image

Ursula Hauser

Die Rebellin

Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit

Geschrieben von Tanja Polli

image

Ursula Hauser ist quecksilbrig, eine brillante Erzählerin, eine Frau mit einem unglaublich guten Gedächtnis. Ihre Erzählungen führten vom kleinbürgerlichen Kilchberg nach San Francisco in den Summer of Love, von dort nach Kapstadt und über Schwamendingen weiter nach Costa Rica. Wenn die Psychoanalytikerin von ihrer Arbeit mit traumatisierten Frauen in Palästina und Chiapas erzählte, war sie selber so gerührt, dass sie unterbrechen musste. Ich erfreute mich an der kritischen Stimme einer Frau, die ihre Vision von einem Leben für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit umgesetzt hat. Und die aus einer Lebenskrise heraus etwas geschaffen hat, das für immer bleiben wird.

Auszug aus dem Vorwort der Autorin Tanja Polli

1946 als Tochter des ehemaligen Gemeindeschreibers von Kilchberg geboren, scheint Ursula Hausers Lebensweg in geordneten Bahnen vorgezeichnet, als sie mit neunzehn ungewollt schwanger wird. Nach der – traumatischen – Abtreibung hält sie ihr enges Umfeld nicht mehr aus. Sie reist nach Amerika, gerät in den Strudel der Anti-Vietnam-Proteste und schließt sich der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung an. Zurück in der Schweiz, engagiert sie sich in der Achtundsechziger-Bewegung und beginnt, Psychologie zu studieren. Ihr Instrument ist das Psychodrama, eine Gruppentherapie, in der konfliktbeladene Situationen szenisch aufgearbeitet werden. 1980 reist die Psychoanalytikerin nach Nicaragua, um die sandinistische Revolution zu unterstützen und den vom Bürgerkrieg traumatisierten und sexuell ausgebeuteten Frauen zu helfen. Dort lernt sie Antonio Grieco kennen, Revolutionär und Weggefährte Che Guevaras. Die beiden verlieben sich, heiraten und leben sechzehn Jahre glücklich zusammen, bis er an den Spätfolgen der Folter stirbt, die er Jahre zuvor im Gefängnis der Militärdiktatur in Uruguay erlitten hat. Seither ist Ursula Hauser eine moderne Nomadin. Unterstützt von schweizerischen NGOs, reist sie in Kriegs- und Krisengebiete, leitet Psychodramagruppen in Flüchtlingslagern und Armenvierteln, entwickelt Frauenprojekte und bildet Ärztinnen, Krankenschwestern und Sozialarbeiter aus – unter anderem im Gazastreifen, in El Salvador, Nicaragua und Uruguay.

Für Antonio

image

Einer von Antonios Cucusitos

»Patria es la casa donde arde el fuego nuestro.«
(Heimat ist das Haus, in dem unser Feuer brennt.)

Rubén Lena, uruguayischer Poet

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kilchberg

USA

Kapstadt

Felix Hurter, Jugendliebe

Zürich, City

Wiedikon

Schwamendingen

Universität Zürich

Paris

Überlingen

Wallis

Langnau am Albis

Zürich, Kreis

Tösstal

Berthold Rothschild, Psychoanalytiker und Freund

Nicaragua

Mexiko

Costa Rica, Paseo Colón

Uruguay

Costa Rica II

Italien

El Salvador

Kuba

Chiapas

Elisabeth Valance Romann (»Li«), Freundin

Palästina

Maja Hess, Ärztin und Präsidentin von Medico International Schweiz

Montevideo

Schlusswort

Dank

Vorwort

Ganz ehrlich: Ich stand der Psychoanalyse kritisch gegenüber, und das Wort Gruppentherapie löste bei mir keine positiven Assoziationen aus. Und das, obwohl – oder vielleicht gerade weil? – ich die Tochter eines Psychotherapeuten und einer Psychologin bin.

Als mich die Zürcher Fotografin Ursula Markus im November 2014 anrief und sagte: »Ich habe eben eine Psychoanalytikerin fotografiert, die du kennen lernen musst«, war ich mehr als skeptisch. Die Frau, die Ursula Markus fotografiert hatte, war vom Schweizerischen Berufsverband für Angewandte Psychologie für ihre herausragende Leistung ausgezeichnet worden. Sie hieß Ursula Hauser, war 69 Jahre alt und lebte in Costa Rica. Eine kurze Recherche ergab Weiteres: Ursula Hauser ist seit über dreißig Jahren in Nicaragua, El Salvador, Palästina, Chiapas und Kuba unterwegs und setzt sich für traumatisierte Frauen ein. Im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe bildet sie in den Ländern des Südens Ärztinnen, Sozialarbeiter und Krankenschwestern in Psychodrama aus, einer Gruppentherapie, in der konfliktbeladene Situationen szenisch aufgearbeitet werden. Meine Neugierde war geweckt, Gruppentherapie hin oder her.

Ich rief Ursula Hauser an und fragte sie, ob sie sich für den »Beobachter« porträtieren lassen würde. »Mich hat schon einmal jemand interviewt«, sagte sie, »könnten Sie nicht einfach diesen Text nehmen?« Nein, das konnte ich nicht. Wir verabredeten uns in der Wohnung der Fotografin, im Zürcher Kreis 4, im fünften Stock.

Die Frau, die die fünf Treppen zur Dachwohnung bezwungen hatte und sich nun schwungvoll das Foulard vom Hals zog und die kurzen graublonden Haare schüttelte, warf sogleich einen Blick aus dem Fenster. »Fantastisch!«, sagte sie strahlend, »einfach fantastisch, dieser Blick über die Dächer von Zürich!« Sie kam direkt vom Restaurant Vorderer Sternen, »von einer Bratwurst, einem Bürli und einer Stange«. So liebe sie die Schweiz, sagte sie, um gleich darauf anzuhängen: »Aber diese SVP-Wahlplakate überall, grauenhaft!«

Ursula Hauser ist quecksilbrig, eine brillante Erzählerin, eine Frau mit einem unglaublich guten Gedächtnis. Unser erstes Gespräch dauerte drei Stunden, ihre Erzählungen führten vom kleinbürgerlichen Kilchberg nach San Francisco in den Summer of Love, von dort nach Kapstadt und über Schwamendingen weiter nach Costa Rica. An die Namen ihrer Primarschulfreundinnen erinnert sich Ursula Hauser genauso gut wie an die Details ihrer ersten Schulstunde, die sie als junge Lehrerin gegeben hatte.

Wenn sie von ihrer Arbeit mit traumatisierten Frauen in Palästina oder Chiapas erzählte, war sie selber so gerührt, dass sie unterbrechen musste; wenn sie etwas erklären wollte, sprang sie auf, spielte mir die Szene vor.

Dieses Leben, dachte ich bereits während des Interviews, passt nicht auf die zwei Seiten, die ich für mein Porträt zur Verfügung habe. Dieses Leben passt im besten Fall zwischen zwei Buchdeckel.

Ein paar Tage nach unserem ersten Treffen rief ich Ursula Hauser ein zweites Mal an. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass ihr Leben in einem Buch festgehalten werden sollte. Den Wörterseh Verlag hatte ich bereits überzeugt. Sie zögerte, ließ sich dann aber auf ein weiteres Interview ein. Es dauerte sechs Stunden, das nächste acht. Wir trafen uns, wenn Ursula auf ihren Reisen zwischen den Kontinenten in Zürich haltmachte, um ihre 98-jährige Mutter zu besuchen. Wir kehrten gemeinsam an Orte zurück, an denen sie einen Teil ihrer Jugend verbracht hatte: nach Kilchberg, ins Zürcher Niederdörfli, in die »Bodega«, ins ehemalige Szenerestaurant Select am Limmatquai und ins Restaurant Belvoir in Rüschlikon.

Dort tauchte ich mit Ursula ein in die Zeit der Achtundsechzigerbewegung, erschrak ob der Brutalität der Diktaturen in Latein- und Mittelamerika und versöhnte mich ganz nebenbei mit Psychoanalyse und Gruppentherapie. Vor allem aber erfreute ich mich an der kritischen Stimme einer Frau, die ihre Vision von einem Leben für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit umgesetzt hat. Und die aus einer Lebenskrise heraus etwas geschaffen hat, das für immer bleiben wird.

Tanja Polli, im August 2015

Prolog

»Turn! Turn! Turn!«, singe ich. Mit mir Hunderte US-amerikanische Studentinnen und Studenten. »A time of love, a time of hate. A time for peace, I swear it’s not too late.« Am Straßenrand stehen Frauen und Männer mit hassverzerrten Gesichtern. Sie pöbeln uns an: »Ihr dreckigen Kommunistenschweine!«

Wir demonstrieren gegen den Krieg in Vietnam. »Make love not war!« Junge Leute, die in New York an der Columbia University studieren, und ich, das Ursi aus der Schweiz. Meine amerikanischen Freunde habe ich längst aus den Augen verloren. Ich stolpere, von der Masse vorwärtsgeschoben, weiter. »Es tut mir leid, dass ich die Wände beschmiere«, steht an einem der Häuser, »aber Babys werden verbrannt und Menschen sterben.«

Ich weine. Echte Tränen vermischen sich mit solchen, die mein Körper produziert, um das Tränengas aus den Augen zu spülen. Hunderte mit Schlagstöcken und Gewehren bewaffnete Polizisten stehen in den Seitenstraßen. Wer in der vordersten Reihe geht, verschwindet meist blutend in einem der grauen Kastenwagen. Ich versuche, meine Gedanken zu kontrollieren: »Das ist New York«, sage ich mir. 1968. »Ein zivilisiertes Land.« Ich rede mir selber gut zu: »Ich bin Schweizerin. Mir wird nichts passieren.« Hinter mir schwillt der Gesang wieder an: »A time for peace. I swear it’s not too late.« Frieden. Ich schwöre, es ist nicht zu spät.

Ich muss an meine Eltern denken. Was tue ich ihnen an? Ich sollte doch ihr Sonnenschein sein.

Kilchberg

Ich war ein Nachkriegskind. Das ersehnte Glück nach all den schweren Jahren. Meine Eltern hatten 1941 geheiratet, mein Vater in Militäruniform. Zwei Jahre später kam mein Bruder Walter zur Welt. Mitten im Krieg. Mein Vater schützte die Grenze, meine Mutter war mit dem Baby allein. Aber 1946 war der Vater da, wartete mit einem Blumenstrauß vor dem Gebärsaal. Meine Mutter lag erschöpft im Bett und schaute mich verängstigt an. Ich atmete nicht. Lag blau und schlaff in den großen weißen Händen des Arztes, die Nabelschnur zweimal um den Hals. Als ich nach bangen Sekunden doch schrie, sagte der Arzt: »Sie haben Glück, das ist ein starkes Mädchen. Eine Kämpferin.« Mein Name passt ganz wunderbar zu mir: Ursula. Die kleine Bärin.

Auf meine Geburt folgten glückliche Jahre. Wir lebten in Kilchberg vis-à-vis dem Gutsbetrieb »Uf Stocken«, einem großen Bauernhof mit vielen Tieren. Das Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnten, stand nur Gemeindeangestellten zur Verfügung. Mein Vater war Kanzlist, er hatte einen kleinen Lohn, aber eine sichere Stelle. Wir Kinder waren kaum je in unseren Zimmern, wann immer man uns ließ, zogen wir im Rudel durchs Dorf. Wir spielten, halfen den Bauern bei der Kartoffelernte und streichelten die Kühe, wir bauten Hütten und brieten Kastanien. Wir waren frei, wild und glücklich.

Jeden Mittwochnachmittag wanderten wir mit meiner Mutter nach Rüschlikon zum Kasperlitheater im Duttipark. Ein Fest! Jeder bekam ein Stängeli-Glacé: Vanille, Erdbeere oder Schoggi. Das Kasperlitheater war gratis. Ein Geschenk von zwei sozial denkenden Menschen an die Bevölkerung: Gottlieb und Adele Duttweiler, die Begründer der Migros-Genossenschaft.

Wir hatten weder ein Auto noch einen Fernseher. Das erste elektrische Küchengerät brachte mein Vater ins Haus. Einen Mixer. Ich erinnere mich genau: Vor den Augen aller hob meine Mutter das glänzende Ungetüm aus der Schachtel. Fast feierlich schüttete sie gekochten Spinat in den hohen Glasbehälter und drückte den metallenen Kippschalter nach unten. Die Maschine heulte auf, und innerhalb weniger Sekunden war alles grün, meine Mutter, die Wände, die Decke, der Fußboden und wir. Mami hatte vergessen, den Deckel zu schließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir das Gerät wieder zu Gesicht bekamen.

Jeden Freitag war Waschtag. Bevor mein Vater zur Arbeit ging, machte er ein Feuer unter dem kupfernen Waschkessel im Keller. Wir Kinder liebten es, in der Waschküche zu sitzen und zuzuschauen, wie unsere Mutter die dampfende Wäsche mit einer riesigen Zange aus dem Wasser zog und in die Schwinge füllte. Ich saß daneben und rieb auf meinem kleinen Waschbrett die Küchentücher aus kariertem Leinen sauber. Ich mochte den frischen Geruch des Waschmittels, das meine Mutter seit kurzem in der Migros kaufte.

Wir waren die Sonnenkinder unserer Eltern und Großeltern, die Schoggikinder. Die Fabrik Lindt & Sprüngli stand mitten im Dorf, und wir wuchsen mit Schokoladenduft auf. Als mein Vater 1956 vom Kanzlisten zum Gemeindeschreiber befördert wurde, schenkte er jedem von uns eine Tafel Schokolade. Von diesem Zeitpunkt an hatten wir immer Schokolade daheim; sie lag in der kleinen Schublade im Küchenbuffet.

Ab sofort gehörten wir zu den Besserverdienenden. Wir zogen von unserer kleinen Wohnung in ein ebenfalls nicht großes Reihenhäuschen um. Für meine Mutter war das der lang ersehnte Aufstieg, für uns Kinder eine mittlere Katastrophe. Obwohl wir nur wenige hundert Meter weitergezogen waren, gehörten wir in unserer ehemaligen Kinderclique nicht mehr richtig dazu. Wir sahen unsere alten Freunde aus dem Block, in dem wir gewohnt hatten, immer seltener.

Vati war plötzlich noch weniger daheim. Er war jetzt nicht nur engagierter Gemeindeschreiber, mit Leib und Seele Hauptmann und Schütze, er hatte jetzt auch die Vormundschaftsbehörde unter sich, und kümmerte sich in seiner Freizeit um die Belange der armen Familien und der Verdingkinder. Wenn er nach Hause kam, war er müde, und wir mussten still sein.

Zum Glück gabs Omama und Opapa, die Eltern meiner Mutter. Sie lebten in Adliswil. Omama war eine Zugezogene. Sie hieß Emma Nohl und stammte aus Nohl, einem kleinen Dorf am äußersten Ende des Kantons Zürich, direkt an der deutschen Grenze. Die Liebe hatte sie ins Sihltal gebracht. Ich mochte die Geschichten, die sie mir über das Leben in Nohl erzählte, zum Beispiel von ihrem Vater, meinem Urgroßvater. Dieser war ein wohlhabender, eigensinniger Bauer gewesen. Während des Zweiten Weltkriegs soll er an den Nazis vorbei auf seine Kartoffeläcker gestapft sein, die bis über die deutsche Grenze reichten. Die Soldaten hätten ihm die Gewehre unter die Nase gehalten und ihn zurückschicken wollen, erzählte Omama. Mein Urgroßvater aber habe die Uniformierten furchtlos zur Seite gestoßen. »Das sind meine Kartoffeln«, soll er gesagt haben, »die habe ich gesetzt, und die ernte ich auch, egal, ob Frieden ist oder Krieg.«

Stolz schwang mit, wenn Omama von ihren Eltern erzählte. Wohl auch, weil sie es nicht immer einfach gehabt hatte mit ihnen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte sie mit achtzehn den Sohn der Nachbarn geheiratet. Den Dorfjungen, der die Äcker in bester Lage erben würde, aber Omama weigerte sich. Auf einem Ausflug hatte sie nämlich meinen Großvater kennen gelernt, den charmanten Dorflehrer aus Adliswil im Sihltal. Den wollte sie und keinen anderen.

Als Omama zu Opapa zog, bekam sie Asthma. »Das feuchte Klima«, sagte man in Nohl und hinter vorgehaltener Hand: »Das hat sie jetzt davon.« Für mich als Psychoanalytikerin liegt heute die psychische Ursache der Erkrankung auf der Hand: Meine Großmutter bezahlte den Preis für ihre Emanzipation.

Unterkriegen ließ Omama sich nicht. Im Gegenteil: Zusammen mit sieben anderen Frauen aus dem Dorf gründete sie den »Zischtigsclub«. Jeden ersten Dienstag im Monat machte Omama mit Freundinnen aus dem Dorf einen Ausflug. Mit der Sihltalbahn fuhren die Frauen nach Zürich, ohne Mann, ohne Kinder, der Haushalt musste warten. Wenn ich heute an meine Omama denke, weiß ich, dass ich das Feministische nicht gestohlen habe.

Opapa kannte jeden im Dorf, und jeder kannte ihn. Er war Lehrer an der Dorfschule, Leiter des Männerchors und Mitbegründer der Ferienkolonie Schwellbrunn im Appenzellerland: Zusammen mit anderen Vätern aus dem Dorf hatte er ein Ferienhaus gebaut, in dem sich die armen Textilarbeiterfamilien, die zuhauf aus Italien ins Sihltal gezogen waren, erholen konnten.

Jeden Sommer fuhren wir mit nach Schwellbrunn. Das kurz geschnittene Gras kitzelte zwischen den Zehen, wir aßen Sauerampfer, flochten uns Gänseblümchen ins Haar und brätelten mit den Italienerkindern Cervelats.

Eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch, sage ich heute, einziger Wermutstropfen war, dass auch ich kurz nach meinem fünften Geburtstag an Asthma erkrankte. Ich mache heute die frühe Trennung von meiner Mutter für die Krankheit verantwortlich. Sie lag damals wegen eines komplizierten Beinbruchs mehrere Wochen im Spital, sie fehlte mir sehr. An meinen ersten Anfall erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen. Mein Bruder Walti, der drei Jahre älter ist als ich, musste auf mich aufpassen. Das musste er oft. Immer wenn wir eine Straße überquerten, nahm er mich bei der Hand. Aber dieses eine Mal behielt er sie im Hosensack. »Ich bin doch kein Meitlischmöcker«, rief er plötzlich und rannte einfach los, verschwand hinter der nächsten Hausecke. Ich war verängstigt und enttäuscht, in meinem Hals wurde es eng, und ich bekam keine Luft mehr.

Der Kinderarzt verordnete einen Kuraufenthalt im Dorf Pagig im Bündnerland. Während zweier Monate durfte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern haben. Bis heute verstehe ich nicht, was der Grund für die Kontaktsperre war. Als »Heimwehkind« litt ich schrecklich. Das Leben im Heim war hart. Wer nicht alles aufaß, dem wurde das Dessert in die Suppe geschüttet, und der Teller blieb so lange am Platz stehen, bis er leer gegessen war.

Jeden Morgen stand ich im Waschsaal vor den Spiegel. Ich betete: »Lieber Gott, lass mich bitte dicker werden und meine Backen rot.« Wenn ich nicht mehr so mager sei, hatte Vati gesagt, dann dürfe ich heim. Nichts passierte. Mit einem trockenen Waschlappen rieb ich mir die Wangen rot, aber die Betreuerinnen ließen sich nicht täuschen.

An sonnigen Nachmittagen mussten wir, eingepackt in Wolldecken, auf Liegestühlen auf dem Balkon ausharren. Meine Kur-Freundin und ich starrten unentwegt auf die Straße, die vom Tal hoch nach Pagig führte. Ihr Vater hatte ein Auto, und er hatte versprochen, uns damit abzuholen, sobald wir gesund waren. Tatsächlich verschwanden meine Asthmaanfälle.

Wieder zu Hause, begann die Schule. Endlich! Schon lange hatte ich einen Schulthek, und meine Mutter hatte mir einen passenden Turnsack genäht, ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich in die Schule zu tragen. Vom ersten Tag an war ich eine begeisterte Schülerin. Mit den Hausaufgaben begann ich oft, noch bevor das Mittagessen auf dem Tisch stand. Meine Lehrerin hieß Frau Dubois. Ich liebte sie. Ich streckte auf, kaum hatte Frau Dubois eine Frage beendet. Sie war so ganz anders als mein Vater. Sie ließ uns laut sein, wir durften Fragen stellen und mussten nicht mit allem einverstanden sein. Übers Wochenende malte Frau Dubois uns immer ein wunderschönes Bild an die Wandtafel. Darauf war ich so gespannt, dass ich am Montagmorgen in aller Herrgottsfrühe aufstand.

Ungefähr sieben Jahre alt muss ich gewesen sein, als ich mich zum ersten Mal in einen Jungen verliebte. Mein Schulschatz hatte kurze braune Haare und ein schelmisches Lachen. Obwohl ich nicht genau wusste, warum, begann mich damals die immer verschlossene Tür des Schlafzimmers meiner Eltern magisch anzuziehen. Ich musste wissen, was sich dahinter verbarg. Eines sonnigen Mittwochnachmittags bot sich mir die perfekte Gelegenheit. Mein Vater war im Büro, meine Mutter im Garten und mein Bruder mit Freunden draußen. Ich durfte in der abgedunkelten Wohnung bleiben, bis ich mein Bild fertig ausgemalt hatte.

Durch die offenen Fenster hörte ich die Nachbarskinder spielen. Ich spitzte die Ohren, um sicherzugehen, dass wirklich niemand mehr im Haus war. Auf Zehenspitzen schlich ich Richtung der verbotenen Tür. Noch einmal blieb ich im Gang stehen, hörte mich um. Jedes Knacken des Holzbodens ließ mein Herz schneller schlagen. Vorsichtig drückte ich die Türfalle runter, öffnete leise die Tür. Zuerst nur einen Spalt weit. Es blieb ruhig. So vorsichtig wie möglich tappte ich zum Nachttischchen meiner Mutter und zog langsam die Schublade auf. Ich war fast ein wenig enttäuscht. Ein Kalender lag darin. Einige Tage waren rot durchgestrichen, andere hatten einen grünen Kreis. »F – a – m – i – l – i – e – n – p – l – a – n – u – n – g« konnte ich entziffern. Was planten meine Eltern mit uns? Warum taten sie das im Schlafzimmer? Was hatte es mit den roten Kreuzen auf sich?

Am liebsten wäre ich in den Garten gerannt, um meine Mutter zu fragen, aber selbstverständlich wusste ich, dass ich das besser nicht tat. Einen kurzen Moment zögerte ich. Sollte ich meine Expedition beenden? Mein Herz klopfte noch lauter, als ich um das große Bett herum auf Vatis Seite schlich. In seiner Schublade lagen ein fein säuberlich zusammengelegtes Nastuch und eine kleine schwarze Schachtel. Mit zittrigen Fingern hob ich den Deckel. Für einen kurzen Moment stockte mein Atem: In der Schachtel lag ein Auge! Es schaute mich direkt an.

Drei Jahre zogen ins Land, das Auge blieb mein Geheimnis. Ein paarmal nahm ich allen Mut zusammen und versuchte Opapa, zu dem ich ein inniges Verhältnis hatte, danach zu fragen. Aber jedes Mal verließ mich die Courage. Und dann ging Opapa von dieser Welt, bevor er mir erzählen konnte, warum mein Vater im Schlafzimmer ein Auge aufbewahrte. Ich war zehn Jahre alt, als er an Lungenkrebs starb. Auf dem Sterbebett rauchte er die letzte Brissago.

Am Morgen seiner Beerdigung zogen wir unsere besten Kleider an. Es regnete in Strömen, und ich saß frierend in der Kirchenbank. Niemand legte den Arm um mich. Der Pfarrer redete lange. Ich verstand nicht alles, aber dann erzählte er von Opapa, davon, dass er eine Partei der Parteilosen gegründet, dass er vielen Kindern das Lesen beigebracht hatte und dass das Ferienhaus in Schwellbrunn noch spätere Generationen an seine Großzügigkeit erinnern würde. Ich musste unentwegt weinen. Nach dem Gebet setzte der Männerchor ein: »Unser Leben gleicht der Reise eines Wanderers in der Nacht. Jeder hat in seinem Gleise etwas, das ihm Kummer macht.« Heute könnte man meinen, der Männerchor habe damals auch für mich gesungen. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, denke ich oft: Mein Leben gleicht der Reise einer Wanderin.

Als wir nach der Beerdigung nach Hause kamen, war meine Mutter bleich. Wortlos verschwand sie im Schlafzimmer. Vati setzte sich in der Stube ans Radiogerät, Beromünster sendete gerade Nachrichten. Mit einer Kopfbewegung schickte er uns in unsere Zimmer; dass wir uns dort ruhig zu verhalten hatten, wussten wir, ohne dass er uns dazu auffordern musste. Was mein Vater sagte, das galt. Auch als ich längst in die Sekundarschule ging, war es mir unmöglich, ihm zu widersprechen.

Mit fünfzehn bekam ich meine erste Menstruation. Obwohl ich mich schämte, hätte ich furchtbar gern gewusst, was dieses Blut genau zu bedeuten hatte. Meine beste Freundin hatte mich bereits vorgewarnt, aber jetzt, da es so weit war, bekam ich trotzdem Angst. War ich vielleicht krank? Würden die Blutungen wieder aufhören? Ich legte mir Taschentücher in die Unterhose. Erst zwei Tage später wagte ich es, meine Mutter zu informieren. Sie steckte mir ein Paket mit Binden zu und sagte: »Vati und dein Bruder müssen das nicht wissen.«

Ein paar Wochen später wollte mein Vater mit uns ins Kino. Das hatte es noch nie gegeben, entsprechend aufgeregt war ich. Was sollte ich anziehen in die Stadt? Lange stand ich ratlos vor dem Kleiderschrank. »Mach vorwärts«, rief schließlich mein Bruder, er trug bereits Schuhe und Mantel. Als wir gemeinsam zur Busstation gingen, ich im blauen Wintermantel und einem senfgelben Rollkragenpullover, zischte mein Vater mir zu: »Schwenk dein Füdli nicht so!«

Der Film, den wir uns ansahen wollten, hieß »Hinter den sieben Gleisen«. Er handelte von drei Clochards, die bei den Gleisen in einem Güterschuppen lebten. Bei ihnen tauchte plötzlich eine junge Frau auf. Sie war wunderschön, schwanger und sehr verzweifelt. Wir erfuhren: Sie war ein Dienstmädchen, ihr Hausherr hatte sie geschwängert und weggeschickt. Mit der Hilfe der Bahnwärterin brachte die Frau dann ihr Baby zur Welt. Sie taufte es Paul und weinte bitterlich, weil sie nicht wusste, wo sie wohnen und wovon sie leben sollte.

Ich war schockiert, empfand das alles als extrem ungerecht. Schweigend verließen wir das Kino, stiegen in den Bus nach Kilchberg und fuhren gesenkten Blicks nach Hause. Es war eine klare Nacht, und ich fror in meinem dicken Wintermantel. Daheim stellte meine Mutter eine Kanne Tee auf den Stubentisch und einen Teller mit Nüssen. Sie wirkte nervös. Als wir uns alle gesetzt hatten, fragte mein Vater: »Wollt ihr über den Film sprechen?« Walti schüttelte wortlos den Kopf. Ich stellte, um die unangenehme Stille zu beenden, ein paar belanglose Fragen, und schließlich sagte meine Mutter: »So, dann kümmere ich mich jetzt mal um den Znacht.« Sie verschwand in der Küche, mein Vater ging in sein Studierzimmer. Wahrscheinlich hoffte er insgeheim, wir seien nun aufgeklärt und vor allem: gewarnt.

Erst später, während meiner Psychoanalyse, wurde mir klar, dass es auch in unserer Familie ein uneheliches Kind gab: Wir alle nannten den jungen Mann den »kleinen Götti Ernst«. Seine Mutter war die Gotte meiner Mutter. Ernst war kleinwüchsig und lebte mit seiner Mutter bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Er hatte einen enorm großen Kopf und auffallend kurze Beine und Arme. Ich mochte ihn vor allem, weil er mir immer von den Reisen erzählte, die er mit seinem selbst gebauten Velo unternahm. Über die größten Pässe quälte er sich mit seinen kurzen Beinen. Nie hatte ich gefragt, wer der Vater von Ernst war.

Als meine Mutter eine Stelle als Handarbeitslehrerin antrat, wurde bei uns daheim alles anders. Sie verließ nun am Morgen mit uns das Haus und kam fast gleichzeitig mit uns wieder heim. Am Abend stand sie oft lange in der Küche und bereitete das Mittagessen für den nächsten Tag vor. Trotz den langen Tagen war sie fröhlich. Sie erzählte jetzt viel beim Abendessen. Zum Beispiel, dass sie sich an der Schule dafür einsetzte, dass die Buben auch in die Handarbeit durften. Sie war überzeugt, dass Männer ebenfalls ausgezeichnet stricken und schneidern konnten.

Mein Vater schwieg dazu. Erstaunlicherweise hatte er Verständnis dafür, dass seine Frau außer Haus arbeitete. Ganz anders als die Leute im Dorf, die hintenherum redeten. »Warum macht sie das?«, fragten mich auch meine Freundinnen. Einige Kilchberger wurden sogar auf der Gemeinde vorstellig, um meinen Vater zu fragen, ob er nicht genug verdiene, um seine Familie zu ernähren. Dass meine Mutter gern arbeitete, schien ihnen gar nicht in den Sinn zu kommen.

Walti und ich gewöhnten uns schnell daran, öfter einmal allein zu sein. Wir hatten inzwischen einen Fernseher, und natürlich fielen mir die Werbespots auf, in denen die glücklichen Hausfrauen mit Föhnfrisuren, Deux-Pièces und Pumps lächelnd mit dem Staubsauger über den Spannteppich fuhren. Warum war meine Mutter nicht zufrieden daheim? Hatte das etwas mit uns zu tun? Aber noch viel mehr verwirrte mich die »Tagesschau« mit ihren Berichten über die »rote Gefahr« aus dem Osten. Russland, hieß es da, habe es auf Amerika abgesehen, und die Kommunisten würden auch bei uns in der Schweiz versuchen, die Menschen zu verführen.

Es war die Zeit der McCarthy-Ära. Der Kalte Krieg hatte die Schweiz erfasst, und die rote Gefahr machte mir Angst. Gern hätte ich das mit meinen Eltern besprochen. Aber als ich beim Abendessen fragte, was es mit den Russen auf sich habe, sagte mein Vater: »Das muss dich nicht kümmern.«

Gestritten wurde bei uns nie, Diskussionen erstarben schon vorher. Mein Vater war ein strammer Freisinniger, Mitglied der lokalen FDP. Obwohl ich durchaus mitbekam, dass es Leute in der Verwandtschaft gab, die die politischen Ansichten meines Vaters nicht teilten, verliefen unsere Familienfeste immer ruhig und gesittet. Denn genauso wenig wie über Gefühle sprach man über Politik. Bahnte sich am Familientisch trotzdem einmal ein Konflikt an, verließ mein Vater sofort wortlos das Zimmer. Meine Mutter zog sich dann in die Küche zurück, und wir hörten sie leise weinen. Wir sollten es schön haben miteinander, alles andere hatte in der Familie Hauser keinen Platz. Ein paar Stunden später taten alle wieder, als sei nichts geschehen. Was nicht sein durfte, war nicht.

Wohl darum hatte ich zu Hause nichts erzählt, als mich in der fünften Klasse mein Lehrer attackierte. Er hieß Alfred Meier, trug stets Anzug und glänzende schwarze Schuhe. Er war ein Lehrer alter Schule und das, was man eine Autoritätsperson nennt. An einem schönen Frühlingsmorgen packte er mich am Oberarm, als ich in die große Pause wollte. Ich war eine ehrgeizige und brave Schülerin, und mir fiel nichts ein, was ich falsch gemacht haben könnte. Meine Freundinnen drehten sich kurz zu mir um, gingen dann aber leise flüsternd nach draußen.

Herr Meier schloss die Tür und kam wortlos auf mich zu. Er atmete schwer, fasste mich wieder am Arm und zog mich an sich. Mit einer Hand hielt er mich fest, mit der anderen drehte er mein Gesicht zu seinem und gab mir einen Kuss. Einen Zungenkuss. Es war widerlich, er hatte Mundgeruch, und seine Zunge ekelte mich zutiefst. Herr Meier keuchte, dann stieß er mich weg und entließ mich wortlos in die Pause. Ich hatte keine Ahnung, was mir geschehen war, aber ich wusste intuitiv, dass ich niemandem davon erzählen durfte. Schon gar nicht meinen Eltern. Als ich abends im Bett lag, betete ich zum lieben Gott: »Hilf mir, dass das nie jemand erfährt.«

Jahrelang schwieg ich. Ich war achtzehn, als ich meiner Schulfreundin Olivia von diesem Vorfall erzählte. Sie reagierte erstaunt und sagte: »Wusstest du nicht, dass er das mit allen gemacht hat?« Ganz Kilchberg hatte es gewusst, etwas dagegen unternommen hatte niemand!

Die ganze Geschichte konnte erst dann nicht mehr unter den Tisch gekehrt werden, als Herr Meier versuchte, ein Mädchen zu vergewaltigen. Diese Schülerin wagte es, mit ihren Eltern zu sprechen. Man hat den Herrn dann ganz diskret entfernt, ihn frühpensioniert, mit einer stattlichen Rente.

Meine Rettung aus dieser bigotten Enge war die Pfadi. Ich bekam den Namen »Uhu«, war ein begeistertes Pfadimädchen. Hier durfte ich Dinge tun, die sonst für Mädchen undenkbar waren: Nachtübungen, Zeltlager, Höhenfeuer. Ich schaffte es bis zur Abteilungsleiterin, hatte am Ende die Verantwortung für 140 Pfadimädchen. Und kein Erwachsener redete mir dazwischen, das war neu für mich. Genauso viel Freude machte mir übrigens auch das Jugendorchester Zürich. Mit meiner Geige reiste ich regelmäßig zu Auftritten, raus aus Kilchberg, hinein in die Welt.

In den Pfadilagern fanden erste unbewusste erotische Annäherungen statt. Wir schlüpften zu unseren Freundinnen in die Schlafsäcke, um zu kuscheln. Aber auch hier wurde nicht geredet, sondern verboten: Eine der Leiterinnen verkündete, dass jede in ihrem eigenen Schlafsack bleiben müsse. Wir gehorchten, obwohl wir nicht richtig verstanden, warum. Wie sollten wir auch? Dass es so etwas wie Homoerotik gibt, das erfuhr ich erst Jahre später in Amerika.

Noch galt: Pfadi, allzeit bereit. »Treu Gott, Familie und Vaterland«, lautete unser Schwur. Damit identifizierte ich mich als stolze Pfadfinderin und als Mitglied der reformierten Kirche. Ich war, was man unschuldig nennen würde, und fühlte mich doch immer schuldig. Auch, weil mein Körper mich seit der Pubertät mit Wünschen und starken Gefühlen überforderte. Ich verspürte Lust, mich selber zu streicheln, obwohl ich genau wusste, dass das nicht in Ordnung war. Einmal erwischte mich meine Mutter, als ich nackt in meinem Bett lag. »Wenn du dich selber berührst«, sagte sie leise, »kannst du später keine Kinder bekommen.«

Ich hatte so viele Fragen und niemanden, dem ich sie stellen konnte. Erst mit sechzehn, an der Höheren Töchterschule in Zürich, begegnete ich einem Erwachsenen, der mich aufforderte, kritisch zu sein und neugierig die Dinge zu hinterfragen: Das war der spätere Schriftsteller Manfred Züfle, unser damaliger Aushilfslehrer. »Bisweilen macht es Freude, einen Menschen dadurch in Erstaunen zu versetzen, dass man ihm nicht ähnelt und anders denkt als er«, las er uns vor. Die drei Monate, in denen Züfle uns unterrichtete, veränderten meine Welt. Er hatte eine Schwäche für die Gedichte von Maxim Gorki und Bertolt Brecht und war der erste Linke, dem ich begegnete. Dieser Lehrer beeindruckte mich tief und eröffnete mir eine Welt jenseits der Glaubenssätze meiner Eltern, jenseits der bösen Roten und der selbstlosen Amerikaner. Ich begann, alles infrage zu stellen: Waren die Kommunisten tatsächlich so gefährlich? Wer steckte hinter dem Attentat auf John F. Kennedy? Über die politische Lage in der Welt wusste ich ja genauso wenig wie über Sex – beides interessierte mich brennend.

Kilchberg war ein Kokon, in dem man abgeschieden von allen Entwicklungen lebte, die außerhalb vor sich gingen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Antibabypille, die Mitte der Sechzigerjahre zugelassen und anfangs nur verheirateten Frauen verschrieben wurde – als »Mittel zur Behebung von Menstruationsstörungen«. Schon bald aber wurde sie zum Verhütungsmittel schlechthin. Trotzdem behauptete meine Mutter noch lange, nie etwas von dieser ominösen Pille gehört zu haben.

Damals konnte ich nur auf den Konfirmationsunterricht hoffen. Vielleicht würden wir dort mehr über die Sache zwischen Männern und Frauen erfahren. Dem war nicht so. »Versündigt euch nicht!«, sagte der Pfarrer. Was genau er damit meinte und wie man sich aber nicht versündigte, erklärte er leider nicht.