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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Steuerrad

Schiffsführung

Das Meer im Tropfen

Solares Haus

Vorsintflutliches Terrania

Schatztaucher

Die Fähre

Das Verhör

Im Gericht

Auf dem Floß

Ebbe und Flut

Eine untergründige Strömung

Wer gießt die Blumen?

Abfahrt der Schiffe

Kommentar

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2724

 

Zeitzeuge der Zukunft

 

Es ist der Triumph des Atopen – und wird der Prozess des Jahrtausends

 

Wim Vandemaan

 

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.

Doch die Galaxis ist unruhig: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg, auf der anderen Seite ist das Atopische Tribunal in der Milchstraße aktiv. Seine ersten Repräsentanten sind die Onryonen, die die Auslieferung Perry Rhodans und Imperator Bostichs fordern.

Die beiden Männer gelten als die Hauptfraktoren eines in der Zukunft stattfindenden Weltenbrandes, und ebendies soll verhindert werden. Nach erheblichen Opfern sind Rhodan und Bostich nun in der Hand des Tribunals. Eine Verhandlung soll über ihr Schicksal entscheiden. Um die Beschuldigungen zu klären, ruft der Atopische Richter einen ganz besonderen Zeugen: Es ist der ZEITZEUGE DER ZUKUNFT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner steht vor dem Gericht des Atopischen Tribunals.

Bostich I. – Der Arkonide beginnt ein neues Leben.

Sichu Dorksteiger – Die Ator macht eine befremdliche Entdeckung.

Attilar Leccore – Der Direktor des TLD hat etwas zu sagen.

Matan Addaru Dannoer – Der Atope fällt sein Urteil.

Steuerrad

Terrania City

18. September 1514 NGZ

 

Es roch nach Feuer. Im Nordosten von Terrania brannte der Haggard-Wald. Leccore sah den Rauch in der Ferne aufsteigen wie den Atemdampf eines großen Tieres.

Seit Kurzem nieselte es, und der Duft des Regens mischte sich mit dem des Feuers zu einem angenehmen Aroma. Attilar Leccore hatte seinen Posten auf der Aussichtsplattform nicht verlassen. Andere Beobachter hatten sich in den Innenraum des Gebäudes zurückgezogen, saßen oder standen nun hinter den hohen Glassitwänden. Sie diskutierten, aßen oder nippten geistesabwesend an Gläsern, meist gefüllt mit dem absinthfarbenen Getränk, das vor einigen Jahren in Mode gekommen war.

Leccore blickte hinüber zum Schiff des Richters Matan Addaru Dannoer. Der kleine Raumhafen war von den privaten Raumjachten, die ihn sonst benutzten, geräumt worden. Da und dort meinte Leccore, flache Haufen zusammengefegten Staubs und feinsten Rußes auf dem Boden des Raumhafens zu erkennen – ein optischer Streich, den ihm seine überspannten Sinne spielten. Menschliche Augen waren nicht darauf eingerichtet, Rußpartikel und schwarzes Pulver über größere Entfernung zu sehen.

Einmal abgesehen davon, dass der selbstreinigende Stoff, aus dem der Belag der Landefläche gegossen war, keinen Schmutz geduldet hätte.

Das Schiff des Richters dominierte das Landefeld des Space Ports auf seine eigentümlich unwirkliche Weise. Leccore kniff wie schon so oft die Augen zusammen, auch diesmal ohne Erfolg. Die 232-COLPCOR lag auf dem Goshun Space Port wie eine Luftspiegelung in der Wüste, ein flirrendes Gebilde ohne scharfe Konturen.

Das Schiff, in dem sich seit einigen Stunden Perry Rhodan und Bostich I. aufhielten – nach offiziellen Verlautbarungen freiwillig.

Nicht nur Leccore wusste, was es mit dieser Freiwilligkeit wirklich auf sich hatte. Eine beschönigende Formulierung, die nur unzureichend übertüncht, wie die Machtverhältnisse zurzeit tatsächlich liegen: Perry Rhodan, der Terraner, auf dem eigenen Planeten besiegt; Tekener, einer der höchstrangigen Mitarbeiter der USO: tot; der Imperator der Arkoniden, aus seinem Heimatsystem vertrieben, nur mit Mühe gerettet. Schwarze Stunden für zwei Sternenreiche.

Der Direktor des Terranischen Liga-Dienstes schaute zur Seite, wo Bloster Halayi an einem transportablen Ortungsgerät saß und missmutig auf den Monitor starrte.

Halayi spürte den Blick, sah hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts Neues.«

Bislang war es weder Halayi noch den anderen terranischen Ortungsspezialisten gelungen, nähere Daten über das Schiff zu ermitteln. Es sollte etwa 1500 Meter durchmessen – groß, aber nicht Ehrfurcht gebietend für eine Technologie wie die terranische, die eine SOL, eine BASIS, eine GILGAMESCH hervorgebracht hatte.

Im Vergleich mit dem anderen atopischen Schiff, das in der Milchstraße operierte, dem Schiffsriesen von Richter Chuv, wirkte die 232-COLPCOR geradezu bescheiden.

Die CHUVANC hatte, wie es schien, das Arkon-System beinahe im Alleingang genommen.

Wie die 232-COLPCOR das Solsystem. Eingenommen von einer Luftspiegelung. Leccore verfolgte den Gedanken fast gegen seinen Willen. War nicht das ganze Tribunal etwas wie eine Luftspiegelung?

Leccore sog den Duft des Regens ein; der Waldbrand mischte sein würziges Aroma bei, lag aber wohl in den letzten Zügen. Über dem Wald kreisten zwei, drei Gleiter der Klimawacht, ohne einzugreifen.

In älteren Zeiten hätten die Terraner für solche Zwecke die Wetterkontrolle aktiviert. Mittlerweile ging man mit diesem Instrument behutsamer um – wenn auch, nach Leccores Meinung, bei Weitem noch nicht zurückhaltend genug. Wer sollte schließlich besseres Wetter machen als die Natur? Wälder brannten; auch das war insgesamt gut so. Da man keine Monokulturen mehr mit dem Risiko verheerender Flächenbrände anlegte, sondern das Pflanzenleben sich selbst überließ, da ferner Laub- und Nadelbäume sich mischten, Eichen und Buchen wuchsen, deswegen der Feuchtigkeitsgehalt hoch war, erloschen die Brände stets bald von selbst. Jedes Feuer entsorgte Totholz und verminderte so die Gefahr größerer Brände. Es ließ hinreichend verbrannte Erde zurück, die Raum bot für Pionierpflanzen.

Leccore fand die Ökologie dieses Planeten bemerkenswert – und die Ähnlichkeit dieser Natur und ihrer Kreisläufe mit der Geschichte ihrer humanoiden Bewohner. Immer wieder war ihre Welt im Feuer untergegangen: im Feuer der Haluter, das Lemuria zerstörte; im Feuer der Druuf, das Atlantis versenkte; im Feuer der Dolans, das den Planeten verwüstet hatte.

Immer wieder hatten sich die Menschen neu erhoben, bis hinauf zu den Sternen.

Nun war das Atopische Tribunal erschienen und hatte verkündet, Perry Rhodan würde einen Weltenbrand auslösen.

Während alle Welt diesen Vorwurf entsetzt zurückwies und für eine absurde Unterstellung erklärte, hatte Leccore im ersten Augenblick gedacht: Was denn sonst? Diese Welt brauchte, wie es schien, doch gelegentlich das Feuer.

Er roch den Niesel, roch die schwächer werdende Rauchfahne und genoss immer noch beides.

Sein Multikom meldete sich. Der Richtschall trug ihm einen leisen, angenehmen Gongschlag ans Ohr, den sonst niemand hören würde.

Cai Cheung, die Solare Premier, wünschte ihn zu sprechen. Leccore sah, wie sie im Holo wortlos die Augenbrauen hob.

»Noch nichts«, beantwortete er ihre stumme Frage.

Sie nickte. »Wir haben einen Fehler gemacht, Rhodan gehen zu lassen.«

»Wir machen immer Fehler.«

»Sind wir dabei, gleich wieder einen Fehler zu begehen?«

Leccore schwieg einen Moment. »Haben wir mittlerweile eine Antwort vom Residenten in dieser Sache?«

»Längst«, sagte Cheung. »Joschannan sagt Ja zu dieser Sache. Andernfalls hätte ich dich bereits informiert und Abbruch befohlen.«

»Gut«, befand Leccore. Er wusste, dass Rhodan selbst anderer Meinung war. Er hatte von diesem Versuch abgeraten. Es wird nichts unternommen, solange Bostichs Situation ungeklärt ist.

»Und danach?«, hatte Leccore gefragt.

»Darüber kannst du dir gern den Kopf zerbrechen«, hatte Rhodan gesagt.

Was Leccore getan hatte.

»Wie ist das Wetter?«, fragte Cheung.

»Es verhält sich programmgemäß unauffällig. Wir haben einen kleinen Brand im Haggard-Wald, der nichts an unseren Plänen ändert. Und es nieselt.«

»Gut. Dann wollen wir hoffen, dass unsere frische Brise etwas Gutes bringt.«

Cai Cheung beendete die Verbindung.

Die Solare Premier war für Leccore ein Rätsel, wie ihm viele Menschen noch immer Rätsel waren. Er war einer der zahllosen Fremden auf Terra, auch wenn die meisten Terraner ihn für einen der Ihren hielten.

Für einen Menschen.

Unverhofft löste sich der Schleier auf, der die 232-COLPCOR umgeben hatte. Leccore nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie die anderen Beobachter, die Männer und Frauen des Liga-Dienstes, die Mitarbeiter der Solaren Regierung und die Journalisten, sich erhoben, näher an das Glassit herantraten oder gleich hinaus auf den Balkon.

Als wäre bei Hof der Fürst eingetreten, dachte Leccore.

Das Schiff des Richters lag unverhüllt sichtbar. Es ähnelte dem halb geöffneten Kelch einer riesenhaften Rose. Das Material leuchtete im selben düsteren Rot wie die Hüllen der Onryonenraumer – und doch war es bei der 232-COLPCOR anders: Die gewaltigen, nach oben sich zuspitzenden Blütenblätter waren ohne Zweifel metallisch. Aber ebenso zweifellos durchliefen sie sanfte Wellenbewegungen, als würden sie von einem Wind gerührt, der jenseits der Zeit blies.

»Durchmesser des Kelches 1487 Meter«, verkündete eine Stimme neben ihm. Bloster Halayi war also dieselbe Assoziation gekommen wie ihm. »Allerdings keinerlei Vitalimpulse der Hülle.«

Leccore nickte.

Die Blütenblätter waren in unregelmäßigen Mustern von goldenen Pailletten gesprenkelt. Leccore schätzte den Durchmesser dieser Pailletten auf zehn, vielleicht zwanzig Meter – und tippte, was ihre Funktion betraf, auf Abstrahlvorrichtungen für Waffen, Schirme, Triebwerke.

Der Stiel, auf dem das blütenähnliche Schiff ruhte, war keine hundert Meter hoch. Kurz über dem Boden verästelte sich dieser Stiel vielfach; die Äste spreizten und spalteten sich auf, sodass die 232-COLPCOR am Ende auf einem unüberschaubaren Wurzelwerk von Stützen ruhte. Leccore hatte den Eindruck, dass dieses Wurzelwerk sich im Boden des Raumhafens verankert hatte – eigentlich eine Unmöglichkeit. Schließlich bestand der Bodenbelag aus strukturverhärtetem Metallplast.

Erneut kam Leccore eine Ähnlichkeit in den Sinn: Die Rose über Terrania – die Rose ist an die Stelle der Stahlorchidee getreten.

Die Stahlorchidee war als Sitz des Terranischen Residenten auf die Regierungswelt der Liga verlegt worden, nach Maharani.

Waren diese Ähnlichkeiten gewollt? Waren es subtile Botschaften – oder sah Leccore bloß Gespenster?

Eine winzige Gestalt war, Leccore hatte nicht bemerkt, wann und wie, aus dem Gewirr der Landestützen gestiegen und ging gemächlich auf die Verwaltungsgebäude des Raumhafens zu.

Bei jedem Schritt setzte sie einen mächtigen Stab voran, der noch um eine Handbreit größer war als sie selbst: Matan Addaru Dannoer, Richter des Atopischen Tribunals.

»Es geht los«, murmelte Leccore und nickte Bloster Halayi zu.

Leccore meinte zu spüren, wie die Wetterkontrolle die Regie übernahm, wie die meteorologischen Traktorfront- und Thermoprojektoren ihre fein aufeinander abgestimmten Tätigkeiten aufnahmen, wie die von OTHERWISE dirigierte Wettermaschinerie in Gang kam.

Der Niesel hörte auf; der Duft des Feuers verflog in der Brise, die nun in Richtung Haggard-Wald blies – und damit auf das Schiff des Richters zu.

Leccore stellte sich vor, wie der Ruß aufgewirbelt wurde, wie die Lawine kleiner und kleinster Module, von diesem sanften Wind getragen, auf das Schiff zurollte.

Matan Addaru Dannoer hielt inne. Er stand etwa hundert Meter von der stielartigen Landestelze entfernt, den Stab neben sich auf den Boden gesetzt.

Hatte er Verdacht geschöpft?

Besonders beunruhigt wirkte er nicht.

Offenbar nahm der Richter an, dass ihn hinreichend viele hochempfindliche Richtmikrofone ins Visier genommen hatten, denn ohne selbst irgendeine Vorkehrung getroffen zu haben und ohne die Stimme zu erheben, sprach er: »Ich habe etwas zu sagen.«

Matan Addaru Dannoer machte eine Pause, da begann der Angriff. In einem Lidschlag fügten sich die zahllosen Komponenten, die der Wind nach der Choreografie von OTHERWISE in Formation gebracht hatte, zu kampffähigen Einheiten zusammen. Daumennagelgroße Vektorbomben entluden ihre Energien in Richtung des Atopen; handspannengroße autonome Waffen überschütteten Matan Addaru Dannoer mit Schauern von Paralyse- wie Thermostrahlen und Impulsfeuer.

Der ultraharte Bodenbelag warf in der Hitze Blasen.

Leccore sah die Schatten der TLD-Kampfjets über den Hafen gleiten. Sie waren hinter den Verwaltungsgebäuden aufgetaucht, warteten auf seinen Feuerbefehl.

Der Richter winkte müde ab. Wieder ohne ein lautes Wort fragte er: »Sind wir fertig damit?«

Bloster Halayi starte Leccore an, bleich und ratlos.

Leccore schüttelte den Kopf. »Rückzug!«, befahl er. Er hatte nicht das Gefühl, dass die Zeit drängte. In den Jets saßen keine Menschen. Im Notfall würde die amtliche Darstellung lauten, dass er allein, Direktor Leccore, den Einsatz zu verantworten hatte.

Inzwischen war er sicher, dass Richter Matan Addaru Dannoer kein Wort über dieses Attentat verlieren würde, niemanden zur Rechenschaft würde ziehen wollen.

Wozu auch. Die Demütigung, die er Terra mit diesem Gleichmut zugefügt hatte, war kaum zu überbieten.

Die Schatten der Jets verschwanden. Die Maschinen im Kampfgebiet zerbröckelten wieder; eine winzige Lawine aus schwarzen Flocken bewegte sich von Matan Addaru Dannoer und seinem Schiff fort.

»Aufzeichnung läuft!«, meldete Bloster Halayi. Der Holoprojektor seines Ortungsgerätes zeigte ausschnittvergrößerte Bilder.

In diesem Moment war es Leccore gleich, dass auch andere Menschen, die sich auf dem Balkon aufhielten, zusahen. Die meisten von ihnen würden so oder so eigene Mitschnitte angefertigt haben; die Journalisten, Gegenwartshistoriker und Xenotechniker unter ihnen in einer Qualität, die der eines TLD-Holorekorders in nichts nachstand.

Leccore betrachtete die Aufzeichnung. Er konnte sehen, wie die winzigen Projektile und die sichtbar gemachten Energietreffer in den Leib des Richters einschlugen.

Und wie aus dem Leib des Richters, immer dort, wo die Projektile und Schüsse wieder hätten austreten müssen, winzige nachtblaue Körner regneten.

»Was ist das?«, flüsterte Halayi.

»Er wirkt völlig entrückt«, überlegte Leccore laut.

»Was macht er da? Und wie macht er es?«

»Es könnte eine Verteidigungsapparatur sein, die im Prinzip wie unsere Paros-Schattenschirme arbeitet. Eine Teilentstofflichung, um sich für stoffliche wie energetische Einwirkungen unangreifbar zu machen.«

»Ein Paros? Für eine einzelne Person?«

»Bloster«, mahnte Leccore. »Stell dein andächtiges Staunen ein und werde wieder sachlich. Existieren die abgesonderten Körner noch?«

Halayi starrte in den Monitor und nickte dann. »Haufenweise.«

»Wir müssen uns einige davon beschaffen.«

In diesem Moment sprach Matan Addaru Dannoer wieder.

»Ich habe etwas zu sagen«, wiederholte er. »Und ich würde mich nach diesem Intermezzo über eure ungeteilte Aufmerksamkeit freuen.«

Die hast du, dachte Leccore. Spätestens jetzt.

 

*

 

Matan Addaru Dannoer hatte im Rahmen seiner kleinen Ansprache um eine Unterredung mit der Solaren Premier gebeten – ein Vieraugengespräch.

Anschließend würde er der breiten Öffentlichkeit bereitwillig einige Details zum bevorstehenden Prozess bekannt geben und der Presse zur Verfügung stehen.

Für die notwendigen Prozessvorbereitungen plane er, die Bevölkerung Terras, insbesondere die Bürger Terranias, um Unterstützung zu bitten.

»Bla, bla«, machte Halayi.

Die Zeit, die Cai Cheung brauchte, um vom Solaren Haus zum Goshun Space Port zu kommen, wartete der Richter beinahe reglos, nur auf seinen Stab gestützt. Beide Hände lagen fest um dessen Mitte geschlossen; den Oberkörper hielt er leicht vorgebeugt. Er machte den Eindruck eines Wanderers, der, des Weges noch nicht müde, nur kurz innehielt, um die Schönheit der Landschaft zu bewundern.

»Vielleicht sollten wir es mit stärkeren Kalibern versuchen«, schlug Halayi vor.

»Natürlich«, sagte Leccore. »Lasst uns eine Gravitationsbombe auf ihn werfen. Oder zwei.«

Halayi errötete. »Seine aufreizende Haltung ist einfach schwer zu ertragen.«

Leccore war sich sicher, dass sie noch nicht einmal den Saum dessen berührt hatten, was sie unter dem Atopische Tribunal noch würden ertragen müssen.

Etwa eine Viertelstunde nachdem der Richter um diese Begegnung gebeten hatte, erschien Cai Cheung. Der Regierungsgleiter landete keine zwanzig Meter vom Richter entfernt. Die Fahrertür schwang nach oben und wippte leicht nach; Cheung stieg aus. Sie trug einen Hosenanzug von vage militärischem Schnitt, ohne Rangabzeichen. Sie sah beherrscht aus, dabei gespannt.

Für einen Augenblick überlegte Leccore, ob er sie jetzt abtasten sollte. Es war eine Weise, andere Lebewesen kennenzulernen, die seiner Art vorbehalten blieb. Angehörige seines Volkes vermochten mit ihrem Körper eine Kopie des abgetasteten Gegenübers anzufertigen. Das dazu unerlässliche Abtasten erfasste sogar die neuronalen Strukturen. Leccore hätte Cheungs Erinnerungen, sogar einige ihrer Verhaltensweisen übernehmen können.

Aber er kannte die Solare Premier lange und gut genug, um auch so zu verstehen, was und zu welchem Zweck sie es tat.

Und manchmal sogar, warum.

 

*

 

Cai Cheung blieb drei oder vier Schritte vor dem Richter stehen. Sie hatte nicht vor, ihm die Hand zu reichen oder eine sonstige Berührung von ihm zu dulden. Sie musterte sein Gesicht, das von hohem Alter gezeichnet war und wettergegerbt wirkte.

Warum eigentlich? Tagt das Tribunal im Freien?

Auch der Richter betrachtete sie eingehend, dabei ohne sichtbare Regung.

Anstelle einer Begrüßung sagte die Solare Premier: »Du hast mich herbestellt?«

»Hergebeten«, verbesserte Matan Addaru Dannoer.

Cheung antwortete nicht.

Der Atope sagte: »Ich suche etwas, das wohl mit dem Begriff Schöffe am besten umschrieben wäre.«

»Du meinst Geschworene, die über Rhodans Schuld oder Unschuld befinden? Oder über ein Strafmaß?«

»Beides würde diesen Schöffen eine allzu schwere Verantwortung aufbürden.«

»Dann verstehe ich Sinn und Zweck dieser Schöffen nicht«, sagte Cheung. »Wozu sollen sie dienen?«

»Der Wahrheitsfindung. Wir alle dienen doch der Wahrheit.«

»Ich nicht«, sagte Cheung. »Meine Arbeitsplatzbeschreibung ist eher funktional. Ich setze Gesetze um. Gesetze, die ich nicht selbst gegeben habe. Die Frage, ob sie wahr sind oder nicht, spielt für mich keine Rolle.«

»Euer Regierungssystem ist äußerst amüsant.« Es klang nicht wie ein aufrichtiges Lob.

»Danke für diese Einschätzung«, sagte Cheung kalt. »Aber wir sind es gewohnt, über Wert und Unwert unserer Institutionen selbst zu befinden.«

»Bewahre, dass ich mich einmische.« Der Richter hob abwehrend beide Hände, den Stab dabei in seiner Rechten.

Cheung versuchte, sich auf den obersten Teil des Stabes zu konzentrieren, den leicht verdickten Knauf. Aber sie bekam kein klares Bild. Ihr war, als verursachte der Stab eine Sehstörung.

Plötzlich ging ihr auf, an wen Matan Addaru Dannoer sie vom ersten Augenblick an erinnert hatte: an einen archaischen Patriarchen, der, selbst Nomade, sein Volk von Weidegrund zu Weidegrund führte, steinalt, halsstarrig, aber im Wissen um jedes Wasserloch, jede Oase auf dem Weg.

Hatte er sich jetzt die Terraner ausgesucht, um sie ins Gelobte Land zu führen? In eine Zukunft ohne Ekpyrosis?

Keine Chance, dachte sie. Spätestens nach Delorian werden wir niemandem mehr folgen, der uns eine Abkürzung ins Paradies verspricht.

Aber wenn ihr Instinkt sie nicht trog und wenn diese Figur tatsächlich eine Anspielung war, die an das Unterbewusstsein der Menschen appellieren sollte – hieße das nicht, dass der Richter sich mit diesem Körper nur verkleidet hatte? Dass er also in Wirklichkeit anders war?

»Wie siehst du wirklich aus?«, stieß sie hervor.

»Wie siehst du in Wirklichkeit aus?«, konterte Matan Addaru Dannoer mit einem sanften Lächeln.

Aber erst nach einem winzigen Zögern, das Cheung nicht entgangen war.

Ertappt, dachte sie.

 

*

 

Das Ansinnen des Atopen, ihm für seine Suche nach Schöffen die öffentlichen Informationskanäle zur Verfügung zu stellen, lehnte sie rundheraus ab.

Sie gab die Unnachgiebige und war sich bewusst, das auch in Richtung Publikum zu zeigen. Schließlich konnte sie davon ausgehen, dass buchstäblich Tausende Kameras auf sie gerichtet waren – mikroskopisch kleine Geräte, die in zwei oder drei Kilometern Entfernung durch die Luft drifteten, genauso wie aufwendige Optiken, die aus dem Orbit auf sie gerichtet waren.

Auch auf Maharani würde man live zusehen. Die Analysten von Resident Joschannan würden jedes Wort, jede Betonung des Richters auswerten.

Cai Cheung wusste um die Spannungen zwischen dem Kabinett und einer Fraktion der Raumflottenadmiralität, und sie wusste um die Spannungen im Kabinett der Ligaregierung selbst: Tristan Boka, der Residenz-Minister für Verteidigung, riet zur Zurückhaltung; er hatte Jale Castellanos auf seiner Seite, die Residenz-Ministerin für die Koordination mit dem Galaktikum.

Der Residenz-Minister für die Außenpolitik dagegen, Sharma Lushan, hatte sich, wie Joschannan ihr zugetragen hatte, für begrenzte Militärschläge gegen die Onryonen ausgesprochen. Er hatte zweifellos Oberst Girma Teshale auf seiner Seite oder Leute wie Tont Kytubashe, den einflussreichen Kommandanten der schlagkräftigen Raumflotte, die der Bund Freies Ertrus unterhielt.

Cheung teilte die Befürchtungen von Boka und Castellanos, dass die Streitkräfte des Atopischen Tribunals die Liga zu solchen Aktionen verlocken wollte. »... um uns geradewegs ins offene Messer laufen zu lassen«, hatte Joschannan gesagt. »Glaub mir, dieses Messer steht bereit. Wir können es nur noch nicht in seiner ganzen Länge und Schärfe sehen.«

Wann würde Joschannan dem Druck Lushans, der Flotte und breiter Teile der Bevölkerung nachgeben müssen?

Sie seufzte. Sie war mehr als froh, nicht in der Haut des Residenten zu stecken.

Ihr Abschied vom Atopen war schroff. »Ich gehe jetzt«, sagte sie. Sie bückte sich wie selbstverständlich und versuchte, einige der nachtblauen Körner aufzulesen.

Sie waren zu schwer.

»Lass sie von einem Roboter abholen oder nimm sie mit einem Traktorstrahl auf«, riet der Atope gutmütig. »Ich habe keine Geheimnisse.«

»Das werde ich tun«, sagte sie. »Sie liegen auf terranischem Boden. Nach unserem Recht sind sie unser Eigentum.«

»Oh«, sagte er, »ich erhebe keinen Anspruch auf diese Transkremente. Ich bitte dich aber, im Gegenzug keinen weiteren Anspruch auf meine tefrodischen Erfüllungsgehilfen zu erheben. Das freie Geleit für Kik Dentan Malys Schiff war bereits gewährt. Warum wird es noch auf Terra festgehalten?«

»Einwände des Innenministeriums. Sie haben Straftaten auf unserem Territorium ...«

»Die Milchstraße«, unterbrach der Richter sie kaum hörbar, aber sehr bestimmt, »ist zurzeit einzig Rechtsterritorium des Atopischen Tribunals. Bist du willens – und ist der verehrte Joschannan willens –, Menschenleben aufs Spiel zu setzen einiger Tefroder wegen?«

Cheung dachte kurz nach. »Freies Geleit für die überlebenden Tefroder«, entschied sie dann.

»Ferner«, sagte Matan, »bitte ich darum, dass ihr einem Schiff – einem einzigen, unbewaffneten Onryonenschiff – gestattet, euren Stern zu erforschen und seine besondere Struktur: sein Siegel und den Korpus der toten Superintelligenz.«

»Niemals.«

»Solare Premier: ein einziges Schiff, das nur passiv ortet und misst, Daten sammelt und auswertet. Das ferner sämtliches Datenmaterial offen mit euch teilt. Das, wenn du willst, voll und ganz unter der polizeilichen oder militärischen Kontrolle deines Staates steht. Lass mich dich bitte nicht drängen.«

Mit Onryonenverbänden und Linearraumtorpedos, ergänzte sie in Gedanken, beherrschte sich aber. »Ich werde deine Bitte«, hörte sie sich sagen, »zum Gegenstand einer Volksabstimmung machen. Das ist mein letztes Wort.«

Der Richter schien nachzudenken. »Einverstanden, Premier Cheung. Wenn du das Ergebnis akzeptierst – wir werden es auch tun.« Der Richter drehte den Stab in der Hand. »Ich fühle mich«, sagte er und verneigte sich leicht, »dir verpflichtet, Premier Cheung. Dies ist ein Guthaben für dich. Ich hoffe jedoch, du forderst dieses Guthaben nicht zur Unzeit ein.«

»Was wäre zur Unzeit?«

»Solange ich auf Terra bin.«

 

*