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Impressum

ISBN 978-3-940621-36-8

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Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1929 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Rathenau, Walther, Von kommenden Dingen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Berlin 1929

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Bearbeitung: Dr. Alexander Schug / Steffi Kühnel

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant, zitierbar“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind. Die in eckigen Klammern gesetzten Zahlen markieren die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe; durch die Paginierung ist auch die digitale Version über die Referenz zur gedruckten Ausgabe zitierbar.

© Vergangenheitsverlag, 2010 – www.vergangenheitsverlag.de

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DEM GEDÄCHTNIS MEINES VATERS

Einleitendes Essay

Einleitendes Essay

Einleitung

Einleitung

[13] Dieses Buch handelt von materiellen Dingen, jedoch um des Geistes willen. Es handelt von Arbeit, Not und Erwerb, von Gütern, Rechten und Macht, von technischem, wirtschaftlichem und politischem Bau, doch es setzt und schätzt diese Begriffe nicht als Endwerte.

Es ist recht zu fragen, ob nicht vielmehr Bedrückung und Armut, Not, Sorge und Unbill die echtesten Kräfte im Menschen befreien, die Seelen erlösen und das Gottesreich herniedertragen. Es steht frei zu antworten, daß die Glaubenspflicht und Wandlungskraft des Menschen nicht erschwert, sondern erleichtert werden soll, daß die Kälte des Elends alle Keime starrt, daß Wachstum und Blüte zulänglicher Erwärmung und Bestrahlung bedürfen. Doch diese Frage und Antwort wird nicht gestellt. Weder um das Bestehende zu stützen und zu beschönigen, noch um Wünsche und Bedingungen emporzulocken, läßt sich der Geist mißbrauchen; seine Mächte sind stark genug, um zu jeder Zeit die Eintracht zwischen Gestaltung und Gestaltendem zu erzwingen. Dieses Verhältnis aber ist eindeutig wie das Verhältnis organischer Gebilde zur Summe der Lebensbedingungen; jeder neue Geist schafft sich seine Welt, und jede seiner [14] Evolutionen verwirklicht sich in neuem Umschwung des Lebens.

Nicht die Forderung geht dem Umschwung voran, sondern die Verkündung, die schon in sich den ersten Anbruch der Erfüllung birgt. Die Verkündung aber ist nicht wahrsagerische Träumerei, sondern die Durchdringung des erschauten irdischen Zustandes mit der Gewißheit des geistigen Gesetzes.

Deshalb ist es nicht müßiges Gedankenflechten, sondern Pflicht und Recht, den Blick von der Betrachtung des bewegten Geistes zum Schattenspiel der Einrichtungen und Lebensformen zu wenden, denn Strahl und Schatten begreifen und beschreiben sich wechselweise. Unsre Zeit, die das kleinste dessen, was sie Tatsache nennt, so wichtig nimmt, erschrickt davor, aus ihrem Herzen ihr Geschick zu lesen; lenkt sie spielend und verantwortungslos bisweilen ihr Denken ins Künftige, so schafft sie aus umgekehrten Tagessorgen und Mißvergnüglichkeiten mechanische Utopien, die, vom Hermesstabe der Technik bewegt, aus der alten Wochenreihe einen kärglichen Sonntag zaubern.

Woher nimmt diese Zeit noch den Mut, von Entwicklung, Zukunft und Zielen zu reden, die Hälfte ihres Tuns dem Kommenden zuzuwenden, für Nachkommenschaften zu wirken, Gesetze zu erfinden, Werte zu setzen, Güter zu speichern? Sie wird nicht müde zu forschen, woher sie kommt, doch sie weiß nicht, wo sie steht, und sie will nicht wissen, wohin sie fährt. Deshalb ermüden die Besten an diesem Werk des Tages für den Tag; viele stellen ihren Zweifel, ihre Müdigkeit und Verzweiflung in die Mitte ihres Denkens, geben vor, [15] sich am Augenblick zu laben, und verzichten auf das schönste Vorrecht: zu sorgen.

Andre weisen auf den erstorbenen Dogmenglauben und seine Verheißungen. Sie wollen ihn zur Auferstehung zwingen durch Einrichtungen, durch Beweise, durch Güte, Zorn, Versprechung und Drohung. Sie haben recht im Empfinden, denn die Religion des Menschen kann niemals vergehen; sie irren im Denken, denn es gibt keinen Glauben ohne Gegenstand, und dieser läßt sich nicht aufzwingen noch aufschwatzen. Das Wesen des Glaubens ist, daß er unbeirrbar, unbewußt und unfehlbar sich selbst seinen Gegenstand schafft, den Gegenstand, der dem jeweiligen Inbegriff der schöpferischen Kräfte erschwinglich ist. Der Dogmenglaube aber siechte durch die Schuld behördlicher Mächte, die zu schwach waren, ihn der Welt konkurrenzlos aufzuzwingen, und stark genug, um ihn Jahrhunderte zu lange durch dunkle Gläser gegen die Lebensstrahlen der Völker abzuschließen; er starb, als man gewaltsam die Scheiben aufriß.

Götter erfinden, Zeichen erzwingen, Sakramente verordnen — diese gutgemeinten Ränke sind eitel. Freilich bedarf es im Tiefsten richtungschaffender Kräfte; doch keine kunstvoll humane Umdeutung kann das alte Fundament handgreiflicher Wunder durch ethische Begriffe ersetzen; transzendente Überzeugungen bleiben in unsern Herzen lebendig, aber sie verlangen neue Sprache, neue Vorstellungen und neue Erleuchtung. Steigen wir hinab in die Schächte unsres unberührbaren innersten Bewußtseins, so finden wir die dunklen Tiefen nicht leer; wir kehren heim mit der Gewißheit des Unendlichen, der Gottseite der Schöpfung, mit der [16] Verkündung des Berufes unsrer Seele, unsrer überintellektualen Mächte, und mit dem Geheimnis des Seelenreiches.

Von diesen Dingen ist in dem Buche „Zur Mechanik des Geistes“ gehandelt; für unsre Erwägungen wird nur die eine Voraussetzung in Anspruch genommen: daß alles irdische Handeln und Zielen in dem einen Sinne seine Rechtfertigung findet, in der Entfaltung der Seele und ihres Reiches.

II

Dieses Buch trifft den dogmatischen Sozialismus ins Herz. Denn er erwächst aus materiellem Willen; in seinem Mittelpunkt steht die Teilung irdischer Güter, sein Ziel ist eine staatlich-wirtschaftliche Ordnung. Mag er heute bestrebt sein, aus andren Weltauffassungen fremde Ideale herbeizuholen, so ist er doch nicht aus ihrem Geiste geboren; er bedarf ihrer nicht, ja sie müssen ihn stören, denn sein Weg führt von der Erde zur Erde, sein tiefster Glaube ist Empörung, seine stärkste Kraft ist gemeinsamer Haß, und seine letzte Hoffnung ist irdisches Wohlbefinden.

Die ihn emporführten, glaubten an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft, mehr noch, sie glaubten an ihre zielsetzende Kraft. Sie glaubten an unausweichliche materielle Menschheitsgesetze und an ein mechanisches Erdenglück.

Nun aber beginnt selbst die Wissenschaft zu erkennen, daß ihr vollkommenstes Gewebe dem Willen nichts andres sein kann als dem Wanderer eine vortreffliche Landkarte: da liegt ein Gebirgszug, ein [17] Fluß, eine Stadt, ein Meer; wende ich mich rechts, so gelange ich hierhin, links dorthin; dieser ist der kürzere Weg, jener der ebnere; hier herrscht Fülle, dort weht Bergluft; hier liegt Freiland, dort Zivilisation. Welcher Pfad mir aber vorgeschrieben ist, wohin mein Herz, meine Pflicht mich zieht, kann ein Kartenblatt mir nicht sagen. Wissenschaft mißt und wägt, beschreibt und erklärt, aber sie wertet nicht, es sei denn nach dem Maßstabe konventioneller Satzung. Ohne Wertung und Wahl aber besteht kein Ziel, und da alles vernünftige Handeln Zielen und Polen zustrebt, so ergibt sich abermals, daß über alles menschliche Geschehen das Herz entscheidet.

In dem zwangsläufigen Abrollen, das die materielle Geschichtsauffassung dem Weltgeschehen aufzwingt, hat der Wille des Herzens keinen Platz; ändert sich die mutmaßliche Wertungsfolge der Menschheit, wie sie sich stets geändert hat, so muß der blinde Mechanismus, unaufhaltsam fortlaufend, den Willen der Menschheit seinem eigenen Widerspiel entgegenschleudern.

Ziele setzen heißt Glauben. Doch das ist kein echter Glaube, der, aus Wunschumkehrung einer zeitlichen Not stammend, das Bestehende verneint, um die Weltordnung in eine Maßregel zu verwandeln. Echter Glaube stammt aus der Schöpferkraft des Herzens, aus der Phantasie der Liebe; er schafft Gesinnung, und ihr folgt willenlos das Geschehen. Niemals wird Gesinnung durch Einrichtungen erlistet; und weil der Sozialismus um Einrichtungen kämpft, bleibt er Politik; er mag Kritik üben, Mißstände beseitigen, Rechte gewinnen: niemals wird er das Erdenleben umgestalten, denn diese [18] Kraft gebührt allein der Weltanschauung, dem Glauben, der transzendenten Idee.

Wird die Unzulänglichkeit des Sozialismus evident, so mögen dennoch sich die nicht freuen, die aus bequemer Neigung zum Bestehenden, aus Furcht vor Opfern und aus Trägheit des Herzens ihn bekämpfen.

Die Opfer, welche die kommende Zeit verlangt, sind härter, der Dienst ist mühevoller, der äußere Lohn geringer als im sozialen Reiche, denn es wird mehr als Verleugnung materieller Werte verlangt. Über ihr steht Verleugnung unsrer liebsten Eitelkeiten, Schwächen, Laster und Passionen, über ihr steht die Pflicht zu Empfindungen und Taten, die wir heute theoretisch preisen und praktisch verhöhnen; über ihr steht die schwere Erkenntnis, daß wir nicht zum Glücke streben, sondern zur Erfüllung, daß wir nicht um unsertwillen leben, sondern um des Gottes willen.

Dennoch wird die Menschheit diesen Weg gehen, nicht weil sie muß, sondern weil sie will; weil es von der Erkenntnis des Glaubens kein Zurück gibt, weil die Seligkeit des göttlichen Wollens sie ergreift. Sie wird ihn gehen durch Feindschaft, Hohn und Verfolgung, und es wird ihr die schwerste Prüfung nicht erspart sein, daß sie bezichtigt wird von denen, die sie zu erlösen schreitet, und die ihr bittere Strafe und heilige Entsühnung für getanes Unrecht verhängen. Undank wird ihren Weg segnen, Mühsal wird ihn begleiten, und dennoch wird sie in demütigem Stolz für jeden Schmerzensschritt danken, der sie dem Licht entgegenführt.

Nicht Furcht und nicht Hoffnung sind die treibenden Gewalten. Nicht das verständige Streben [19] nach mechanischem Gleichgewicht, nicht Güte und selbst nicht Gerechtigkeit. Sondern Glaube, der aus Liebe entspringt, tiefste Not und Gottes Wille.

III

Die Zeit, die in ihrem Innersten nach Selbsterkenntnis und Erlösung von eigener Härte lechzt, ist in ihrem Gehaben vorschauendem Denken nicht günstig. Kaum ist sie dem plumpen Ernst und der Handgreiflichkeit des Materialismus entronnen, da schämt sie sich schon aller Praxis und schämt sich nochmals dieser Scham und sucht sie zu verdecken, indem sie mit bemeistertem Abscheu armselige Gerätschaften und Zutaten des neuzeitlichen Lebens in ihre Empfindungen webt. Sie bringt Bogenlampen und Hotelgärten in Reime von bedachter Kühnheit und ist doch weltfremder als ihre grobe Vorläuferin, die in menschlichen Dingen zugegriffen hatte und Bescheid wußte. Um sich zu beweisen, wie sehr sie der unentwegten Selbstsicherheit des Marktes fernstehen, wählen viele von der Erscheinung der Welt nur die zarteste, bunteste Haut und begnügen sich, in koketter Betrachtung hier über eine Ähnlichkeit, dort über einen Widerspruch zu lächeln.

Kahler Betrug! Denn nur der Ernst der Welt, der Glaube an ihren Sinn und Zusammenhang rechtfertigt Betrachtung und Mitteilung; mutiger Glaube an die Sinnlosigkeit und hoffnungslose Verworrenheit des Bestehenden fordert in Folge ein ungeistiges Leben animalischen Genusses und die Beschränkung alles sittlichen Bewußtseins auf die Furcht vor der Polizei. Der Schaufensterdieb des [20] Lebens leugnet den Schweiß, den er verpraßt und verwertet; er bleibt ein Held nur für seinesgleichen, denn die Menschheit läßt sich mit dem kärglichen Raube nicht beschenken.

Gewiß, nicht erlernte Kenntnis und ersessene Bildung vermag die harten Schollen unsres anvertrauten Feldes zu lösen; hochmütiges Wissen und Besserwissen fruchtet nicht. Doch ernst zu nehmen ist jedes echte irdische Ereignis; Treue der Sinne und Hingabe des Geistes führen zum innern Ergreifen selbst des alltäglichen Geschehens und verschmähen das Nippen an den Zeichen der Dinge. Ist die Welt eine Ordnung, ein Kosmos, so steht es dem Manne an, seine Zusammenhänge, Gesetze und Phänomene zu schätzen und in sich zu erbauen. Platos, Lionardos und Goethes Eindringen in die handfeste Welt der Dinge war nicht profaner Abweg, sondern göttliche Notwendigkeit. Der Dichter, der aus mangelnder Kraft der Umspannung die Gegenwart und Zukunft seiner Welt verschmäht um des auserwählt Interessanten willen, ist nicht, wie er glaubt, ein Seher, sondern ein Veranstalter ästhetischer Unterhaltung. Die Römer nannten den Staat die Sache aller; in höherem Maße ist es die Natur: als Umwelt, Wildnis, Garten, Kampfplatz und Grab des Menschen.

Sehr bald wird auf den Romantismus der Zeit, die sich real gebärdet und artifiziell empfindet, die Stimmung folgen, die in Zeiten unverbildeter Menschen nie erloschen ist: an die Stelle literarischer und gymnasialer Erfahrung wird Welterfahrung treten; auf dem Quaderfundament bewältigter Wirklichkeiten wird der Bau der Ideen sicherer ruhen und höher steigen als auf dem Geschiebe [21] unerlebter Prinzipien. Ein pragmatischer Zug, ein Gemeinschaftsgefühl handfester Menschen, Phantastik aus dem Grunde wahrer Weltteilnahme und Weltverantwortung wird das unabhängige Denken und Fühlen aus der Wärmstube der Konventikel auf die Bahn des Geschehens, des Schicksals und der Tat geleiten. Das Denken und Fühlen der Welt wird fest sein, nicht handgreiflich, zart, nicht schwächlich, phantasievoll, nicht verstiegen, transzendent, nicht frömmelnd, pragmatisch, nicht rabulistisch; die geistige Führung wird von Frauen und grinsenden Ästheten auf Männer, von Artisten und Arrangeuren auf Dichter und Denker übergehen.

Der individuelle Nihilismus, an dem wir leiden, der uns die Verallgemeinerung zweifelhaft, das Gesetz verdächtig und die Tat verächtlich macht, der vorgibt, sich mit der Kontemplation des unvergleichlich Einzelnen zu beruhigen und doch heimlich vom Gesetz und von der Tat zehrt: diese hoffnungslose falsche Heiterkeit, unüberzeugte Ethik und Entsagung wider Willen schöpft noch aus tieferer Quelle, die jedesmal zu fließen beginnt, wenn der Glaube die Menschheit verläßt.

Die Lehre lautet: Wo ist ein Gültiges? Alles ist einmalig. Wo ist Stetigkeit? Jeder Augenblick ist neugeschaffen und ohne Vorgang. Wie könnte Entwicklung sein, da alles Zeitliche Täuschung ist?

Gewiß ist es wahr, daß im tiefsten Innern der Dinge alles ruht; je weiter vom Mittelpunkt, desto heftiger kreist die schattenhafte Bewegung. Die Seele ahnt in allen großen Augenblicken ihr heilig ruhendes Ziel und strebt magnetisch aus Täuschungswirren dem Zentrum entgegen. Doch dies Geheimnis befreit uns nicht vom Leben. Was im [22] Klang des All sich zur Harmonie fügt, tönt uns zwar in Einzelstimmungen zerrissen; was unveränderlich besteht, blendet uns im Wechsel; und dennoch sind wir in dieses Leben gestellt, um es auf unsrer Stufe zu vollenden, und unser Leidensweg geht durch die Zeit. Verachten wir diese Bühne des Werdens, so ist alles Denken vergeblich, jedes höhere Gefühl irrational und alles Handeln Torheit; ja selbst ein Streben nach innerer Vollkommenheit bleibt Handlung und somit Wahn. Doch dieser Ausgang widerlegt sich selbst: denn der heiße Drang der Seele besteht; und mehr noch, er ist von allem Erleben das Realste. Wage es, ihn und nicht das erdacht Absolute zur temporären Achse unsres Erlebens zu wählen, so gewinnt das Dasein seinen Sinn zurück. Das Denken zum Absoluten vernichtet den Willen; die Andacht zum Transzendenten aber gibt dem Denken adäquate Ziele, belebt den Willen zur Liebe des Menschen, der Natur und der Gottheit und erobert die Tat.

Obwohl jede historisch-rationale Erörterungsform dem Sinne dieser apriorischen Darlegung widerspricht, sei eine Bemerkung gestattet, die einen herkömmlichen Irrtum der Erfahrung beseitigen soll. Es liegt nahe, die kurze historische Spanne zu durchlaufen, die uns vertraut ist, das kunstüberlieferte Gefühlsleben der Inder, Hebräer, Griechen und Germanen zu beleuchten, und zu folgern, daß im wahrhaft Echten der menschlichen Kräfte keine Entwicklung, selbst keine Steigerung geschehen noch möglich sei. Vergessen wir doch nicht, daß die Brücke der Erinnerung nur von Gipfel zu Gipfel führt! Sie ermißt nicht, wie mächtig die Sohle der Täler sich gehoben hat.

[23] Die Geschichte schweigt von den Zahl- und Namenlosen; noch immer ist sie eine Chronik der Sieger und Heroen. Die Natur aber ist treu; sie zertritt nicht das überholte Geschöpf; und das überholte Volk lebt abseits von der Heerstraße im Schoße alter Kontinente. Die Natur arbeitet nicht, wie der Chemiker, restlos; sie verwandelt und entwickelt einen Teil ihres unerschöpflichen Materials, das übrige legt sie beiseite, um es noch lange dem Gedächtnis zu erhalten und unmerklich aufzuarbeiten. In Abgeschiedenheit der afrikanischen und asiatischen Welt leben noch heute die Hirten Kanaans und die Speerträger Ilions; wie wir Gleichnisse der Gottheit und doch an Seele jünger und schwächer. Aus jenen alten, tief animalischen Unterschichten aber sind Geschlechter von einer Beseeltheit erwachsen, die fast der Höhe der erloschenen Herrenstämme gleichkommt.

Wer eine Sprache wahrhaft besitzt, der besitzt, obwohl die Genialität des Sprachschöpfers ihm nicht zusteht, ihren ganzen Geist; wer das Erbe eines Großen im Geist begreift und besitzt, der ist wo nicht im Schöpferischen, doch im Seelischen sein Jünger und Bruder. Das Erbe Buddhas und Christi, Platons und Goethes war, als es die Erde berührte, der Menschheit erschreckend fremd und feindlich; gleichviel durch welche alltägliche Kraft es geschah: heute keimt das heilige Gut in tausend Herzen, und diese Herzen, ob in Einfalt, ob in wetteiferndem Feuer, sind der Seele näher als ehedem die wenigen auserwählten Schüler. Das Maß der Seele ist nicht Genialität; wohl aber ist das Maß aller Schöpfung gegeben in der Erweckung der Seele.

[24] Entwicklung ist die Denkform unsres überanimalischen Handelns, denn alles Tun ruht im Zeitbegriff, und der Wille zum Beharren ist so unmöglich wie der Wille zum Ursprung. Es ist das Zeichen einer zweifelsüchtig trägen Zeit, wenn der Blick sehnsüchtig am Vergangenen haftet; daß unsre ganze Billigung und Teilnahme den Vorfahren gilt, daß jedes ihrer Werke und Worte uns wichtiger und vertrauter gilt als alles junge Wesen, das entschuldigen wir mit der Plage unsrer Mechanismen und mit der Unerträglichkeit jener beschränkten Großsprecher, die uns jede mechanisierte Notdurft als Aufstieg zur Vollkommenheit preisen.

Jedoch auch die geplagte, selbst die irrende Zeit ist ehrwürdig, denn sie ist nicht Menschensache, sondern Menschheitssache, und somit Werk der schaffenden Natur, die hart sein kann, nicht sinnlos. Ist diese Zeit schwer, so ist es unsre schwerere Pflicht, sie zu lieben, sie mit unsrer Liebe zu durchbohren, bis die schweren Gebirge der Materie weichen und das jenseitige Licht erscheint. Auch diese Liebe ist hart; zu Staub zermahlt sie nicht nur das taube Gestein, das die Zeit uns entgegentürmt; sie zerbricht auch manches liebgewohnte Wahrzeichen unsres Herzens; denn nur durch dies Herz allein führt der Weg zur Freiheit der Welt.

Ist es Vermessenheit, diesen Weg ahnend zu bestimmen? Es ist vermessen, mit der peinlichen Frage der Wissenschaft den kommenden Geist zu extorquieren. Die Erfahrung vermag abzuleiten, nicht fortzuentwickeln: sie sagt nur, daß die Linde vor meinem Fenster aus einem Samenkorn erwachsen ist, sie sagt mir nicht, ob das Korn in meiner [25]Hand zum Baume werden wird oder zu Staub. Doch selbst die Ableitung, aufs Gegenwärtige angewendet, bleibt vieldeutig und birgt Gefahren, denn die Zahl der irdischen Formen ist beschränkt, die Inhalte wachsen, und unversehens füllt das alte Gefäß sich mit neuem Geist. Es ist erlaubt, die Tragödie aus Hirtenspielen, die Symphonie aus Tänzen abzuleiten: doch Hamlets Geist und der Gehalt der Neunten haben mit dieser antiquarischen Forschung nichts gemein. Hier liegt der Grenzwert aller Tradition: sie erklärt, beruhigt, verleiht den gleitenden Dingen mechanische Trägheit, doch sie heiligt nicht, entschuldigt nicht und öffnet keinen Blick ins Künftige. Die Geschichte lehrt es tausendfach: mag eine Staatsform, eine öffentliche Ordnung noch so fest in klar gewollter geschichtlicher Entstehung verankert sein: es ergreift sie ein neuer Geist, die harmlose Form bleibt bestehen, und dem Historiker zum Trotz, dessen sakraler Bau dahinsinkt, füllt unter der Maske des Irrtums, der Mißdeutung, der Gewalt das innere Gesetz in die gereinigte Schale ein neues Leben.

Versagt sich Erfahrung und Überlieferung dem Streben zum Künftigen, erstirbt die Berechnung zur kahlen Spekulation, so sollen wir uns gegenwärtig halten, daß alle Entwicklung Aufstieg des Geistes ist und daß unser inneres Erleben, rein empfunden und wunschlos gedeutet, am Geschehen der Welt mikrokosmischen Anteil hat. Dies ist die Erklärung aller Prophetie; vom geschäftlich nüchternen Erfassen einer Konjunktur bis zur adäquaten Ausdeutung der politischen Notwendigkeit, von der einfühlenden Erkenntnis eines menschlichen Schick- [26] sals bis zur visionären Durchdringung des Weltbildes bezeichnen alle Stufen des intellektualen und des intuitiven Mitklingens den Parallelismus des erlebten und des objektiven Geistes. Jedes organisierte Instrument erlebt in seiner Stimme das Abrollen der Symphonie.

Die innere Gewißheit dieses Erlebens ist gegeben in der ungewollt und übermächtig sich aufzwingenden Notwendigkeit des Denkens; die mitteilende Wahrhaftigkeit entzieht sich dem mechanischen Beweise. Was ist beweisbar? Kaum das Vergangene, kaum selbst die Wahrheit der euklidischen Geometrie; unsre Gefühle sind es nicht, unsre Erlebnisse nicht und nicht unsre Voraussichten. Jede geschäftliche Auffassung, jede organisatorische Maßnahme ist bestreitbar, und dennoch bleibt in der Welt ein glaubendes Vertrauen zum Rechten. Denn es liegt im mitgeteilten wahrhaften Erlebnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Kraft, die Einfühlung, Prüfung und Glauben erzwingt. Starkes Empfinden redet starke Sprache, klar Erschautes leuchtet ein, Aufrichtigkeit schafft Vertrauen.

Der echte Gedanke gibt ein körperliches Gefühl der Plastik und des Gewichts. Und noch ein andres Zeichen unterscheidet ihn von den Paradoxen und Anmerkungen des Tages, die, nur von einer Seite gesehen und beleuchtet, wahr sind: er neigt zum Wirklichen, er berührt das Alltägliche, ohne in ihm zu wurzeln, er scheint realisabel und dennoch phantastisch. Denn die Keime des Künftigen liegen allenthalben sprossend im Boden; das Kommende ist wunderbar, nicht weil es aus dem Nichts kommt, sondern weil es das Gemeine wandelt. [27] All unser Tun hat etwas Seherisches, denn jeder Schritt trägt in die Zukunft. Glauben wir aber an das Vorschauende im Menschen, so laßt uns recht daran glauben. Schließen wir uns im guten Willen zusammen, so wird dem gemeinsamen Schauen das Trügerische zerrinnen, das Rechte sich verklären; Bedingung ist, daß der Fuß nie den Boden, das Auge die Gestirne nie verliere.

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