Michael v. Wuntsch ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Als Professor für Betriebswirtschaft lehrte er in Berlin und sporadischin Peking.

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ISBN 978-3-86764-898-1 (Print)

ISBN 978-3-7398-440-8 (ePUB)

ISBN 978-3-7398-468-2 (ePDF)

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Vorwort

Es hat sich herumgesprochen, dass die Globalisierung der Wirtschaft zwiespältige Ergebnisse hervorbringt. Noch um die Jahrtausendwende schwärmten die wirtschaftlichen und politischen Davos-Eliten von den neuen Chancen, die mit dem Niederreißen von Zollschranken und der Deregulierung des Kapitalverkehrs verknüpft seien. Auf diesen Zug sprangen auch sozialdemokratische Politiker wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder begeistert auf. Auf der Tagesordnung stand nicht die Anpassung des Wettbewerbs an die historisch gewachsenen Standards in den betroffenen Ländern, sondern umgekehrt ihre bedingungslose Öffnung und Unterordnung unter die Bedürfnisse des globalen Kapitals. Die Begründung dieser Art der Anpassung war mit der alten, von David Ricardo begründeten Theorie des komparativen Vorteils schnell gefunden. Indem sich jedes Land spezialisiere und das anbiete, was es am besten könne, profitiere die ganze Weltwirtschaft. Ricardo war vor mehr als zweihundert Jahren als Vordenker des Freihandels hervorgetreten, indem er die merkantilistische Politik des Protektionismus kritisierte. Die Abschaffung der Zölle und der Import von Gütern sind bis heute ein strittiges Thema geblieben. Die Erfahrung zeigt, dass der materielle Wohlstand zwar allgemein wächst, aber Gewinner und Verlierer der Globalisierung erzeugt werden. Auf dem Weltmarkt lassen sich vor allem zwei verschiedene Prozesse nachweisen, die unterschiedliche Formen des Welthandels repräsentieren:

Erstens verfügen die industriell hochentwickelten Länder über Hochtechnologie, Know-how und ein Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften, die ihnen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Dies trifft die Arbeitskräfte in unterschiedlicher Weise. Gegenüber Ländern mit billigem Arbeitsangebot geraten gering ausgebildete Arbeitskräfte in den reichen Ländern unter Druck. Und in den armen Ländern bildet sich eine neue Schicht an Profiteuren. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse polarisieren sich innerhalb der Länder und zwischen ihnen. Die Verschiebung der internationalen Arbeitsteilung tritt am deutlichsten im Verhältnis zwischen China und den USA hervor. Obwohl China in den Markt für hochtechnologische Produkte drängt, ist das Land weiterhin vor allem die „Werkbank der Welt“.

Zweitens dominieren die entwickelten Industrieländer den Welthandel, indem die Investitions- und Güterströme schwerpunktmäßig innerhalb ihres eigenen Territoriums kreisen. Der Automarkt ist dafür das beste Beispiel. Die großen Marken werden wechselseitig in Ländern wie USA, Japan, Frankreich, Großbritannien und Deutschland angeboten, in denen jeweils auch ihre Konkurrenten agieren. Einerseits sind die Firmengiganten auf wachsende Märkte angewiesen, denn die Verteilung ihrer Kosten bewirkt einen Sog zur Massenproduktion und zum Massenabsatz, der die Dimension der heimischen Märkte weit überschreitet. Andererseits befriedigt die Warenvielfalt die Bedürfnisse der Wohlstandskunden.

Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat die Lücke auf Seiten der Verlierer des globalen Wettbewerbs näher betrachtet.1 Während in den 1950er und 1960er Jahren die Reduzierung von Zöllen noch zur allgemeinen Wohlstandssteigerung beigetragen habe, verlaufe die Entwicklung der Einkommen am Ende zwanzigsten Jahrhunderts widersprüchlich. Er verweist auf die Regionen in den USA, die vom Nafta-Handel2 besonders betroffen sind. Die eher schlecht ausgebildeten „blue-collar workers“ erlitten in der Zeit zwischen 1990 und 2000 gegenüber nicht vom Nafta-Handel betroffenen Gebieten relative Einkommensverluste. Und da der Staat in den USA die sozialen Verluste nicht kompensiere, sei die Skepsis gegenüber dem Freihandel bei den amerikanischen Arbeitern gewachsen. Rodrik macht den globalen Wettbewerb für die Verwerfungen verantwortlich, denn die Weltfirmen nutzen die geringen Steuer-, Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards im Ausland aus. Die Hyperglobalisierung schaffe eine Spielwiese für multinationale Konzerne und enge die nationale demokratische Kontrolle ein. Er hinterfragt nicht nur die Anpassung der Regeln für Zölle, Investitionen, Patente und Copyrights im Interesse der Industrieländer, sondern auch die Liberalisierung der Finanzmärkte.

Der globale Markt ist das Terrain des Geldkapitals. Marx hatte das Kapital bereits als eigentümliche Ware bezeichnet, die in der Lage ist, Wunder zu vollbringen. In der Form des Geldkapitals offenbare sich seine Funktion, beständig neuen Wert auszuspucken. Die Ausgestaltung der Wirtschaft als kontinuierliche Schöpfungstat erweist sich als Verwirklichung einer Handlungs- und Denkweise, die Züge alchemistischen Strebens trägt. Die Anreicherung der materiellen Welt erscheint als naturgegebener Auftrag zur Verwandlung der Dinge in höherwertige Substanzen und Zustände, vergleichbar der Suche nach dem Stein des Weisen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die Illusion der Schöpfung aus dem Nichts hat schon Goethe aufgegriffen und in sein Faust-Drama integriert. Als Minister in Weimar besaß er genügend ökonomischen Sachverstand, um das immer weiter treibende, faustische Element der neuen Zeit mit den Mitteln der Poesie zu erfassen. Die Erfahrungen früher Finanzkrisen haben das Geistesleben beflügelt. Die sich seit dem 13. Jahrhundert zunächst in Oberitalien und Portugal ausbreitende kapitalistische Handelsweise hat nicht nur die feudalen Herrschaftsverhältnisse hinweggefegt, sondern sie hat von Anfang an auch ihr ideologisches Selbstbildnis erzeugt. Die frühen Darstellungen der klassischen Ökonomen und ihrer Epigonen über die ursprünglichen Tauschgesellschaften, die Aneignung von Eigentum durch Arbeit und die Reichtumserzeugung haben ein narratives Gedankenmuster gemalt, das bis heute nachwirkt. Das gilt insbesondere für das Bildnis Adam Smiths, wonach die unsichtbare Hand den Egoismus der handelnden Individuen in das harmonische Ganze transformiert.

In der Zwischenzeit hat sich der Finanzüberbau weiter ausgefächert. Gegenüber der Zeit von Marx, in der das industrielle Kapital die Geschicke bestimmt hatte, haben Finanzinstitutionen die Oberhand erlangt. Sie entscheiden heute maßgeblich über die Verteilung von Investitionen und die Aufgliederung von Arbeit auf die verschiedenen Regionen der Welt. Die Funktion des Geldes, Kapital zu generieren, hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Die automatische Reichtumserzeugung scheint sich im doppelten Sinne zu verwirklichen. Zum einen haben transnationale Firmengiganten ein global verzweigtes Produktions- und Handelssystem etabliert, das nach den Regeln des Shareholder-Kapitalismus organisiert ist. Zum anderen hat sich die Illusion verbreitet, als lasse sich die Reproduktion des Kapitals auf die Investition von Geldmitteln am Beginn und die Vereinnahmung des vermehrten Rückflusses am Ende des Prozesses verdichten. Finanzinvestoren vermeiden gerne die lästige Zwischenphase der Produktion von Gütern und Diensten, insoweit sich Investitionen im Finanzüberbau als vorteilhafter erweisen. Robo-Advisor und Algorithmen steuern heute einen Großteil der weltweiten Investitionen. Mit Hilfe der digitalen Technologien scheint sich der Traum vom Wert generierenden Automaten zu verwirklichen. Die Rastlosigkeit erscheint als tief verwurzeltes Charakteristikum der Finanzmärkte. Auch nach der letzten großen Finanzkrise 2007/08 hat sich die Lage nicht beruhigt.

Die Staaten sind insoweit eingebunden in die Reproduktion des Kapitals, als sie deren Rahmenbedingungen determinieren. Je mobiler der Faktor Kapital geworden ist, desto mehr ist die Qualität des rechtlichen und kulturellen Gefüges im internationalen Vergleich in den Vordergrund gerückt. Der institutionelle Rahmen gibt die Spielregeln des wirtschaftlichen Handelns vor. Dies betrifft nicht nur die Rahmengesetze sowie die Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, sondern auch die historisch gewachsene Lebenskultur in einem Staat. Im Laufe der Wirtschaftsgeschichte sind zwischen den Staaten Differenzen entstanden, die von der Politischen Ökonomie erfasst worden sind. Die Variationsbreite der realen marktwirtschaftlichen Modelle ist von Peter Hall und David Soskice im Rahmen ihres Ansatzes zu den „Varieties of Capitalism“ beschrieben worden. Sie haben die Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Aspekt des Markthandelns gerichtet. Was wir als Kapitalismus bezeichnen, basiert im internationalen Vergleich auf grundlegenden Gemeinsamkeiten, erfährt in den Ländern aber auch verschiedene Ausprägungen. Der Schwerpunkt der Analyse von Hall und Soskice liegt im Gegenüber des angloamerikanischen „klassisch liberalen“ und des „koordinierten“ Marktmodells, das eher in Kontinentaleuropa und in einigen ostasiatischen Ländern zu finden ist. Auch wenn die institutionellen und kulturellen Besonderheiten weiter eingegrenzt werden können, weist der Ansatz auf Gestaltungsräume für die Politik. Wenn das Wirtschaftsleben eine Variation an möglichen Spielregeln offenbart, ist ein zentraler Ansatzpunkt für Veränderungen gegeben. Inwieweit sich dem politischen Handeln in der Demokratie Spielräume eröffnen, wird allerdings kontrovers beurteilt. So geht Wolfgang Streeck davon aus, dass der Sharholder-Value-Kapitalismus auf dem Weg sei, die noch bestehenden Unterschiede zwischen den Ländern einzuebnen.

Die demokratisch verfassten Gesellschaften befinden sich in der Defensive. Das Problem ist, dass den globalen Aktivitäten der transnationalen Konzerne Nationalstaaten gegenüberstehen, deren demokratische Kontrolle auf das eigene Staatsterritorium begrenzt ist. Die Spielregeln der Marktwirtschaft sind zwar gestaltbar, aber die mangelnde Reichweite des nationalen Regierungshandelns kommt den Weltfirmen entgegen. Dazu kommt, dass auch die Abstimmungsprozesse der internationalen Politik schwierig verlaufen. Die Entwicklung verläuft weg von multilateralen Institutionen hin zu offenen Formen der internationalen Kooperation auf höchster Regierungsebene. Und Gipfelkonferenzen im G20-Format besitzen keine quasi-supranationale Autorität. Es verwundert daher nicht, dass aus den unterschiedlichen Standards im Ländervergleich komparative Vorteile für Investitionen abgeleitet werden. In diesem Sinne setzen Staaten ihre Institutionen bewusst als Mittel im Wettbewerb um Standorte ein. Sie verhalten sich wie Konkurrenten. Der Trend hin zur Senkung von Steuersätzen und zum Angebot von Subventionen ist seit Jahren Merkmal der Wirtschaftspolitik. Insbesondere transnationale Unternehmen ziehen daraus Vorteile. Steuern sind in der Rangordnung der Standortfaktoren gestiegen. Die Konkurrenz der Steuerstandorte ist zum Problem geworden. Steueroasen bedrohen die Stabilität der Märkte und der Staaten. In vielen Studien wird der gewaltige Transfer von Gewinnen in verschiedene Steuerparadiese bestätigt. Nach Gabriel Zucman sind 40% der von multinationalen Firmen erzielten Gewinne im Jahr 2015 in solchen Offshore-Zentren gelandet. Spitzenwerte erreichen US-Konzerne. Die Niedrigsteuergebiete liegen nicht nur in exotischen Gebieten der Welt, sondern mitten im Einflussbereich der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wirtschaftspolitik der Industriestaaten selbst ist höchst widersprüchlich.

Was liegt all dem zugrunde? Und inwiefern können wir den Entwicklungsverlauf beeinflussen? Max Weber hat das Erwerbsstreben im Sinne der zweckrational orientierten Handlungsmaxime dem Typus des rationalen Wirtschaftsmenschen zugeordnet. Der „homo oeconomicus“ repräsentiert das Leitbild des rationalen Handelns in den kapitalistischen Gesellschaften. Seine Rationalität ist in verschiedener Hinsicht begrenzt. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist seit langem auf eine merkwürdige Ambivalenz des gesellschaftlichen Handelns aufmerksam gemacht worden. Zwar handeln die Subjekte zielorientiert und eigennützig, doch stellen sich die intendierten Prozesse ihnen gegenüber als fremde Macht dar, die ihren Handlungsraum einengt und bedroht. Dem optimistischen Blick von Smith stehen die Sichtweisen von Weber und Marx gegenüber. Während Weber erkannte, dass die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche mit der unaufhaltsamen Bürokratisierung und Effizienzsteigerung einhergeht, sieht Marx die Vorherrschaft der Warenbewegungen gegenüber den intendierten Handlungen der Subjekte. Indem sie sich als Charaktermasken gegenübertreten, werden sie von Dingen kontrolliert. Marx hat diese verdrehte Konstellation im Rahmen seiner Analyse der ökonomischen Bewegungsgesetze des Kapitalismus herausgestellt. Er skizziert die Akteure als Kollektivsubjekte, die linear die Gesetze der kapitalistischen Verwertung vollziehen. Allerdings erweist sich die reale Geschichte nicht als eindimensionaler Pfad. Sie ist vielmehr durch Konfliktlinien und Brüche gekennzeichnet, die auch alternative Verläufe beinhaltet. Polanyi hat die Wirtschafts- und Sozialgeschichte als ineinander verschachtelten Prozess von Bewegung und Gegenbewegung beschrieben. Diese Perspektive des Handelns unterliegt der folgenden Darstellung.

Die Subjekte sind keine blutleeren Wesen, die unbewusst einer übergeordneten geschichtlichen Logik folgen. In diesem Punkt zeigt sich eine Kluft im Marxschen Werk. Denn im Gegensatz zu seiner Kapitalanalyse hebt er in seinen historisch-politischen Schriften den aktiven Anteil der Subjekte an der Menschheitsgeschichte hervor. Sie sind in der Lage, die Entwicklungsrichtung zu beeinflussen und historische Weichen zu stellen, indem sie ihren politischen und moralischen Absichten gemäß handeln. Die Akteure verfolgen ihre Interessen im Kontext von normativen Einstellungen, die moralisch-kulturelle Werte und Stimmungen zum

Ausdruck bringen (Honneth 2014: 360).3 In der fragmentierten Gesellschaft von heute gilt dies mehr denn je. In dieser Perspektive weist die Gesellschaftskritik über die Aufdeckung von Funktionsstörungen der Wirtschaft weit hinaus. Sie muss sich auf die Lebensweise im Kapitalismus als Ganzes beziehen. Dies betrifft nicht nur die Verteilung des Reichtums und die Gestaltung der Arbeitswelt, sondern auch die Naturzerstörung sowie die sich ausweitende Kommerzialisierung und Versachlichung aller Lebensbereiche. Eine ethisch inspirierte Kritik begreift die Einbindung der Lebensweise in den reproduktiven Zirkel als Abkehr vom Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Erkenntnis der begrenzten Rationalität des Kapitals sowie die normativ ausgerichtete Interessenabwägung der Subjekte bilden zusammen den Kontext zum Verständnis sozialer Entwicklungen.

In dieser Perspektive ergeben sich viele Fragen. Was steckt hinter dem Zyklus der ewigen Auf- und Abschwünge der Börsen? Wie kann der Finanzkapitalismus gezähmt und die Macht der transnationalen Konzerne begrenzt werden? Wie sind die Spielregeln des Wirtschaftens auszugestalten, so dass ein fairer Welthandel ermöglicht wird? Was kann getan werden, um Steueroasen zu bekämpfen? Welche Rolle kommt dem Staat bei der Gestaltung der Wirtschaft zu? Welche Rolle spielt die Sozialpolitik im europäischen Einigungsprozess? Und wie kann eine Transformation zur Nachhaltigkeit in Gang gesetzt werden, die zur Dekarbonisierung der Wirtschaft beiträgt. Im Buch wird versucht, zentrale Problemfelder und Antworten einzugrenzen. Die Vorschläge sind getragen von zwei Überzeugungen:

Erstens lässt sich Gesellschaftskritik nur innerhalb demokratischer Strukturen sinnvoll umsetzen. Denn die Demokratie basiert – im Gegensatz zu autoritären Formen der Herrschaft – auf der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte als Rechtspersonen. Daraus erwächst die „formelle Freiheit“ der Marktakteure, die sich bislang als einzige geschichtliche Verwirklichungsform von Freiheit erweist. Zudem ist die Demokratie vom Anspruch her offen für verschiedene Wirtschaftsmodelle. Sie ist die einzige Herrschaftsform, in der bestehende Unvollkommenheiten als Auftrag zu Veränderungen und als permanentes Ringen um den besten Weg begriffen werden können. Allerdings ist die Freiheit der nivellierenden Kraft des Marktes und Kommerzes ausgesetzt, die zu standardisierten Formen des Verhaltens innerhalb und außerhalb der Konsumsphäre drängen. Der Philosoph Žižek verweist daher auf „die Illusionen, auf denen die kapitalistische Wirtschaft ebenso wie ihre falschen Übertretungen beruhen“ (2016: 35).4 Die Demokratie schützt nicht automatisch vor der destruktiven Herrschaft alter und neuer Machthaber.

Zweitens ist das Zwei-Welten-Denken der Wirtschaftsethik zu überwinden, nach der die Rahmenordnung des Marktes als ethisch-politisches Neutrum angesehen wird. Der Ethik wird dann nur noch die Rolle des Korrektivs zum Gewinnprinzip zugesprochen. Demgegenüber wird an der Vision der „Lebensdienlichkeit“ der Wertschöpfung als konstitutive ethische Aufgabe der Wirtschaftsordnung festgehalten. Diese Formel hat der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich geprägt.5 Die Sichtweise bezieht nicht nur den ganzen Lebenszyklus der Produkte von den Rohstoffen, über den Transport, die Herstellungs- und Verwendungsweise, bis zum Recycling und der Entsorgung des Abfalls ein. Es geht darüber hinaus um die Qualität der Wertschöpfung selbst und damit um die Beantwortung grundlegender Fragen: Welche Werte sollen im Unternehmen geschaffen werden? Für wen und in welcher Weise sind sie zu schaffen? Was folgt aus der Charakterisierung der Konzerne als „quasi-öffentliche“ Gebilde? Wie ist die Wertschöpfung gerecht zu verteilen? Wer soll die sozialen und ökologischen Kosten der Wertschöpfung tragen? Und was muss getan werden, um die Erderwärmung zu begrenzen?

Der Text gliedert sich in fünf Kapitel:

Im 1. Kapitel werden im Zusammenhang mit einer kurzen Zustandsbeschreibung der Wirtschaft und Gesellschaft die zentralen wirtschaftspolitischen Konfliktfelder und Debatten der vergangenen Jahre eingegrenzt.

Danach werden im 2. Kapitel die Eckpunkte des finanzdominierten Kapitalismus aufgezeigt. Die Betrachtung knüpft an grundlegende Denktraditionen und Argumentationsmuster an, die in der ökonomischen Zunft bis heute vorherrschend sind und als äußerst strittig gelten. Es geht darum, das Motiv des Geldkapitals zu entschleiern und die Begrenztheit der Marktrationalität zu umreissen.

Das 3. Kapitel taucht ein in die Welt der global agierenden Konzerne. Ihnen steht im Grunde keine globale Demokratie gegenüber, die ihre Macht einhegen könnte. Die Wirrnisse der Steuergestaltungen und die defensive Reaktion der Staaten auf die Gewinnverlagerungen in Steueroasen werden erläutert und Gegenmaßnahmen diskutiert.

Im Anschluss an die Skizze der zentralen Konfliktlinien in Wirtschaft und Gesellschaft wird im 4. Kapitel nach der Rolle des Staates in der Marktgesellschaft gefragt. Thematisiert werden die Mystifizierungen des Geldkapitals, der Trend zur Fragmentierung der Gesellschaft und die Schranken der europäischen Regulierungsmacht. Am Beispiel der jüngeren Technikgeschichte wird schließlich gezeigt, dass der amerikanische Staat über seine Forschungspolitik die Innovationen der großen IT-Firmen im Silicon Valley maßgeblich geprägt hat.

Das 5. Kapitel beschäftigt sich mit den Leitlinien einer anderen Wirtschaftspolitik. Die Ausführungen beginnen mit wirtschaftsethischen Aspekten der Kritik am Kapitalismus als Lebensform und enden mit Vorschlägen zur Umorientierung der Wirtschaft. Die vorgeschlagenen Maßnahmen beziehen sich auf drei Kritikebenen:

Ich bin meinen Kollegen und früheren Schreibpartnern, Bernadette Andreosso-O‘Callaghan von der University of Limerick/Ireland und Xiaojun Wei von der Grant MacEwan University in Edmonton/Canada, dankbar für ihre Ergänzungen im Rahmen der beiden Nachworte. Viele der in diesem Buch vorgetragenen Ideen sind in gemeinsamen Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zu den Strategien multinationaler Konzerne in der globalen Wirtschaft entstanden. Bernadette stellt die Apple-Steuergeschichte aus irischer Sicht dar. Xiaojun hebt die Besonderheit des chinesischen Modells der Marktwirtschaft hervor und verweist auf die Debatte zu den „varieties of capitalism“.


1 Die Ausführungen beziehen sich auf den Essay von Rodrik „The Great Globalization Lie“ (2018).

2 Nafta ist das Kürzel für „North American Free-Trade Area“ und bezeichnet das umstrittene Handelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA. Im Oktober 2018 ist zwischen den beteiligten Staaten vereinbart worden, dass Nafta durch das „United States, Mexico, Canada Agreement (USMCA)“ ersetzt wird. Gestärkt werden der digitale Handel, der Schutz von Rechten sowie die Schiedsgerichte. Die Kfz-Importe in die USA bleiben weitgehend zollfrei.

3 Der Direktor des Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, tritt für „eine soziologisierte Kapitalismusanalyse ein, die … auch die Dimension des sozialen Kampfes wieder in den Blick rückt“ (2014: 363).

4 Žižek, der sich auf Lacan und Hegel bezieht, erwartet nicht viel von der Wahldemokratie: „Freie Wahlen … dienen als Kontrolle der Parteibewegungen … Ein positiver Schritt zu einer neuen Ordnung liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten“ (2016: 1357).

5 „Am Anfang steht nicht ein strategisches Kalkül, sondern die lebensdienliche Frage: ‚Wofür setzen wir uns ein‘?“ (Ulrich 2001: 432).

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel: „Das Spiel geht weiter“
  2. Kapitel: Das Motiv des Geldkapitals und Schranken der Marktrationalität
  3. Kapitel: Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte und Ohnmacht der Steuerpolitik
  4. Kapitel: Der Staat in der bürgerlichen Marktgesellschaft
  5. Kapitel: Leitlinien einer anderen Wirtschaftspolitik

1. Kapitel: „Das Spiel geht weiter"

Bewegungsmuster des Kapitals und Fausts Wette

Wir gewöhnen uns an den Gedanken, dass Wirtschaftskrisen von Zeit zu Zeit hereinbrechen und Geschicke durcheinanderwirbeln. Das scheint irgendwie dem Lauf der Dinge eigen zu sein. Einerseits bedrohen externe Einflüsse wie Naturkatastrophen und Kriege das moderne Wirtschaftsleben, indem sie das Getriebe des Marktes blockieren und den Austausch behindern. Andererseits sind die Auf- und Abschwünge Ausdruck der sich überlappenden und durchkreuzenden Handlungen der vielen Marktakteure. Die beteiligten Spieler verfolgen im Idealfall ihre jeweiligen Ziele im Rahmen vorgegebener Spielregeln. Das schließt deren Überschreitung im praktischen Handeln sowie die stete Suche nach Freiräumen zum eigenen Vorteil nicht aus. Seit Jahrhunderten hat sich in den städtischen Zentren eine kaufmännische Kultur herausgebildet, die zur Rationalisierung der Lebenssphären beigetragen hat. Der Wirtschaftshistoriker Jacques Le Goff erkennt im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit das Auftauchen mächtiger Kaufleute, „… die Untertanen in einem Königreich des Geldes (waren), das nur solche Gesetze kannte, die ihre Interessen begünstigte“ (1993: 121). Die neuen Wirtschaftsakteure beförderten nicht nur die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft, sondern kristallisierten sich zunehmend als Machtinstanzen auf Märkten und gegenüber Kirche und Staat heraus. Die zweckrationale Orientierung wird schon früh begleitet von Übertreibungen und Zusammenbrüchen. Bereits die Tulpenmanie im Jahr 1636/37 verweist auf die merkwürdige Verkehrung der Nützlichkeit von Gütern, bei der das Ding in der Funktion des Spekulationsobjekts die Oberhand gewinnt. Für eine einzelne hochwertige Tulpe sollen damals mehr als acht fette Schweine, zwölf fette Schafe, vier fette Ochsen, mehrere Fässer Wein und Bier, Käse sowie Getreide und weitere Güter geboten worden sein. Die Preisblase auf Auktionen in den Niederlanden für noch in der Erde ruhende Tulpenzwiebel platzte, als Händler das Risiko als zu hoch erachteten und ihre Investitionen auf reale Werte umorientierten. Es erschien zu unsicher, ob sich die Zwiebel als prächtige Tulpe entfalten oder im Mäusemagen zersetzen würde. Jahrzehnte später heizte der Kolonialhandel die Phantasien der Investoren an. Auf Geheiß des Schotten John Law wurden in Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht nur Banknoten der „Banque Royale“ zur Rettung der Staatsfinanzen, sondern auch Aktien der 1717 gegründeten „Mississippi-Kompanie“ in Umlauf gebracht. Die französischen Besitzungen am Mississippi und in Kanada repräsentierten das Versprechen auf goldene Zeiten und dauerhafte Erträge. Da jedoch der Überseehandel vom Anwachsen der Inflation übertroffen wurde, purzelte der Preis der Wertpapiere bald ins bodenlose. Bereits 1720 leitete das Ende des Spekulationsfiebers eine Wirtschaftskrise in Frankreich ein.

Die Ausweitung der Handelswege und Warenströme der Neuzeit haben schon früh eine Weltwirtschaft hervorgebracht. Der Reiz fremder Gewürze, Edelmetalle und anderer Luxusgüter integrierte zunächst lokale Handelsplätze in Eurasien und begründete Schritt für Schritt eine internationale Wirtschaftsverflechtung, die durch die neuen Netzwerke der Kolonialwirtschaft und die Öffnung der Märkte im Geist des Freihandels forciert wurde. Der Aktionsraum der Marktwirtschaft hat sich seitdem im Weltmaßstab beständig ausgeweitet. Die Handlungsoptionen der Akteure haben sich vervielfältigt. In dieser Perspektive sind wirtschaftliche Krisen Ergebnis einer komplexen Struktur von Investitionsentscheidungen und Kapitalbewegungen. Wir leben in einer Zeit, in der Finanzinstitutionen die dominante Rolle im Wirtschaftsverkehr übernommen haben. Auf Basis der neuen Informationssysteme hat sich die Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals derart beschleunigt, dass sich Begrenzungen von Raum und Zeit nahezu aufgelöst haben. Es ist eine wahrhaft globale Wirtschaft entstanden. Während weltwirtschaftliche Strukturen im Westen bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannt sind, bildet sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine Wirtschaft heraus, die organisatorisch und technologisch immer mehr in der Lage ist, als Einheit unmittelbar global zu funktionieren. Die geographisch weit verzweigten Kapital-, Produktions- und Absatzmärkte sind heute in einem Ausmaß integriert, wie dies geschichtlich nie zuvor der Fall war.

Die Finanzmärkte haben von den neuen Rahmenbedingungen am meisten profitiert. Die IT-Industrie ist zum idealen Partner einer Branche geworden, welche die räumlich und zeitlich unbegrenzte Verwertung zu verwirklichen verspricht. Die der neuen Technologie eigene Netzwerklogik scheint exponentiell wachsende Transaktionen bei nur linear steigenden Kosten zu ermöglichen. Die immaterielle Meta-Welt der Finanzmärkte lebt technisch betrachtet primär vom Austausch digitalisierter Informationen im elektronischen Netzwerk. Beim Versuch, die kognitiven Prozesse zu optimieren, kommt das neue Geschäftsfeld „Big Data“ den Interessen der kurzfristig orientierten Anleger an den Finanzmärkten in idealer Weise entgegen. Kurzsichtigkeit ist im Grunde die moderne Krankheit der von Hektik geprägten Welt der Börsen, in der die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung die menschliche Reaktionsphase immer mehr verkürzt und schließlich überflüssig macht.

Gefüttert mit mathematisch austarierten Modellen zur Verwirklichung des Traums unbegrenzter Verwertung sind intelligente Maschinen in der Lage, gigantische Investitionssummen innerhalb von Nanosekunden weltweit zu streuen. Der Anteil ist erstaunlich. Mehr als zwei Drittel des gesamten Handelsvolumens an den amerikanischen Börsen lassen sich auf den Hochfrequenzhandel zurückführen. Hedgefonds-Manager David Harding6 überlässt die Vorhersage von Börsenkursen seinen superschnellen Computern. Er schwärmt von statistischen Modellen und Algorithmen, mit deren Hilfe riesige Mengen an Daten ausgewertet und Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen berechnet werden können. Für Supercomputer ist es heute kein Problem, mehrere Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde zu bewältigen. Wenn alle kaufen wollen, gilt es vorne dabei zu sein, bevor der Kurs steigt. Umgekehrt kommt es auf den schnellen Verkauf an, bevor die Masse der Anleger Kurse einbrechen lässt. So hat sich die alte Erkenntnis des im Geiste des Calvinismus erzogenen Benjamin Franklins „Time is Money“ als ethische Maxime der Lebensführung (Weber) wahrhaftig durchgesetzt. Es ist ein künstlicher Kosmos entstanden, der mittels komplexer Algorithmen und miteinander verkoppelter riesiger Computerzentren in der Lage ist, sich im Sinne dieser Leitformel selbst zu steuern.

Während Befürworter den Effekt der Bereitstellung von Liquidität betonen, weisen Kritiker darauf hin, dass neunzig Prozent der eingehenden Aufträge real gar nicht ausgeführt, also wieder storniert werden. Und da sich die Zeitphase für die Informationsbeschaffung extrem verkürzt und sich der Anreiz zur fundierten Eingrenzung des inneren Werts der Aktien aufhebt, wird die Börse immer mehr zur Lotterie. Der Hochfrequenzhandel ist selbst ein Trendsetter und wirkt krisenverschärfend. Darauf verweisen die als „Flash Crashs“ bekannt gewordenen Kursabstürze7. Am 6. Mai 2010 brach der Index „Dow-Jones-Industrial-Average“ innerhalb weniger Minuten ohne ersichtlichen Grund um fast 1000 Punkte bzw. 9 % ein, was nach Einschätzung der U.S.-Börsenaufsicht SEC durch einen automatisch in Gang gesetzten Massenverkauf8 von Terminkontrakten einer großen Fondsgesellschaft verursacht worden sein soll. Die Finanzwelt kennt weitere Fälle wild gewordener Computer. Mit der Veröffentlichung seines Buchs „Flash Boys“ im Jahr 2014 hat Michael Lewis einen medienwirksamen Beitrag geleistet, die Merkwürdigkeiten des Blitzhandels zu beschreiben.

Die automatisierte Geldanlage ist in der Finanzwelt ein Top-Thema geworden. Der noch junge Fintech-Markt könnte zur Bedrohung für die traditionelle Bankenwelt werden. Das digitale Geschäftsfeld umfasst neben der Kontoführung und dem Geldtransfer auch die Geldanlage, die Beschaffung von Krediten und das Angebot von Versicherungen. In den neuen Markt sollen im Jahr 2015 weltweit bereits fünfundzwanzig Milliarden Euro investiert worden sein, vor allem im Silicon Valley und in New York. BlackRock, der größte Vermögensverwalter der Welt mit Sitz in New York, setzt Anlageroboter9 sogar als Standardangebot für Privatanleger ein. Dies soll auf Anleger zugeschnitten werden, die unter der für individuelle Beratung liegenden Vermögensschwelle liegen. Auch deutsche Banken springen auf diesen Zug auf und verstärken die Kooperation mit Fintech-Unternehmen.

In der Öffentlichkeit wird vor allem der Effekt der Beschleunigung und der Vereinfachung von automatisierten Bankgeschäften hervorgehoben. Ob die Entscheidungsfindung mittels vorprogrammierter Hebel der Technik auch Möglichkeiten zur Marktbeeinflussung bieten, scheint die smarte neue Welt nicht weiter zu belasten. Das gilt entsprechend hinsichtlich der Geringschätzung wichtiger Kommunikationsstandards wie Offenheit und Klarheit im Börsenhandel. Denn die Preisfindung an den Börsen verliert an Transparenz. Darauf deutet der hohe Anteil von gehandelten Aktien an nicht regulierten Börsen hin. Dieser Sektor wird als „Dark Trade“ bezeichnet. Nach Auskunft des Londoner Verbands der Chartered Financial Analysts (CFA) soll der Anteil am verschleierten Aktienhandel in Europa durchschnittlich bei vierzig Prozent, bei den großen Standardwerten wie dem Dax sogar bei fünfzig Prozent liegen.

Diese im Hintergrund tätigen Märkte müssen so gut wie keine Transparenzerfordernisse erfüllen.

Wird die automatisierte Geldanlage erst einmal zur Regel, verliert die menschliche Entscheidung an Bedeutung. Das klingt wie die Prophezeiung vom Kapital als sich auf beständig höherer Stufenleiter verwirklichendem Mechanismus? Es sieht so aus, dass der „besondere Charakter des Kapitals erst im Finanzkapital allgemein wird“ (Vogl 2011: 178). Gelten für das Kapital zunächst die Bestimmungen der Warenproduktion, wonach sich der Gebrauchswert in der Einheit von Produktion und Marktzirkulation verwirklichen muss (Ware → Geld → Ware und schließlich Geld → Ware → Δ Geld), scheint die kapitalistische Verwertung nun höheren Sphären entgegen zu streben. Die Devise heißt, die Vermehrung des Geldes direkt, also ohne die vermittelnde Phase der Produktion von Gebrauchswerten, zu bewirken (Geld → Δ Geld). Obwohl der Finanzüberbau vor über 120 Jahren im Vergleich zu heute nur rudimentär ausgeprägt war, ist dieser Begriff des Kapitals von Marx bereits auf den Punkt gebracht worden. Er beschreibt das Kapital als eigentümliche Ware10, die in der Lage ist, als Wert generierende Automatik aufzutreten und Wunder zu vollbringen. Indem Kapital als mit eigenem Leben begabte Gestalt erscheine, die das Marktgeschehen dominiere und kontrolliere, verwirkliche sich der Fetischcharakter der Warenwelt und des Geldes (Marx 1962: 87). Diese Eigenschaft des Geldes, als Kapital zu fungieren, hat sich mittlerweile auf einer viel höheren Entwicklungsstufe entfaltet. Als gelte es, die Befriedigung realer, lebensnotwendiger Bedürfnisse über den Markt zu toppen und zu den höheren Weihen der Wertgenerierung ohne lästige Zwischenphasen zu gelangen. Die Software lenkt nach kühlem Kalkül die Kapitalanlagen in die Welt der Aktien, Futures, Swaps und anderen derivativen Finanzprodukte, wenn dort die höhere Verwertung bei akzeptablem Risiko realisiert werden kann. Die Verwirklichung des Kapitals ist nicht notwendig auf die Erzeugung lebensnotwendiger Produkte angewiesen.

Ist das die Erfüllung des Verwertungswunsches quasi in Echtzeit? Diese Prophezeiung wohnt dem Ideal der Verwertung bereits in früheren Zeiten der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung inne. Goethe hatte als Minister in Weimar diesen Geist schon früh erkannt und in seinem Faust-Drama als neuzeitliche Alchemie gedeutet. Die Hexenküche der Alchemie verspricht nicht nur die Wiedererlangung der jugendlichen

Kräfte, sondern nun auch die Erzeugung künstlichen Goldes, die Goethe in die Nähe der Notengeldschöpfung am Kaiserhof stellt. Im Pakt mit dem Teufel verwirklicht sich die Vision der Verwandlung einer wertlosen künstlichen in eine wertvolle Substanz. Die natürlichen Begrenzungen der Produktion und der Zeit scheinen sich aufzulösen. Damit hat sich auch die Überzeugung verbreitet, als könnten die negativen Folgen der technischen Entwicklung mit den Mitteln der Technik überwunden und Wachstum ins Unendliche verstetigt werden. Der „Stein des Weisen der Wirtschaft“ ist mit dem Geldkapital geschaffen worden und mit ihm die Idee, dass alle Ressourcen der Erde in Geld verwandelt und mit künftigem Gewinn verkauft werden können (Binswanger 2009: 116).

„Das Übermaß der Schätze, das, erstarrt,

In deinen Landen tief im Boden harrt,

Liegt ungenutzt. Der weiteste Gedanke

Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke;

Die Phantasie, in ihrem höchsten Flug,

Sie strengt sich an und tut sich nie genug.

Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen,

Zum grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.

(Faust zum Kaiser / Goethe, Faust – Zweiter Teil, Zeile 6111–6118)

Im zweiten Teil des Faust-Dramas tritt neben dem Faktor der menschlichen Leistung die Magie als alchemistischer Kerngehalt der modernen Wirtschaft in Erscheinung. Mittels der Kraft der Imagination werden Banknoten aus dem Nichts geschaffen. Sie sind allein durch die noch nicht gehobenen Bodenschätze gedeckt und durch das Siegel des Herrschaftsverhältnisses legitimiert. Vorbild dieser magischen Schöpfung in der historischen Wirklichkeit ist die Gründung der Bank von England im Jahr 169411. Doch die Kreation von Papiergeld ist erst der Anfang. Faust strebt nach einem reichtumsmehrenden wirtschaftlichen Mechanismus, in dem das Notengeld mit dem Ziel der Hebung der Bodenschätze investiert und das tote, fixe Kapital wiederum in flüssiges Geldkapital verwandelt wird.

Im Augenblick der Schaffung eines sich beständig ausweitenden Wertschöpfungskreislaufs stößt Faust überwältigt die Worte aus „verweile doch! Du bist so schön“ (Goethe, Zeile 11582). Das Erlebnis dieses „höchsten Augenblicks“ bedeutet allerdings zugleich, dass Faust die Wette mit Mephistopheles verliert. Wirtschaftliches Handeln ordnet sich in dieser Perspektive der Suche nach dem künstlichen Gold unter. Und wer sich dieser künstlichen Welt verschreibt, droht von der Sucht ergriffen zu werden.

Goethe ist durchaus bewusst, dass der Schein der abgelösten Verwertung trügt. Geld verwandelt sich nicht unmittelbar in Geldkapital. Das fiktive Kapital bedarf der realen Produktion und Zirkulation von Waren, um neue Überschüsse zu generieren und den Kreislauf in Gang zu halten12. Auch Keynes hat diesen Aspekt in seiner Kreislaufformel des Kapitals13 aufgezeigt, um darauf hinzuweisen, dass die Generierung von Einkommen nur über die Verwandlung des Geldvorschusses in Produktivkapital zustande kommt, wobei die erwarteten Rückflüsse keineswegs als sicher gelten können. Das sich mittlerweile über globale Netzwerke hinweg erstreckende Getriebe der Generierung von Wert, in dem künftige Gewinne über eine Zeittransformation als gegenwärtige Ansprüche ausgewiesen werden, ist Gegenstand der Ausführungen in diesem Buch.

Der letzte wirtschaftliche Absturz erscheint rückblickend nur als Neubeginn einer munteren Rally von Kapitaleinsätzen und Pleiten. Da bleibt in der Öffentlichkeit wenig Zeit für Aufarbeitungen und Justierungen. Neuer Einsatz ist angesagt. Fusionen und weltweite Kooperationen kennzeichnen wieder das schillernde Spiel der Märkte. Krisenerfahrungen sind schnell verdrängt. Erinnern wir uns für einen Moment. Die große Rezession der Jahre 2007/2008 ist noch nicht allzu lange her. Die Krise äußerte sich zunächst auf dem U.S.-Immobilienmarkt, wo eine Spekulationsblase platzte und Hauspreise abstürzen ließ. Die Kreditschulden vieler amerikanischer Haushalte waren plötzlich nicht mehr durch den Wert ihrer Immobilien abgesichert. Dies stürzte nicht nur Millionen von amerikanischen Hausbesitzern ins Unglück, sondern führte im Weiteren zu Verlusten bei amerikanischen und europäischen Finanzinstituten und schließlich zum Kollaps des U.S.-Bankgiganten Lehmann Brothers im Jahr 2008. Die Realwirtschaft, über Kredite und Finanzanlagen mit den Banken verknüpft, wurde darauf ebenso in Mitleidenschaft gezogen.

Was zunächst als Finanzkrise begonnen hatte, drohte wegen der Vernetzung der Großbanken untereinander die Weltwirtschaft in einen Abwärtsstrudel zu reißen. Hierbei spielten komplexe Finanzprodukte (Asset Backed Securities) eine unrühmliche Rolle. Anders als im klassischen Modell der Banken vorgesehen, wurden vor der Finanzkrise die an Bankkunden vergebenen Kredite nicht mehr primär über die Einlagen privater Haushalte, sondern immer stärker über die Verbriefung von Krediten refinanziert. Unter den Finanzinstitutionen kursierte ein lebhafter Markt für Wertpapiere, die durch Verbriefungen14 aber nur scheinbar abgesichert waren. Kredite wurden nach verschiedenen Güteklassen zusammengefasst, in handelbare Wertpapiere verwandelt und von den Banken in alle Welt verstreut. Es handelte sich um eine wundersame Verlängerung der fiktiven Wertpapierkette, die den tatsächlichen Wertgehalt dieser Wertpapiere immer mehr vernebelte. Ratingagenturen verdienten an diesem Geschäft prächtig und statteten die neuen Wertpapiere bedenkenlos mit der Bestnote „triple A“ aus. So wurden diese Papiere im globalen Maßstab massenhaft zwischen den Finanzinstituten gekauft und weiterverkauft. Zum Käuferkreis gehörten Zentralbanken verschiedener Länder, amerikanische Pensionsfonds, deutsche Landesbanken und andere Investitionsfonds.

Die „Finanzinnovation“ schien mit dem Mittel der Verbriefung in der Lage, vorhandene Kreditrisiken auf die Masse der Akteure umverteilen und auf diesem Pfad einfach in Dunst auflösen zu können. So zumindest der Traum vieler Banker. Doch mit dem Einsatz von Strategien zur Absicherung von Finanzgeschäften – auch Hedging genannt – werden Risiken mit Risiken versichert und das Gefährdungspotential verbreitet sich im globalen Maßstab. Das Kartenhaus fiel in der letzten großen Krise in sich zusammen, als Kreditschuldner ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten und sich die neu geschnürten Wertpapiere als nicht werthaltig erwiesen. In dieser Situation wurde das Risiko als zu groß erachtet, Großbanken in die Pleite zu schicken. Statt kriselnde Institute für ihre Fehlkalkulationen haften zu lassen, entschlossen sich die Regierungen in den USA und Europa, Banken mit frischem Kapital zu retten. Dies trieb im Endeffekt die Verschuldung in diesen Staaten weiter nach oben. Allein in Deutschland kostete die Bankenrettung seit 2008 den Steuerzahler gemäß den Berechnungen der Deutschen Bundesbank 236 Mrd. Euro. Und die Verluste auf den globalen Finanzmärkten wurden vom IWF im Jahr 2009 auf vier Billionen US Dollar geschätzt.

Wie sich die Wirtschaft weiter entwickeln wird, kann naturgemäß niemand genau vorhersagen. Es lassen sich aber Risikobereiche eingrenzen. Die Rahmendaten des wirtschaftlichen Handelns auf den Märkten sind insbesondere seit den 1990er Jahren unübersichtlich und heikel. Parallel zur wachsenden finanziellen Verflechtung der Staaten und Unternehmen sind über Ländergrenzen hinweg gewaltige Ungleichgewichte entstanden, die in der Gegenüberstellung von Güter- und Dienstleistungsströmen sowie im Kapitalverkehr der Staaten zum Ausdruck kommen. Dahinter verbergen sich Überschüsse und Defizite in den Leistungsbilanzen sowie korrespondierende Kapitalexporte und -importe der einzelnen Länder. So wird z.B. das Leistungsbilanzdefizit der USA15, das sich auf ein riesiges Handelsbilanzdefizit mit der Welt zurückführen lässt, finanziert durch Nettokapitalzuflüsse aus anderen Staaten, die in ihren Leistungsbilanzen Überschüsse aufweisen. Allein die USA haben 44% des weltweiten Gesamtdefizits zu verantworten. Die wirtschaftliche Führungsmacht des Westens lebt von Kapitalzuflüssen16 aus dem Rest der Welt. Ohne diesen Kapitalsog könnte das globale Zusammenspiel von Gütertransfers und Kapitalbewegungen nicht funktionieren.

Im Rahmen des seit 1973 bestehenden Systems flexibler Wechselkurse17 und dem Wegfall von Beschränkungen des Kapitalexports bestehen beste Bedingungen für die Entfaltung der Finanzmärkte im globalen Maßstab. Deregulierungen tragen seitdem zur Explosion der Geldbasis und der Kreditgeschäfte bei. Der globale Kapitalkreislauf erstreckt sich im wesentlich auf ein engmaschiges Netz von Handelsknoten in den Industrie- und Schwellenländern. Die USA und China, aber auch Länder wie Japan, Südkorea, Deutschland und einige erdölexportierende Länder spielen dabei eine bedeutende Rolle. Um die wechselseitige Abhängigkeit zwischen China und den Vereinigten Staaten hervorzuheben, ist von Wirtschaftsexperten der Begriff „Chimerica“ geprägt worden. China hat Dollarreserven im großen Umfang aufgehäuft, die eine zentrale Rolle bei der Finanzierung von U.S.-Treasury Bonds spielen. Die amerikanische Notenbank weist Staatsanleihen im Umfang von mehr als 6 Billionen Dollar aus, die sich in ausländischen Händen befinden. China ist der größte Gläubiger der USA mit Treasuries im Wert von 1,1 Billionen Dollar.

Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse einzelner Länder sind zwar kein neues Phänomen, sie haben aber seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Wie durch einen Magneten angezogen, bindet der Kapitalkreislauf die Defizit- und Überschussländer, Schuldner und Gläubiger, zu einem Bündel zusammen. Sie sind aufeinander angewiesen, aber die Verbindungslinien sind keineswegs stabil. Noch steht dem riesigen amerikanischen Schuldenberg eine Wirtschaft mit leistungsstarken Weltunternehmen gegenüber, so dass keine Anzeichen für eine Zahlungsunfähigkeit der USA erkennbar sind. Doch bergen die Ungleichgewichte im Welthandel ein erhebliches Risiko18. Bislang sind die Überschussländer zu Finanztransfers in die USA bereit. Dies gilt solange, wie die Vereinigten Staaten von Anlegern als sicherer Hafen angesehen werden. Aber das komplexe Getriebe der globalen Finanz- und Güterströme kann bereits durch kleine Störungen blockiert werden. Die Folgen wären weltweit zu spüren.

Im Gestrüpp der Finanzströme vervielfältigt sich die Anzahl der Unsicherheitsmomente weiter. Wie die expansive Geldpolitik in den USA, Großbritannien, Japan und der Euro-Zone zu beurteilen ist, wird kontrovers diskutiert. Vor dem Hintergrund schwacher Inflationserwartungen konzentrierten sich die Zentralbanken im letzten Jahrzehnt auf das Ziel, eine deflationäre Spirale nach unten abzuwenden und die Wirtschaft auf Kurs zu halten. Das von den Banken verteilte billige Geld stärkte aber die realwirtschaftlichen Investitionen nur zum Teil. Es trug auch zur Preisexplosion von scheinbar risikolosen Vermögenswerten wie Immobilien und Aktien bei. Investitionen im Bereich der Finanz- und Immobilienmärkte werden im Horizont vieler Kapitalanleger als die vorteilhafteren Anlagen eingeschätzt. Seit der letzten großen Finanzkrise 2007/2008 sind die Aktienkurse besonders in den USA, aber auch in anderen Ländern, nach oben getrieben worden. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat seitdem mehrfach vor der Entstehung einer neuen Spekulationsblase gewarnt.

Für Investoren ist der Immobilienmarkt von großer Bedeutung. Es handelt sich um einen Spezialmarkt, der sich durch eine geringe Fähigkeit auszeichnet, sich an Marktveränderungen anzupassen. In der Regel überwiegt die Konkurrenz auf Seiten der Nachfrage nach Immobilien und sorgt so für eine relativ stabile Entwicklung der Preise. Die Immobilie gilt zudem als wichtiger Vermögenswert im Rahmen von Kreditgeschäften. Denn die Finanzierung von Realkrediten wird durch Grundpfandrechte gesichert. Solange die Immobilienpreise steigen, vergeben Banken problemlos Kredite an Investoren und Konsumenten. Dies beeinflusst wiederum den Verlauf der Konjunktur in Ländern mit einem hohem Anteil an Grundstückseigentum19. Bei steigenden Immobilienpreisen wächst der Umfang der Konsumentenkredite, im umgekehrten Fall trübt sich die Konsumlaune ein. Immobilienpreise in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland steigen seit der letzten Finanzkrise kontinuierlich an.20 Das gilt insbesondere für die Ballungsräume.