, bevor wir endlich ans Meer gelangten. Am Strand fragten mich die andern, ob ich mich ins Wasser traue. »Aber sicher«, lachte ich verwundert. Was dachten denn diese Australier! Wir Schweizer können doch auch schwimmen!

Alle Mädchen trugen Badeanzüge, ich selber hatte nur einen Bikini dabei; aber das war egal, Hauptsache, ich konnte mich abkühlen. Fröhlich rannte ich ins Wasser, wo ich wenig später von einem lauten Dröhnen überrascht wurde. Entsetzt sah ich, dass sich über mir eine haushohe Welle auftürmte und mich zu verschlingen drohte. Ich machte augenblicklich kehrt und versuchte, den Strand zu erreichen, aber schon riss mich die Welle unter Wasser. Als ich endlich prustend wieder an die Oberfläche kam, konnte ich gerade noch meine Bikinihose retten, die hilflos an meinen Knöcheln hing. Auf wackligen Beinen taumelte ich ans Ufer und setzte mich erschöpft in den Sand. Von dort aus sah ich bewundernd zu, wie meine australischen Freunde unbesorgt und selbstsicher durch die riesigen Wellen schwammen. Erst hinterher sagten sie mir, dass das Meer bei St. Margaret für seine Wildheit bekannt sei.

An jenem Tag merkte ich, dass Australien kein Land für Schwächlinge ist. Hier muss man die Natur ernst nehmen. Die Hitze ist extrem, die Distanzen sind riesig, und das Meer ist wild. Später am Lagerfeuer lachten wir noch lange über meine Bikinihose.