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in memoriam
Helga Grebing
und
Peter Glotz

Klaus Wettig

Reformen wagen

Kommentare zum
Wiederaufstieg der SPD

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55 • D-35037 Marburg

www.schueren-verlag.de

© Schüren Verlag 2019

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Erik Schüßler

Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Frechen

ISBN 978-3-7410-0263-2

eISBN 978-3-7410-0092-8

Inhalt

Einleitung

Nach unten gibt es keine Bremse

Der Wandel der Wählerschaft

Die weißen Flecken wachsen

«Wir können Wahlkampf!» – können wir Wahlkampf?

Die innere Führung der SPD nach 1998

Gabriel ante portas?

Die Partei der Generalsekretär*innen

Die zweite Reihe

Mein Ortsverein. Nirgendwo?

Was brauchen wir Sachverstand?

Ochsentour und Stallgeruch

Was lösen Urwahl, Mitgliederbefragung und Mitgliedervotum?

Eine vergebene Chance

Exkurs I
Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985

Exkurs II
Das Walter-Maurer-Papier: Weichenstellen zur Mehrheitsfähigkeit

Exkurs III
Perestroika in der SPD

Stilfragen

Ungepflegte Politikfelder

Der Einbruch des Neoliberalismus

Grundsatzprogramm studieren oder neu entwerfen, das ist die Frage?

Die Ratgeber*innen

Was tun?

Kurzbiografien

Über den Autor

Einleitung

Warum ein Buch über den Zustand der SPD? Warum machte ich mir diese Mühe in einem heißen Sommer, in dem außerdem die morgendliche Zeitungslektüre regelmäßig Missstimmung auslöste? Ich konnte nicht erwarten, dass der Sommer des politischen Missvergnügens sich im Herbst und Winter nicht fortsetzte. Warum schreibe ich trotzdem, warum versammele ich meine Erfahrungen aus Jahrzehnten politischer Mitarbeit in der SPD – in sehr verschiedenen Funktionen – zu einem Text, obwohl ich gelernt habe, dass es eine Kultur des weiter so in der SPD gibt? Eine Kultur, die sagt: Das haben wir doch immer so gemacht. Da könnte ja jeder kommen. Das machen wir auch weiter so.

Nach über 50-jähriger Mitgliedschaft in der SPD bestürzt mich die seit Jahren dramatisch anwachsende Schwäche der SPD, mich bestürzt auch die Schwäche der SPD-Führungen, die außer hektischen Aktionen in der Ära Gabriel keine Antwort auf Wähler*innen- und Mitgliederverluste fanden. Ein historisches Zitat könnte zutreffen: Die Führung in der Zirkuskuppel, ratlos.

Obwohl in den 1980er-Jahren bei Landtagswahlen verloren gegangene Positionen zurückerobert werden konnten, sogar einige Bundesländer erstmals sozialdemokratische Regierungen erhielten, erreichte die SPD den 1972 erreichten Stand nicht wieder. Eine Ausnahme ist die Bundestagswahl 1998, als das Zusammentreffen von mehreren günstigen Faktoren einen Wahlsieg bewirkte. Tatsächlich täuschte das Wahlergebnis über die nach wie vor bestehenden strukturellen Probleme der SPD, was nachfolgende Wahlen schnell bestätigten. Das Wahlergebnis von 2002 war erträglich, immerhin blieb die SPD knapp vor der CDU/CSU, was ihr nach 1972 nie gelungen war, doch der Abschwung war erkennbar, und er setzte sich bei Landtags- und Bundestagwahlen fort.

Eine in den 1970er-Jahren beginnende Langzeitanalyse zeigt die programmatischen und organisatorischen Schwächen der SPD. Sie fand keine Antwort auf die ökologische Frage, was zu den Verlusten an die neue Partei Die Grünen führte, sie handelte unsicher in der wirtschaftlich-sozialen Frage der Globalisierung und beantwortete sie dann unter Gerhard Schröder fehlerhaft mit der Übernahme von neoliberalen Positionen, die den Markenkern der SPD, ihre soziale Zuverlässigkeit, erodieren ließen.

In mehreren Bundestagswahlen wurde die SPD vernichtend geschlagen, auch bei den Landtagswahlen überwogen die Niederlagen.

Die große Schieflage wurde immer wieder durch kleinere Probleme verschärft, nicht zuletzt hielt der permanente Wechsel im SPD-Vorsitz, der 1987 mit dem Rücktritt von Willy Brandt begann, die Partei in Unruhe. Zwölf Vorsitzende in 30 Jahren, das war zu viel, zumal davon Sigmar Gabriel allein acht Jahre abdeckte, wenn auch als erfolgloser Vorsitzender: eher als Problemeschaffer, denn als Problemelöser.

Die SPD muss sich programmatisch neu aufstellen, was nicht verlangt, dass sie sich auf den mühsamen Weg zu einem neuen Parteiprogramm begibt. Sichten des Bestandes, Korrekturen von Fehlern, Überprüfen der Tagespolitik auf allen Ebenen sollten dafür in der ersten Runde ausreichen.

Dringender ist die Generalüberholung ihrer Organisation. Vieles ist hier alt und funktioniert seit der Rückkehr aus dem Parteiverbot durch die Nazis. Gar nicht wenig hat sich seit 1945/46 gewandelt. Dass die SPD in der Organisation für das 21. Jahrhundert unzureichend aufgestellt ist, bestimmte schon die Reformdiskussion im ausgehenden 20. Jahrhundert, doch gehandelt wurde selten. Die ständige Diskontinuität in der Parteiführung ließ Reformansätze versanden. Der Stillstand in der Parteireform ist eine Ursache für die gegenwärtige Lage der SPD, deshalb beschäftigt sich dieses Buch mit den Versäumten Reformen. Wären sie geschehen, stünde die SPD heute besser da, einen Teil der negativen Auswirkungen der Ära Schröder hätten sie auffangen können. Reformiert Euch! heißt daher mein Aufruf.

Völlig ratlos war die SPD-Führung nach deutlichen Wahlverlusten sicher nicht, sie bot Analysen an, deutete die Wahlanalysen von infratestdimap noch einmal aus, kündigte Änderungen an, beriet sogar in Klausurtagungen über den weiteren Kurs, doch zeigte eine Nachprüfung ein/zwei Jahre später: Es blieb alles beim Alten. Das Göpelwerk der Tagespolitik hatte die grundsätzlichen Überlegungen überdeckt, verdrängt; bis die nächste Wahlniederlage zu kommentieren war. Erneut gab es ein Erschrecken, doch wiederum bestimmte die folgenlose Analyse das Handeln.

Setzt man die Sonden tiefer an, sucht man orientiert an infratestdimap und weiteren Daten der Demoskopie, den Daten der Sozial- und Wahlstatistik nach Erklärungen für den Wähler*innenschwund der SPD, dann muss man um Jahrzehnte zurückgehen, denn der Wandel in der SPD-Wählerschaft begann schon bald nach dem großartigen Wahlsieg von 1972, als sie mit 45,8 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielte. In den folgenden Jahren wurde erkennbar, dass die sozialdemokratischen Traditionswähler*innen an Zahl abnahmen. Bestimmte Industriezweige mit gutem gewerkschaftlichen Organisationsgrad schrumpften, verschwanden in ihrer herkömmlichen Produktionsweise und in den anwachsenden Dienstleistungsbetrieben mühten sich die Gewerkschaften, fehlte es an Bindung zur Sozialdemokratie. Erkannt wurde dieses Problem schon, doch ein Rezept dagegen wurde nicht gefunden. Das fehlende Rezept bedeutete aber: weiteres Schrumpfen des SPD-Potenzials.

Das zweite Problem erzeugten und erzeugen die neuen Wählerschichten, die die gewandelte SPD nach Godesberg gewann, die zu den Erfolgen 1969 und 1972 wesentlich beitrugen. Die Traditionspartei SPD konnte das 1972 erreichte Niveau nicht halten, hier rieben sich traditionelles Programm und traditionelles Verhalten mit den Erwartungen der neuen Wähler*innen, auch mit den Erwartungen der in großer Zahl zugeströmten Mitglieder. Am deutlichsten zeigte sich dieses Ende der 1970er-Jahre, als mit der schrittweisen Parteibildung der Grünen die SPD zunächst Mitglieder und schließlich Wähler*innen verlor. Ohne diese ehemaligen SPD-Mitglieder wäre die Parteibildung der Grünen schwieriger verlaufen, ohne die ehemaligen SPD-Wähler*innen ihr Sprung in die Parlamente gescheitert. Die SPD brachte hier zur Stützung des Kurses von Helmut Schmidt, für den Erhalt der Sozialliberalen Koalition, ein großes Opfer.

Mein Rückblick auf fast 50 Jahre sozialdemokratischer Organisationspolitik, gestützt auf persönliche Beteiligung, bewertet die Versäumten Reformen, mit denen die SPD auf den Wandel der Industriegesellschaft, der einen Wandel ihrer Anhänger*innenschaft auslöste, hätte antworten sollen. Die Antwort wurde versäumt und damit begann ihr Abstieg.

Mein Buch ist keine Abrechnung, obwohl ich in einigen Kapiteln Verantwortliche benenne. Ich wollte kein Insider-Pamphlet schreiben, das von der Absicht getragen ist, indiskret und verletzend zu sein. Meine Hoffnung ist, dass ich Anstöße gebe, die erkannte Fehler im Projekt SPD. erneuern vermeiden und die zum Erfolg dieses ehrgeizigen Projektes führen. Scheitert SPD.erneuern wie die Vorgänger-Projekte, verläuft alles im Sande, landen Reformpapiere wiederum im Papierkorb, dann läutet nicht das Sterbeglöckchen für die SPD, doch mit ihrem Anspruch auf politische Führung in der Bundesrepublik Deutschland dürfte es für lange Zeit oder sogar endgültig vorbei sein. Sie teilte damit das Schicksal von Schwester- und Bruderparteien.

Dieses Ergebnis wäre für die Bundesrepublik fatal. Eine starke Sozialdemokratie war über 150 Jahre von außerordentlicher Bedeutung für die Entwicklung der sozialen Demokratie vom Kaiserreich bis zur heutigen Bundesrepublik. Die freiheitliche deutsche Republik ist ein Werk der Sozialdemokratie, sie braucht weiterhin eine starke Sozialdemokratische Partei. Wenn meine Analysen und meine Vorschläge dazu beitragen, hätte sich meine Arbeit für dieses Buch gelohnt.

Ich habe vielen zu danken, die mir bei Gesprächen offen geantwortet haben. Mit wenigen Ausnahmen hat sich niemand meinen Fragen verweigert. Meine Frau und ich verfügen über ein gepflegtes Archiv, das wir schon in den 1970er-Jahren begannen, trotzdem war die Hilfe des Politischen Archivs beim Willy-Brandt-Haus und des Archivs der sozialen Demokratie notwendig. Dafür herzlichen Dank.

Göttingen/Berlin, im Januar 2019

Nach unten gibt es keine Bremse

Die Landtagswahlen seit 1998

Die SPD an der Macht in Bonn/Berlin trieb die Länder-SPD und die kommunale SPD von 1998 bis 2009 in eine 11-jährige Serie von Wahlniederlagen, mitunter eine schwerer als die andere. Sie verlor die Landesregierungen im Saarland, in Niedersachsen, in Hessen und in Schleswig-Holstein, die sie im Zeitraum von 1985 bis 1991 erkämpft hatte. Nur in Schleswig-Holstein blieb sie 2005 zunächst als Juniorpartner einer Großen Koalition in der Regierung, verlor jedoch darauf an eine schwarz-gelbe Koalition. 2012 kehrte sie mit einer rot-grünen Koalition an die Regierung zurück, die sie erneut 2017 verlor.

Im sozialdemokratischen Stammland Hamburg, wo die SPD mit einer kurzen Unterbrechung (1954–1958) stets den Ersten Bürgermeister stellte, erlitt die SPD 2001 eine schwere Niederlage, die sie bis 2011 nicht ausgleichen konnte. Erst Olaf Scholz gelang 2011 ein Wahlsieg, den er 2015 wiederholte, jedoch mit Verlust der wieder gewonnenen absoluten Mehrheit.

Auch Nordrhein-Westfalen – seit 1966 ein Stammland der SPD, dessen Wählerschaft der SPD bei Bundestagswahlen stets treu geblieben war – ging der SPD verloren. Nachdem schon Wolfgang Clement 2000 in der Rau-Nachfolge ein sehr schlechtes Ergebnis erreicht hatte, scheiterte sein Nachfolger Peer Steinbrück 2005. Nach 39 Jahren gab es in NRW wieder eine CDU-Regierung. Eine Rückkehr gelang unter Hannelore Kraft 2010, doch halten, wenn möglich sogar ausbauen, konnte die NRW-SPD ihre Position nicht. Es bleibt für mich ein Rätsel, dass weder die SPD-Führung in Düsseldorf noch in Berlin reagierte, als im Sommer 2016 – ein Jahr vor der Landtagswahl – die Medien den Abgesang auf die rot-grüne Koalition anstimmten.

Verteidigen konnte die SPD ihre Regierungsführung in den westlichen Bundesländern nur in Bremen und in Rheinland-Pfalz. In Bremen behauptete die SPD zunächst nur mit einer Großen Koalition die Regierungsführung, ab 2007 bildete sie eine rot-grüne-Koalition, unübersehbar ist der Wählerschwund der SPD in der Zeit seit 1988 (1987: 196.903 Stimmen, 50,5 %; 2007: 101.290 Stimmen, 36,72 %; 2015: 383.509 Stimmen (5 Stimmen durch Wahlrechtsreform), 32,8 %), auch in Bremen bestimmte der Vertrauensverlust sozialdemokratischer Politik die Wahlergebnisse.

Allein Rheinland-Pfalz koppelte sich von diesem Negativ-Trend ab. Das 1991 von Rudolf Scharping erstmals für die SPD eroberte Land, seit 1947 hatte stets die CDU die Ministerpräsidenten gestellt, die SPD war seit 1951 nicht mehr an der Regierung beteiligt gewesen, wurde von seinem Nachfolger Kurt Beck in zwei Landtagswahlen nicht nur verteidigt. 2006 errang Kurt Beck sogar die absolute Mehrheit der Sitze mit 45,6 %. Gehalten wurde dieses Ergebnis nicht, doch blieb die SPD in späteren Wahlen die stärkere Partei. Malu Dreyer verteidigte schließlich Rheinland-Pfalz.

In Niedersachsen, das nach dem Sturz der SPD-Regierung 1976 von Gerhard Schröder 1990 zurückgewonnen wurde und nach zwei glänzenden Wahlsiegen 1994 und 1998 wieder als SPD-Stammland galt, ruinierte die kurze Ministerpräsidentenzeit von Sigmar Gabriel die SPD 2003 für 10 Jahre. Die schwerste Niederlage seit 1947, die die SPD unter seiner Führung erlitt (-14,5 %) wurde bei der Landtagswahl 2008 noch getoppt. Mit nur noch 30,3 % nahm sie den Niedergang der SPD auf Bundesebene vorweg. Aber die niedersächsische SPD kam zurück. Sie arbeitete die Verstörungen der Gabriel-Zeit ab, überwand auch einen verstolperten Skandal in der Zeit ihres Übergangs-Vorsitzenden Garrelt Duin und gewann 2013. In einem die Partei mobilisierenden Kandidatenwettbewerb entschied sie sich für den erfolgreichen Oberbürgermeister Hannovers Stephan Weil als Spitzenkandidaten. Knapp, aber regierungsfähig, gestaltete dann eine rot-grüne Koalition die niedersächsische Politik für fünf Jahre.

Obwohl im Sommer 2017 diese Koalition schon abgeschrieben war, handelte die SPD nach dem Übertritt einer Abgeordneten der Grünen zur CDU richtig, indem sie nach Verlust der Regierungsmehrheit die Auflösung des Landtags und Neuwahlen durchsetzte. Die Landes-CDU konnte sich der Neuwahl-Forderung nicht widersetzen, doch fürchtete sie den Kaltstart in den Wahlkampf. Ihr Ministerpräsidenten-Kandidat, der dem Landtag nicht angehörte, besaß nur einen schwachen Bekanntheitsgrad und ihm unterliefen taktische Fehler. Nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahl, das auch für die Niedersachsen-SPD unbefriedigend ausfiel, mobilisierte die Landespartei ihre Organisationskraft und bewies, dass ihre Strukturen nicht so angeschlagen waren wie andernorts. Einen zusätzlichen Schub erhielt sie von ehemaligen Wähler*innen der Grünen, die verunsichert auf die Jamaika-Verhandlungen ihrer Bundespartei reagierten. In ihren Hochburgen verloren die Grünen deutlich an die SPD. Eine Besonderheit zeigte sich in Wahlkreisen mit hoher Beschäftigtenzahl in VW-Betrieben, wo die Verkaufsforderung aus CDU und FDP für die Landesanteile am VW-Konzern Unruhe ausgelöst hatte: Sie fielen sämtlich an SPD-Kandidaten.

In den neuen Bundesländern verlief die Wahlentwicklung für die SPD in der rot-grünen Ära deutlich negativ: Sachsen-Anhalt konnte nach zwei Wahlperioden SPD-geführter Landesregierungen nicht gehalten werden und fiel 2002 erneut an die CDU. Als Junior-Partner in einer Großen Koalition stellt die SPD seitdem weiterhin Minister.

Vergleichbar ist die Entwicklung in Brandenburg, wo im Zeitraum nach 1998 die Dominanz der SPD verloren ging und 2004 die Regierungsführung nur in einer Großen Koalition gerettet werden konnte. 2019 stellt sich aus einer rot-grünen Koalition eine deutlich bedrohte SPD der Wiederwahl.

Mit Brandenburg ist Mecklenburg-Vorpommern ein Stammland der SPD unter den neuen Bundesländern geworden, jedoch steht die SPD dort vor einem schweren Landtagswahlkampf, Manuela Schwesig muss die dritte Ministerpräsidentschaft der SPD verteidigen, was angesichts des Abschwungs der SPD im letzten Jahrzehnt eine außerordentliche Anstrengung verlangt.

In Sachsen und Thüringen schaffte die SPD die Regierungsbeteiligung stets nur als Juniorpartner in CDU-geführten Landesregierungen. Obwohl die CDU-Regierungen immer wieder Schwächen zeigten, profitierte die SPD davon nicht.

In den neuen Bundesländern schwächte die PDS – schließlich Die Linke – seit 1990 stets die Position der SPD. Jetzt ist als weitere Konkurrenz die Alternative für Deutschland (AfD) hinzugekommen, die bei einer Landtagswahl und der Bundestagswahl die SPD deutlich überholt hat. Die Runde der Landtagswahlen 2019 entscheidet viel über das Programm Aufbau Ost der SPD, möglicherweise steht danach alles auf Neuanfang.

Literatur

Manfred Güllner: Der vergessene Wähler – Vom Aufstieg und Fall der Volksparteien, Marburg 2017, Tectum Wissenschaftsverlag

Heinz Thörmer / Edgar Einemann: Aufstieg und Krise der Generation Schröder. Einblicke aus vier Jahrzehnten, Marburg 2007, Schüren

S. auch S. 19.

Der Wandel der Wählerschaft

Das Ergebnis der Bundestagswahl 1976 demonstrierte die Mängel im sozialdemokratischen Politiksystem. Der Verlust von 3,2 Prozent auf das herausragende Ergebnis von 1972 verlangte nach Erklärung. Vordergründig konnte einiges vorgebracht werden: Die Konjunktur war nach dem Ölpreisschock von 1973 eingebrochen. Der ÖTV-Streik und der Fluglotsenstreik 1974 ließen die Bundesregierung begrenzt handlungsfähig erscheinen. Schließlich kam Anfang Mai der Rücktritt Willy Brandts. Der Nachfolger Helmut Schmidt trat mit einem Regierungsprogramm an, das andere Akzente zur Politik Willy Brandts setzte. Die Antwort der SPD-Organisation fiel unsicher bis kritisch aus. Jedenfalls verstummte die innerparteiliche Kritik nicht, obwohl der einstimmige Beschluss des OR ’85 auf dem Parteitag in Mannheim 1975 die SPD auf einen Konsenskurs verpflichtet hatte. Der Absturz der Niedersachsen-SPD bei der Landtagswahl 1974 zeigte überraschende Schwächen bei der Wählerbindung an. Im Februar 1976 folgte dann ein Debakel in Niedersachsen, als die SPD/FDP-Koalition bei der Neuwahl eines Ministerpräsidenten scheiterte und überraschend der CDU-Kandidat Ernst Albrecht aus den geheimen Wahlen als Sieger hervorging. Mit dem Untergang der SPD/FDP-Regierung ging auch die Bundesratsmehrheit der Sozialliberalen Koalition verloren. Das Regieren in der Bundesrepublik wurde seitdem von der Union mitbestimmt.

Die Union hatte 1973 unter dem neuen Vorsitzenden Helmut Kohl sehr schnell Tritt gefasst. Mit den von dem neuen Generalsekretär Kurt Biedenkopf ausgehenden Impulsen gelang der CDU mit der CSU ein Wahlkampf, der von Modernität und Aggressivität bestimmt war. In dem stark polarisierenden Wahlkampf konnte die SPD zwar finanziell mithalten, doch die Union glich die Schwächen des Jahres 1972 deutlich aus. Sie nahm der SPD allein 16 Direktmandate ab und mit ihrem Zugewinn von 3,7 Prozent streifte sie knapp die Kanzlermehrheit. Die schwere Niederlage von 1972 war ausgeglichen, nur die Koalitionstreue der FDP sicherte Helmut Schmidt die Kanzlerschaft.

Das Wahlergebnis von 1976 ließ sich nur so deuten, dass die Organisationsarbeit der SPD, die mit dem OR ’85 als Vertrauensarbeit bezeichnet wurde, nicht ausreichend gegriffen hatte. Die neu aufgestellte Union, die zu einem aggressiven Politikstil motiviert war, hatte die SPD-Wählerschaft von 1972 erschüttert.

In einer sorgfältigen Wahlanalyse – der Börner/Koschnick-Studie – wurden die Gründe für die Wahlverluste benannt, darunter der beunruhigende Verlust bei den ungelernten und angelernten Arbeitern: – 6 Prozent wurden festgestellt, während bei den gewerkschaftlich organisierten Facharbeitern der SPD-Anteil konstant blieb. Und es gab auch die kritische Feststellung: «Die SPD hat allen Grund, sich mit der eigenen Organisation zu beschäftigen.» Was jedoch nicht in umfassender Weise geschah (s. S. 67). Die Namen Holger Börner und Hans Koschnick verliehen der Studie Gewicht. Börner war von 1971 bis zur Bundestagswahl 1976 Bundesgeschäftsführer gewesen, hatte zwei erfolgreiche Bundestagswahlkämpfe geleitet und galt als intimer Kenner der SPD-Organisation. Koschnick war aus der Gewerkschaftsarbeit kommend in der SPD aufgestiegen, seit 1968 war er Erster Bürgermeister und Chef des Senats in Bremen und 1975 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD geworden. Trotz der Prominenz der Autoren blieb die Studie überraschend folgenlos, sie teilte das Schicksal des Kapitels Vertrauensarbeit aus dem ein Jahr zuvor beschlossenen OR ’85: kurz diskutiert, zur Kenntnis genommen, abgelegt, zur Tagesarbeit zurückgekehrt.

Die Rückkehr der Union in die Bundesregierung hätte schon 1980 erfolgen können, wenn statt Franz Josef Strauß ein vermittelbarer Kanzlerkandidat mit Helmut Schmidt konkurriert hätte. Strauß konnte nördlich des Mains nicht für die Union punkten, für die FDP war er als Bundeskanzler unakzeptabel. Alles in allem war das SPD-Ergebnis mit 42,9 Prozent zufriedenstellend, bis zu Gerhard Schröders Wahlsieg 1998 blieb es über mehrere Bundestagswahlen unerreicht.

In ihrer Wählerschaft begegnete die SPD ab 1980 einem zweiten Problem, das sie seitdem in jeder Wahl mit unterschiedlicher Wirkung, inzwischen aber mit beachtlichen Verlusten verfolgt: Die Konkurrenz durch die Partei Die Grünen schwächt die SPD bei Landtags- und Bundestagswahlen, macht diese erste erfolgreiche Parteigründung seit 1949 zu einer schwierigen Konkurrenz, die man bekämpfen müsste, die mit zunehmender Existenzdauer jedoch zu einem notwendigen Koalitionspartner wird.

In ihrer chaotischen Parteigründungsphase gelang der Grünen-Partei erstmals in Niedersachsen bei der Landtagswahl 1978 ein Überraschungserfolg. Da er aus einem kurzen Vorlauf und fast ohne Wahlkampf erzielt wurde, deutete er auf ein schlummerndes Potenzial hin, das aus der SPD-Anhängerschaft kommen könnte. In mehreren Analysen wies ich damals auf diese Gefahr hin, doch außer zustimmendem Interesse, dass ich wohl Recht haben könnte, gab es keine politische Antwort aus der SPD-Führung.

Nach 1978 wäre es noch möglich gewesen, durch eine entschiedene Korrektur in der Kernenergiepolitik die Parteibildung von Die Grünen und ihre anwachsenden Wahlerfolge zu begrenzen. Die Parteiwechsler*innen von der SPD halfen ihnen beim Aufbau ihrer Parteiorganisation, was die organisationstrainierten ehemaligen Maoisten und die heimatlosen Linken wohl nicht so schnell geschafft hätten. Mit dem Einzug in das Europäische Parlament 1979 und in den Bundestag 1980 sowie in Landtage und kommunale Vertretungen verfestigte sich die Parteibildung, sodass Die Grünen zum Dauerkonkurrenten der SPD wurden. In den Auseinandersetzungen über die Stationierung von Mittelstreckenraketen erfuhr die SPD in der Zeit des 3. Kabinetts Schmidt in den 1980er-Jahren einen weiteren Verlust an Die Grünen.

Als die Sozialliberale Koalition 1982 zerbrach, konnte aus den Wahlergebnissen gelesen werden, dass wegen der Abwanderung in einem Arbeitnehmersegment und den Verlusten von Wähler*innen mit hoher Berufsqualifikation ein Wahlergebnis über 40 Prozent nicht so leicht erreichbar sein würde. Die Wahlergebnisse bei Bundestags- und Europawahlen in den 1980er-Jahren zeigten diese Wahlschwäche der SPD überdeutlich. Ausnahmen gab es nur bei Landtagswahlen, wo mit anderen Programmakzenten und neuem Personal die Wiedererholung der SPD gelang.

Am Ende der Ära Schmidt wurde die SPD-Führung in einen verbissenen Streit über den Kurs der Partei durch eine Gruppe von Altgenoss*innen verwickelt. Angezettelt von der ehemaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger hatte der renommierte Politologe Richard Löwenthal ein Sechs-Thesen-Papier Zur Identität der Sozialdemokratie verfasst, das die Führung zu Kurskorrekturen aufrief. Ehemalige Bundesminister und vor allem aktive Gewerkschaftsvorsitzende hatten ebenfalls unterschrieben. Sie forderten den Abstand «zu ausufernden ökologischen Forderungen» und verlangten eine Entscheidung «… für die große Mehrheit der Berufstätigen gegen die Randgruppe der Aussteiger.» Man musste das Thesenpapier als Pronunciamiento gegen den Vorsitzenden Willy Brandt lesen, der damals einen langsamen Kurs der Umorientierung einleitete. Die Thesen fanden wenig offene Zustimmung in der SPD, wurden in ihrer sozialwissenschaftlichen Begründung und politischen Schlussfolgerung vielfach widerlegt, doch konnte die teils verbissen geführte Diskussion ein Problem nicht lösen: Wollte die SPD-Führung einen großen Sprung auf dem Weg der Versöhnung von Industriepolitik und Ökologie wagen, dann musste sie mit heftigem Widerspruch aus den Gewerkschaften rechnen, der durchaus in der SPD Widerhall finden würde. Die damals mögliche, notwendige große Anstrengung wurde verlangsamt, in Teilen vertagt. Eine Entscheidung, die bis heute wirkt, die aber Die Grünen gestärkt hat.