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Band 132

 

Melodie des Untergangs

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Sankt Petersburg, 5. Juni 2051

2. Presseamt der Regierung von Großrussland, 4. Juni 2051

3. Sankt Petersburg, 5. Juni 2051

4. Terrania, Stardust Tower, 5. Juni 2051

5. LESLY POUNDER: Tom

6. LESLY POUNDER: Rhodan

7. LESLY POUNDER

8. Terrania

9. LESLY POUNDER

10. Let's fly ...

11. LESLY POUNDER, 6. Juni 2051

12. LESLEY POUNDER

13. Luna, 6. Juni 2051

14. Terrania, 6. Juni 2051

15. Luna

16. Luna

17. Peking, 7. Juni 2051

18. Weit, weit draußen

19. LESLY POUNDER, 7. Juni 2051

20. Peking

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Seither erlebt die Erde einen enormen Aufschwung; auch im Weltall kann Rhodan beeindruckende Erfolge erringen.

Im Sommer 2051 leben die Bewohner der Erde in Frieden, alle Gefahren scheinen bewältigt zu sein. Die Menschheit kann weiter an ihrer Einigung arbeiten.

Doch wie aus dem Nichts tauchen fremde Raumschiffe auf – es sind die Sitarakh. Ihre Übermacht ist erdrückend, ihre Technik weit überlegen. Immerhin entkommt Perry Rhodan mit vielen Mitstreitern ins All; er sucht Beistand gegen die Invasoren.

Die Sitarakh weiten ihre Herrschaft mit brutalen Mitteln stetig aus. Ihre Strafaktionen und die Entführung zahlloser Menschen lösen Panik und Chaos aus. Auf der Erde erklingt die Melodie des Untergangs ...

1.

Sankt Petersburg, 5. Juni 2051

Prolog: End of Day

 

Die Stimme klang dünn, wie leise raschelndes Zeitungspapier. Sie musste einen Raum überwinden und in den daneben gelangen, dennoch holte sie ihn aus dem Schlaf. »Arkadij, kannst du mich hören? Hörst du mich, Arkadij?«

»Ja, Matuschka, ich bin gleich da, nur ein wenig Geduld noch.«

»Es ist so dunkel, Arkadij, ist denn nicht schon Tag?«

»Noch nicht ganz, Mamascha, aber es wird, es wird.«

»Ich habe Durst, Arkadij, und es ist so dunkel.«

»Ich bin gleich bei dir.«

Arkadij rieb sich die Augen, das Gesicht, sah im Halbdämmer auf die Uhr, ein Erbstück seines Großvaters. Noch zum Aufziehen. Aber sie war gerade dadurch verlässlich. Sie hatten nicht immer das Geld für Batterien oder Akkus, erst recht nicht für Mikroenergiespeicher.

Andererseits, was spielte die Zeit für sie beide denn noch eine Rolle?

»Fünf Uhr«, murmelte er und richtete sich ächzend auf.

Das Rheuma saß in allen Gliedern, die Wohnung war feucht, auch im Juni, aber der Vermieter würde nichts dagegen unternehmen. Hatte er in den vergangenen vierzig Jahren nicht. Oder waren es nicht schon fünfzig? »Die Zeiten sind schwer«, redete der Vermieter – in dritter Generation – sich immer heraus und meinte damit: Was interessiert mich das einundzwanzigste Jahrhundert, wenn es auch so geht?

»Jeden Morgen früher, ich muss ihr unbedingt etwas besorgen, damit sie schlafen kann. Vier Stunden hat sie mir gegeben. Das ist zu wenig.«

Der alte Mann kämpfte sich aus dem quietschenden Bett, reckte und dehnte sich. Bei jeder Bewegung knackten die Gelenke, die Unterschenkel waren von Krampfadern gezeichnet, die einst sensiblen Finger knotig und krumm, ledrig von der harten Arbeit am Bau.

Müde steckte er die Füße in die löchrigen Filzpantoffeln und schlurfte, sich den verschlissenen Morgenmantel über den Pyjama streifend, nach nebenan. In das Zimmer, in dem seine Mutter schlief, noch älter als er. Klein und verhutzelt lag sie im Bett, trug über dem Wollnachthemd eine Strickjacke und Strümpfe an den Füßen. Trotzdem war ihre Nasenspitze bläulich verfärbt.

»Es ist Juni, verdammt noch mal, es ist Juni, und sie muss immer noch in Wintersachen daliegen und frieren«, führte Arkadij sein Selbstgespräch verbittert fort.

»Was sagst du, Arkadij?«

»Nichts, Mamascha, nichts.«

Zuerst öffnete er die löchrigen Holzläden und ließ den Morgen ein, dann beugte er sich über sie, um ihr aufzuhelfen und sie ins Bad zu bringen. Der Rollstuhl stand bereit, aber dafür brauchte er ihn nicht. Was wog sie denn schon? Leicht wie eine Feder war sie. Früher war Arkadij ein stattlicher, starker Mann gewesen, mittlerweile ging er krumm, aber ganz schwach war er noch nicht.

Kurz hielt er inne, als sie ihn aus dem Kissen heraus anlächelte. Ihr Mund war zahnlos, ihre Nase kräuselte sich jedoch wie bei einem jungen Mädchen, und ihre blauen Äuglein strahlten vor Freude, ihn zu sehen.

»Arkadij, ich bin dir so eine Last, du solltest dir endlich eine Frau suchen und heiraten«, sagte sie mit zittriger Stimme.

Er lächelte aus dem Herzen heraus. »Was redest du, Matuschka, ich bin über siebzig und du schon über neunzig – wer denkt da noch ans Heiraten?«

»Ach ... Die Zeit vergeht so schnell.« Sie hob die gichtverkrümmte zarte Hand und berührte liebevoll seine Wangen. »Mein lieber, guter Junge ... Du musst ein Engel sein, dass du immer noch bei mir bist.«

Arkadij hielt ihre Hand fest und küsste sie. »Ich werde dich nie verlassen«, sagte er schwer. »Wir haben nur uns.«

Sie waren schon immer arm gewesen, trotz dem Wandel der Zeiten und aller Effizienz, wie man das in den historischen Sendungen nannte. Es war immer die gleiche Geschichte, daran konnten auch Außerirdische mit ihren neuen Technologien nichts ändern. Trotz des Vertrags mit der Terranischen Union, dem daraus resultierenden wirtschaftlichen wie technischen Aufschwung und der demokratischen Tendenzen – als die Regierung das nächste Mal gewechselt hatte, war alles wieder zu den »guten alten Werten« zurückgeführt worden, was Oligarchie bedeutete.

Nach außen hin sah es selbstverständlich nach wie vor blendend »im Reich« aus. Das genügte der TU, die sich nie die Mühe gemacht hatte, mal »innen« nachzusehen. Das Regime hatte alles perfekt im Griff, nichts drang nach draußen, niemandem fiel auf, dass dem einfachen Volk das globale Netz gar nicht zur Verfügung stand. Weil es niemanden interessierte. Auch nicht die Botschafter der anderen Staaten. Allerdings konnte ihnen kaum ein Vorwurf gemacht werden, da sie unter strikter Bewachung standen und um ihr Leben fürchten mussten, wenn sie ihrer Aufgabe umfassend nachkommen wollten.

»So sind wir Russen eben«, hatte sein Vater gesagt, als sie ihn vor Jahren abgeholt und irgendwohin deportiert hatten, von wo es keinen Rückweg gab. Arkadijs jüngere Geschwister waren schon lange verstorben, dahingerafft von der Armut. Seine Frau war zusammen mit seinem Sohn im Kindbett gestorben, davon hatte er sich nie erholt und war seither allein geblieben. Nun waren noch seine Mutter und er übrig. Und Boris, ein Cousin entfernten Grades, der immerhin denselben Nachnamen trug: Stugarski.

 

Arkadij half seiner Mutter bei der Morgentoilette, bevor er sich selbst versorgte, dann bereitete er ihnen beiden ein karges Frühstück zu. Die Fensterläden waren offen und wollten die frühe Junisonne hereinlassen, doch die Wohnung befand sich im ersten Stock und die Häuser der Umgebung standen dicht an dicht und hatten zwanzig Stockwerke. Frische Luft gab es keine, die Gassen waren so eng, das Mauerwerk so alt, dass es immer feucht und muffig roch, auch die Wäsche, die sie draußen in mehreren Reihen aufspannten. Danach müffelte sie zwar nach der Gasse, aber sie war wenigstens trocken.

Ganz abgesehen von der modernen Medizin, die sie sich nicht leisten konnten und die ihnen daher nicht zugänglich war, machte das alte Gemäuer mit seinen ungedämmten, niemals trocknenden Wänden schlichtweg krank. Arkadijs Mutter hätte unter anderen, besseren Umständen trotz ihres fortgeschrittenen Alters vermutlich nicht einmal einen Rollstuhl benötigt. Sie verfügte über eine sehr robuste Konstitution, genau wie Arkadij auch.

»Aber so sind wir Russen halt«, zitierte Arkadij seinen Vater und lachte, während er im Schrank eine halbe Tüte Knäckebrot fand und auf dem Gaskocher – der Strom war mal wieder ausgefallen – Tee und eine Instantsuppe zubereitete.

Alexandra Stugarski saß am Tisch und verteilte Teller, Becher und Löffel. Und dann faltete sie, obwohl es ihr mit den kranken Händen große Mühe bereitete, die Servietten nach Origami-Art; das war ihr stets wichtig für den Tagesbeginn. Und Arkadij ebenfalls, denn sie brachte kleine Kunstwerke zustande, meistens Fabelwesen, und zumeist erzählte einer von ihnen eine Geschichte dazu.

»Das waren Zeiten.« Alexandra kicherte leise. »Ach, Arkadij, warum muss man alt werden? Innen drin«, sie pochte sich an die Brust, »da bin ich immer noch jung. Ich denke daran, wie ich mit deinem Vater das erste Mal tanzen war. Das waren die wilden Siebziger, und der Eiserne Vorhang war dicker denn je!«

»Das waren keine besseren Zeiten, Matuschka.«

»Doch, denn dein Vater war dabei. Und dann bist du gekommen. Ihr wart beide immer so gut gelaunt, so stark und groß. Und wir haben die Wende miterlebt, dann ging es uns doch einige Jahre richtig gut.«

»Ja«, pflichtete Arkadij ihr leise bei. In diesen glücklichen Jahren war er Witwer geworden. Er riss sich zusammen. »Du hast recht, damals hatten wir genug zu essen und haben viel gelacht. Hart gearbeitet, aber auch Geld erhalten.«

Also schwelgten sie in Erinnerungen und vergaßen darüber, wie schäbig alles ringsum war, einschließlich des Frühstücks. Da gab es irgendwo weit draußen diese futuristische Stadt in der Wüste mit phantastischen Bauten und die großartige Terranische Union, die sich mit mächtigen Schiffen im Weltraum herumtrieb und Abenteuer erlebte, über die man sonst nur in Science-Fiction-Romanen las. Sie erfuhren davon aus den Sendungen, wenn der Strom genug Energie lieferte, verstanden vieles nicht und konnten es auch nicht nachvollziehen und wähnten sich daher weit weg, am entgegengesetzten Ende der Modernität, etwa auf dem Mars ... Ach nein, der war ja auch längst besiedelt.

Das Jahr 2051, das hörte sich schon großartig an, doch es hatte nicht in jedem Winkel der Erde Einzug gehalten.

»Wir sind ein wandelnder Anachronismus«, sagte Arkadij zu seiner Mutter. »Wenn einer aus Terrania zu uns in die Wohnung käme, würde er denken, sich in einem Film zu befinden. Er könnte wahrscheinlich keinen Tag ohne seine Technik überleben. Und ich, ich habe von der Zukunft geträumt und lebe noch immer in der Vergangenheit von vor über hundert Jahren.«

»Ja, das sind wir eben ...«

»... die Russen!«

Sie lachten prustend, und Arkadij holte den Wodka und reicherte den dünnen Tee damit an. Merkwürdig, wie sich manches nie änderte: Der Wodka war weiterhin das billigste Nahrungsmittel und selbst für die Armen jederzeit verfügbar. Er brachte den Kreislauf in Schwung, wärmte und hob die Stimmung. Sehr viel mehr Freuden hatten sie nicht.

»Musst du nicht zur Arbeit, mein lieber Sohn?«

»Schon lange nicht mehr, Matuschka.«

»Was möchtest du dann heute tun?«

Er sah sie an. »Wir werden in die Eremitage gehen«, sagte er bedächtig, wohlmoduliert. Das Herz ging ihm auf, als er sie daraufhin über das ganze Gesicht strahlen sah.

Sie schlug die Hände zusammen. »Wirklich? Dorthin willst du mit mir?«

»Ja, zur Feier des Tages. Du weißt es nicht mehr, aber du hast heute Geburtstag, Mamascha, und wirst stattliche vierundneunzig Jahre alt. Also dachte ich mir, du verbringst den Tag mit ebenfalls alten Leuten, Picasso und dergleichen.«

»Du bist ein Schelm!« Sie lachte herzerfrischend mit ihrer zarten, in solchen Augenblicken mädchenhaft klingenden Stimme. »Aber wie willst du mich dort hinbringen? Du weißt, dass ich nur noch in Gedanken tanzen kann.«

»Boris hat ein Boot organisiert. Frag mich nicht, wie – der alte Knacker hat eine Menge drauf.« Boris war acht Jahre jünger als er, wohlgemerkt. »Wir fahren ein Stück auf der Newa entlang, damit du die Eremitage in ihrer ganzen Pracht sehen kannst. Und dann gehen wir ins Museum und anschließend dort etwas essen.«

»Aber ...«, versuchte sie erschrocken einzuwenden.

Arkadij winkte entschieden ab. »Wir werden nicht allein sein. Alle haben zusammengelegt, um dich hochleben zu lassen.« Sie hatten nur noch wenige Kontakte, doch es gab freundliche Nachbarn und ein paar sehr alte Freunde.

Alexandra hielt inne, die Hände vor der Brust gefaltet. »Mich?«

»Ja«, antwortete ihr Sohn, stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Dich, ehrwürdige Mutter.«

2.

Presseamt der Regierung von Großrussland, 4. Juni 2051

Feiertag

 

Großrussland war einer der ersten und verlässlichsten Bündnispartner der Terranischen Union, kurz TU, gewesen. Ein starker, offensiver Partner.

Das hatte gleichwohl nichts mit der Innenpolitik zu tun, darin ließ sich der flächenmäßig riesige Staat mit seinen jahrtausendealten Strukturen wie seit jeher nicht hineinreden. Er blieb strikt autark. So wie es immer der Fall gewesen war.

Gewiss, für die Oberschicht gab es nach wie vor Privilegien, und die Vorteile allein der technischen Möglichkeiten der TU fanden Zugang. Moskau und Sankt Petersburg verfügten über designte große Gebäude mit intelligenter Vernetzung und über moderne Verkehrsmittel auf einem gut ausgebauten Netz. Auch Luftverkehr gab es, wenngleich nicht so lebhaft wie in westlichen oder gar asiatischen Metropolen. Das lag nicht nur daran, dass die Preise für viele unerschwinglich waren, sondern auch an den strengen Reglementierungen. Wo käme man denn hin, wenn jeder Muschik mit einem Kopter herumflöge!

Es änderte sich also nichts an dem streng hierarchischen System innerhalb des gewaltigen Staatengebildes mit seinen extremen klimatischen und landschaftlichen Bedingungen. Allein Sankt Petersburg zählte mittlerweile sieben Millionen Einwohner und war damit nach Moskau die zweitgrößte Stadt Großrusslands.

Es war noch gar nicht so lange her, erst fünfzehn Jahre, als die Eskalation der Stellvertreterkriege von Iran und Irak zum heißen Krieg zwischen den USA und Großrussland gerade noch abgewendet worden war. Die Regierung hatte eingelenkt, denn ganz andere »Probleme«, wie etwa das arkonidische Protektorat und insgesamt der Kontakt zu außerirdischen Völkern, ließen einen Vertrag mit der TU sinnvoll erscheinen. Als Weltmacht war man mit Eifer dabei. Außenpolitisch stellte Großrussland sich hervorragend dar.

 

Iwan Denissowitsch Schukow war ein überzeugter Anhänger der Regierung und gleichermaßen Fan der Terranischen Union, denn er sah darin alle Geschichten über die Zukunft verwirklicht, die er als Junge vor fünfundzwanzig Jahren verschlungen hatte. Oder zumindest auf dem besten Wege dahin. Vielleicht durfte er es ja sogar einmal selbst erleben.

Iwan war für die Sortierung und Korrektur der Meldungen im Presseamt zuständig, wobei die Aufgabe verantwortungsvoller war, als sie klang. Es ging nicht nur um Tippfehler, sondern vor allem darum, dass keine Falschmeldungen oder Missverständnisse verlautbart wurden. Vor allem mussten die Mitteilungen in der Reihenfolge der Wichtigkeit sortiert werden. Die Journalisten schossen ja nicht selten in ihrem Eifer übers Ziel hinaus. Gewiss meinten sie es gut, aber sie hatten eben nicht genug Überblick und waren zu sehr auf ihre jeweilige Dokumentation konzentriert, die sie für die wichtigste hielten.

»Iwan Denissowitsch, die Feierlichkeiten in Dortmund beginnen bald«, platzte Jurij Iwanowitsch Morosow herein. Er aktivierte die Live-Zuschaltung, die an die Wand gegenüber von Iwans Arbeitstisch projiziert wurde. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Jurij sich an die Tischkante. »Der Protektor, Perry Rhodan, wird eine Ansprache halten. Denkst du, wir brauchen dazu Wodka?«

»In jedem Fall«, bestätigte Iwan und öffnete die Schublade seines Rollcontainers, förderte die Flasche und zwei Schnapsgläser zutage. »Ich finde ja, dass Perry Rhodan ungewöhnlich nüchtern und distanziert ist für diese allgemein rührseligen, pathetischen Amerikaner, aber Reden halten, das kann er.«

»Sieh mal, seine Frau!« Aufgeregt mit dem Zeigefinger fuchtelnd, wippte Jurij auf und ab. »Sag, ist das eine schöne Frau? Nach außen kühl und glatt wie ein Eisberg, aber innen drin ein Vulkan, da wette ich mit dir!«

»Zumindest haben sie inzwischen zwei Kinder, wie man auf ihrem Arm und nebendran stehen sieht.« Iwan grinste und merkte, wie er gleichzeitig errötete. Sonst war er nicht so forsch, aber dieser Feiertag berührte ihn ebenso wie alle anderen.

»Panisslás!« Sie stießen an und kippten den Kartoffelschnaps hinunter. Der Trinkspruch durfte nie vergessen werden, sonst galt man als haltloser Säufer.

»Wärst du gern dort?«

»Ja.«

Am Geld lag es nicht, dass sie alleinstehend waren. Es war nicht viel, aber es kam regelmäßig aufs Konto. Und es lag auch nicht an der Wohnung, denn sie hatten jeder ein staatliches Apartment zugewiesen bekommen, schön groß und hell. Ihr Alter passte bestens, sie waren Mitte dreißig. Sie hatten jedoch schlichtweg keine Zeit fürs Privatleben, denn die Vertreter der Regierung, allen voran der Präsident und der Chef des offiziell nicht existierenden Geheimdienstes, beanspruchten sie zu jeder Tages- und Nachtstunde.

Jurij seufzte. »Da gibt es so viele schöne Frauen, bestimmt würde eine für dich und mich abfallen ...«

»Also wenn, dann wollte ich schon meine eigene Frau!« Iwan zwinkerte und goss nach. Dann stutzte er, seine Stirn legte sich in Falten. Die Kamera war auf eine kleine Gruppe Menschen unterschiedlicher Ethnien geschwenkt, die für sich am Rande des Podiums stand. »Sind sie das?«

»Denke schon. Wer sonst?«

Iwan war versucht, auszuspucken. »Mutanten«, zischte er. »Denen kann man kein Vertrauen schenken! Vor allem diesen Gehirnschnüfflern! Wegsperren sollte man die.«

»Meine Rede.«

»Lassen wir lieber die anderen reden. Es geht los!«

Die beiden Männer verfolgten die Vorträge, machten ein paar Notizen, was zu beachten war, wenn später die Pressemitteilungen hereinkamen. Zur Begutachtung, bevor sie ihren Weg an die Öffentlichkeit nehmen durften. Und dazu die Verlautbarungen und Kommentierungen der Regierung. Sicher wohlwollend und optimistisch.

»Hast du schon etwas zur Ansprache geschrieben, Jurij Iwanowitsch?«

»Nein, dazu brauche ich erst Inspiration. Der Präsident verlässt sich auf mich, da will ich ihn nicht mit etwas blamieren, das womöglich gar nicht stimmt.« Jurij verfügte über genug Routine, um nicht länger als eine Stunde zu benötigen. Der Präsident war ungeduldig, die Russen mussten stets informiert sein, und zwar umgehend. Er war telegen und zeigte sich gern seinem Volk, um ihm so ganz nahe zu sein.

Sie hörten weiter zu. Gähnten. Gossen sich nach. Spielten Schiffe versenken. Als jedoch Graashuko auftrat, die ferronische Sopratenörin, kippten sie im Nu die halbe Flasche weg, tanzten um den Tisch und umarmten sich schluchzend.

»Die sollte mal bei uns in der Staatsoper auftreten!« Iwan zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Augen, bevor er sich lautstark schnäuzte.

Jurij stand ihm nicht nach. »Und ob! Ganz Russland würde der zu Füßen liegen, trotz ihres seltsamen Aussehens.«

»Na, wenigstens ist sie kleiner als wir. Und mir gefällt sie ziemlich. Diese Haare! Ob sie verheiratet ist?«

»Endlich!«, unterbrach Jurij, holte sich einen Stuhl und setzte sich neben Iwan, das Pad griffbereit. »Er spricht.«

Still lauschten sie Rhodans Rede, machten Notizen, zogen Bilder herunter, die sie später zur Veröffentlichung nehmen wollten. Gleichzeitig sichtete Iwan, was über den Newsticker hereinkam und gab den einen oder anderen Kommentar sofort frei.

Anschließend begann die Totenehrung.

»Hm?«, machte Jurij und neigte sich vor, die Brauen zusammengezogen. »Was war das denn? Ein Schatten? Aber der Himmel ist wolkenlos.«

»Sie schauen alle nach oben«, stellte Iwan fest und hielt den Atem an, als die Kamera endlich ebenfalls nach oben schwenkte.

Für einen Moment verschlug es den beiden Männern die Sprache. Sie blinzelten, rieben sich die Augen, blickten ungläubig.

»Was ... ist ... das?«, flüsterte Jurij dann; ein menschlicher Reflex, die Stimme zu dämpfen, denn wer sollte ihn hier schon hören?

»Riesig, rot und hässlich«, wisperte Sergej. »Schaumschläger, bei dem Haufen Blasen.«

»Das würde ich gern glauben.«

Die Newsticker rasten über den Holoschirm auf der Arbeitsplatte. Iwan beachtete sie nicht, zu diesem Zeitpunkt würde er nichts mehr ungefiltert freigeben.

Jurijs Hand fuhr zum Ohr hoch, vermutlich erhielt er gerade mehrere Anrufe gleichzeitig aus dem Präsidium.

Eine Stimme dröhnte aus der Live-Übertragung. In vibrierendem Bass wurde verkündet, dass »Koruman Ran-Tschak, Zweiter Abriter der Sitarakh«, den »Befehl« über die Erde und die Sonne übernahm. Dann folgten die üblichen Einschüchterungen und Drohungen, wie sie großspurige Feldherren gern von sich gaben.

Die Übertragung brach ab.

Iwan musste sich mehrmals räuspern, so trocken und eng war sein Hals geworden. Er fühlte, wie sich sein ohnehin rasender Herzschlag noch einmal beschleunigte, als Jurij, die Hand immer noch am Ohr, sich ihm zuwandte.

Jurij war leichenblass. »Über Moskau und Sankt Petersburg stehen sie auch«, stieß er stockend, heiser hervor. »Rund um die Welt ...« Seine Stimme verlor sich im Entsetzen.

Jurijs Blick schwenkte zu der Wodkaflasche auf dem Tisch, Iwan tat es ihm gleich.

Eine Invasion. Der Albtraum wurde wahr.

Hinaus in den Weltraum zu streben, war Segen und Fluch zugleich. Iwan Denissowitsch wünschte sich in diesem Moment, nicht zu wissen. Einer von den Unterprivilegierten da draußen zu sein, die noch so lebten wie vor hundert Jahren, tagein, tagaus, die nicht über den Tellerrand blicken mussten. Die vielleicht keine Höhepunkte erlebten, aber auch keine Tiefen.

Der Rest in der Flasche würde kaum mehr lange halten. Und sie hatten viele anstrengende Stunden vor sich.

Was für ein Feiertag!

3.

Sankt Petersburg, 5. Juni 2051

Handlung

 

Arkadij Stugarski schob den Rollstuhl ins Freie, dann trug er Alexandra hinaus und setzte sie behutsam hinein. An das ewige Dämmerlicht der Hinterhöfe gewöhnt, mussten beide in der Kraft der Junisonne blinzeln. Die Augen begannen sofort zu tränen. Sie mussten sie mehrmals trocken tupfen, bis sie endlich einigermaßen klare Sicht hatten und die Lider weit genug öffnen konnten, ohne es als unangenehm zu empfinden.

Die Weißen Nächte waren nicht mehr fern, entsprechend war es warm und sommerlich, wohltuend für die beiden alten Menschen.

»Wir gehen viel zu selten raus, Arkadij«, stellte Alexandra fest und putzte sich die Nase.

»Ja, nur – wohin?«, erwiderte er. Es sollte resigniert klingen, doch er empfand gar nicht so. Unabänderliches nahm er hin, ohne ihm sonderliche Bedeutung beizumessen. In dieser Hinsicht kam er ganz nach seiner Mutter.

Dann runzelte er die Stirn, ein merkwürdiges Gefühl überfiel ihn. Und es ging nicht nur ihm so.

»Es kommt mir so vor, als ob sich etwas verändert hat«, fuhr die alte Frau fort. »Irgendwie von gestern auf heute. Doch ich komme nicht drauf, was es sein mag.«

Arkadij war seit etwa zwei Sekunden, noch während sie gesprochen hatte, zur Reglosigkeit erstarrt, sein Blick hing gebannt am Himmel. Nur ein leichtes Zittern seiner Knie zeigte, dass er noch lebte.

»Sieh nach oben, Matuschka«, flüsterte er. »Dann erkennst du es.«

»Aber Arkadij, du weißt, meine Augen sind nicht mehr so gut, und es tut mir weh, nach oben in die Helligkeit zu blicken.«

»Tu es, Mamascha, ich bitte dich.«

Stille.

Dann: »Es tut mir leid, Sinischka, aber ich kann es nicht genau erkennen. Was ist das? Ich sehe nur lauter rote Blasen, wie eine zu große Wolke, die zu tief hängt.«

»Ja«, sagte er rau.

»Das ist nicht normal, oder?«

»Nein.«

Er riss sich zusammen, als er Boris kommen sah; so gerade und stämmig, wie er selbst vor acht Jahren noch gewesen war, die Haare gerade erst ergraut, die faltige Haut im Gegensatz zu seiner gebräunt.

»Was ist, Kujem?«, fragte der Jüngere und deutete nach oben. »Sag bloß, ihr wisst es noch nicht!«

Arkadij schüttelte den Kopf.

Boris beugte sich, küsste Alexandra auf beide Wangen und gratulierte ihr. Sie lächelte und tätschelte ihn. »Die sind schon seit gestern da«, fuhr er gleichmütig fort. »Wo wart ihr, dass ihr so etwas verpasst?«

»Matj ging es nicht gut, ich musste sie versorgen«, antwortete Arkadij. »Und wir haben keinen Strom, ich konnte keine Nachrichten sehen. Ist das ...«

»Ja, Brüderchen, das ist eine außerirdische Invasion. Sie sind überall, auf der ganzen Welt. Nicht nur über unserem schönen Sankt Petersburg, auch über dieser selbst ernannten Welthauptstadt Terrania. Unsere Kanäle und das Netz sind gesperrt, nur noch der Staatssender bringt ab und zu spärliche Informationen. Unter uns, ich glaube, das geht nicht gut aus. Der Präsident hat Andeutungen gemacht, keine Unterwerfung hinzunehmen.«

»Aber was sagen unsere Verbündeten?«

»Na, sie dringen auf Geduld, was glaubst du denn? Der Protektor ist mit seinem Schiff geflohen, das haben wir noch mitbekommen, bevor unsere Verbindung nach draußen offline ging. Unser Präsident hingegen ist da, wo er hingehört, ermahnt uns, Ruhe zu bewahren, und verspricht, sich um die Angelegenheit binnen eines Tages zu kümmern.«

»Das klingt wahrlich nicht gut«, murmelte Arkadij. »Mamascha, was sagst du? Sollen wir zurück in die Wohnung?«

»Ich habe Geburtstag«, entgegnete Alexandra lächelnd zu Boris. »Arkadij sagt, du hast ein Boot, und wir fahren auf der Newa zur Eremitage.«

Die Männer wechselten einen Blick, schließlich nickte Arkadij. Er schob den Rollstuhl voran.

»Ja, Matuschka, genau das haben wir vor, und das unternehmen wir jetzt auch!«, bekräftigte Boris fröhlich, der neben Alexandra ging. Zu Arkadij sagte er achselzuckend: »Ist doch auch schon egal, oder? Wir sind alle alt und haben gelebt, und wer weiß, ob wir morgen noch rauskönnen.« Er neigte sich ein Stück nach hinten und flüsterte: »Ihr geht heute nicht mehr nach Hause, sondern kommt mit zu mir, ich habe schon alles vorbereitet. Hier seid ihr nicht sicher.«

»Bei dir auch nicht«, gab Arkadij zurück.

»Sei nicht dumm, Vetter, selbstverständlich seid ihr das, ich wohne in einem Bunker, den nie eine Bombe berührt hat.«

»So ernst wird es?«

»Ich gehe nicht davon aus, dass unser großer Präsident sich beugen wird, und die Erste Verkündigung, wie der Außerirdische seine Ansprache bezeichnete, klang nicht nach Zurückhaltung im Konfliktfall.« Boris schlug dem Verwandten auf die Schulter. »Für uns wird alles gleich bleiben, wie immer. Ob nun Russen, Arkoniden oder Weltraumschnecken, sie werden uns befehlen, und wir werden gehorchen. Trotzdem sollten wir uns nicht gerade unter eine fallende Bombe stellen.«

Das rote Leuchten über ihnen ignorierend, bewegten sie sich gemächlich zur Newa hinunter. Dem Fluss war egal, was da über ihm schwebte, also worüber sollten sie sich Gedanken machen? Die meisten Landsleute um sie herum, die sich mehr oder minder eilig von hier nach da bewegten, hielten es ebenso. Welche Wahl hatten sie schon? Der Präsident dachte und entschied für sie alle, dafür war er gewählt und prädestiniert. Er verstand die Zusammenhänge und wusste, was zu tun war.

Es spielte vermutlich keine große Rolle, welchem Herrn sie künftig dienen würden. Nach all den Jahrtausenden hatten die Russen Gleichmut gelernt. Was dennoch nicht mehr zu ertragen war, wurde mit Wodka weggespült.

 

Iwan Denissowitsch war völlig übermüdet. Kein Schlaf seit dreißig oder mehr Stunden. Kaffee, Aufputschpillen, Energydrinks; in seinem Körper herrschte völliges Durcheinander. Der Magen grummelte verständlicherweise erbost, das Herz hatte Rhythmusstörungen, der Puls raste. Und der Adrenalinspiegel sprengte alle Messskalen. Selbst wenn er gewollt hätte, an Schlaf wäre nicht zu denken.

»Das können sie nicht machen«, flüsterte er zu Jurij, nachdem sie beide in Iwans Büro geschickt worden waren, um diverse Pressemitteilungen vorzubereiten. Seitens des Präsidenten; die allgemeine journalistische Berichterstattung war stillgelegt seit der Ankunft der Fremden, die sich Sitarakh nannten. Vor einer Stunde war der Ausnahmezustand verhängt worden, und die Behörden hatten die Bürger von Moskau und Sankt Petersburg aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

Die beiden Männer hatten über die einzigen offenen, staatlichen Netzverbindungen mittels ihrer Zugangsberechtigungen ihre Familien dringlich aufgefordert, Moskau sofort zu verlassen. Ihnen war bewusst, dass der Geheimdienst das mitbekam, aber das kümmerte sie nicht – und den Geheimdienst offenbar auch nicht, denn es gab keine Konsequenzen.

Die Projektionswand zeigte in verschiedenen Ausschnitten, wo überall die riesigen Raumschiffe der Sitarakh positioniert waren. Sie wussten nun, dass dem Flaggschiff der Terranischen Union, der LESLY POUNDER, die Flucht gelungen war. Mit dem Protektor, seiner Familie, weiteren wichtigen Persönlichkeiten und dem Administrator der TU an Bord.

Der Präsident hatte sich darüber lustig gemacht und die Fliehenden allesamt als Feiglinge bezeichnet. Der vorsichtige Einwand seitens des Geheimdienstchefs – ja, in der Tat! –, dass dies einen strategischen Vorteil bot, hatte er abfällig beiseitegewischt. »Ich schütze mein Volk unmittelbar! Wo mein Volk ist, bin auch ich.« Beifall, man kannte den Präsidenten ja.

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