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Band 154

 

Die magnetische Welt

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

1. Die Kluft des Todes

2. Feuerwiesenfest

3. Die Besucher

4. Ein sonderbarer Asteroid

5. Er ist nicht tot!

6. Die Beobachter

7. Die Mume

8. Erste Erkenntnisse

9. Ring aus Feuer

10. Tu es nicht!

11. Eine unerwartete Begegnung

12. Plötzliche Aktivitäten

13. In der Kluft

14. Von Engpässen und Läusen

15. Weitere Spuren

16. Kerras Entscheidung

17. Die Station

18. MAGELLAN

Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Es beginnt im Jahr 2036: Der Astronaut Perry Rhodan entdeckt auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Seit dem Jahr 2051 durchleben sie eine besonders schwere Zeit. Die Erde ist unbewohnbar geworden, Milliarden Menschen wurden an einen unbekannten Ort umgesiedelt.

Der Schlüssel zu den Ereignissen scheint in der Nachbargalaxis Andromeda zu liegen. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN am Ziel an.

Die Galaxis wird offenbar von den geheimnisvollen Meistern der Insel kontrolliert. Diese Wesen können künstliche Welten und Sonnen erschaffen – und bald treffen die Menschen auf DIE MAGNETISCHE WELT ...

Prolog

 

Aus dem Buch Etrin:

»Und es geschah, dass der Stern sich wandelte, und das bedeutete das Ende der Welt und des Volks. Doch da kam Etrin und sah, und er wollte nicht zulassen, dass alles starb. Er barg die wenigen, die noch waren, und sagte: ›Sehet, ihr werdet leben. Eure Welt wird nie wieder sein, wie sie war, und ihr müsst euch anpassen. Ihr werdet euch wandeln, wie der Stern, doch weiterhin wird Respor euch Licht und Wärme spenden und ihr werdet leben. Und Korrakk wird euch geben, was ihr zum Überleben braucht, und das im reichlichen Überfluss. Ich werde euch hüten, und ihr werdet mir helfen, zu erlangen, wonach mich verlangt. Denn ich brauche eure Hilfe so wie ihr die meine. So mag es beschlossen sein.‹

Und so ward es beschlossen, und das Volk benannte die Welt fortan Etrinon, und das Volk selbst wurde zu den Männern und Frauen Etrinons, den Etrinonen.«

1.

Die Kluft des Todes

 

»Wirklich, du solltest das nicht tun«, warnte Emde zum wiederholten Mal. »Kors, hör doch ein einziges Mal auf mich! Bin ich nicht dein Sicherungsbruder? Bin ich nicht älter als du und erfahrener?«

»Nun hab dich nicht so«, gab Kors lachend zurück. »Bin ich nicht Kors? Mein Name bedeutet: der von Korrakk Begünstigte.«

»Deine Eltern haben dir diesen Namen gegeben.«

»Sie haben ihn mir verliehen! Nicht ohne Grund. Und ich muss mich seiner würdig erweisen.«

»Aber doch nicht hier!« Emdes dicke, kurze, schwarze Haare stellten sich auf und knisterten leise. Das zeigte seine wachsende Aufregung, um nicht zu sagen Verärgerung an. »Du weißt, was das für ein Ort ist. Einer des Todes, noch dazu der gefährlichste von allen uns bekannten. Wir meiden ihn!«

»Nicht heute.« Kors legte das Seil um seine Leibesmitte, führte es zwischen den Beinen hindurch einmal um die Oberschenkel und verankerte es. Mit geübten Handgriffen überprüfte er den korrekten Sitz. »Der Horcher hat's gesagt: Die Metallspürer sind auf der Suche nach Etantum, und ich bin sicher, dass es hier unten zu finden ist!«

»Das wissen wir doch«, gab Emde sich keineswegs geschlagen. »Die Kluft ist reich an wertvollen Erzen, selbst bis hier oben kann man das spüren. Deshalb sind früher andere leichtsinnige Erzfühler wie du hinuntergestiegen und zu Tode gestürzt. Nicht einer hat jemals überlebt. Das Gebiet ist seit langer Zeit gesperrt, das weißt du, und ich verbiete dir, hinunterzugehen!« Die ersten Funken schlugen aus den Spitzen der ineinander verschlungenen, kurzen Haarsträhnen.

Kors lachte wieder. »Wie willst du mich denn daran hindern? Mich bewusstlos schlagen und wegschleppen? Das wäre deine einzige Möglichkeit. Aber das schaffst du nicht, denn du bist älter und schwächer als ich, weshalb du der Sicherungsbruder bist und ich derjenige, der das Metall findet.«

»Ich werde dich vor den Rat bringen und anklagen!«

»Ja, das kannst du nachher machen, wenn wir erfolgreich zurückgekehrt sind und gefeiert wurden. Einverstanden? Und jetzt hake mich ein!«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Gehe ich eben ohne Sicherung runter.«

Emde schnappte nach Luft. »Das ... Das wagst du nicht«, stotterte er. »Nicht einmal du bringst das fertig!«

»Willst du es darauf ankommen lassen?« Kors' weißblonde Stachelhaare fingen ebenfalls zu knistern an. Der Blick aus seinen lichtgrauen Augen verdunkelte sich.

Einen elektrisierten Moment lang starrten sie einander schweigend an. Dann gab Emde nach, und die Spannung sank auf ein normales Maß.

»Kerra wird mir niemals verzeihen, wenn dir etwas zustößt«, sagte Emde unglücklich. »Sie hat doch nur noch dich.«

»Und eben deswegen will ich ihr Ruhm und Ehre bringen«, versicherte Kors. »Ich mache das nur für sie. Heute ist Feuerwiesenfest. Sie wird laufen, und ich werde da sein und sie anfeuern. Ich werde sie nicht mit leeren Händen ins Erwachsenendasein entlassen! Vater ist nicht da, um das tun zu können, also ist es meine Aufgabe.«

Er streckte die Hand vor, und Emde hielt seine nach kurzem Zögern bis auf eine Fingerlänge Abstand dagegen. Es summte leise, zarte, warmgelbe Funkenbögen bildeten sich zwischen den Fingerkuppen.

»Unser Oaui ist unüberwindlich.« Kors lächelte zuversichtlich. »Wir sind stark und einig. Legen wir los!«

 

Kors war ein kräftiger junger Mann, zielstrebig und verantwortungsbewusst. Er hatte Emde nicht verraten, dass er seinen Vorstoß nicht nur wegen seiner Schwester Kerra wagte. Es wurde Zeit, eine Familie zu gründen, und Amga erschien ihm dafür gerade recht. Sie war ein wenig jünger als er und nicht weniger erfolgreich. Ihr Oaui war sehr stark, genau wie das seine, und das sollten sie mit ihren Genen weitergeben. Ihre Kinder sollten mutig, kräftig und ausdauernd werden und vielleicht ein längeres Leben an der Oberfläche führen dürfen. Zu schnell war die Zeit vorbei. Er hatte mit Amga darüber gesprochen, und sie war nicht abgeneigt.

Es bedurfte also nur einer Hochzeitsgabe, und der Verbindung stünde nichts mehr im Weg. Wenn Kors das erhoffte Etantum fand, das von Meister Etrin überaus begehrt wurde, hatte er einen entscheidenden Sieg gegen die Metallfliegen errungen. Sie würden feiern, und er würde öffentlich den Bund mit Amga besiegeln. Und ausgelassen mit Kerra ihre Initiation begehen.

Der beste Tag des Lebens! Und der wichtigste.

Und wenn du es nicht findest?, wisperte ein Stimmchen des Zweifels in ihm.

Dann zerlege ich das leblose, dumme Metallding, gab er sich selbst die Antwort. Diese Roboterfliege war da unten, das wusste er aus Erfahrung.

Es wäre nicht das erste Mal, dass er die unerwünschte Konkurrenz außer Gefecht setzte, so wie es andere Erzfühler auch taten. Manchmal veranstalteten sie sogar eine offizielle Jagd, um die lästigen Dinger loszuwerden. Leider hatten sie es bisher nicht geschafft, sie auszurotten. Immer wieder tauchten neue auf. Ob jemand sie reparierte? Oder sie sich selbst? Die Suche danach blieb erfolglos. Auch bei den Ablieferungsstellen gab es keine Hinweise.

Selbst die geschicktesten Etrinonen hatten es bedauerlicherweise bislang nicht geschafft, sie auseinanderzunehmen und ihr Inneres zu ergründen. Das Ziel wäre gewesen, diese Maschinen umzuprogrammieren und für das Volk arbeiten zu lassen. Es wäre eine Unterstützung gewesen, speziell für solche gefährlichen Schluchten wie diese.

Ach was, ich bin besser als jede Maschine. Das war kein Größenwahn, sondern schlichtweg die Wahrheit. Kors hatte bisher noch jeden Wettbewerb gewonnen.

Etrin müsste beglückt sein über die vielen Gaben, die er von seinem Schützling erhielt. Das war nur recht und billig und die erforderliche Dankbarkeit, weil der Meister das Volk vor dem Untergang bewahrt hatte. Im Gegenzug wurde das Volk vor allen weiteren Katastrophen beschützt. Die Etrinonen würden auf ewig weiterbestehen.

Es war ein gefährliches, aber gutes Leben, das sie führten. Sie litten keine Not. Und die Herausforderungen schätzten sie sogar. Zumindest Kors, deshalb hatte er auch die Entscheidung gefällt, in die Schlucht hinunterzugehen. Die Auseinandersetzung mit Emde war keine Überraschung gewesen, aber Kors wusste, dass er sich auf seinen Sicherungsbruder am Ende doch verlassen konnte.

Ein letztes Mal prüfte er den korrekten Sitz des Seils, Emde gab das Zeichen, Kors antwortete, und dann begann er den Abstieg.

 

Die tatsächliche Tiefe der Kluft war von oben nicht zu erkennen. Wegen der vielen Zacken und Vorsprünge konnte Kors den Kletterweg nicht vorherbestimmen, sondern musste sich hauptsächlich auf den Tastsinn und seinen geschulten Instinkt verlassen.

Seine Finger waren gestählt, notfalls konnte jeder einzelne für einige Momente das gesamte Körpergewicht tragen. Nicht minder kräftig und gelenkig waren die Zehen. Zielsicher ertasteten sie jeden kleinen Vorsprung, jeden Riss im porösen Gestein. So kam er die erste Strecke schnell und sicher hinab. Emde verschwand aus seinem Sichtfeld. Das von einer Metalllegierung ummantelte Seil war geschmeidig und darauf ausgelegt, sich nicht in Unebenheiten zu verhaken oder an scharfen Kanten aufzureiben.

Kors war geübt, aber nicht leichtsinnig. Er war sich der Verantwortung seiner Schwester Kerra gegenüber bewusst. Andere junge Männer in seinem Alter veranstalteten Wettbewerbe und gingen hohe Risiken ein. Dafür war er längst zu vernünftig.

Die Eltern der beiden hatten beim Spüren einen Unfall erlitten, mit einem so starken magnetischen Ausschlag, dass zu viele Synapsen in ihren Gehirnen in einem Blitzwerk überflutet wurden und dann erloschen. Sie hatten überlebt, waren aber seither auf Hilfe angewiesen. Man hatte sie vorzeitig nach unten umsiedeln müssen, wo sie wie die anderen Hilflosen, zumeist Alte, gepflegt wurden. Die Geschwister besuchten sie, sooft es ging, obwohl die Eltern sie beide nicht mehr erkannten und kaum mehr sprachfähig waren.

Kerra war zum Zeitpunkt des Unfalls noch klein gewesen, und Kors hatte sich um sie kümmern müssen. Freunde und Verwandte hatten ihm dabei geholfen, doch hauptsächlich hatte die Verantwortung bei ihm gelegen.

Deswegen wollte er Kerra zum Feuerwiesenfest ein besonderes Geschenk bringen. Um nichts in der Welt wollte er das versäumen.

 

Bislang ging die Kletterei recht gut. Genügend Zacken und Kanten, an denen er sich zügig hinabhangeln konnte. Teilweise ging es über Kopf einen Überhang entlang, aber das war für ihn kaum ein Unterschied, er krallte sich wie ein Saugspinner hinein und krabbelte an der Decke.

Ab und zu kam über das Seil ein Signal von Emde, das Kors entsprechend beantwortete. Die etrinonischen Techniker hatten früher an einem Funkgerät gearbeitet, aber die Störungen waren mit wachsender Distanz einfach zu groß gewesen, also hatten sie das Projekt aufgegeben und waren bei den Seilzeichen geblieben. Kors konnte sich vorstellen, wie nervös sein Sicherungsbruder war. Emde wünschte sich wahrscheinlich, der Erzfühler würde bald aufgeben müssen, weil er nichts fand.

 

Das gedämpfte Licht der kleinen, roten Sonne Respor wich langsam, je mehr Windungen der Kluft er hinter sich brachte. Über ihm türmten sich gelborange, poröse Felsen auf. Für einen Ungeübten wäre dies sicherlich ein hoffnungsloser Anblick, weil das Gestein aus dieser Perspektive nach oben unüberwindlich wirkte.

Immerhin staute sich im Kluftinnern etwas Wärme. Grundsätzlich war das Licht auf ihrer Welt nicht besonders stark und die Luft zumeist eher kühl. Die Etrinonen waren gut daran angepasst, bewerteten die Temperatur dennoch eher als gemäßigt denn »warm«. Nachts wurde es empfindlich kalt, doch die Etrinonen verfügten über gute Heizungen in den Häusern. Tagsüber benötigten sie nicht allzu viel Kleidung: Hemd und Hose oder Rock, Vielzweckgürtel, leichte, isolierende Schuhe, die zum Klettern jedoch ausgezogen wurden. In der Früh wurde es schnell erträglich, sobald Respor aufging. Den Unterschied, dass es allgemein eher kühl war, merkten die Etrinonen vor allem dann, wenn sie sich in den gut geschützten Nischen einer Schlucht oder Kluft aufhielten, in denen sich die stehende Luft durch lange Sonnenbestrahlung deutlich erwärmte. Wenn solche Nischen groß genug waren, feierten sie manchmal dort spontan kleine Feste und genossen die Wärme bis nach Sonnenuntergang.

 

Ein Blick nach oben zeigte nur noch einen schmalen Himmelsausschnitt. Kors hatte sich schon ein gutes Stück abgeseilt. Seinem Zeitempfinden nach hatte er bereits die Ebene erreicht, in der jeder Suchersinn normalerweise zum ersten Mal anschlug. Es gab Erzfühler, die auf diese Ebene spezialisiert waren und dort darangingen, die Adern zu bestimmen und zu kartografieren sowie die ersten Proben zu entnehmen. Lohnte sich ein massiver Abbau, kam die Räumertruppe, wenn nicht, brachte der Erzfühler selbst die Menge im Korbtransport nach oben.

Kors spürte gar nichts. Sein Sinn war zwar nicht auf die einfachen Metalle geeicht, er war Spezialist für alles Seltene, wonach es Meister Etrin ganz besonders verlangte. Dennoch – ein leises Kribbeln am Hals sollte er schon spüren.

Dieser Sinn, den sie Oaui nannten, war äußerlich zu erkennen in vielen kleinen Kuhlen, die sich zu beiden Seiten des Halses entlangzogen. Damit konnten Etrinonen noch so feine magnetische und elektromagnetische Felder wahrnehmen. Und zugleich analysieren, um welche Art von Metall und anderen Erzen es sich handelte. Je nach Erfahrung konnte das Oaui sogar das Volumen der Ader oder des Felds ermitteln und dadurch eine Prognose der Abbaumenge ermöglichen.

Es war schon vorgekommen, dass sie die eine oder andere Fundstelle den Metallspürern überlassen hatten, weil es den Aufwand nicht lohnte. Oder sie legten an solchen Stellen eine Falle aus, um die künstliche Konkurrenz zu zerstören.

Kors war einigermaßen irritiert, weil sein Oaui wie tot war. Solange er sich zurückerinnern konnte, war ihm das noch nie passiert. Durch den Neutronenstern Korrakk, der während der Katastrophe vor sehr langer Zeit zu einem unglaublich starken Magnetar geworden war, waren die Verhältnisse so beschaffen, dass Etrinon geradezu platzte vor Reichtum, was Erze und Metalle betraf. Bereits knapp unter der Bodenkrume fing es an. Die Kinder wuchsen damit auf und lernten früh, ihr Oaui zu verfeinern und zu stärken. Mit wachsendem Alter wurden sie in die Anfängerschluchten geschickt. Je nach Eignung wurde die Ausbildung dann intensiviert oder eine andere Richtung eingeschlagen, hin zu Technik, Handwerk oder Landbestellung.

Kors fühlte sich beinahe wie in Kindertagen, als er das erste Mal in eine Schlucht hinabgestiegen war und geweint hatte, weil er nichts gefühlt hatte. Der Knoten war schnell aufgegangen; doch jenes Gefühl der Taubheit, der Isolation, hatte er nie mehr vergessen, und manchmal peinigte es ihn nachts im Schlaf.

Vielleicht war etwas dran an den Warnungen. Kors war versucht, wieder hinaufzusteigen. Aber dann dachte er an Kerra und den wichtigsten Tag ihres Lebens. Und an Amga, die eine Höchstleistung von ihm erwartete, bevor sie »Ja« sagte.

Aufgeben in der ersten Ebene? Kam nicht infrage! Es musste an diesem Ort mehr geben, es musste seinen Grund haben, warum die Metallfliege nach unten geflogen war.

Emde fragte an, warum Kors nicht weiterkletterte, und Kors gab zurück, dass er schon auf dem weiteren Weg sei. Ergebnis bisher: nichts.

Dann komm zurück.

Ich bin erst in der ersten Ebene. Nur noch ein wenig.

Nun hatte er entschieden. Kors warf einen Blick nach links und dann nach rechts – auch in der Horizontalen war die Schlucht kaum auszuloten, die Sicht reichte gerade mal fünf Körperlängen weit, danach schob sich Gestein davor.

Unter ihm ging es beengter weiter, doch dafür hatte er einen guten Halt. Er zwängte sich durch einen Spalt, den man zu zweit nicht durchqueren könnte, und wäre beinahe abgerutscht, als die Felswand unter seinen Füßen plötzlich weg war.

Kors spannte sofort die Arm- und Fingermuskeln an und schwang sich nach vorn, die Füße ausgestreckt, die Zehen weit gespreizt. Gleich darauf fanden sie Halt und verhakten sich geradezu in dem kleinen Vorsprung. Der Halt war sicher. Kors ließ mit der linken Hand los und drehte sich, um nach unten zu schauen.

Schnell signalisierte er zu Emde nach oben. Größte aller Schluchten. Gebirge in die Tiefe.

Etantum?, kam es zurück.

Hoffe.

Kors gab seinem Sicherungsbruder Bescheid, dass er nun freigehen würde, was bedeutete, er ließ los und Emde musste ihn ein Stück weit abseilen. Die Seillänge gab Kors ebenfalls durch, denn Emde konnte ja nicht sehen, wie weit es nach unten ging. Das war die übliche Vorgehensweise, um sich zu orientieren und den Weg abzukürzen.

Emde signalisierte Bereitschaft, und dann hörte Kors einen Ruf. »Flieg wohl!«

»Sei stark!«, rief er lachend zurück.

In manchen Dingen waren sie abergläubisch, obwohl sie sich darüber amüsierten. Dennoch hielten alle die Rituale ein. Sie schadeten schließlich nicht, und ein Unglück wegen eines Versäumnisses wollte keiner riskieren.

Routinemäßig überprüfte Kors den Sitz des Seils, alles fest, es schwang frei – da konnte er es riskieren.

Das war jedes Mal ein Augenblick zwischen Euphorie und Todesangst, ins Leere zu springen, für einen Moment nur vom Nichts umgeben zu sein und völlig die Kontrolle verloren zu haben.

Kors begleitete seinen Sprung mit einem lauten Schrei, wie es viele andere auch taten. Das diente der Stressbewältigung und als Barriere gegen die überflutenden Hormone.

Zuerst das Abstoßen, dann das kurze Verharren, den Atem angehalten, nur Stille ringsum, bevor es im freien Fall nach unten ging.

Insgesamt höchstens zwei Herzschläge Verlauf, und doch jedes Mal ein ganzes Leben, bis das Seil sich spannte, der abrupt stoppende Ruck durch den Körper ging und der angehaltene Atem mit einem leicht irren Kichern wieder ausgestoßen wurde.

Noch nie war etwas dabei schiefgegangen. Aber irgendwann war immer das erste Mal, keiner verließ sich darauf.

»Seil heil!«, kam es von oben.

Kors rief zurück: »Kühler Fühler!«

Kors pendelte für eine Weile in völliger Entspannung, um sich zu sammeln und sich umzusehen.

Und dann brannte es sich förmlich in seinen Hals.

Etantum, Etanion, Teranym ... Er konnte es kaum erfassen, so viel stürmte auf einmal auf ihn ein. Eine gewaltige Ader, vielleicht das größte Geflecht, das jemals entdeckt worden war. Nur – wie sollte er es bergen?

Genau an dieser Aufgabe waren vermutlich alle anderen Erzfühler vor ihm gescheitert und zu Tode gestürzt.

Denn sein Oaui schlug nur an einer einzigen Stelle im Umkreis an – und die lag hinter einem Felsvorsprung.

 

Kors schwang vor und zurück, immer stärker und weiter, streckte schließlich Hände und Füße nach vorn, verfehlte beim ersten Versuch und entspannte sich sofort. Beim nächsten Mal musste es klappen; ein dritter Versuch gelang nur ganz selten, weil die Kraft nicht mehr reichte.

Der junge Erzfühler schlug rhythmisch gegen das Seil, um dem Sicherungsbruder Bescheid zu geben, dass er erneut pendeln würde. Er stieß den Atem kräftig aus, atmete dann ruhig und gleichmäßig und schwang erneut los. Es war weit, sehr weit. Schaffte er es nicht, würde er aufgeben müssen – aber immerhin wäre er der Erste, der wieder lebend nach oben kam und den anderen von dem Reichtum dieses Ortes berichten konnte.

Das könntest du auch jetzt schon, wisperte das Stimmchen der Vernunft.

Auf keinen Fall. Ohne einen zweiten Versuch? Da konnte er sich gleich der Lächerlichkeit preisgeben. Niemand würde mehr sein Sicherungsbruder oder seine Sicherungsschwester sein wollen, und niemand würde ihn damit beauftragen, das Seil zu überwachen. Oben, auf Ebene eins, wo er nichts gefunden hatte – da hätte er jederzeit umkehren können. Hier unten aber, angesichts des Reichtums, ohne Erzprobe zurückkehren, bevor nicht jeder Versuch unternommen worden war? Einfach nur behaupten, da sei etwas? Ausgeschlossen. Undenkbar. Er müsste auswandern, bis in eine andere Stadt. Alle Pläne mit Amga aufgeben. Und Kerra würde ihn nicht begleiten, denn seine Schande musste er allein tragen.

Es war schon Schande genug, zu versagen – aber aufzugeben?

Weiter schwang er, vor, zurück, vor, zurück, und doch schien der Vorsprung kein bisschen näher zu kommen. So weit war er bereits zuvor gewesen und hatte sich verschätzt. Er hatte sich noch nicht ausreichend an die trüben Lichtverhältnisse in dieser Tiefe gewöhnt, an das spezielle Schattenspiel, das über die tatsächlichen Entfernungen täuschte.

Vor, zurück. Allzu oft konnte er das nicht mehr machen, dann war die Luft raus. Vielleicht hatte er sich auch derart verschätzt mit der Entfernung, dass er den Felsen gar nicht erreichen konnte.

Nein, das durfte nicht sein! Nicht nach all dem ...

Kors wusste, dass er zu viel Energie verbrauchte für den Rückweg, aber er hatte keine andere Wahl. So energisch er nur konnte, schwang er weiter, trieb seinen Körper voran, stieß mit dem letzten Anlauf den Atem aus, reckte die Arme nach vorn – und traf. Mit drei Fingern der rechten Hand.

Aber schon setzte der Rückschwung wieder ein, und ihm blieb nicht mal ein Herzschlag, um sich festzukrallen und die Bewegung aufzuhalten. Kors' Reflexe und Instinkte übernahmen die Vorherrschaft, zum Denken blieb keine Zeit.

Seine Fingermuskeln spannten sich an, er hielt stand, die linke Hand fand ebenfalls Halt, und schließlich waren auch die Füße am Gestein.

Für einen Moment war Kors nicht in der Lage, etwas wahrzunehmen. Keuchend, schwitzend, zitternd hing er am Felsen. Mit geschlossenen Augen zwang er sich zu Atemübungen, damit sein Puls sich wieder beruhigte und der Herzschlag sich normalisierte.

Von Emde kam nichts, der Sicherungsbruder wusste, wie es dem Erzfühler gerade ging. Das schlaffe Seil zeigte ihm, Kors hatte das Ziel erreicht und würde sich melden, sobald er dazu imstande war, und neue Kommandos erteilen.

 

Allmählich ging es wieder. Viel Zeit ließ er nicht verstreichen, denn er musste weiter, nach oben und zu der Ader vorstoßen. Ruhte er sich zu lange aus, glitte sein Zustand in Schwäche über.

Nacheinander entspannte Kors die verkrampften Muskeln, schüttelte eine Hand nach der anderen aus. Dann griff er in seinen Gürtel, wo er eine Stange aus gepressten, zucker- und stärkehaltigen Fasern herauszerrte und gierig kaute. Das machte nicht satt, spendete aber Energie.

Ob einer seiner Vorgänger, Mann oder Frau, je so weit gekommen war? Diese Kluft bildete eine ordentliche Herausforderung, viele dieser Art hatte Kors noch nicht bestehen müssen.

Den Rest der Stange im Mundwinkel, daran saugend und langsam kauend, übermittelte Kors an Emde, was er als Nächstes tun wollte.

Er musste ein Stück nach oben, um über den Vorsprung zu gelangen. Und dahinter sollte sich dann der Reichtum offenbaren. Sein Oaui brannte und schmerzte, so sehr wurde es überflutet.

Emde holte das Seil hoch, bis es sich spannte. Kors war nun sicher – aber er durfte keinesfalls abrutschen, sonst wäre alles vergeblich gewesen. Er würde dann von dem Felsen wegschwingen und nicht mehr hingelangen können.

Auch darüber durfte er nicht nachdenken. Er klopfte den Stein ab, um dessen Festigkeit zu prüfen, denn er sah eine Menge winziger Löcher darin.

Sekabohrer, dachte er. Würmer, die mittels Lichtbögen Elektrolyse betrieben und sich das hergestellte Metall gut schmecken ließen. Die Außenöffnungen waren nichts weiter als kleine Luftlöcher, innen sah es ganz anders aus. Kanäle frästen sich durchs Gestein, in selbst hergestellten Kavernen wurden Nisthöhlen angelegt. Den Anfang machten immer ein paar Erkunder, die zugleich das erste Nest anlegten und mit Eiern befüllten. Bald erwuchs daraus eine Kolonie. Sobald sie den Fels zu sprengen drohte, wurde er verlassen und die Sekabohrer wanderten weiter.

Das machte die Sache zu einem ziemlichen Risiko. Es war eine Vielzahl der typischen Kleinlöcher vorhanden. Wie groß mochte die Kolonie sein?

Kors klopfte weitere Stellen ab und lauschte. Es klang doch recht fest.

Er signalisierte die Information mit den Bohrern nach oben und Emde gab zurück, dass er besonders wachsam sein würde.

Behände kletterte Kors nach oben, das war eine Kinderübung, denn er musste sich nicht blind entlangtasten, sondern konnte gut sehen. Der Weg war vergleichsweise bequem, nur einmal ging es kurz kopfunter, bis er die letzte Kante überwand und dann obenauf war.

Alles ging gut.

Dahinter öffnete sich ein Seitenarm der riesigen Schlucht, es ging nahezu ohne Vorsprünge senkrecht nach unten. Kors konnte einen schwachen, hellen Punkt unten ausmachen, das war wohl der Boden. So tief wollte er keineswegs stürzen, das bedeutete den sicheren Tod.

Der Schatz befand sich auf der gegenüberliegenden Seite, die Wand leuchtete geradezu in vielen Schichten, Linien und Adern. Es war nicht einfach, dorthin zu gelangen, aber zu schaffen. Sie würden auch einen Weg finden, das alles abzubauen – möglicherweise wurde oben eine Sprengung notwendig, aber dann konnten sie großflächig beginnen.

Weiter unten summte es, und Kors sah einen Schatten – das musste seine künstliche Konkurrenz sein. Verdammt!

Um Proben zu holen, musste er sich ableinen. Mit dem Seil konnte er nicht die Umwandung entlang auf die andere Seite gelangen.

Die Vernunft riet ihm, zurückzuklettern, zu berichten und mit Verstärkung an den Abbau zu gehen.

Aber: Was, wenn sie ihm nicht glaubten, wie reich die Ader war? Ihm nicht abnahmen, wie tief er geklettert war? Ihm verboten, wieder an diesen Ort zurückzugehen? Immerhin galt die Kluft als tabu. Andererseits – Emde würde ihn sicherlich mit seinem Bericht unterstützen, bestätigen, wie viele Längen Seil er abgelassen hatte.

Dieses verfluchte Ding ist da unten. Ich muss wenigstens eine Probe mitnehmen, damit sie wissen, wie dringend wir handeln müssen. Es geht nicht anders. Ich muss da rüber!

Er musterte die Umgebung, prüfte den Kletterweg. Das war alles machbar. Der Weg hierher war nicht leichter gewesen, der Weg dorthin war nicht schwieriger.

Kors zog die zweite Zuckerstange heraus und kaute. Sofort durchströmte ihn neue Kraft. Mehr und mehr drängte es ihn, genauer nachzusehen, im Triumph mit einer Probe zurückzukehren. Vielleicht verpasste er Kerras Start, aber zur Siegerehrung war er auf alle Fälle dort. Ein glorreicher Tag wäre das. Zur Ehre seiner Eltern.

Es reizte ihn so sehr. Er liebte Herausforderungen, und eine solche wie nun hatte er noch nie gehabt. Noch dazu, da keiner je zurückgekehrt war. Warum auch immer! Vielleicht hatten damals andere Verhältnisse geherrscht, starke magnetische Strömungen, vielleicht sogar Stürme. Korrakk war unberechenbar.

Kors ergriff das Seil und übermittelte mit dem rhythmischen Zupfen an Emde, was er vorhatte.

Statt eines Signals schrie der Sicherungsbruder herunter: »Auf keinen Fall! Bist du völlig verrückt geworden?«

Seine Worte hallten vielfach wider und waren nicht leicht zu verstehen, aber Kors kannte den Inhalt auch so.

»Ich habe es mir angeschaut, es ist nicht schwer!«, rief er zurück.

Inzwischen hatte er sich gut erholt, seine Muskeln waren geschmeidig, und es war genug Kraft für diesen Ausflug und den anschließenden Rückweg. Er würde sich danach so weit wie möglich hochziehen und sich auch beim Klettern unterstützen lassen.

»Es ist machbar!«

Emde verlegte sich aufs Flehen. »Kors, tu es nicht! Ich bitte dich! Das Feuerwiesenfest fängt bald an!«

»Alles wird gut! Vertrau mir!«

Nur ein Fluch kam zurück. Emde war sicherlich verzweifelt, dass er Kors nicht eigenhändig hindern und zurückholen konnte.

Kors hakte sich aus, ging damit von der Leine und machte sich auf den Weg.

 

Je näher er der Quelle des Reichtums kam, desto intensiver brannte das Oaui. Kors ignorierte den Schmerz, das war es wert. Durch die Reizüberflutung hatte er inzwischen auch Kopfschmerzen, doch sie wurden ebenso beiseitegeschoben.

Der Ehrgeiz hatte den jungen Erzfühler gepackt, eine völlig normale Regung angesichts dessen, was in dieser Tiefe auf den Abbau wartete.

Die Metallfliege war inzwischen verschwunden, sie würde ihm wohl nicht in die Quere kommen. Hatte sie doch nach etwas anderem gesucht? Aber was konnte es da unten schon geben?

Kors konzentrierte sich aufs Spüren und Klettern. Zuvor hatte er selbstverständlich geprüft, ob er sein Werkzeug griffbereit hatte.

Die Hälfte des Wegs war bald zurückgelegt. Unter ihm gähnte der Abgrund. Hoch über sich konnte er ein Pünktchen Himmel ausmachen – es musste also einen direkten Weg geben, den sie bisher nur nicht gefunden hatten. Aber Kors wusste, dass er nun in der Lage dazu war. Am liebsten würde er direkt von dieser Stelle aus zurück nach oben klettern, aber er wusste, dass er das nicht mehr schaffen konnte. So leichtsinnig war er nicht.

Von der Leine gegangen zu sein, berauschte ihn geradezu. Das hatte er noch nie gewagt, und er wusste nur von wenigen, die das je getan hatten.

Er bewegte sich auf direktem Weg horizontal zum Schatz. Hand vor Hand, Fuß vor Fuß. Mit aller gebotenen Sorgfalt, trotz der wachsenden Gier, endlich ein Stück Etantum in Händen zu halten.