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Frank Westermann

Sternentage

 

3. Band der Serie »Andere Welten«

FUEGO

 

There's a training course where

boys and girls of real ambition

start a new job in a factory

where they're making ammunition

but it makes them think of stealing

when they read between the lines

through the owners of this funfair

you won't find a ride you like

just get-a-job, get-a-job

 

Manufacture rubbish

although no one can afford it

you could make a profit

more than anyone deserves

so you find you're left with poison

so you dump it in our water

and so create the kind of problems

only radiation cures

through get-a-job, get-a-job

 

Oh you young people are revolting

8 to 5 should give the jolt needed

in a few years

you won't feel quite the same

you'll be playing their get-a-job games

 

The Beat - »Get–A–Job«

- Über dieses Buch -

 

Handlungsort: Ein Inselstaat unter totalitärem Regime

 

Die eine Seite: Ein Diktator, geballte Wirtschaftsmacht, Militär und Polizei und ein ausgeklügeltes Unterdrückungssystem

 

Auf der anderen Seite: Ein Volk, das von der Hand in den Mund lebt, Slums, Sekten, und Jugendbanden

 

… darunter: viele Personen und Gruppen, die Widerstand leisten

 

… und mittendrin: Speedy und seine Freunde … und dann sind da noch die Ausserirdischen …

 

RÜCKBLICK:

[Inhaltliche Zusammenfassung von »Kontrolle« und »Inseln der Macht«]

 

Speedy wächst in einer Welt auf, die der unseren in nichts nachsteht, d.h. sie ist geprägt von einem Gesellschaftssystem das auf Machtausübung, Unterdrückung, Ausbeutung, Hierarchie und Konkurrenz beruht. Nach einem weiteren Weltkrieg sind weite Teile der Erde in Wüste verwandelt und übriggeblieben sind die beiden Machtblöcke Neu-Ing (Speedys Heimat) und Südliche Inseln.

Speedy hat große Schwierigkeiten, sich in dieser perfekt organisierten Welt zurechtzufinden, in der es kaum Anzeichen von Widerstand zu geben scheint. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: ein mysteriöser Beobachter taucht auf und warnt Speedy und seine Freunde vor einem drohenden neuen Krieg. Gleichzeitig schlägt auch der Versuch der militanten Gangs fehl, einen Großangriff auf die Regierung zu unternehmen. Noch einmal greift der Beobachter ein und bringt alle vor dem anrückenden Militär in eine andere Realitätsebene in Sicherheit.

Mit dieser Erde II lernt Speedy eine ganz andere Welt kennen. Hier gibt es kein einheitliches Gesellschaftssystem, sondern eine Menge von Stammesverbänden, die teils in Städten, teils auf dem Land und teils als Nomaden und Wanderer leben. Beim Durchstreifen dieser Welt gerät Speedy - allein oder mit Freunden - von der Anarcho-Stadt, über einen Nomadentreck, der Gefangenschaft in der Geld-Stadt und dem Machtbereich einer sektenähnlichen Zwangsgemeinschaft schließlich in das Dorf, in dem auch Traumschwester lebt, die ihm eine Menge neuer Einsichten vermittelt. Er wohnt hier eine Zeit lang mit Menschen zusammen, die versuchen, herrschaftsfrei und unter Ausnutzung mystischer Elemente im Einklang mit der Natur zu leben. Aber auch dort findet er den Ansatzpunkt zum eigenen Handeln noch nicht.

Im zweiten Buch wird Speedy auf zunächst unerklärliche Weise in seine Heimatrealität zurückversetzt. Er landet dabei allerdings in einem Knast im Machtbereich der Südlichen Inseln. Eine halb-legal arbeitende politische Gruppe befreit ihn und drei andere aus dem Gefängnis Bergotos und Speedy versucht, sich in seiner neuen Umgebung einzugewöhnen. Er kommt in einer Wohngemeinschaft unter, spielt in einer Band mit und arbeitet politisch in der Gruppe, die ihn befreit hat. Ihr Kampf richtet sich auf den Südlichen Inseln in erster Linie gegen eine Militärdiktatur und die sie stützenden Monopolunternehmen.

Trotz einiger Erfolge im militanten Widerstand gerät das Handeln der Gruppe bald in eine Phase der Stagnation, deren Ursache einerseits persönliche Differenzen und Machtstrukturen innerhalb der Gruppe und andererseits die Zersplitterung des linken Widerstandes überhaupt und seine fehlende Massenbasis sind.

Unterdessen trifft Speedy eine Freundin aus Neu-Ing wieder, deren Erzählungen seine Kenntnisse in Bezug auf die verschiedenen Realitäten total verwirren. Außerdem erfährt er, dass sein Freund Lucky in Bergotos einsitzt. Nachdem die Gruppe auseinandergebrochen ist, und die Machthaber im System jetzt ganz offen brutale Unterdrückungsmaßnahmen einleiten, gelingt es Speedy noch, mit zwei anderen Helfern Lucky zu befreien.

Ihre Flucht endet im Keller eines Hauses, in dem außerirdische Wesen ein seltsames »Spiel« betreiben. Die Außerirdischen Kurzos erklären sich bereit, Speedy und Lucky, die keinen anderen Ausweg sehen, in ihrem Raumschiff mitzunehmen.

An dieser Stelle beginnen die Sternentage.

»Durch das Benehmen der beiden Planetarier war es praktisch unvermeidlich, dass eine Katastrophe eintrat, wenn sie auch in dieser Form nicht voraussehbar war. Die einzige Möglichkeit, dies abzuwenden, hätte darin bestanden, sie auf bloßes Misstrauen hin, ihrem Schicksal zu überlassen. Doch so etwas steht sicher nicht im Einklang mit dem Kodex.
Ich selbst bin mir also keiner Schuld bewusst. Die Katastrophe ereignete sich allein aufgrund der Eigenwilligkeit, Unerfahrenheit und Ignoranz der Planetarier. Sie zeigten nie ein Interesse, etwas von unseren Sitten und Gebräuchen kennen zu lernen. Vielleicht konnten sie nichts verstehen, aber sie bemühten sich auch nicht darum. Die Katastrophe hätte sich genauso gut schon früher vollziehen können. Der Zeitpunkt war reiner Zufall. Die Planetarier tappten sozusagen blind in einem komplizierten, verletzlichen Organismus herum. Dass gerade meine Wandlungsphase der Auslöser war, kann deshalb ebenfalls nur als Zufall angesehen werden.«

 

Aus dem Bericht von Obechan-Kol f. vor der Sachkommission

 

 

1.

KURZOS

 

Wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da eingelassen hatte ...

Aber was hätten wir in unserer Situation sonst tun sollen? Letztlich war auch dieser Schritt keine freie Entscheidung, sondern von den Umständen diktiert.

Zugegeben, wir wussten überhaupt nicht, was uns erwartete. Niemand vor uns (soweit mir bekannt war) war je in eine ähnliche Lage geraten. Ich dachte erst, es wäre vielleicht so ein Gefühl für mich wie damals, als wir alle vor dem Ebenenwechsler standen.

Aber es war ganz anders. Der Beobachter war für mich wie ein Freund gewesen. Ich hatte ihm gefühlsmäßig vertraut, mehr vielleicht sogar als langjährigen Bekannten. Und alles war von einem Moment auf den anderen geschehen. Praktisch ohne unser Zutun.

Und hier? Hier waren die Kurzos, Lebewesen, die wohl nur sehr entfernt menschenähnlich zu nennen waren und die bereit waren, uns in eine »Gegend« mitzunehmen, die möglicherweise von noch viel »menschenunähnlicheren« Wesen bevölkert war. Eine Handbewegung von uns konnte für sie etwas bedeuten, das uns gar nicht in den Sinn kam. Im Extremfall genau das Gegenteil von dem, was wir meinten. Außerdem fehlte mir das Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es damals mit Vics Leuten und den Camp-Bewohnern trotz aller Unterschiede gegeben war.

Hier waren Lucky und ich aufeinander angewiesen, wo wir doch gerade in so einer völlig fremden Umgebung Worte und Taten von viel mehr Freunden gebrauchen konnten.

Ich sah Lucky an. Er wirkte ernst und gedankenverloren. Wahrscheinlich dachte er an ähnliche Schwierigkeiten wie ich.

Ich drückte seine Hand. Er blickte kurz in meine Augen, lächelte und versank dann wieder in seine Grübeleien.

Ich glaube, ich wäre an seiner Stelle schon total fertig gewesen. Was er mitgemacht hatte, konnte man kaum mit irgendwelchen anderen schlechten Erfahrungen vergleichen. Hatte ich eine andere Wirklichkeit erlebt, so beruhten seine Erfahrungen auf mehreren Dutzend. Ich konnte nur hoffen, dass er irgendwie mit seinem Knastaufenthalt in Bergotos fertig wurde. Es war schon fast ein Wunder, dass ihm das nicht den Rest gegeben und ihn jeglicher Realität entzogen hatte.

Ich ging unschlüssig einige Schritte auf und ab und beobachtete die Kurzos. Kein Zweifel, sie waren beim Abbau ihrer »Spielgeräte«, was immer das auch war. Obechan-Kol hatte sich wieder von uns zurückgezogen, nachdem wir uns entschieden hatten, als ob wir nur eine kleine Randerscheinung für ihn waren.

Meine Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt und ich bemühte mich, irgendwelche Unterschiede zwischen den baumstammähnlichen Gestalten festzustellen. Es gelang mir nicht. Selbst Obechan-Kol konnte ich nur dann identifizieren, wenn er direkt vor mir stand. Die Kurzos verständigten sich untereinander in einer kehligen, dumpfen Sprache, die häufig unterbrochen wurde durch das verschiedenfarbige Aufblitzen ihrer »Körperlichter.« Ich kam deshalb auf den Gedanken, dass ihre Heimatwelt vielleicht ein ziemlich dunkler Planet sein musste, auf dem Licht und Farben eine bedeutende Rolle spielten.

Schließlich schienen die Aktivitäten der Kurzos einem Ende näherzukommen. Sie hatten fast alles, was hier rumgestanden hatte, demontiert und zusammengepackt. Aber ich fragte mich, wie sie dieses ganze Gerümpel wegschaffen wollten.

Etwas später bekam ich die Antwort. Eine Serie gelber Blitze erleuchtete den Raum und einer (oder war es eine?) der Kurzos bediente ein vor ihm schwebendes Schaltpult. Nacheinander verschwanden wie von Geisterhand die ganzen Sachen.

»Nettes Spielchen, nicht wahr?«, stand auf dem Zettel, den Lucky mir reichte.

Das löste mich aus meiner Verblüffung.

»Allerdings«, gab ich zu.

Wahrscheinlich war er genauso überrascht wie ich. Er ließ bloß nicht viel von seinen Gefühlen erkennen. Oder er hatte schon so viele haarsträubende Sachen erlebt, dass dies wirklich nur ein »Spielchen« für ihn war.

Obechan-Kol stapfte auf uns zu. Die letzten fünf Meter überwand er in einem Sprung.

»Kommt bitte in unseren Kreis«, sprach er in das vor uns stehende Übersetzungsgerät. »Wir beenden jetzt die Rückführung.«

»Na, denn ...«, murmelte ich.

Schließlich standen wir dicht gedrängt zwischen den Kurzos.

Ein etwas stechender Geruch stieg mir in die Nase. Wahrscheinlich ihr Körpergeruch. Immer noch konnte ich nicht erkennen, ob die Kurzos eine Art Bekleidung anhatten oder ob sie nackt um uns rumstanden.

Wieder bediente der/die Kurzo die Schaltung und von einem Augenblick zum anderen wechselte die Umgebung. Diesmal war es wirklich wie bei dem Ebenenwechsler, allerdings ohne Komplikationen.

Ich blinzelte und sah mich um. Ich vermutete, dass es sich diesmal mehr um einen Orts- statt einen Ebenenwechsler gehandelt hatte und dass wir uns im Raumschiff (oder wie sie ihr Gefährt nennen mochten) der Kurzos befanden.

Wir standen in einem annähernd kreisrunden Raum, der fast ebenso düster war wie der, aus dem wir gekommen waren. Alle paar Meter ragte irgendein merkwürdiges Gerät aus dem Boden.Viele der Teile leuchteten aus sich heraus und erhellten auf diese Weise die unwirkliche Szenerie.

Ein verwirrendes Farbenspiel begann, als sich die Kurzos in verschiedene Ecken des Raumes absetzten und sich weiter untereinander verständigten. Diesmal aber nur visuell, so dass es sein konnte, dass es für sprachliche oder optische Kommunikation irgendwelche Regeln gab. Ich musste meine Augen eine Weile auf den dunklen Boden richten, damit ich nicht zu sehr geblendet wurde. Lucky folgte meinem Beispiel.

Türen zischten auf und schlossen sich wieder, Kurzos kamen und gingen. Auch dies schien nach irgendwelchen Bestimmungen abzulaufen, denn es gab keinen Schritt zu viel, geschweige denn ein Durcheinander. Wir rührten uns nicht von der Stelle, bis Obechan-Kol wieder vor uns stand. Er übergab jedem von uns ein etwa fünf Zentimeter langes, quadratisches Gerät, das er uns um die Handgelenke legte. Sie sahen fast aus wie Armbanduhren.

»Dies sind zwei Übersetzer«, klärte er uns auf. »Das große Gerät ist auf die Dauer zu unhandlich. Tragt sie immer bei euch. Sie sind auf die meisten intergalaktischen Sprachen programmiert und lernen auch neue hinzu.«

Ungläubig starrte ich das kleine Ding an. Lucky kritzelte wieder auf seinen Block. Ich nahm mir vor, sofort mit ihm sprechen zu üben, wenn wir etwas Ruhe hatten. Hoffentlieh war diese Auswirkung von Bergotos wenigstens rückgängig zu machen.

»Reiß dich zusammen, Speedy! Du bist doch der Fachmann für Sci-Fi-Geschichten, oder? Du hattest doch mal ne ganze Sammlung von diesen Stories.«

»Es besteht wohl ein kleiner Unterschied zwischen Geschichten und Wirklichkeit«, widersprach ich ärgerlich.

»Erstmal der, dass wir selbst mitspielen.«

»Ach, hör doch auf!« winkte ich ab.

Diese Wortklaubereien waren doch früher nicht seine Stärke gewesen. Und was sollte das, mich jetzt mit einem meiner früheren, für einige Leute vielleicht seltsamen »Hobbys« aufzuziehen? Ich hatte zwar immer Leute gesucht, aber selten gefunden, mit denen ich mich über solche Fragen unterhalten konnte, aber jetzt war bestimmt nicht die richtige Situation dafür.

Lucky reichte mir einen weiteren Zettel.

»Ich glaube, wir müssen mehr fragen. Die Kurzos geben anscheinend nur die wirklich notwendigsten Informationen! Man muss diesem Obechan-Kol ja alles aus der Nase ziehen. Wir müssen uns auf diese Eigenart von ihnen einstellen. Ich glaube nicht, dass sie sauer sind, wenn wir ihnen Löcher in die Bäuche fragen. Zumindest sollten wir es ausprobieren.«

Damit war ich natürlich einverstanden, denn der Gedanke war mir auch schon gekommen.

»Also, suchen wir ihn!«

Diese Suche gestaltete sich allerdings ziemlich schwierig. Unsicher spazierten wir durch den Raum und konnten vor ständig wechselnden Farben kaum etwas erkennen. Ab und zu traf uns ein Farbstrahl und jedes Mal prallten wir erschrocken zurück. Die Kurzos schienen sehr beschäftigt an den ganzen Gerätschaften und nahmen kaum Notiz von uns.

Schließlich fanden wir Obechan-Kol an einer Art Konsole.

»Hast du einen Moment Zeit für uns?« sprach ich ihn an.

Mein Übersetzer am Handgelenk schaltete sich automatisch ein. Er funktionierte einwandfrei,

Obechan-Kol ging mit uns zu einer Nische, die das Farbgeflimmer weitgehend von uns abschirmte. Lucky und ich ließen uns auf einer Art Bank nieder, die allerdings reichlich unbequem für uns war. Anscheinend brauchten die Kurzos überhaupt keine Sitzgelegenheiten und die »Bank« erfüllte normalerweise einen ganz anderen Zweck.

»Wo sind wir eigentlich hier?« begann ich die aktuelle Fragestunde.

»Dies ist ein Raumschiff unserer Föderation. Wir verlassen in Kürze euren Planeten und fliegen nach Stormaband, einer Sterneninsel ziemlich im Zentrum der Galaxis, wo wir uns einen Auftrag suchen wollen.«

»Und wenn wir hier aussteigen würden?«

Ich hatte noch ein wenig Hoffnung, vielleicht doch auf der Erde bleiben zu können, nur nicht gerade auf den Südlichen Inseln.

»Hier?« Der Übersetzer gab ein quäkendes Geräusch von sich. Vielleicht ein Kurzo-Lachen. »Wir befinden uns etwa zwanzig Meter unter dem südpolaren Eismeer. Und außerdem ist der ganze Südpol radioaktiv verseucht.«

Das war also nichts. Umkehr unmöglich.

Eine Serie von Farben blitzte in unsere Richtung.

»Entschuldigt mich für eine Weile«, sagte Obechan-Kol. »Ich muss mich um den Start kümmern.«

»Einen Moment noch!« hielt ich ihn zurück. »Gibt es an Bord so etwas wie eine Bibliothek?«

Der Kurzo stutzte, der Übersetzer streikte. Lucky schob mir einen Zettel zu.

»Aufzeichnungen oder ähnliches«, las ich laut vor. Obechan-Kol verstand endlich.

»Der Archivraum befindet sich ein Deck tiefer. Folgt nur den grün-gelben Markierungen.«

Dann verschwand er mit ein paar mächtigen Sprüngen.

»Vielleicht finden wir dort eher etwas raus«, erläuterte ich Lucky meine Idee. »Sonst können wir warten, bis wir schwarz werden.«

Als wir den Raum verließen, fing es im Schiff an zu dröhnen und zu vibrieren. Startvorbereitungen, vermutete ich. Sie würden schon irgendeine Methode haben, um durch das Eis zu kommen und unentdeckt den Weltraum zu erreichen.

»Ein höflicher Bursche, dieser Kurzo«, bemerkte Lucky schriftlich.

Ich nickte. Dann blieb ich stehen. Auf einmal stürmte alles auf mich ein. Wie hatte ich gedacht, hier zurechtkommen zu können? Das alles war eine total fremde Welt. Erstaunlich, dass sie überhaupt Raumschiffe zur Fortbewegung von Stern zu Stern benutzten. Oder dass ihre Luft atembar für uns war. Ich wusste ja noch nicht einmal, wie hier eine Treppe aussah. Und dann - unsere Aussichten: Vielleicht für immer abgeschnitten von der Erde. Keine Freunde, keine gewohnte Umgebung mehr. Wenn wir uns in Zukunft nur noch mit Wesen wie den Kurzos auseinandersetzen mussten, wurden wir bestimmt wahnsinnig. Niemand könnte das verkraften. Und außerdem war es sinnlos. Was sollten wir tun zwischen den Sternen? Nach meiner Reise durch die andere Realität hatte ich eigentlich vorgehabt, mich so gut es ging in meiner Realität durchzuschlagen und mit anderen zusammen dafür zu kämpfen, dass wir irgendwann besser leben konnten.

Das alles war mit einem Schlag zunichte gemacht. Wir waren praktisch besiegt, ohne Hoffnung, den Kampf erneut aufnehmen zu können. Schreckliche Aussichten. Schließlich war ich kein Sci-Fi-Abenteurer auf der Suche nach einem legendären galaktischen Schatz.

Meine Beine knickten unter mir weg, und wenn Lucky mich nicht reaktionsschnell gehalten hätte, wäre ich auf den harten Boden gestürzt. Die Tränen flossen nur so aus mir heraus. Ich setzte mich auf den Boden und ließ ihnen freien Lauf. Lucky setzte sich neben mich und umarmte mich.

»Ich würde jetzt auch gerne heulen, aber ich kann nicht«, stand auf seinem Block. Und weiter: »Vielleicht haben wir ja Aussichten, die wir jetzt noch gar nicht einschätzen können. Das Unbekannte muss ja nicht schrecklich sein.«

Ein seltsamer Laut kam aus seiner Kehle, als unsere Blicke sich trafen. Ich verstand sowas wie »Scheiße«.

»He, versuchs nochmal, Lucky!«

Ich wischte im Nu die Tränen ab. Er hatte gesprochen! Lucky bemühte sich, aber es blieb bei einem unverständlichen Krächzen.

»Besser als gar nichts«, schrieb er auf. »Noch ein paar solcher Gefühlsregungen und ich sag wieder das Alphabet von hinten auf.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter und lachte. Komisch, wie schnell sich da Tränen in Freude verwandeln konnten. Aber wenn Lucky schon Grund zum Optimismus hatte ...

Wir wollten gerade aufstehen, als uns eine Erschütterung wieder zu Boden warf.

»Von Anschnallen hat er nichts gesagt,« beschwerte ich mich. Ein Kurzo kam vorbei und half uns auf. Seine »Hände« fühlten sich borkig an.

»Ist eure Gesundheit nicht beeinträchtigt«, gaben unsere Übersetzer simultan seine Besorgnis wieder.

Lucky schüttelte den Kopf, aber das verstand der Kurzo nicht.

»Alles okay«, meinte ich.

Er verstand immer noch nicht. Ob sich die Übersetzer erst einspielen mussten?

»Uns ist nichts passiert«, wiederholte ich und diesmal klappte es wohl. Auf jeden Fall wollte er befriedigt abziehen.

»Warte mal!« rief ich ihm hinterher. »Wie kommen wir zum Archiv?«

Er drehte um und führte uns zu einer Tür ein paar Meter weiter. Dort ließ er uns dann wieder stehen.

»Kurz angebunden, aber höflich«, bemerkte Lucky.

Ich grinste und öffnete die Tür. »Huch!« entfuhr es mir.

Vor uns führte eine Art Rutsche in die Tiefe.

»Scheint nicht sehr stabil zu sein«, prüfte Lucky die ungewöhnliche Treppe. »Vielleicht rutschen sie gerne.«

»Und wie kommen sie wieder rauf?«

»Wahrscheinlich springen sie.«

Ich nickte. So konnte es gut sein. Aber dieses Beispiel zeigte, wie schwer es uns fiel, uns ganz normale Verhaltensweisen der Kurzos vorzustellen.

Lucky ließ sich als erster hinab gleiten und klopfte unten gegen das Metall. Aha, alles klar, folgerte ich und vertraute mich ebenfalls der Rutschbahn an. Ich glitt langsamer als erwartet hinab und wurde unten von Lucky aufgefangen.

»Es hätte ruhig noch ein wenig länger dauern können«, bedauerte ich.

Langsam rückten meine Probleme angesichts der Neugier auf das Neue etwas in den Hintergrund. Wir sahen uns nach den grün-gelben Markierungen um. Sie waren alle unter der Decke angebracht, als ob die Kurzos auch oben Augen hätten. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann standen wir vor einer ebenfalls grün-gelb angepinselten Tür. Sie öffnete sich automatisch vor uns und wir betraten einen Raum, der noch ein wenig dunkler war als die Umgebung ohnehin schon.

»Wir hätten Kerzen mitnehmen sollen«, scherzte Lucky.

»Auf jeden Fall ist es leer hier«, sagte ich, indem ich mich prüfend umsah. Außer einem mannshohen Metallkasten in der Nähe der Tür entdeckte ich keinerlei Einrichtungsgegenstände. Lucky gab mir einen neuen Zettel:

»Kommt es dir eigentlich nicht komisch vor, dass wir hier rumstöbern, währen dieses Raumschiff durchs All fliegt?«

»Stimmt«, bestätigte ich. »Den Anblick der kleiner werdenden Erde haben wir wohl verpasst. Wir sind wahrscheinlich nicht so romantisch wie die Gestalten in den Weltraumgeschichten. Dies interessiert mich jedenfalls im Augenblick mehr als irgendwelche vorbei rasenden Sterne.«

»So geht's mir auch. Aber frag mal nen Kurzo, wie wir hier weiterkommen.«

Ich postierte mich im Gang vor dem Raum, bis eines der Baumwesen vorbei sprang .

»Kannst du mir sagen, wie man dieses Archiv hier bedient?«

Der Kurzo drehte sich im Sprung um.

Gute Leistung, dachte ich ironisch.

»Die Beantwortung aller diesbezüglichen Fragen liegt bei der diensthabenden Positronik«, schallte es aus unseren Übersetzern.

»Hoffentlich hat der Computer dann nicht gerade dienstfrei«, wandte ich mich an Lucky, nachdem sich der Kurzo wieder entfernt hatte. Ich zeigte auf den Metallkasten. «Ich nehme an, dies ist die Positronik.«

»Versuchs doch mal mit gutem Zureden.«

Wir witzeln hier rum wie zu Hause am Frühstückstisch, schoss es mir durch den Kopf. Aber vielleicht war das ein Weg, die Situation in den Griff zu kriegen.

So blöd Luckys Vorschlag klang, was anderes fiel mir auch nicht ein. So baute ich mich vor dem Kasten auf und sprach ihn direkt an:

»Wir hätten gern Material über die Kurzos.«

Sofort öffnete sich an der Vorderseite der Konstruktion ein Schlitz, und ein Streifen buntes Papier schoss daraus hervor. Lucky lachte aus vollem Hals.

»Sehr witzig«, knurrte ich. Dann stockte ich: »Moment mal, Lucky, wenn du lachen kannst ...«

Er brachte ein paar Laute hervor, dann reichte er mir seinen Block.

»Ich sag ja, mit etwas Übung dauert es nicht mehr lange. Aber was fangen wir jetzt damit an?«

Er zeigte auf den Computerausdruck.

»Achtung! Übersetzung!« schnarrte es plötzlich von meinem Handgelenk.

»He, der kann wohl auch lesen!« rief ich aus.

Und tatsächlich las uns mein Übersetzer die Daten der Positronik von dem Papierstreifen ab:

»Möchtet ihr alles per Monitor oder lieber Akten/Papier/Unterlagen?«

Wieder kriegte ich den Block von Lucky: »Die Computersprache ist mir näher als das Kurzo-Kauderwelsch.«

»Tja, merkwürdig«, murmelte ich. »Aber vielleicht ist das eine freie Übersetzung. Und ich denke, wir nehmen den Monitor. Und, wenn's geht, bitte eine Kurzfassung.«

Der Computer spuckte einen neuen Streifen aus.

»Okay«, übersetzte mein Übersetzer.

»Ob da wirklich ›Okay‹ draufsteht?« fragte Lucky.

Ich wusste es ebenso wenig und gab ihm den Block zurück. »Diese Übersetzer werden mir direkt unheimlich.«

Im nächsten Moment sprang ich erschrocken zurück. Es klickte und knackte um uns herum und in der Mitte des Raumes schob sich ein Pult aus dem Boden, auf dem eine Art Fernsehschirm montiert war.

»Puh!« stöhnte ich. »Vor Überraschungen kann man hier nie sicher sein. Aber ich glaube, jetzt geht es los mit den Informationen.«

»Und wieder keine Sitzgelegenheit«, ergänzte Lucky.

Dann flimmerte der Bildschirm und die ersten Schrift- und Farbzeichen erschienen. Diesmal übernahm Luckys Übersetzer die Verständigung.

»Kurzos: Heimatplanet Syn-Kuro im Sternsystem Syn-Al-Tysk.

Gehört zu den Dunkelwelten der Galaxis. Grobeinteilung der Spezies: humanoid, Arbeiter. Das Volk gehört der Interstellaren Handelsvereinigung und den entsprechenden Sicherheitsorganen an. Sonst keine Zugehörigkeit zu intergalaktischen Organisationen. Die Kurzos leben sehr zurückgezogen und beteiligen sich, soweit bekannt, nie an Konflikten unter verschiedenen Völkern. Kaum Militär oder Schutztruppen. Wenig Kontakt zu anderen humanoiden Sternenvölkern. Unbestätigte Vermutungen für Beziehungen zu Völkern oder Wesen der C-Rubrik (nicht einzuordnende Spezies). Einzeln leben die Kurzos extrem individuell. Sie schließen sich nur zu »Aufträgen« zusammen. Weitere Besonderheiten: unklare Regierungs- und Hierarchieformen, ungeklärte Leidenschaft für eine Art »Spiel« (zusammen mit dem Volk der Renen), differierende Geschlechterzugehörigkeit im Zusammenhang mit einem religiösen Kodex.

Quelle dieser Kurzinformation: Handbuch der intergalaktischen Völker, ihrer Formen, Organisationen und Einrichtungen mit einem Zusatzabschnitt über Kuriositäten.

Damit endete die Information.

»Viel schlauer als vorher sind wir nun auch nicht«, sagte ich langsam. »Da muss man wohl erst die größeren Zusammenhänge wissen, bevor einem das etwas nützt. Auf jeden Fall ist es ganz schön kompliziert, sich da zurecht zu finden.«

»Aber dies ist doch erst unser erster Tag hier«, beschwichtigte Lucky. »Was erwartest du? Nicht nur eine völlig fremde Zivilisation kennenzulernen, sondern gleich galaxisweite Zusammenhänge?«

»Ich weiß, ich weiß, aber das hilft mir auch nicht weiter.« Ich wandte mich nochmal dem Computer zu. »Kann man hier ein Bild von außerhalb des Raumschiffs kriegen?« fragte ich aus einer Laune heraus.

Die Art der Antwort verblüffte mich erneut: Die rückwärtige Wand des Raumes wurde völlig schwarz und verwandelte sich in eine riesige Projektionsfläche. Es erschienen zunächst ein paar Lichtpunkte, dann ein silbriges Band, das sich aus Millionen Sternen zusammensetzte: die Milchstraße. Das Bild wechselte.

»D.. die Sonne!« stammelte Lucky.

Tatsächliches wurde es hell im Archiv. Rechts im Bild der Feuerball unserer Heimatsonne. Die Erde war nicht zu sehen, aber ein paar andere Planeten. Saturn konnte ich auf jeden Fall erkennen und in den anderen vermutete ich Jupiter und Neptun.

In der Aufregung war es mir fast entgangen, dass Lucky gesprochen hatte. Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Du machst ja Fortschritte.«

Wir starrten weiterhin gebannt auf den Bildschirm - so ganz abgebrüht waren wir also doch nicht, dass uns das nicht mehr beeindrucken konnte - und erlebten so mit, wie die Sonne und die Planeten langsam kleiner wurden. Ein dumpfes Gefühl machte sich in meinem Magen breit und wieder stand ich kurz vorm Heulen, als das Bild total grau wurde. Dann erlosch die Projektion ganz und aus der Positronik ratterte ein neuer Lochstreifen.

»Lichtsprung in die Grauzone,« erläuterte mein Übersetzer.

»Tja, nun wird's wirklich Sci-Fi-mäßig«, murmelte ich. »Ich nehme an, wir haben jetzt Überlichtgeschwindigkeit oder sowas.«

Nachdenklich standen wir eine Zeit in dem dunklen Raum herum. Jetzt war die Verbindung zur Erde endgültig abgerissen. Eine Umkehr war unmöglich. Mitten in unsere düsteren Überlegungen hinein erscholl plötzlich eine Lautsprecherstimme:

»Obechan-Kol bittet die Erdbewohner, sich in Sektion blau/hellgelb/orange einzufinden. Ich möchte meinen Gästen ihre Quartiere zeigen.«

»Das kommt gerade richtig«, seufzte ich. «Ich bin total geschafft. Hoffentlich gibt es keine Probleme mit der Unterbringung. Aber sie hätten uns wohl kaum mitgenommen, wenn sie das nicht arrangieren könnten. Und was zu essen könnte ich auch gut gebrauchen. Also, wie war das? Blau/hellgelb/orange. Mal sehen, ob wir das mit unseren beschränkten Sinnen auseinanderhalten können. Aber eins ist sicher: hier im Archiv war ich nicht das letzte Mal. Hier lagert wahrscheinlich alles, was wir wissen wollen. Man muss nur die richtigen Fragen stellen.«

»... auch rech ...«, brachte Lucky hervor.

Unglaublich, dass er noch die Energie aufbrachte, seine Stimme wiederzubekommen! Nacheinander traten wir wieder auf den Gang. Wieder wirkte auf mich alles kahl und fremd. Ich zweifelte daran, dass wir uns hier irgendwann heimisch fühlen konnten. Na, abwarten ...

Die Farbunterscheidungen machten uns zwar zu schaffen, aber nach mehrmaligem Fragen erreichten wir einen Sektor, der tatsächlich ganz in blau/hellgelb/orange gehalten war. Auf dem Weg hierher hatte ich den Eindruck bekommen, dass es mindestens zwanzig verschiedene Nuancen jeder Farbe gab. Sie waren für unsere Augen kaum mehr wahrnehmbar.

Obechan-Kol erwartete uns in einer Nische.

»Ich hoffe, euer Besuch im Archiv war von Erfolg gekrönt«, empfing er uns.

Manchmal hegte ich die Vermutung, dass etwas mit unseren Übersetzern nicht stimmte. Wie konnte man nur so einen Satz formulieren? Aber da Luckys Gerät immer synchron übersetzte, war auch das unwahrscheinlich. Es lag wohl einfach an der Schwierigkeit der Kommunikation zwischen zwei völlig verschiedenen Kulturen. Wer weiß, wie unsere Sätze für die Kurzos klangen. Vielleicht waren wir bereits als ungehobelte Burschen eingestuft.

Obechan-Kol führte uns zu einem Raum - oder musste man hier von Kabine sprechen? -, der entfernte Ähnlichkeit mit einem beliebigen, wahllos eingerichteten Zimmer auf der Erde aufwies: zwei gepolsterte Stühle(!), zwei schmale Betten, ein Schrank, ein Tisch und sogar ein kleiner Teppich. Außerdem gab es einen Anschluss ans Bordkommunikations- und Versorgungssystem, wie der Kurzo uns erklärte. Sie hatten sich bestimmt ganz schön Mühe gegeben, denn ich war überzeugt, dass sie diese Möbelstücke extra für uns irgendwie aufgetrieben oder hergestellt hatten. Wahrscheinlich sahen ihre Räume nicht im entferntesten diesem ähnlich.

»Nun fehlt nur noch das Bad«, teilte Lucky mir mit und ich übermittelte es Obechan-Kol.

Wieder fiel die Verständigung schwer. So etwas wie Waschen kannten die Kurzos offenbar nicht. Schließlich gelang es uns, dafür zu sorgen, dass wir jede »Wachperiode« (auch ein Kurzo-Ausdruck) mehrere Behälter warmes und kaltes Wasser bereitgestellt kriegten. Zum Glück besaßen sie eine ähnliche Einrichtung wie ein Klo. Es wäre uns sicher schwer gefallen, auch noch diese Notwendigkeit korrekt zu beschreiben.

Nachdem uns der Kurzo verlassen hatte, ließen wir uns erschöpft auf die Stühle fallen.

»Mann, bin ich müde,« stöhnte ich.

Lucky nickte bestätigend. Wir nahmen noch ein paar Happen eines undefinierbaren Essens - schmeckte etwas nach Kohlrabi - zu uns, hofften, dass es uns nicht vergiftete, dann legten wir uns schlafen.

Unserer Neugier waren halt auch Grenzen gesetzt. Trotzdem schlief ich schlecht, denn es war dermaßen viel Neues auf uns eingestürmt, dass mein überfordertes Gehirn mir ein Dutzend Alpträume bescherte.

 

In den nächsten Tagen beschränkten wir uns hauptsächlich darauf, den näheren Bereich um unsere Kabine zu erforschen. Wir lernten aber nur sehr schwer uns zurechtzufinden. Dabei machten uns nicht nur die Farbmarkierungen zu schaffen - des Öfteren verliefen wir uns, weil wir sie nicht auseinanderhalten konnten -, sondern auch die völlig fremdartige Bauweise und Einrichtung des Raumschiffs. Wir übersahen Abzweigungen von Gängen, die überhaupt nicht gekennzeichnet waren, die Funktion von diversen Tunneln und Plattformen blieb uns fremd, unvermittelt tauchten riesige Maschinen und Aggregate vor uns in den Gängen auf, hinter ganz normalen Türen verbargen sich in allen Farben schillernde Abgründe und dergleichen Merkwürdigkeiten mehr.

Selbst die Erklärungen der Kurzos, die wir danach befragten, verstanden wir selten, und nachdem ich einmal fast in eines dieser Löcher gefallen wäre, gingen wir noch vorsichtiger vor. Am einfachsten erwies es sich immer noch, einer bestimmten Farbkombination zu folgen, um ans Ziel zu gelangen.

Das Raumschiff verfolgte unterdessen weiterhin einen uns unbekannten Kurs. Als wir Obechan-Kol um weitere Informationen über den Zielpunkt der Reise fragten, sprudelte er einen für uns unverständlichen Wust an Sätzen hervor, der uns nicht im Geringsten weiterhalf. Allmählich begann ich mich zu fragen, ob dieser Überlichtflug mit seinen kurzen Orientierungsstops überhaupt einen Sinn für uns haben konnte.

Luckys Bemühungen, seine Sprache zurückzugewinnen, zeigten schon bald durchschlagenden Erfolg. Es drängte ihn danach, mir von seinen Erlebnissen aus der Zeit zu erzählen, wo ich mich in der anderen Realitätsebene aufgehalten hatte. Diese Rekonstruktion seiner Vergangenheit war sicher auch wichtig, damit er die Schreckenszeit von Bergotos verarbeiten konnte. All das wiederzugeben, würde wahrscheinlich ein ganzes Buch füllen.

Unter dem vom Beobachter veränderten Einfluss des Buches hatte er eine Art Realitätsverlust erlitten, d.h. er konnte sich nicht mehr an einer bestimmten Realität orientieren. Als Folge davon driftete er in mehr oder weniger kurzen Zeitabschnitten durch eine Unmenge von Realitätsebenen, was ihn psychisch total fertigmachte, zumal er sich damals diesen Vorgang überhaupt nicht erklären konnte. Kaum hatte er sich auf eine veränderte Umgebung eingestellt, wurde er schon wieder in eine andere Realität gerissen. Alle diese Wechsel geschahen überraschend. Sie ließen sich nicht steuern. So war auch sein Auftauchen in der Realität zu erklären, in der ich mich befunden hatte. Auch er war ja zunächst mit dorthin verschlagen worden, aber plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden. Schließlich war er wieder in unserer Ursprungsrealität gelandet und dort in völlig aufgelöstem Zustand verhaftet und nach Bergotos eingeliefert worden. Die Realitätswechsel endeten dort, ähnlich wie ich wieder in der Ursprungsrealität gelandet war.

So lautete jedenfalls Luckys Erklärung für das Phänomen und ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln. Trotzdem blieben eine Menge Fragen offen:

Wurden alle, die den Übergang in die Stammeswelt mitgemacht hatten, irgendwann wieder in die alte Realität zurückversetzt?

Wenn ja, was geschah dann mit den Doppelidentitäten? Ich hatte immerhin Flie und Winnie in zwei Realitäten erlebt.

Oder waren Lucky und ich besondere Fälle, wobei bei mir der starke Wunsch nach einem Handeln in sozialen und politischen Zusammenhängen eine Rolle gespielt hatte?

Diese und andere Fragen hätte uns höchstens ein Beobachter beantworten können und sowohl der erste als auch Adlerauge hatten ihre Mission beendet. Ich bezweifelte allerdings, ob wir selbst mit Hilfe eines Beobachters imstande waren, dieses Zusammenspiel von anscheinend subjektiven und objektiven Realitäten zu erfassen. Aus Gründen unserer eingeengten Sozialisation waren wir bestimmt zu verkorkst, um sowas verstehen zu können.

Mir hatten ja schon Traumschwesters Erklärungen erhebliche Schwierigkeiten bereitet.

Ein weiteres Problem war für mich die Aufarbeitung der Zeit, die ich auf den Südlichen Inseln verbracht hatte.

Dort hatte ich zwar zum ersten Mal das Gefühl gehabt, mich nicht nur für mich sinnvoll politisch und persönlich zu engagieren, aber das unrühmliche Ende dieser Phase steckte mir doch sehr in den Knochen. Wie hatte es nur so schnell zum Abbruch jeglicher verbindlichen Beziehungen kommen können? Die Gruppe war unter dem Repressionsdruck von außen und den starken inneren Spannungen wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Nach Lercs Tod und dem Abbruch der Beziehung zu Jenka hatte ich mich gefühlt wie ein einsames Blatt im Wind und wusste weder aus noch ein. Lucky hatte da ein paar gute Gedanken, die mich auf die Spur meiner Unzufriedenheit brachten.

»Vielleicht haben euch die Anfangserfolge ein ganz falsches Bild von eurer Gruppe geliefert«, meinte er. »Ihr wart nie die militanten Kämpfer, die ihr sein wolltet, auch wenn ihr euch das so lange eingeredet habt. Als dann die ersten Misserfolge eintraten, konntet ihr die Zerstörung dieses Bildes nicht verkraften.«

»Genau«, stimmte ich ihm zu. »Vor allem, weil wir die Misserfolge nicht verarbeiten konnten. Wir hatten kaum jemals über uns persönlich geredet, so dass die miese äußere Situation nur zu einer noch mieseren inneren führte. So kam es dann auch zu den Verzweiflungstaten von Lerc oder Hancos. Das waren ja totale Alleingänge, weil niemand vom anderen wusste, wie er oder sie sich fühlte.«