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Bastian Hauck

RAUS INS BLAUE!

Unter Segeln

nach St. Petersburg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

Nur Mut!
Das Leben lohnt immer.


Prof. Dr. Joseph M. Häußling

 

 

 

Textauszug (S. 249 bis 253)
Aus: Thomas Mann, Mein Sommerhaus. Aus: ders., Gesammelte Werke
in dreizehn Bänden. Band XIII. Nachträge. © S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main 1974, S. 57–63.

1. Auflage 2015
© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-10331-4 (Print)
ISBN 978-3-667-10365-9 (PDF)
ISBN 978-3-667-10366-6 (E-Pub)

Fotos: Bastian Hauck, mit Ausnahme von
Bild 2 Annette Hauschild/OSTKREUZ und Bild 3 Klaus Andrews
Karten: Inch3, Bielefeld
Zeichnungen auf S. 239: Axel Hoppenhaus, nomendesign, Hamburg
Umschlaggestaltung: Felix Kempf, www.fx68.de
Satz: Fotosatz Habeck, Hiddenhausen

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München

Rechte vorbehalten! Ohne ausdruückliche Erlaubnis
des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,
nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

 

Inhalt

 

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Aufbruch

TADORNA Jetzt!

Auf nach Polen

Polen

Kurwa! TADORNA auf Grund

Endlich Ostsee!

Fußballfieber

Die Geburt einer Windsteueranlage

Gestrandet!

Danzig: Last ship home

Enklave Kaliningrad, Russland

Russische Hoheitsgewässer

Kaliningrad? Kaliningrad!

Flucht aus der Enklave

Litauen

Klaipeda und die Kurische Nehrung

Lettland

Liepaja und Ventspils: Lettische Rockmusik, russisches Öl

Durch die Irbenstraße in die Bucht von Riga

Riga

Estland

Segeln, wie es sein soll

Kihnu

Haapsalu und Dirhami

Fata Morgana

Narva: Ans Ende Europas

Russland

230 Meilen und 55 Stunden bis Sankt Petersburg

St. Petersburg: Das Venedig der Ostsee

Durch Südkarelien auf die finnische Seenplatte

Finnland und die Åland-Inseln

Der Saimaa-See

Von Santio nach Helsinki

Rigg- und Motorschaden vor Hanko

Septembertage im Turku-Archipel

Geburtstag in Åland

Schweden und Dänemark

350 Meilen in vier Tagen

Eingeweht auf Christiansø

Ein letzter langer Schlag

Heimkehr

Wiedersehen auf Fehmarn

Neun Gastlandflaggen in Schleimünde

 

Epilog: 3095 Seemeilen von Berlin nach Berlin

Nachwort

Dank

Anhang

TADORNA

Route, Meilen, Zeiten

Statistik »TADORNA Jetzt!«

Diabetes und Segeln

Thomas Mann: Mein Sommerhaus (1931)

Wenn nicht jetzt, wann dann?

 

S egler sind Träumer. Anders ließe sich weder die alljährliche Plackerei im Winterlager noch die Nachfrage nach Segelbüchern wie diesem hier erklären. Wer bei Minusgraden sein Unterwasserschiff schleift, ganze Wochenenden der Außenhaut seines Schiffes widmet oder mit Hingabe Luken und Handläufe lackiert, während andere die ersten warmen Tage des Jahres genießen, ist in Gedanken meist schon ganz woanders. Er träumt vom anstehenden Segelurlaub, von Risted Hotdogs und Pølsern auf dänischen Inseln, sieht den Bug seines Schiffes die Ostseewelle teilen oder sitzt in Gedanken bereits mit einem kühlen Bier auf einer einsamen schwedischen Schäre und genießt den Sonnenuntergang. Und wer ein Segelbuch zur Hand nimmt, tut dies meist nicht aus reiner Wissbegier, sondern aus Lust am Mitsegeln – rund Ostsee, über den Atlantik oder um die Welt, und wenn auch nur vom heimischen Wohnzimmersessel aus.

Natürlich habe auch ich die »Großen« gelesen – Chichester, Hiscock, Moitessier, Erdmann. Und natürlich träume auch ich von der Weite des Atlantiks, von einem Einlaufen in New York, von entlegenen Pazifikinseln und einer Weltumsegelung. Irgendwann. Vielleicht. Für den Moment fehlt mir das passende Schiff, das Geld, die nötige Erfahrung und, wenn ich ehrlich bin, auch der unbedingte Wille, für so lange Zeit in See zu stechen. Außerdem liegt das schönste Segelrevier, das ich kenne, direkt vor meiner Haustür: die Ostsee.

Als ich im April 2007 TADORNA kaufte, geschah dies ohne konkreten Plan, sondern mehr aus dem Wunsch heraus, endlich ein eigenes, richtiges Schiff zu besitzen. Mein erster Heimathafen war Stralsund, meine ersten Wochenenden an Bord verbrachte ich auf Hiddensee und Rügen, und in meinem ersten, dreiwöchigen Sommerurlaub auf eigenem Kiel lief ich Klassiker wie Kopenhagen, Anholt und Samsø an. Hier segele ich schon länger, als ich laufen kann: Es gibt ein Bild meiner Eltern auf ihrem ersten eigenen Boot, einem Yngling, irgendwo auf der Kieler Förde, mit Mama hochschwanger im Trapez. Und seit TADAIMA, ein 1959 gebauter 6,5-KR-Kreuzer von Abeking & Rasmussen, vor inzwischen fast 30 Jahren Teil unserer Familie wurde, habe ich fast jeden Sommer auf der Ostsee verbracht.

Als ich im Herbst 2007 – TADORNA im Winterlager, Jahresurlaub aufgebraucht und diverse Törnführer neben dem Kopfkissen – das erste Mal laut darüber nachdachte, im nächsten Sommer einhand rund Ostsee zu segeln, erklärten mich alle für verrückt. Ich hatte nach drei Jahren Studium in Beirut und Damaskus und ersten Jobs als Nahostexperte in Berlin, Paris und New York eine Programmleiterstelle bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik bekommen und hätte überschüssige Energie gut in den nächsten Karrieresprung oder eine Promotion investieren können. Gleichzeitig spielte ich schon länger mit der Idee, mich selbstständig zu machen. Und jetzt auf einmal segeln? TADORNA war stark überholungsbedürftig, für einen längeren Törn nicht ausgerüstet, und Geld hatte ich auch keins. Außerdem bin ich Diabetiker. Wie soll das gehen, so lange Zeit auf See? Und noch dazu allein? Mit einer Mischung aus Trauer und Sehnsucht verbannte ich die Idee wieder in die Träume-Ecke und nahm mir vor, möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, um sie dann, irgendwann, wieder auszugraben und segeln zu gehen …

Segler sind Träumer. Aber für mich ist Segeln mehr als ein Traum. Es ist meine absolute Leidenschaft. Anstatt ihr nachzugehen, investierte ich alle meine Zeit in die Akquise erster Aufträge und die geplante Unternehmensgründung und hatte es am 1. März 2008 schwarz auf weiß: Bastian Hauck, selbständiger Politikberater, Projektmanager und Gründer in spe. Doch die ganze Zeit über gärte es in mir, war ich im Innern nicht mit mir und meinem Tun einverstanden und konnte nächtelang nicht schlafen: TADORNA lag einsam, traurig und verlassen unter ihrer Winterplane, begrüßte mich bei meinen seltenen Besuchen mit einem leicht vorwurfsvoll-fragenden Knarzen ihrer Planken und wartete auf dringend anstehende Überholungsarbeiten, für die ich laut meinem Terminplaner wohl kaum Zeit finden würde – vom nächsten Sommerurlaub ganz zu schweigen.

Vier Tage später ist alles anders: Ich habe die erste Rate meines Existenzgründerzuschusses in neues Werkzeug investiert, liege in dreckigen Arbeitsklamotten auf einer Isomatte unter meinem Boot und ziehe mein Unterwasserschiff ab – eine Schweinearbeit, aber ich habe selten eine solche Befriedigung empfunden und könnte schreien vor Glück: Ich werde segeln! Jetzt, nicht irgendwann. Mit TADORNA, nicht mit irgendeinem Traumschiff. Und mit dem, was mir an Mitteln zur Verfügung steht oder ich in den nächsten Wochen mit etwas Kreativität, Draufgängertum und Arbeit beschaffen kann, nicht mit irgendeinem erhofften Reichtum in ferner Zukunft. TADORNA – jetzt!

Ich weiß zu diesem Zeitpunkt weder, wo es hingehen, noch, wie ich mein Schiff seetüchtig machen und die anstehenden Reparaturen, die benötigte Ausrüstung und den Sommer an sich finanzieren soll – mein Budget reicht noch nicht mal für das dringend benötigte Antifouling. Also rufe ich bei einem großen deutschen Farbenhersteller an. Dort werde ich mit einem Herrn aus dem Vertrieb verbunden, dem ich meine Situation – junger Mann mit wenig Geld will mit altem Folkeboot einhand rund Ostsee – darlegen darf. Zu meiner Überraschung klingelt es eine Woche später an der Haustür, und ein fluchender Paketzusteller schleppt einen Karton von einem knappen Zentner Gewicht zu mir in den dritten Stock. »Sehr geehrter Herr Hauck, wir freuen uns, Ihr Projekt ›TADORNA Jetzt!‹ unterstützen zu können. Anbei erhalten Sie (es folgt eine lange Packliste) – und vielleicht hissen Sie ja ab und zu unsere beigelegte Flagge.«

Die nächsten Wochen sind Handy und Laptop meine steten Begleiter. Ich firmiere kurzerhand um, gründe nun auch offiziell das Projekt »TADORNA Jetzt!« und schreibe rund hundert Unternehmen an, während ich gleichzeitig schleife, bohre, schraube, lackiere und male. Dazu bekomme ich meinen ersten Auftrag und schlage mir die späten Abende im leeren Vereinshaus des ASV mit lackverschmierten Händen am Laptop um die Ohren. Freunde programmieren eine Blog-Software so um, dass ich live von Bord berichten, meine Route und Position anzeigen und echte Flaschenpost-Nachrichten empfangen und absetzen kann, und entwerfen mit vier schwungvollen Zügen TADORNAs neues Logo: eine Ente. Denn tadorna tadorna ist der lateinische Gattungsname der Brandgans oder Brandente.

»TADORNA Jetzt!« überzeugt: Rund ein Viertel der kontaktierten Firmen kommt mit der Zeit virtuell an Bord und sagt Unterstützung zu – in Form eines Touren-Großsegels, hochwertigen Ölzeugs, neuen Schoten und Blöcken, einer Versicherung, großzügigen Einkaufsrabatten, einer Kamera und vielem mehr. Als sich auch noch ein Sponsor aus dem Diabetes-Bereich findet, bin ich im grünen Bereich: Ich leiste mir eine neue Sprayhood und einen Gennaker mit eingenähter TADORNA-Ente – die zwei größten, aber wohl auch wichtigsten Investitionen in den bevorstehenden Sommer.

Nur zweieinhalb Monate später ist TADORNA fertig zum Auslaufen, an Bord Seekarten für die gesamte Ostsee, Insulinvorräte für ein halbes Jahr und ein ziemlich erschöpfter Kapitän in spe, der an alles gedacht hat – nur nicht daran, einen Plan zu machen. Einmal rund Ostsee soll es gehen, gegen den Uhrzeigersinn. Laut meinem Atlas sind die Eckpunkte Stettin im Süden, St. Petersburg im Osten, Haparanda im Norden und Flensburg im Westen – mehr muss ich nicht wissen. Am 19. Mai heißt es in Berlin erst einmal »Leinen los!«, drei Tage später bin ich an der Ostsee: Raus ins Blaue!

Was meine »kleine Brandgans« und ich auf 3000 Seemeilen, in neun Ländern und während fünf Monaten auf der Ostsee erlebt haben, erfahren Sie in diesem Buch. Ich habe mir große Mühe gegeben, direkt, offen und ehrlich zu schreiben – auch über Ängste, Fehler, Gefühle, Frauen und sonstige Eskapaden. Und natürlich über das Wie und Warum – denn das Schwierigste war die Entscheidung, loszufahren. Andererseits: Alles, was es brauchte, war ein kurzes Innehalten in Form eines verlängerten Wochenendes, ein guter Freund und eine einfache Frage: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Diese Frage begleitete mich meinen ganzen Segelsommer lang und zieht sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel dieses Buches. Die Antwort? Sie lässt sich nicht wirklich in Worte fassen. Sie will gelebt werden und wird lebendig in den vielen Geschichten, Erinnerungen, Bildern und Emotionen dieses Sommers. Ich freue mich, diesen Sommer hier mit Ihnen teilen zu können – zum Nachträumen, Nachsegeln, Nachdenken und vor allem: zum eigenen Nachfragen und Nachspüren. Wer im rechten Moment den Mut aufbringt, sich seinen eigenen Träumen, Fragen und Antworten zu stellen, sie einfach mal zuzulassen und mit Leben zu füllen, der ist schon unterwegs zu seinem Ziel – wo auch immer es liegen mag.

 

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Bastian und die »kleine Brandgans« TADORNA.

Aufbruch

TADORNA Jetzt!

B erlin, 19. Mai 2008.
Das Verrückte an diesem Einhand-rund-Ostsee-Törn ist, dass ich ihn weder allein beginnen noch allein beenden werde. Nicht, dass mir das etwas ausmacht, im Gegenteil – ich bin kein Einhand-Segler aus Prinzip und freue mich, dass Sven mir bis Stettin »Geleitschutz« geben wird und Carlo angeboten hat, mir in Stettin beim Maststellen zu helfen. Aber der eigentliche Grund für diese Aktion ist ein anderer, und der geht mir deutlich gegen den Strich: Ich habe keinen Sportbootführerschein Binnen.

Das heißt, ich habe eigentlich überhaupt keinen Segelschein. Und dass mein SBF See tatsächlich nur auf See gilt, musste ich letztes Jahr erst schmerzhaft erfahren, als ich bei der Überführung von TADORNA von Stralsund nach Berlin gleich mehrfach Bekanntschaft mit dem Wasser- und Schifffahrtsamt machen durfte. Aber dazu später – ich bin lernfähig und folglich zumindest bis zur polnischen Grenze nur Co-Skipper. Sven kann sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Wir sind seit sechs Uhr morgens auf den Beinen, haben bei Metro einen dieser riesigen Einkaufswagen bis weit über den Rand mit Pasta, Reis und Kartoffelbrei, Konserven, Dauerwürsten und kartonweise H-Milch, Müsli, Dörrobst, Schokolade und Keksen gefüllt und beim Spandauer Getränkemarkt fünf gesponsorte Kästen Bier abgeholt. Dann haben wir meine quer durch den großen Saal des Vereinshauses des Akademischen Segler Vereins zum Trocknen ausgelegte Ausrüstung zusammengerafft und alles erst mal irgendwie an Bord gebracht: Segel und Persenninge, Fallen und Schoten, Schwimmwesten und Lifebelts, Bücher und Seekarten, Taschenlampen, Batterien, Kochgeschirr. Dazu kamen fünf Werkzeugkisten, drei Anker mit Kette, mein mobiles Büro und unsere Taschen mit Ölzeug, Schuhen, Stiefeln und all dem persönlichen Kram.

Gegen Mittag bin ich mit LUCY noch mal zur Tankstelle gefahren und habe gut 60 Liter Benzin geholt. LUCY ist mein knallgelber 68er VW Käfer. Ich habe sie vor sechs Jahren in Beirut gekauft und nach drei Jahren Studium im Nahen Osten quer durch die Türkei und Südosteuropa nach Berlin gefahren. In den letzten Tagen hat sie ich-weiß-nicht-wie-viele Pendelfahrten zwischen meiner Wohnung und dem ASV absolviert.

Als Sven und ich den massiven Holzmast an Bord wuchten, liegt TADORNA gut eineinhalb Planken tiefer als sonst im trüben Wasser der Scharfen Lanke. An Unter-Deck-gehen ist nicht mehr zu denken, so voll ist es. Aber ich will los. Jetzt. Um jeden Preis.

Ich parke LUCY in der hintersten Ecke des Vereinsgeländes, lege Schlüssel und Autopapiere ins Vorstandszimmer und zapfe Sven und mir noch ein letztes kühles Bier aus dem Fass, das vom großen TADORNA-Abschiedsgrillen übrig ist. Das liegt schon wieder fünf Tage zurück – ein Umstand, der meine Ungeduld erklären dürfte.

Jeder Segler, insbesondere jeder Segler einer klassischen Yacht, kennt diese vertrackte Besonderheit eines jeden Winterlagers und die Eigendynamik, die wohl jedem längeren Törn vorausgeht: Ein altes Holzschiff wird einfach nie fertig. Keine Chance. Es gibt nur ein Gegengift: Man muss sich einen festen Abfahrtstermin setzen. Und an dem wird dann nicht mehr gerüttelt. Unter keinen Umständen. Naja – fast keinen. Es gibt Ausnahmen.

Mein »fester Abfahrtstermin« hätte eigentlich Donnerstag, der 15. Mai, sein sollen, ursprünglich sogar mal der 15. April. Das war, bevor ich entdeckte, dass TADORNAs Mast auf den unteren zwei Metern delaminiert und gespalten war.

Auch der 1. Mai stellte sich aufgrund eines späten Wintereinbruchs (Eisregen und Hagel im April!) als völlig utopisch heraus. Aber diese Verzögerungen hatten noch ihr Gutes, denn am Pfingstwochenende findet traditionell das Stiftungsfest des ASV und die Max-Oertz-Regatta statt. Daran wollte ich teilnehmen und hatte extra einen Antrag bei der Berliner Yardstick-Kommission auf Heraufsetzung meines Rennwertes gestellt. TADORNA ist zwar als Nordisches Folkeboot gebaut, aufgrund eines später erfolgten Umbaus zur Langfahrt-Tourenversion, mit verlängertem Aufbau und an Deck stehendem Mast, ist sie gegenüber anderen Folkebooten aber nicht konkurrenzfähig.

Dann musste ich einsehen, dass das mehrfach gerissene Ruderblatt ein zu großes Risiko für eine Ostsee-Umsegelung darstellen und auch mit »Leichenhemd« und Epoxidharz nicht mehr zu retten sein würde. Als »Leichenhemd« bezeichnet man die Ummantelung eines alten Holzbootes (oder eines Teils davon) mit in Epoxidharz getränkten Glasfasermatten. Dies ergibt einen steifen, wasserdichten Mantel, mit dem man selbst hoffnungslos verlorene Schiffe mit relativ geringem Arbeitsaufwand am Schwimmen halten kann. Das Problem dabei: Bei einem Riss in diesem Mantel dringt – oft unbemerkt – Feuchtigkeit von außen zwischen Holz und Glasfaser. Diese kann unter dem Mantel nicht mehr entweichen, das Holz fängt an zu faulen, und die eigentlich als Schutz gedachte Matte wirkt wie ein Leichenhemd – das Schiff ist verloren.

Manni, ein alter Berliner Haudegen, Bootsbauer und langjähriger Folkebootsegler, hat mir kurzerhand geholfen, ein neues Ruderblatt zu bauen. Und am 14. Mai konnte ich endlich alle »Indienststeller« und wer sich sonst noch um TADORNA verdient gemacht hatte zu besagtem Abschiedsgrillen eingeladen, mit großem Lagerfeuer, viel Fleisch und noch mehr Freibier. Ja, und dann hätte es eigentlich losgehen können …

 

***

 

Donnerstag, 15. Mai 2008. TADORNA ächzt etwas, als die Gurte langsam anziehen; dann geht ein Ruck durch das Schiff, die Pallhölzer kippen weg, und schon pendeln zweieinhalb Tonnen Holz und Gusseisen wenige Zentimeter über dem Asphalt. Philip schaltet einen Gang hoch, der Kran surrt, Hein und BamBam (eigentlich Lukas und Carlo, aber im ASV hat jeder einen »Biernamen«) halten je eine Führungsleine – und ich freue mich, TADORNA in ihrer ganzen Pracht vor einem strahlend blauen Himmel gen Havel schweben zu sehen. Die frisch lackierten Planken strahlen in goldenem Holzton, das Unterwasserschiff glänzt in tiefem Schwarz, der gerade noch schnell aufgeklebte weiße Schriftzug spiegelt sich in der Scharfen Lanke und verschwimmt in einem leichten Kräuseln, als TADORNAs Kiel die Wasseroberfläche berührt. Langsam taucht sie in ihr Element, die Wellen plätschern leise die Planken hoch, die Gurte kommen lose, erst vorn, dann achtern – TADORNA schwimmt.

Mit einem Satz bin ich an Bord, um das Krangeschirr auszuhängen und TADORNA an ihren Liegeplatz zu verholen. Da höre ich Wasser. Viel Wasser. Beim Blick in die Bilge kann ich mir ein lautes Fluchen nicht verkneifen: Unter Steuerbordkoje und Pantry schießt mir auf zwei Metern Länge ein richtiger Wasserfall entgegen – eine Planke ist gerissen. Nicht, dass das bei alten Schiffen unüblich wäre: Holz arbeitet, wenn es trocken wird, Lärche noch mehr als andere Harthölzer. Ich kenne das von meinem Piraten RONJA, gleiches Baujahr, die säuft seit 18 Jahren mit schöner Regelmäßigkeit jedes Frühjahr ab, weil der Schwertkasten rott ist und im Winter aufreißt. Auch Papa verbringt bis heute jede erste Nacht der Saison an Bord von TADAIMA, unserem Familienschiff, um alle halbe Stunde die Pumpe anzuschalten – dann ist auch diese alte Dame wieder dicht. Aber genau deshalb war TADORNA schon im April im Wasser: um dichtzuquellen. Ich habe sie erst vor zehn Tagen noch einmal zum Lackieren rausgeholt.

Auf einmal mag ich die warme Maisonne gar nicht mehr so gern, herrsche die Pressefotografin meines Sponsors an, mit dem Geknipse aufzuhören, und ärgere mich über mich selbst: Ich hätte mein Unterwasserschiff eben nicht schwarz malen oder die Bilge mit nassen Wolldecken auslegen sollen, wie ich es seit Jahren mit RONJA tue. Jetzt ist guter Rat teuer, denn ich habe TADORNA – etwas voreilig, wie sich jetzt herausstellt – bereits voll ausgerüstet: Polster, Schlafsäcke, Klamotten, Seekarten – alles schon an Bord. Und wenn das so weitergeht, gleich alles unter Wasser. »Phil, zieh mal wieder an, so wird das nix! Hoch bis knapp übern Wasserpass, gerade so, dass die Polster nicht nass werden!«

Aber es ist zu spät. Die Gurte rutschen, TADORNA sinkt immer tiefer, an ein Hochkranen ist mit so viel Wasser im Schiff nicht zu denken – zu viel Gewicht, sie würde auseinanderbrechen. Inzwischen schwimmen die Bodenbretter, ich sitze mit hochgekrempelten Hosenbeinen unter Deck wie in einer überdimensionierten Badewanne und versuche, tief liegende Ausrüstungsgegenstände auf Kojen und Kartentisch zu stapeln und so vor dem immer höher steigenden Wasser in Sicherheit zu bringen – vergeblich. Bis spät in den Abend helfen mir Hein und BamBam, TADORNAs triefendes Innenleben von Bord und in den großen Saal zu schaffen, um es dort zum Trocknen auszulegen. Dann sitzen wir rauchend und Bier trinkend an Deck. Ich bin überrascht, dass meine kleine Lenzpumpe noch läuft, obwohl die Batterie längst unter Wasser ist. Selbst das Licht geht noch. Dann drehe ich den Hauptschalter aus.

 

***

 

Ich lasse den Blick noch einmal über das Vereinsgelände schweifen. Der ASV ist in den letzten zweieinhalb Monaten im wahrsten Sinne des Wortes zu meinem zweiten Zuhause geworden. Während der dreiwöchigen »Indienststellung« im März bin ich oft tagelang nicht zu Hause gewesen, habe zusammen mit den anderen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang durchgearbeitet. Nach getaner Arbeit, einer riesigen Portion Nudeln oder Chili von der »Ökonomie«, dem vereinseigenen Restaurantbetrieb, sowie unzähligen Feierabendbieren, Skatrunden und ausgelassenen Tanzeinlagen auf Tischen und Bänken haben wir uns irgendwann in den großen Schlafsaal im ersten Stock verholt. Dort sind wir total erschöpft in eines der hölzernen Doppelstockbetten gefallen und in unsere Schlafsäcke gekrochen – nur um bereits wenige Stunden später vom Takelmeister wieder geweckt zu werden. Da zog aber meist schon der Geruch von frischem Kaffee, Rührei und aufgebackenen Brötchen die Treppe hoch …

Ich glaube, ich bin in diesen drei Wochen endgültig von den ASVern »adoptiert« worden. Ich bin selber nämlich kein Vereinsmitglied, kann es auch nicht mehr werden, denn der ASV funktioniert in etwa wie eine Verbindung: Studenten können nur zu Beginn ihres Studiums aufgenommen werden und verpflichten sich zu einem Jahr Vorstandsarbeit und zwei Indienststellungen. Sie sorgen damit dafür, dass die vereinseigenen Schiffe nach jedem Winter wieder »in Dienst gestellt«, also von Rost befreit, gemalt, lackiert, konserviert und aufgeriggt werden. Im Gegenzug dürfen sie alle Schiffe des Vereins nutzen, nehmen an spektakulären Seereisen teil und werden dabei von den »Alten Herren« im Hochseesegeln ausgebildet.

Natürlich befinden sich unter den »Alten Herren« auch Seglerinnen; diese werden nach ihrer Aktivenzeit trotzdem zu »AHs« gekürt. Denn »Alte Damen«, das sind laut Definition die Ehepartner – auch, wenn sie männlich sind. Auf jeden Fall ist mit diesem Lebensbundprinzip gewährleistet, dass die Aktiven ihrem Verein auch nach der Studienzeit verbunden bleiben. Sie ermöglichen mit ihrer Erfahrung, aber natürlich auch mit ihren Mitgliedsbeiträgen und Spenden der jeweils nächsten Generation von Studenten das Segeln.

Meine ganz persönliche Indienststellung dauerte zweieinhalb Monate – nicht viel Zeit, um ein 50 Jahre altes Holzschiff grundlegend zu überholen, auszurüsten und hochseefest zu machen. Erst recht nicht, wenn man kein ernstzunehmendes Budget hat und sich parallel Gedanken um die Finanzierung machen muss. Zumindest Letzteres hat ganz gut geklappt.

Trotzdem gleicht TADORNA heute, am 19. Mai 2008, eher einer schwimmenden Baustelle als einem hochgerüsteten Seeschiff, das sich anschickt, die Ostsee zu umrunden. Die gesamte Elektrik ist noch außer Betrieb, ich weiß noch nicht einmal, ob die Batterie das Wasserbad unbeschadet überstanden hat – aber TADORNA kommt zur Not auch ohne Strom aus. Die Solarzellen liegen lose auf dem Achterdeck, den neuen Autopiloten habe ich noch nicht einmal ausgepackt (und werde ihn in fünf Monaten originalverpackt wieder von Bord nehmen), Mast und Baum liegen nackt an Deck, Fallen und Strecker sind noch nicht abgemessen und die Beschläge für deren geplante Umlenkung ins Cockpit sind auch noch nicht angebracht. Noch nicht einmal der neue Kompass ist eingebaut, und statt der Windfahne, die ich mir hatte bauen wollen, lagern in der Backskiste mehrere Meter PVC-Abwasserrohr aus dem Baumarkt, Nirostangen, -bolzen und -schrauben in verschiedenen Durchmessern, diverse Sperrholzreste, literweise Epoxidharz und die Grundplatte der alten Windsteueranlage, die Yvonne und Bartek, die Vorbesitzer von TADORNA, vor Jahren in Portugal gebaut haben …

Egal. Los jetzt. Punkt 15 Uhr starte ich meinen gebraucht gekauften Zweitakt-Außenborder. Obwohl dieser erst letztes Jahr zum Saisonende an Bord gekommen und gerade mal drei Tage gelaufen ist, blickt er bereits auf eine ungewöhnliche Reise zurück – aber dazu später. Sven stößt vom ASV-Steg ab, TADORNA dreht in Richtung Havel, dann kupple ich ein und gebe langsam Gas …

 

***

 

Travemünde, Teerhofinsel, 1. April 2007. Langsam kommt der Slipwagen aus dem Wasser, wird von der großen Elektrowinde die Betonrampe hinaufgezogen. Und Yvonne, Bartek und ich gucken, alle drei gleichermaßen ungläubig, auf das, was sich da vor uns aus dem Wasser schält: Eine glibschige, dunkle, lebendige Masse von Muscheln, Algen und übelriechendem Faulschlick. »Heute gibt’s Muschelsuppe!«, lacht Bartek und hält mir eine Handvoll davon entgegen. »Wir hatten da halt nur Kupferbronze drauf, und die letzten drei Jahre war sie nicht aus dem Wasser …«, meint Yvonne entschuldigend. »Du solltest schnell machen. Wenn das erstmal trocknet … «

Was hier tropfend, dampfend und übel stinkend vor mir steht, ist trotz des Datums kein Aprilscherz. Es ist TADORNA. Und seit einer Stunde: meine TADORNA. Ich bin stolz wie Oskar. Vor drei Wochen bin ich eher zufällig über die Webseite von Yvonne und Bartek gestolpert, auf der sie von ihrer eineinhalbjährigen Segelreise von Hamburg durch den englischen Kanal und die Biskaya nach Spanien, Portugal und Marokko und über ihre Rückfahrt durch den französischen Canal du Midi berichten. Ich habe eine ganze Nacht vor dem Computer gesessen, ihr Logbuch gelesen und Fotos geguckt. Und auf der ersten Seite stand ein kurzer Hinweis: »TADORNA ist zu verkaufen.«

Ich hatte nicht wirklich vor, ein Schiff zu kaufen. Das heißt, nicht jetzt. Irgendwann, sicher … Erst letzten Sommer hatte ich RONJA, meinen alten Piraten, aus Schleswig nach Berlin geholt, genauer nach   Caputh, dorthin, wo Einstein sein Sommerhaus hatte – eine gute Entscheidung, wie ich fand. Caputh als solches ist ein Traum, der Liegeplatz war günstig, und meine RONJA liebe ich über alles. Papa hat sie uns drei Brüdern geschenkt, als ich zwölf Jahre alt war, aus einer Eingebung heraus. In der YACHT stand nur: »Holzpirat, Abeking & Rasmussen, Baujahr 1959, zu verkaufen.« Das war Grund genug, denn unser Familienschiff TADAIMA ist ebenfalls ein A&R-Schiff und ebenfalls Baujahr 1959. »Vielleicht steckt in beiden Schiffen derselbe Baum … «, sagte Papa damals, fuhr los und stand schon am Nachmittag mit RONJA am Schleswiger Stadthafen. Das ist jetzt 18 Jahre her.

Und jetzt das hier. TADORNA. Baujahr 1959. Ein umgebautes Touren-Folkeboot. Kein A&R -Bau natürlich, aber in jeder Beziehung genau mein Schiff. Das ideale Zwischenstück, das zwischen der TADAIMA, dem Schiff, auf dem ich schon als Kleinkind quer über die Ostsee gesegelt bin, RONJA, dem Boot meiner ersten eigenen Segeljahre auf der Schlei, und irgendwann vielleicht wieder TADAIMA.

Mit ihren 7,64 Metern liegt TADORNA von der Größe her genau zwischen RONJA (fünf Meter) und TADAIMA (10,80 Meter). Als Folkeboot ist sie wie TADAIMA als klassischer Langkieler mit rundem S-Spant und langen Überhängen geschnitten, dürfte also sehr ähnlich segeln. Sie ist ein offenes Kielboot, also auch hier irgendwo zwischen meiner Jolle und unserem Familienschiff angesiedelt. Und sie ist als Tourenversion ausgelegt, mit vergrößertem Aufbau, vollwertigem Kartentisch und einer richtigen Pantry, dafür aber nur zwei Kojen. Und natürlich ist sie aus Holz.

Außerdem sind mir die zwei Menschen da auf den Fotos sofort sympathisch, ihre Geschichte ist ansteckend und weckt alte Segelgelüste in mir, und das Schiff ist nach dieser Tour sicher gut ausgerüstet. Aber das Wichtigste ist etwas ganz anderes, Emotionaleres: der Name. Er klingt mir schon jetzt so vertraut wie RONJA – oder eben TADAIMA. Denn auch hier trifft TADORNA genau die Mitte zwischen den beiden Schiffen, die für mich seit vielen Jahren die Definition von Segeln sind.

Trotzdem bin ich beim Anblick »meines« Unterwasserschiffes jetzt etwas – verblüfft. Nicht, dass die zwei mich nicht vorgewarnt hätten: Sie sind 2004 von ihrer Tour zurückgekommen und haben seitdem kaum noch Zeit für ihr Schiff gefunden, unter anderem, weil sie sich vor einem Jahr vergrößert haben. Bis vor einer Stunde lag TADORNA noch neben ihrer »großen Schwester« AAGE, einem Spitzgatter von 1912, den sich Yvonne und Bartek gerade wieder herrichten. TADORNA war irgendwie übrig: Als ich vor zwei Wochen zum ersten Mal hier war, lag sie etwas traurig unter ihrer Winterplane im Wasser und schaukel te neben AAGE vor sich hin, nicht wissend, ob sie sich wirklich schon auf den kommenden Sommer freuen konnte.

Wir waren uns schnell einig. Auch, weil ich für Yvonne und Bartek der ideale Nachfolger war, mit Lust auf genau dieses Schiff, mit ausreichend Wissen und Erfahrung im Umgang mit einem alten, klassischen Holzboot, und vor allem mit Lust auf Segeln – auch wenn mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar war, wohin die Reise gehen würde. »Warte nur, irgendwann kriegt sie dich«, sagt Yvonne und streichelt etwas wehmütig TADORNAs Süll – der Abschied fällt ihr sichtlich schwer. Ich fachsimpele noch etwas mit Bartek, frage Fragen, auch zu ihrem Törn. »Das Schwierigste war die Entscheidung, überhaupt loszufahren«, sagen beide. Und sie sollen Recht behalten …

TADORNA bräuchte eigentlich erst einmal eine gründliche Generalüberholung. Aber ich will segeln, und habe mich deshalb anders entschieden: Ich werde TADORNA für ein paar Tage aus dem Wasser nehmen, das Unterwasserschiff malen, Außenhaut und Aufbau lackieren, die wesentlichen, strategisch wichtigen Teile überprüfen, das Nötigste an Ausrüstung beschaffen – und dann ab in den Sommer. Was auch immer in dieser Saison kaputtgeht oder fehlt, werde ich irgendwie reparieren, unterwegs ersetzen und dabei improvisieren, so gut es eben geht. Bis TADORNA im Herbst ins Winterlager kommt, werde ich sie genau kennen und sehr viel besser wissen, was zu machen ist und wie.

Also los. Ich breite eine große Plane unter TADORNA aus und fange an, ihre Planken mit einem breiten Spachtel zu bearbeiten. Als ich mit der Backbordseite fertig bin, ist die Plane so schwer, dass Bartek und ich sie zu zweit nicht mehr anheben können. Wir schätzen den Muschel- und Algenberg auf gute 150 Kilo – pro Seite.

Eine gute Woche später bin ich fertig. Ich habe an Bord, auf dem Slipwagen, gewohnt, bin jeden Morgen bei klirrender Kälte um acht Uhr aufgestanden, habe meine im Cockpit festgefrorene Hose ausgeschüttelt und angezogen und bis Einbruch der Dunkelheit geschuftet. Aber es hat sich gelohnt: TADORNA schwimmt. Die Segel sind angeschlagen. Und gerade ist Ulf angekommen, mit dem ich TADORNA über die Ostertage nach Stralsund, ihren Heimathafen für diese Saison, überführen möchte. Neue Seekarten habe ich von Papa geschenkt bekommen, nur Navi-Dreieck, Zirkel etc. fehlen …

Egal. Los jetzt. Punkt 15 Uhr starte ich den alten Zweitakt-Außenborder, der Yvonne und Bartek schon bis ins Mittelmeer begleitet hat. Ulf stößt vom Steg ab, TADORNA dreht in Richtung Trave, dann kupple ich ein und gebe langsam Gas …