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Nr. 2855

 

Der Linearraum-Dieb

 

Attilar Leccore im Einsatz – der Gestaltwandler ist einer neuen Waffe auf der Spur

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Während sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz dieser Macht begeben hat – die Ländereien jenseits der Zeit –, reist Perry Rhodan durch vergangene Zeiten, um der Gegenwart Hilfe zu bringen. Denn die Gegenwart, wie er sie kennt, wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Um dieser Gefahr zu begegnen, üben sich die unterschiedlichen Mächte im Schulterschluss. Nicht immer geschieht dies ganz freiwillig. Das beweist DER LINEARRAUM-DIEB ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Attilar Leccore – Der Gestaltwandler rettet ein Leben.

Cessnad Assoy – Der Wissenschaftler lässt sich nichts vormachen.

Typhan Opporosh – Die Mutter des Kanzlers eröffnet ein Fest.

Germo Jobst – Der Teleporter widmet sich der Kunst.

Gedächtnisernte

 

Das vierbeinige, fellbedeckte Wesen erscheint dir wie eine Mischung aus Pferd und Gorilla. Seidiger brauner Pelz sprießt aus der Haut, schimmert matt im Licht der untergehenden Sonne. Die Dunkelheit drängt heran, droht das Wesen, das mit den langen Vorderläufen die tief sitzenden Griffe einer Schubkarre berührt, zu verschlingen.

Der Vierbeiner schaut nicht zurück in die Finsternis. Er beugt sich nach vorne, über den Karren, in dem dreißig, vierzig und mehr Leinwände kleinsten Formats liegen. Jede Leinwand zeigt ein anderes Bild, manches farbenfroh, manches bleich, wie ausgewaschen. Einige der Miniaturen lösen sich an den Rändern auf, verwehen zu blauem Sand, der über nackte Erde weht.

Im Bildvordergrund stapeln sich weitere Leinwände auf mehreren Haufen, warten darauf, eingeladen und fortgebracht zu werden, als hofften sie auf Rettung vor der aufziehenden Nacht.

Du stehst vor der Schubkarre, greifst nach einem der Werke, doch als du es berührst, löst es sich auf, wie etwas, das Jahrtausende alt ist und zwischen deinen Fingern zu Staub zerfällt.

1.

TOMASON

9. Juli 1518 NGZ

 

Germo Jobst stand in der Mitte seiner Kabine und betrachtete die Holoprojektion, ohne zu blinzeln. Es handelte sich um die in den Raum geworfene Darstellung eines Bildes, das eine der Nebenpositroniken der TOMASON für ihn berechnet und zu einer landschaftsartigen Szenerie umgesetzt hatte.

Das vierbeinige, fellbedeckte Wesen vor ihm, das ihn an eine Mischung aus Pferd und Gorilla erinnerte, war eindeutig intelligent. Es schob eine Schubkarre vor sich her, in der zahlreiche bemalte Leinwände lagen. In seinen Augen stand Furcht, es wirkte getrieben. Die spitzen Ohren am lang gezogenen Kopf waren steil aufgerichtet.

Germo wusste inzwischen, dass dieses Lebewesen ein Keroute war. So nannten sich die Vertreter des Volkes, die mittlerweile als Ureinwohner Terras anerkannt waren. Die Terraner kannten die Geschöpfe als eine Spielart der Chalicotherien. Lange vor der Menschheit hatten sie auf Terra ihre Spuren in Form von Skeletten hinterlassen.

Jemand räusperte sich hinter ihm. »Kann ich reinkommen?«

Er drehte sich um und entdeckte Jawna Togoya im Türdurchgang. Die ehemalige Kommandantin der RAS TSCHUBAI wusste, dass es ihm schwerfiel, sich eine Kabine mit ihr zu teilen. Sie war seit der Bergung aus der RAS TSCHUBAI und der Zusammenlegung auf der TOMASON die Höflichkeit in Person.

Obwohl der Raum groß und der Platz mehr als ausreichend für jemanden mit seiner Vergangenheit war, war Germo es nicht gewohnt, sich ein Zimmer zu teilen. Zuletzt hatte er mit Ch'Daarn zusammengelebt, seinem Ziehvater und Mentor, doch jeder hatte seine Ausweichmöglichkeiten gehabt.

»Klar.« Germo wandte sich wieder der Szenerie zu, verglich den Kerouten darauf mit der Keroutin Poungari, die er kurz nach der Transmitterrettung aus der RAS TSCHUBAI und dem Hypereis auf der Krankenstation der TOMASON im Tiefschlaf gesehen hatte. Wenn Germo daran dachte, dass die TOMASON Medusa umkreiste, jenen Planeten, mit dem die Kerouten vor über zwanzig Millionen Jahren aus dem Solsystem geflohen waren, um dem Imperium der Empörer zu entkommen, spürte er ein Kribbeln in den Eingeweiden. Er war dicht am Puls der Geschichte Terras.

Bis vor wenigen Tagen hatte Germo nie einen Kerouten gesehen – und doch hatte er Bilder der Wesen gemalt. In der Zentrale von MUTTER, dem Raumschiff, in dem Germo und Ch'Daarn gewohnt hatten, gab es mehrere Szenen, die Kerouten in einer romantischen, wilden Flusslandschaft zeigten. Nun waren die Kerouten in Germos Leben getreten – plötzlich, unvermittelt. Lebendig gewordene Malerei, die von den Wänden einer Schiffszentrale mitten ins Sein stürzte.

Germo hatte viele Fragen, doch die aktuelle Situation in der Milchstraße machte eine Verständigung mit den Kerouten auf Medusa schwierig. Es war besser, ein wenig zu warten, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst geschwächt war, viel schlief und Mühe hatte, sich längere Zeit auf den Beinen zu halten. In der RAS TSCHUBAI hatte er eine gefühlte Ewigkeit in Suspension verbracht – einem körperlosen Zustand, von dem er sich wie die meisten geretteten Besatzungsmitglieder erst erholen musste. Noch immer gelang es Germo kaum, selbst die kleinsten Mengen Essen bei sich zu behalten.

Jawna Togoya trat an den Schreibtisch am Ende des Raums gegenüber der Tür. Sie sah gut aus, wie immer. Während man den meisten Terranern derzeit Müdigkeit, Anspannung und Überarbeitung anmerkte, erschien die in Menschengestalt auftretende Posbi wie die blühende Jugend. Ihr Gang war federnd, die Bewegungen schwungvoll. Vermutlich fiel das leicht, wenn man weder Schlaf brauchte noch Albträume kannte.

»Was tust du?«, fragte Jawna, drehte den Sessel am Arbeitstisch in seine Richtung und setzte sich.

»Ich betrachte die Bilder, die der andere Germo gemalt hat. Die Irr-MUTTER hat sie aufbewahrt.«

»Die Irr-MUTTER? Du meinst die Chronodoublette von MUTTER?«

»Ja. In ihren Speichern waren die Bilder, die mein Zweit-Ich gemacht hat – meine Chronodoublette.«

Es war ein unheimlicher Gedanke, dass es einen zweiten Germo Jobst gegeben hatte, der bereits vor vielen Jahren in der Irr-MUTTER gestorben war. Jemand hatte den zweiten Germo und die zweite MUTTER in diese Zeit geschickt, damit das Raumschiff bei der Bergung der Besatzung der RAS TSCHUBAI helfen konnte. Im Grunde hatte Germo auf eine vollkommen verrückte Weise mitgeholfen, sein eigenes Leben zu retten.

Inzwischen war die Kraft der Irr-MUTTER aufgebraucht. Soweit Germo wusste, war ihr Zustand bedenklich.

Jawna zeigte auf die Holografie. »Verstehst du, was das Bild bedeutet?«

»Nein. Für mich ist es ebenso fremd und rätselhaft wie für jeden anderen. Besonders der Keroute.«

»Es ist schön. Auf eine undefinierbare Weise. Wie heißt es?«

Obwohl das Lob seinem Doppelgänger galt, fühlte sich Germo geschmeichelt. Er deutete auf eine handgeschriebene Unterschrift, die über einem Haufen Leinwände im Vordergrund schwebte. »Gedächtnisernte.«

Sein Blick blieb an einer der Miniaturen hängen. Sie zeigte lange, dünne Streben, die aussahen wie Spinnweben aus Metall. Eine Erinnerung blitzte in Germo auf, die er sofort zur Seite schob. Unbehaglich zog er die Schultern hoch. Ihm war flau im Magen.

Jawna kniff die Augen zusammen, sagte jedoch nichts.

Germo war dankbar darüber. Er wollte nicht auf seine Vergangenheit angesprochen werden. »Ich versuche nicht, das Werk zu interpretieren, sondern in die Anderwelt des verstorbenen Germo einzutauchen.«

»Na, dann. Viel Erfolg.« Die Schwarzhaarige drehte sich um und rief ihrerseits ein Holo über dem Arbeitstisch auf.

Sicher ging es um die Flottenbewegungen der Tiuphoren, die vielen Schiffe im Orbit um Medusa oder neue Meldungen zum Zeitriss. Die Lage in der Milchstraße war angespannt wie nie. Ständig gab es Sitzungen und wichtige Besprechungen, oft initiiert von Perry Rhodan, der als Letzter von Bord der RAS TSCHUBAI geholt worden war.

Erneut betrachtete Germo den fremdartigen Kerouten. Er hatte so viele Fragen. Gleichzeitig nagte Unsicherheit an ihm. Er kam nicht aus dieser Zeit, sondern aus dem Jahr 2577 NGZ – aus einer über tausend Jahre entfernten Zukunft, die so hoffentlich niemals eintreten würde. Bisher hatte er geglaubt, nun in einer besseren, erleuchteten Welt zu sein, doch nach den Schreckensbildern, die sich durch die Medien zogen wie eine Spur der Verwüstung, wusste Germo nicht mehr, was er denken sollte.

In seiner Welt und Zeit hatte er in einer erdrückenden Diktatur gelebt, die ihr hässliches Angesicht im Schatten verborgen hatte. Nun war er in einem Krieg, in dem die Tiuphoren ganze Welten offen angriffen und zerstörten. Nie hatte er so viel Leid auf einmal erlebt.

Mit Schrecken dachte er an die Aufzeichnungen aus dem Yogulsystem, die den Angriff der Tiuphoren auf den Planeten Maharani zeigten. Nur durch das Opfer des Regierungsoberhauptes der LFT – eines gewissen Arun Joschannan – und der selbstlosen Tat einer Ordischen Stele war der Planet der völligen Vernichtung entgangen.

Ein schriller Ton hob an, wurde lauter und ebbte ab. Er hallte in Germos Ohren nach, bohrte sich in sein Gehirn wie eine Nadel, die länger und länger wurde.

»Gefechtsalarm!« Jawna sprang auf.

Germo erstarrte. »Tiuphoren?«

Hastig gab Jawnas Befehle in das Multifunktionsgerät an ihrem Handgelenk ein. »Nein. Das ist etwas anderes!«

Eine dreidimensionale Darstellung flammte über Jawnas Armbandgerät auf. Sie zeigte einen Flugkörper von dreißig Metern Länge, etwa acht Metern Durchmesser und einer kugelförmig verdickten Spitze.

Das Blut aus Germos Oberkörper sackte in die Beine, dass ihm schwindelig wurde. Er hatte die letzten drei Tage wie alle ehemaligen Besatzungsmitglieder der RAS TSCHUBAI speziell zusammengestelltes Trividmaterial erhalten, um auf den aktuellen Stand dieser Zeit zu kommen, und erkannte, was da über Jawnas Arm schwebte. »Ein Angriff mit Linearraumtorpedos?«

»Nicht direkt.« Jawna kniff die Augen zusammen. »Laut Meldung aus der Zentrale ist ein einzelner onryonischer Linearraumtorpedo wenige Lichtstunden von Medusa entfernt aus dem Linearraum getreten und hält mit halber Lichtgeschwindigkeit auf den Planeten zu.«

Erleichtert stieß Germo die Luft aus. »Dann hat die TOMASON genug Zeit, ihn abzuschießen?«

»Massig. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, was das soll. Immerhin sind auch onryonische Raumer vor Ort. Vielleicht ein Irrläufer, den die Onryonen irgendwo auf ein Sterngewerk der Tiuphoren abgefeuert haben, oder ein fehlgeschlagener Test.«

Der Alarm verstummte. Es blieb ein leichtes Flackern der künstlichen Beleuchtung, das auf eine erhöhte Sicherheitsstufe hinwies.

»Keine große Gefahr, aber beunruhigend«, schloss Germo. Für ihn waren die vielen Begriffe neu: Sterngewerke, Linearraumtorpedos, Ordische Stelen. Noch vor kurzer Zeit hatte er von all dem keine große Ahnung gehabt. Manches kannte er zwar aus dem Geschichtsunterricht, doch es war für ihn in seiner Welt so fern gewesen wie Chalicotherien.

»Stimmt.« Jawna schaltete die Projektion ab.

Die Unruhe in Germo wurde unangenehm. Er wäre am liebsten in den Gang gelaufen. »Wir sind trotzdem in einer gefährlichen Lage. Ich bin das Herumsitzen leid. Ich will helfen!«

»Das kannst du bestimmt, sobald du dich erholt hast. Mit deinen Fähigkeiten hast du beste Voraussetzungen. Mutanten sind in der Liga derzeit rar. Besonders Teleporter.«

»Du meinst, ich muss nicht bis ans Ende meiner Tage in dieser Kabine versauern?«

»Ganz sicher nicht.«

»Das ist gut.«

»Magst du keine Pausen?«

»Nein. Wenn ich mich ausruhe, steigen die Bilder hoch, die Träume aus der Suspension auf der RAS TSCHUBAI und ...« Germo hatte »meine Vergangenheit« ergänzen wollen, doch er ließ es bleiben.

Jawnas Blick hatte etwas Sezierendes. »Hast du dir schon mal überlegt, dass es besser ist, sich zu stellen, als wegzulaufen?«

Er fühlte, wie sich seine Stirn in Falten legte. »Was willst du damit sagen?«

»Dass ich für dich da bin, wenn du reden möchtest.«

»Kein Bedarf.«

»Wie du meinst.« Die Posbi stand auf. »Melde dich, falls du es dir anders überlegst.«

2.

HOOTRI

Fünfeinhalb Wochen zuvor

 

Sie stürzten auf den Planeten zu, fielen ihm entgegen. Attilar Leccore wusste, dass der Eindruck täuschte, und doch ließ er sich davon verführen, genoss es geradezu, das spindelartige Raumphänomen zu bestaunen, das der onryonische Kommandant Shekval Genneryc als On-Vakuole bezeichnet hatte.

Mitten in einer golden schimmernden, blasenartigen Einschnürung des Linearraums rotierte eine Welt um ihre Achse. Ein strahlender Ring umgab sie, ähnlich dem Ring des Saturns, nur dass er aus reiner Helligkeit bestand. Das Licht hatte einen dunkelgoldenen Ton, der Kontinente und Meere aus der Dunkelheit schälte, ohne sie auszuleuchten. Es war deutlich schwächer als das Licht einer Sonne.

Um Leccore brach Unruhe aus. Er hatte die Zentrale der HOOTRI verlassen, befand sich in einem großen Mannschaftsraum, in dem vor allem verletzte Galaktiker von Maharani und den angrenzenden Welten auf Schwebeliegen und -stühlen untergebracht waren. Während die HOOTRI dem Planeten im Linearraum immer näher kam, machte das Erstaunen unter den wachen Patienten die Runde. Eine Frau voller Schnittverletzungen starrte mit offenem Mund auf die Darstellung, blinzelte immer wieder.

Shekval Genneryc persönlich hatte Leccore eine kurze Beschreibung des Phänomens gegeben und den Planeten eine Präterital-Kolonie genannt. Demnach war On-Vennbacc Teil einer On-Ökumene, deren Hauptwelt On-Ryo war.

Leccore bemerkte eine Reihe greller, winziger Positionslichter. Im Orbit um On-Vennbacc waren Schiffe verteilt – sicher mehr als zwanzigtausend, wenn auf der anderen Planetenseite ebenso viele Raumväter flogen. Es musste ein beeindruckendes Raumrudel sein.

Unter ihnen vergrößerte sich ein Gebirge. Sie wurden langsamer, ohne dass eine spürbare Veränderung eintrat. Die vom onryonischen Genius erstellten Holos verwandelten sich und zeigten eine Landschaft mit majestätischen Graten, die einen unwirklichen, von Blitzen übersäten Himmel zerschnitten. Goldener Schnee schimmerte auf den Spitzen der Berge.

»Eine Welt im Hyperraum«, murmelte ein Mann, dessen linkes Auge von einer Medobinde abgedeckt war.

»Unsinn«, sagte ein anderer. »Im Linearraum. Oder besser einem Teil davon. Vermutlich in einer Art Vakuole, die Energie aus dem Schwarzen Loch in der Nähe bezieht.«

Auch er hatte Verletzungen im Kampf gegen die Tiuphoren davongetragen. Eines seiner Beine endete am Knie in einem umwickelten Stumpf.

Die Schlacht um Maharani hatte Millionen Leben gefordert. Es gab zu viele Verwundete für die Roboter und überforderten Hilfskräfte. Von daher war es ein Segen, dass die Onryonen eingegriffen hatten und ihren Teil dazu beitrugen, sich um die Opfer des Angriffs zu kümmern.

Auch Attilar Leccore war schwer verletzt worden, als er mehreren Onryonen in Gestalt des Terraners Ovid Penderghast zu Hilfe geeilt war. Unter ihnen hatte sich Shekval Genneryc befunden – der Oberbefehlshaber und Kommandant des Raumvaters HOOTRI. Ein Glücksfall, selbst wenn Leccore bisher keinen Grund gehabt hatte, gut über Shekval Genneryc zu denken. Doch in diesem Moment bescherte Leccore sein Einsatz für Genneryc eine Reise zu einem der am besten gehüteten Geheimnisse der Onryonen: den On-Welten!

»Ovid Penderghast?«, fragte eine säuselnde Stimme neben ihm.

Nur mit Mühe löste Leccore den Blick von der Stadt, die sie überflogen. Auf die Entfernung hatte er lediglich Spiegelreflexe und Lichtblitze erkannt. Nun lag unter ihm eine Metropole, fremd und exotisch, wie keine zuvor. Allein der dunkle, von goldenen und blauen Blitzen zerrissene Himmel aus verwaschener Bronze war eine Kulisse, die ihm den Atem stocken ließ. Obwohl nirgendwo eine Wolke schwebte, leuchteten die Phänomene wie geworfene Lichtspeere auf. Sie brachen sich in den Spiegelfassaden der Wohntürme, gaben der Stadt eine Atmosphäre von Zersplitterung und ständiger Bewegung, die von zahlreichen Gleitern, schwebenden Farmplattformen und wogenden Anuupi-Schwärmen unterstrichen wurde.

»Ja?«

Der Onryone neben ihm verfärbte sein Emot in das Rosa der Zuneigung und des Respekts. Wie alle onryonischen Zivilisten an Bord trug er ein wallendes buntes Gewand, das sich an Farbenpracht überschlug und die schwarze Hautfarbe kontrastierte. »Ich bin Nennjan Ikketesh, dein persönlicher Betreuer und Begleiter nach Kanndirr.«

»Kanndirr?«

»Eine besonders angesehene Heilstätte am Hang des Darrib-Norr. Shekval Genneryc persönlich hat darauf bestanden, dass du dort aufgenommen wirst. Warte bitte, bis wir gelandet sind. Die Galaktiker, die nach Kanndirr kommen, werden zuletzt abgeholt.«

»Wie heißt die Stadt, bei der wir landen?«

»Moodyon. Sie ist die größte der offenen Städte.«

»Dann sind die anderen Städte geschlossen oder Sperrgebiet?«

Ikketeshs Emot zeigte das Rot der Erheiterung. »Aber nein. Die anderen Metropolen sind geborgen. Sie liegen innerhalb der Gebirgsmassive in Kavernen und künstlich geschaffenen Etagen. Entschuldige mich nun, ich muss weitere Verletzte über die Zuordnungen zu unseren medizinischen Einrichtungen informieren.« Der Onryone setzte seinen Weg fort.

Fasziniert verfolgte Leccore die Landung auf dem Raumhafen im Holo. Hunderte Schiffe lagen am Boden. Fahrzeuge und kleinere Fluggeräte überwanden die Strecken zwischen ihnen. Es herrschte geschäftiges Treiben. In einem über fünfzehn Kilometer umfassenden Bereich entstanden neue Raumväter. Dort lag eine Werft von gigantischen Ausmaßen. Ein gutes Dutzend Schiffe zeigte unterschiedliche Fertigstellungsgrade. Manchen machten den Eindruck von Skeletten, andere schienen abflugbereit.

Einmal mehr dachte Leccore daran, dass die Onryonen schon sehr, sehr lange Zeit in der Milchstraße heimisch waren. Allein um diesen Planeten zu besiedeln, mussten sie Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende gebraucht haben. Sie waren damit etwas ganz anders als eine klassische Invasionsmacht, der es nur darum ging, Welten und Rohstoffe an sich zu reißen.

Quer durch den Raumhafen, dargestellt vom Genius, verlief eine silberne Linie, die laut den Daten Wärme abstrahlte. Es musste sich um die Strebe eines weitmaschigen Netzes handeln, das die sonnenlose Welt mit Wärme versorgte. Eine Art Tiefengitter, das auf eine gewaltige Energiequelle zugriff – vermutlich den On-Raum.

»On-Vennbacc«, flüsterte er. Der Planet hatte Leccore gepackt, reizte ihn wie lange nichts mehr.

Nicht umsonst war er der Chef des Terranischen Liga-Dienstes. Seine Neugierde, der wache Verstand und sein Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen, waren dabei ebenso hilfreich wie die Psi-Fähigkeit des Gestaltwandelns. Deren Einsatz konnte reiche Ernte bringen. In seinen Gedanken formte sich ein Plan.

 

*

 

Der Medo-Komplex am Hang des Darrib-Norr war ebenso ästhetisch wie beeindruckend. Die Patientenunterkünfte lagen zum Hang hin, gewährten einen weiten Blick über Moodyon und den Raumhafen samt der Werft auf der anderen Seite des Tals. Fluglärm gab es keinen. Die Einrichtung war energetisch abgeschirmt.

Attilar Leccore hatte schnell einen praktischen Lieblingsplatz für sich gefunden. Er lag im obersten Geschoss des fünfstöckigen Wohngebäudes, in dem er und andere Galaktiker Zimmer erhalten hatten. Entgegen der onryonischen Gewohnheiten hatte man Leccore ein Einzelzimmer zugeteilt – die Onryonen bevorzugten es, in Rudeln zu schlafen und offensichtlich auch in Rudeln zu heilen.

Von einer gut zwanzig Quadratmeter großen Terrasse überschaute Leccore das Land und einige tiefer liegende Ebenen, die wie gepflegte Parks gestaltet waren. Dort standen Onryonen in Gruppen zusammen, umschwirrt von Anuupi – quallenartigen, schwebenden Leuchtwesen. Manche der Patienten sprachen Heilmantras, die bis zu Leccores Terrasse drangen.

In dieser an Gebete erinnernden Form sahen die Onryonen nichts Esoterisches oder Religiöses. Für sie galt wissenschaftlich als erwiesen, dass der Körper schneller heilte, wenn man sich positive Gedanken machte – und nichts anderes taten sie dort in Gruppen und aus freien Stücken. Faszinierend war, wie sich dabei die Farben der Emots einander anglichen, obwohl die Patienten innerhalb der Stehkreise die Augen geschlossen hatten.

Niemandsfährten