cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2841

 

Sturmland

 

In einem Land, das auch ein anderes sein könnte – Atlan zwischen den Fronten eines kosmischen Krieges

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

img2.jpg

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist unterwegs zu den Jenzeitigen Landen, angeblich das Machtzentrum des Tribunals. Dort will er die Wahrheit erfahren. Nach den Abenteuern auf der Passagewelt Andrabasch erreicht er nun ein Land, das auch ein anderes sein könnte: das STURMLAND ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide findet sich im Sturmland gestrandet.

Vogel Ziellos – Der ATLANC-Geborene befasst sich mit arkonidischen Traditionen.

Der Pensor – Der Pilot verhält sich passiv.

Aiv – Die Waaghalterin gibt ihr Bestes für die ATLANC.

ATLANC – Das Schiff weiß nicht weiter.

Prolog

Traumschatten

 

Der weißhaarige Junge lief tiefer in den Wald hinein. Er schaute zum Himmel, der ihm Angst machte. In der Schwärze über den Baumwipfeln glomm kein einziger Stern, und doch war da etwas, eingehüllt in Schatten. Augen, kalt und berechnend, die ihn mit grimmigen Blicken verfolgten, als stünde eine unsichtbare Flotte im Orbit, die ihn aus dem All heraus mit zahllosen Optiken beobachtete.

Auch wenn sie unsichtbar waren – er spürte sie, wusste, dass sie da waren.

Der Junge wünschte sich, er hätte sein Katsugo dabei. Das Schwert war zwar aus Holz, dennoch hätte es ihm ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Immer weiter drang er in den Wald vor, folgte Wildwechseln, auf denen er die Spuren von wilden Tieren erkannte. Eine unsichtbare Kraft zog ihn vorwärts, hin zu einem bestimmten Punkt, der rasch näher kam.

In den Büschen knackte es. Es klang, als zersplitterten winzige Äste unter großem Gewicht.

Angespannt blieb der Junge stehen und lauschte. Das Knacken wiederholte sich nicht, doch der Eindruck, nicht allein zu sein, verstärkte sich. Er ging langsam weiter, bemüht, keinen Laut zu machen. Obwohl der Himmel pechschwarz war, erkannte er seine Umgebung. Die Büsche und Bäume waren in ihr eigenes, schwach silbriges Licht getaucht.

Die Präsenz des Fremden verstärkte sich. Er musste in Deckung gehen. Der Junge hielt den Atem an und verließ den Wildwechsel. Dabei streckte er einen Arm nach oben, um sich davor zu schützen, ein Spinnennetz mit dem Gesicht zu zerreißen, während er über Moos, Gras und Aststücke schlich.

Er sah ein Licht zwischen den Bäumen. Nicht silbrig und kalt, sondern golden und weich. Ein warmer Schein, der ihn begrüßte, ja tröstete.

Gab es überhaupt einen Grund, traurig zu sein?

Alles ist verloren, Narr, flüsterte eine Stimme in ihm, fern und unwirklich.

Der Junge achtete nicht auf sie. Er hatte den Eindruck, dass er oft nicht auf sie achtete, obwohl sie ihn stets begleitete und ihm wie ein spöttischer Gedankenbruder war.

Zweige versperrten ihm die Sicht auf eine Lichtung. Er ging in die Hocke und spähte zwischen den Blättern eines Strauchs auf den von Nadel- und Laubbäumen umsäumten Platz.

Mehrere Kerzenstumpen brannten und verbreiteten den goldenen Schein. In einem Kreis aus Schottersteinen und Sand saß eine Frau. Sie war nackt bis auf eine Vielzahl weißer Schleier, die sie verhüllten. Ihr Körper war schlank, knabenhaft. Weiße Haare umflossen sie bis zur Hüfte, bedeckten kleine, feste Brüste, die er gerne gesehen hätte.

»Hertaso«, sagte sie. »Warum beobachtest du mich aus dem Schatten? Komm zu mir!«

Hertaso. Einen Moment dachte der Junge, das wäre sein Name. Dann erinnerte er sich, dass das Wort Schüler bedeutete. Er war ein Schüler. Ihr Schüler? Es fühlte sich falsch an und auch wieder nicht.

Zögernd kam er näher, trat an den Ring aus Kerzen. »Wer bist du?«

»Roe da Kaberna. Du hast eines meiner Werke gelesen, dir meine Lehren in Trivid- und Holoaufzeichnungen angeschaut.«

Er konnte sich nicht daran erinnern. »Warum rufst du mich in diesen Wald, mitten in der Nacht?«

»Es ist keine Nacht. Und ich habe dich nicht gerufen.«

Der Junge setzte sich auf einen Ballen Moos. »Wenn nicht Nacht ist, was ist dann? Und wer, wenn nicht du, hat mich hierher gelockt? Ich spüre dein inneres Feuer.«

»Es ehrt mich, dass du es spürst, denn du bist ein Meister, auch wenn du es vergessen hast. Die Antworten lauten: Wenn nicht Nacht ist, ist Untergang. Und wenn nicht ich es war, so warst du es.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du wirst es verstehen.«

Hinter Roe da Kaberna knackte es in den Büschen. Der Junge neigte den Kopf, lauschte. »Was ist da?«

Ihre roten Augen verengten sich. »Geh, und finde es heraus.«

Da war eine kindliche Furcht in ihm, eine andere, ältere Stimme als die spöttische, die ihm wegzulaufen riet. Aber er war mehr als ein Kind, mehr als die urwüchsige Stimme aus der Vergangenheit. Wenn dort etwas war, das ihn gerufen hatte, musste er sich dem stellen.

Er stand auf und verließ Roe da Kaberna. Als er sich mehrere Meter entfernt zu ihr umdrehte, war sie fort, samt den Kerzen und der Wärme. Der Schotterplatz lag verlassen da, eingebettet in Moos.

Das Rascheln und Knacken wurde lauter.

Der Junge erkannte, dass sich vor ihm eine weitere Lichtung öffnete, ebenfalls aus Schotter und Sand, doch viel größer als die erste. Er trat hinaus und sah, was ihn gerufen hatte: ein Yilld, halb Schlange, halb Drachen und groß wie ein Haus.

Schwarzgrüne Schuppen bedeckten den Leib, an manchen Stellen von Algen überwuchert. Noch hatte das Monster ihn nicht entdeckt. Der Kopf schwebte in der Höhe, bei den Baumwipfeln. Vielleicht fraß es aus den Kronen.

Eigentlich hätte der Junge neue Furcht haben müssen, doch da war keine. Es hatte so sein müssen. Wer sonst, außer dem Yilld, hätte ihn zu sich bestellen können?

Statt davonzulaufen, rief er das Tier. »Ich bin da! Was willst du von mir?«

Der Yilld fuhr herum. Ein Maul, gespickt mit Zähnen, die Lanzen glichen, öffnete sich. Der Junge roch verwesendes Fleisch. Ein heißer Lufthauch streifte ihn.

»Du!«, sagte der Yilld. »Nenne mir die zwölf Ehernen Prinzipien der Dagorista!«

Eines nach dem anderen zählte der Junge sie auf. Er tat es trotzig. Wollte der Yilld ihn prüfen? Warum?

»Gut«, sagte der Yilld, nachdem er mit dem zwölften Prinzip geendet hatte. »Und nun: Sag mir deinen Namen!«

Der Junge überlegte. Sein Name ... er hatte ihn eben noch gekannt.

»Sag ihn, oder ich töte dich!« Das Monster duckte sich, machte sich zum Sprung bereit. In den Augen glühte es wie in zwei Hochöfen.

Der Junge schwieg. Auch die Stimme in ihm schwieg.

Die gelbfleckigen Lanzen glitten auseinander, rasten ihm entgegen. Mächtige Zähne schnappten zu.

 

»Erkenne die eigenen Grenzen – nur dann zeigst du Demut, die in Barmherzigkeit mündet und sich mit Würde und Ehre eines Dagoristas vereinbart.«

– Zweites Ehernes Prinzip der Dagorista

1.

Versetzung

 

Meine Hand umklammerte den sanduhrförmigen Zellaktivator, durch den winzige blaue Kügelchen rieselten. Ich saß in der Zentrale der ATLANC, in der untersten Ebene der Kommandosphäre. Die Bordzeit stand auf 22.15 Uhr. Laut Bordzeit war der 9. Februar 2271 NGZ. Aber was bedeutete das schon auf einer Reise in die jen-zeitigen Lande?

Die ATLANC war vom KATAPULT versetzt worden. Vor einer Minute hatte ich noch auf die Ringwelt Andrabasch geblickt, auf das Loch in ihrer Mitte, auf das die Spitzen der blassblauen Stufenpyramiden wiesen. Das Schiff flog in das unsichtbare, viereckige Versetzungsfeld zwischen ihnen, seitdem herrschte Schwärze im Holo.

Wir waren in der Transgressionszone des Limbus, im Übergangsbereich zu den Jenzeitigen Landen. Endlich.

»ANC?« Ich hatte ein sonderbares Gefühl, das ich nicht in Worte fassen konnte. Etwas war anders als sonst. »Sind wir unterwegs?«

»Wir sind gelandet«, sagte die flüsternde, alles durchdringende Stimme des ANC, der Seele des Schiffes, die mir immer wieder Rätsel aufgab.

»Gelandet?« Mein Puls ging schneller. Über siebenhundert gelebte Jahre war ich mit der ATLANC unterwegs gewesen, auf dem Weg in die Jenzeitigen Lande, um das Atopische Tribunal an seiner Basis packen zu können – war ich endlich angekommen? War dieser letzte Schritt einer, für den es keines messbaren Wegs bedurfte?

Weit ist die Zeit und kurz der Weg – das hatte Wenndann Wesenlos gesagt, der Toloceste, der unsere Versetzung mit dem KATAPULT initiiert hatte.

»Sind wir da?«, fragte ich heiser.

»Nein.« Die Antwort des ANC zerschmetterte jede Hoffnung. »Das Mein, das ANC, sagte es bereits. Wir sind gelandet.«

»Wo?« Ich fragte es nicht nur das ANC, sondern auch den Pensor. Die schwarzgraue Gestalt stand unbewegt in dem Gestell in der Pilotengrube der ATLANC. Der Pensor hatte das Schiff über eine mit dem Helm gekoppelte Geniferenhaube in das KATAPULT-Feld gesteuert.

Zwar konnte ich den Pensor ohne Holoverbindung nicht sehen, doch ich hörte seine dröhnende Stimme über die Komverbindung: »In einem Land, das auch ein anderes sein könnte.«

Ich nahm einige Schaltungen vor, aktivierte das Holo manuell neu, und tatsächlich kam sowohl die Verbindung zu den Außenoptiken als auch die computergenerierte Darstellung über Strukturtaster wieder zustande.

Ich blinzelte. Wir standen mit der ATLANC auf einem Schotterfeld, durchsetzt mit feinem, weißen Sand. Ein schier unendlicher Strand, der vergeblich das Meer suchte, denn Wasser ließ sich weithin nicht anmessen. Überhaupt fehlten jegliche Angaben, die sonst vorgelagert vor dem eigentlichen Bild schwebten.

»ANC, wie weit reicht dieser Strand?«

»Das ANC, das Mein, kann es nicht abmessen.«

»Lichtjahre?«

»Nicht nur. Viel mehr. Unendlich mehr. Dieser Raum ist nicht ermesslich.«

Ich schloss die Augen. Das unangenehme Gefühl verstärkte sich. Da draußen war etwas. Unsichtbar. Gewaltig. Erst dachte ich, es lauerte, aber meine Sinne widersprachen: Es kam auf uns zu. Von allen Seiten.

Der Eindruck stimmte nicht mit dem überein, was ich sah. Die Schotterwüste, der Strand, diese unermessliche Ebene – sie lag absolut ruhig um uns. Es schien nicht einmal Wind zu geben.

»Was ist das für ein Land?«, fragte ich den Pensor.

»Es ist das Sturmland.«

»Da draußen geht kein Luftzug. Woher kommt der Name?«

»Das fühlst du, so wie ich es fühle.«

Wieder schloss ich die Augen. Ja, da war diese unsichtbare Flut. Eine Monsterwelle, ein Tsunami, Hunderte oder Tausende von Kilometern hoch. Das letzte Mal, als ich derart intensiv etwas mit geschlossenen Augen wahrgenommen hatte, war ich deutlich besser im Dagor-Training gewesen, hatte intensiv und regelmäßig meditiert, nicht nur, um den Schmerz zu meistern, wie es in den letzten siebenhundert Jahren der Fall gewesen war.

Es macht dir Angst, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Atlan da Gonozal, der große Held und Feldherr, stößt an seine Grenzen. Du kontrollierst die Dinge gern, und du spürst, dass du dieses Monstrum niemals wirst kontrollieren können. Es ist jenseits deines Einflusses.

Was ist es?

Der Extrasinn schwieg. Er wusste es auch nicht.

»Das Sturmland, das auch ein anderes sein könnte«, setzte ich die Namen zusammen, die der Pensor genannt hatte. »Was soll ich darunter verstehen? Ist das die Transgressionszone, die um die Jenzeitigen Lande liegt?«

»Ja«, sagte der Pensor schlicht. Er zögerte kurz, dann setzte er hinzu: »Die Transgressionszone des Limbus, oder auch der Limbus selbst. Es ist eine Art raumzeitliche Membran, die sich um die eigentlichen Jenzeitigen Lande schließt.«

Ins Holo kam nun Leben. Mehrere Daten blinkten auf. Darunter die Anzeige, dass dort draußen Bedingungen herrschten wie auf einem Planeten. Nur dass wir nicht auf einem Planeten waren!

Wieder fühlte ich die Monsterwelle. Sie erschien mir schnell, schneller als das Licht. Dennoch kam sie nie an. Sie raste auf uns zu, jetzt und seit jeher und für alle Zeiten, dem Land entgegen, ohne es je zu erreichen.

Ich schüttelte den Kopf. »Bring uns weiter!«, verlangte ich vom Pensor. »Das sind nicht die Jenzeitigen Lande.«

»Willst du dir das Sturmland nicht wenigstens ansehen?«

Ich wurde misstrauisch. War das ein Trick? Wollte der Pensor mich loswerden, um die ATLANC zu übernehmen?

Das kann er nicht, sagte der Extrasinn. Und er will es auch nicht. Er scheint mir eher amüsiert zu sein.

Nach kurzem Abwägen traf ich eine Entscheidung. Ich würde hinausgehen. Solange ich lebte, war die ATLANC mein Schiff, und bisher hatte der Pensor mich unterstützt. Trotzdem nahm ich einen Kombistrahler mit.

 

*

 

Die Luft war mild wie an einem Frühlingstag, die Temperatur angenehm. Schon nach kurzer Zeit öffnete ich den Falthelm des Schutzanzugs und atmete ein.

Ich hätte auf Arkon I stehen können, Gos'Ranton, der Kristallwelt, auf der ich geboren worden war. Die Schwerkraft war identisch. Doch Arkon I war ein blühender Park, ein Reich aus Pflanzen, Wasser und Licht, das Arkoniden Prunk und Heimat bot – oder besser: geboten hatte, ehe das Atopische Tribunal den widersinnigen Einfall gehabt hatte, das gesamte System einschließlich aller Welten den Naats »zurückzugeben«. Das Sturmland dagegen war eine genormte Wüste mit immer gleichen, schiefergrauen Steinen. Es roch metallisch, als verrostete Eisen.

Mein Helmscheinwerfer zuckte über Steinansammlungen und Flächen aus hellem Weiß. Der Sand war feinkörnig, heller als Schnee. Anzeichen von Pflanzen oder Kleinstlebewesen fand ich keine.

Ich hob den Kopf. Der Himmel über mir war schwarz, sternenlos. Es war eine unfassbare Schwärze, die meinen Blick einfing, ihn einsaugen wollte. Mir war, als hätte diese Finsternis die Kraft, mehr als meinen Blick zu fangen. Wenn ich lange genug hinsah, würde sie mich in sich aufnehmen. Obwohl der Gedanke verrückt, nahezu abergläubisch war, fühlte er sich an wie eine sehr konkrete Bedrohung, als stünde ich im Herzen des Elements der Finsternis. Und doch war alles ganz anders. Einen Moment kämpfte ich gegen den Impuls an, den Blick zu senken, dann gab ich ihm nach.

Ich ging in die Hocke, hob einen der zahlreichen Schottersteine auf, hielt ihn abschätzend in der Hand. Es war ein ganz normaler Stein. Jedenfalls fühlte er sich so an. Die Oberfläche war glatt wie die eines Obsidians, die Farbe schiefergrau. Rostrote Äderchen durchliefen sie wie ein Geflecht aus Blutbahnen. Nachdenklich drehte und wendete ich ihn, um ihn schließlich in einem Plastbeutel in eine Beintasche zu stecken. Vielleicht würden die Analysen des ANC oder der technischen Geräte an Bord etwas ergeben.

Mein Blick wanderte über die Endlosigkeit. Ich stand auf, machte einen Schritt vor, dann noch einen. Wenn ich wollte, könnte ich einfach weitergehen, Wochen, Jahre, Jahrhunderte und immer so weiter. Wie Julian Tifflor, Perrys alter Freund und Gefährte, der auch mir zum Freund und wieder zum Fast-Fremden geworden war. Im Gegensatz zu Julian Tifflor würde ich niemals irgendwo ankommen. Es gab keine Grenzen. Entgegen der Weite erschien mir die Steinwüste wie ein Gefängnis mit Gitterstäben, die unsichtbar blieben.

Kälte kroch trotz der warmen Luft in meine Glieder. Ich blieb stehen, schloss die Augen und fühlte die rollende Monsterwelle. Sie war da, ebenso unsichtbar wie die Gitterstäbe.

Eine Weile ging ich in der Nähe der ATLANC umher, nahm Messungen vor, wartete auf Rückmeldung einer Roboterstaffel, die ich ausgeschickt hatte, um weitere Informationen zu sammeln. Doch außer den Steinen, dem Sand und dem pechschwarzen Himmel gab es nichts zu entdecken.

Von Unruhe gepackt kehrte ich an Bord zurück, in die Zentrale, zum Pensor. Das Gestänge des drei Meter großen Humanoiden war innerhalb der Pilotengrube installiert. Nach wie vor umgab seinen Kopf eine transparente Helmblase, die so verschattet war, dass ich nicht mehr als den vagen Eindruck eines reglos-puppenhaften Gesichts mit Augen, Nase und Mund bekam. Über den schwarzgrauen Anzug verteilt zeigten sich hellblaue, leuchtende Hieroglyphen, geometrische Figuren, die an Schrift erinnerten, mir jedoch unbekannt waren.

Der Pilot der WEYD'SHAN war – wie ich – der Herr eines Richterschiffes. Er hatte jedoch im Unterschied zu mir eine gültige Lizenz, um in die Jenzeitigen Lande einzureisen, und war bereits mehrfach dort gewesen, ehe sein Schiff havariert war. Wenn mir jemand helfen konnte, diesen unwirklichen Ort zu verlassen, dann er.

Der Pensor schaute mir interessiert entgegen, zumindest hatte ich diesen vagen Eindruck. Er erinnerte mich an einen verrückten Wissenschaftler, der überprüfte, wie sich die Kreatur entwickelte, die er geschaffen hatte.

»Ich war draußen«, sagte ich. »Dort gibt es nichts. Steine, Sand und diese gigantische, unsichtbare Welle. Mein Ziel sind die Jenzeitigen Lande. Bring mich dorthin!«

Der Pensor hob die Arme. »Das kann ich nicht. Es sind deine besonderen Fähigkeiten, die sich bewähren müssen. Du warst schon einmal an einem Ort wie diesem. An einem Ort ›hinter‹.«

»Hinter den Materiequellen.«

»Das nehme ich an.«

Wie der Koordinator von Andrabasch hatte mir auch der Pensor von dem symptomatischen septadimensionalen Schatten in meiner ÜBSEF-Konstante erzählt. Allerdings sei der Vektor des Schattens eigenartig. Mir half diese Expertise nach wie vor wenig, weil ich mich nicht an die Zeit erinnerte, in der ich mich »hinter« den Materiequellen aufgehalten hatte. Da ich mich sonst dank meines fotografischen Gedächtnisses an alles erinnerte, war das beängstigend.

»Wie haben meine Fähigkeiten sich zu bewähren? Was soll ich tun?«

»Das musst du selbst wissen.«

Ich dachte darüber nach, aber ich wusste es nicht. Als ich die ATLANC durch die Synchronie gesteuert hatte, war das Schiff mir gefolgt. Das ANC hatte sich mit mir verbunden, mit seinen unsichtbaren Fingern immer wieder mein Herz betastet und den Weg gefunden. Doch nun?

»ANC, fühlst du den Weg in die Jenzeitigen Lande? Kannst du ihn über mich aufspüren?«

»Wir sind hier«, sagte das ANC, als erklärte das alles. In gewisser Weise tat es das auch. Hätte das ANC den Weg gefunden, wäre die ATLANC ihm gefolgt.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich den Pensor in seinem Gestell. »Du hast diese Reise bereits mehrfach unternommen. Wie reist man weiter in die Jenzeitigen Lande?«

»Ich bin nicht du. Dies ist nicht meine Reise in der WEYD'SHAN, sondern die deine in der ATLANC. Ich bin nur mitgekommen, weil ich über eine gültige Lizenz zum Weiterflug von Andrabasch in die Jenzeitigen Lande verfüge. Dafür war ich nützlich. Nun ist es an dir, dich zu bewähren.«

Ich erkannte, dass jede Diskussion vergeblich war. Mir blieb nichts, als die Herausforderung anzunehmen und mich dem Sturmland zu stellen. Statt meine Zeit mit fruchtlosen Gesprächen zu vergeuden, drehte ich mich um und schlug eine ganz bestimmte Richtung ein.

Was hast du vor?, fragte der Extrasinn.

Das weißt du. Ich wecke Vogel Ziellos auf.

 

Es gibt keine Garantie für Glück, wohl aber ist jeder in seinem Streben danach der eigene Meister: Der einzelne Dagorista bestimmt mit seinem Können und seinem Einsatz, welche Form des Glücks er für sich und die Seinen erreicht.

– Zehntes Ehernes Prinzip der Dagorista

2.

Genifer

 

Vogel Ziellos war verblüfft, als er auf die Anzeige des Kryotanks blickte. Er war kaum einen Tag im doppelten Kälteschlaf gewesen und fühlte sich wach und ausgeruht wie nach einer erholsamen Nachtruhe. Warum hatte Atlan ihn geweckt? Waren sie angekommen? So schnell?

Sein Herz sendete einen Schmerzimpuls Richtung Bauch. Es fühlte sich an, als würde sich ein Teil der Herzkammer zum Magen ausstülpen. Vogels Schnabel klapperte vor Aufregung stärker als sonst. »Sind wir schon da? In den Jenzeitigen Landen?«

Atlan schüttelte den Kopf. Seine roten Augen verengten sich. »Leider nein. Wir sind in der Transgressionszone. Das ANC meint, dass wir nicht weiterfliegen können. Vielleicht können wir gemeinsam mehr herausfinden, indem wir uns über Geniferenhauben mit der ATLANC verbinden.«

Der unsterbliche Arkonide sagte es mit einem leichten Zweifel in der Stimme, als würde er nicht recht daran glauben, die Möglichkeit aber auf jeden Fall ausschöpfen wollen.

Die Geniferenhaube sorgte dafür, dass sich die Nervenimpulse des Gehirns direkt vom Träger – dem Emotionauten – auf die Steuerung des Schiffs übertrugen. Dadurch ließ sich eine ganze Reihe von Vorgängen steuern, als würde man den eigenen Arm anweisen, nach einer Tasse zu greifen.

Vogel zog die Schultern hoch. Die ATLANC war mehr als ein technisches Wunderwerk, wie er am eigenen Leib erfahren hatte. Es war möglich, Kontakt zum ANC herzustellen und mit anderen Komponenten, die weniger Bewusstsein aufwiesen, aber keine Positroniken waren. Nahezu die gesamte ATLANC bestand aus tt-Progenitoren – totipotenten technischen Progenitorzellen. Diese Zellen waren nicht nur aus hoch komplexer Formenergie, die ihren Bedarf eigenständig aus dem Hyperraum speiste, sie waren auch in der Lage, permanent miteinander zu kommunizieren und als Gesamtheit zu agieren. Dabei teilten sie sich je nach Bedarf, vermehrten oder regenerierten sich.

Hoffte Atlan, dass die zahlreichen tt-Progenitoren oder andere, vielleicht verborgene Teile des rätselhaften Richterschiffes mehr wussten als das ANC? Selbst nach etlichen Jahrhunderten behielt der Raumer Geheimnisse für sich.

Atlan betrachtete Vogel mit einem prüfenden Blick. »Können wir uns gleich verbinden, oder brauchst du nach dem Tiefschlaf eine Pause?«

»Mir geht's bestens.«

»Dann los!«