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Tobias Rilling

Auf die Füße
kommen

Die Zeit der Trauer durchwandern

Ein Wegbegleiter

Kösel

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Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © plainpicture

Fotos: © Tobias Rilling

ISBN 978-3-641-10940-0

www.koesel.de

Inhalt

Das Leben geht weiter

Gehen – trauern – wandeln

Die Faszination des Pilgerns heute

Trauer gehört zum Leben

Trauerzeiten

Was hat Pilgern mit trauern zu tun?

Auf dem Weg zu sich selbst

Die ersten Schritte

Erster Spaziergang: Nicht-wahrhaben-Wollen

Erster Pilgertag: Aufbrechende Emotionen

Zweiter Pilgertag: Suchen

Dritter Pilgertag: Sich-Trennen

Vierter Pilgertag: Stille und Unsicherheit

Fünfter Pilgertag: Neuer Selbst- und Weltbezug – Ankommen

Mitgehen – für Trauerbegleiterinnen und -begleiter

Zum Beispiel: Auf dem Münchner Jakobsweg

1. Tag: Von der Mariensäule in München bis zum Kloster Schäftlarn

2. Tag: Vom Kloster Schäftlarn zum Kloster Andechs

3. Tag: Vom Kloster Andechs nach Riederau am Ammersee

4. Tag: Von Riederau zum Kloster Wessobrunn

5. Tag: Vom Kloster Wessobrunn nach Rottenbuch

Letzter Tag: Von Rottenbuch zurück nach München

»Mein Trauerpilgerweg« – Erlebnisberichte

Der Seele näherkommen

Nicht mehr hilflos

In tiefer Verbundenheit

Von der Trauer zur Erinnerung

Texte, Gedichte, Gebete und Lieder für unterwegs

Anhang

Danksagung

Adressen

Textnachweis

Das Leben geht weiter

Der Tod eines geliebten Menschen stürzt Angehörige in tiefe Trauer. Nach einem solchen Verlust erscheint das Leben oft sinnlos. Den Lebensfluss wieder im wahrsten Sinn des Wortes zu ›in Gang‹ zu bringen, dazu möchte dieses Buch ermutigen.

In der Trauer besteht die Gefahr, dass der Betroffene erstarrt und sich zurückzieht. Dadurch entsteht ein Stillstand in der Entwicklung. Gehen heißt sich bewegen, heißt spüren, dass das Leben weitergeht. Sich spüren ist jedoch in dieser Situation sehr schwer, da die Gedanken und das Empfinden zwischen der ›Lebenden-Welt‹ und dem ›Totenreich‹ sind. Trauern heißt, den Verlust aktiv zu erleben. In der Erstarrung überlässt man sich aber der Trauer in passiver Weise und wartet ab, dass etwas geschieht. Von selbst tut sich jedoch nichts und es vergeht Zeit, in der der Trauernde anfängt zu verdrängen.

Sich wandeln heißt, den Unterschied zu sehen und anzuerkennen, wie es vorher war und wie es jetzt ist. Gehen, trauern, wandeln, das heißt, eine aktive Reise ins Innere zu sich selbst zu beginnen. Es geht um Loslassen, etwas hinter sich lassen, wahrnehmen und neu aufnehmen.

Ob es zu Beginn einer Trauerphase ein kleiner Spaziergang ist oder eine mehrtägige Pilgerwanderung – jeder kommt mit seiner eigenen Last auf den Weg. Vieles an dieser Last verändert sich im Laufe des Gehens – die Last wird vielleicht nicht leichter werden, aber sie wird leichter zu tragen sein. Das Wandern und Gehen setzt körperliche Prozesse in Bewegung: Herzschlag, Kreislauf, Atmung, alles dient dem Körper als lebenswichtige Stütze. Sogar die Atmung funktioniert automatisch. Unser vegetatives Nervensystem steuert alles zuverlässig, ohne unser bewusstes Zutun. Ein starker Verbündeter in der Trauer! Auf den Körper kann ich mich verlassen. Genauso wie die Erde, auf der ich stehe und wandle. Ich komme von ihr, sie ernährt mich und gibt mir alles, was ich zum Leben benötige. Schließlich gehe ich wieder zurück zu ihr. Diese Einheit vergessen wir leicht und machen uns damit das Leben schwer.

Es gilt, diese Weisheit zu erfahren, zu erleben und in das aktuelle Leben zu integrieren.

Dem Leben auf den Grund gehen

Trauer gehört zum Leben. Es ist die natürliche Reaktion des Körpers, auf Veränderungen unserer Umwelt zu antworten – positiv zu antworten. Warum positiv? Trauer ist ein Prozess, der uns hilft, soziale Kontakte mit veränderten Voraussetzungen neu einzugehen. Trauer hilft uns, das Leben wieder bejahend anzunehmen. Dazu gibt es jedoch viele Fragen: Wie leben und erleben wir Trauer? Welche Rituale gab und gibt es, um in angemessener Weise zu trauern?

Bei einer Befragung von Bestattungsunternehmen wurde deutlich, dass die meisten ihre zu Hause verstorbenen Angehörigen sofort abholen lassen wollen. Auf die Frage, warum das so sei, gab es die Antwort: »Das ist heute halt so! – Das macht man nicht mehr, dieses Zu-Hause-Aufbahren …« und »Aus hygienischen oder ästhetischen Gründen«.

Diese Aussagen verdeutlichen, dass der moderne Mensch den Umgang mit Tod und Sterben verlernt hat. Erfreulicherweise jedoch zeichnet sich in den letzten Jahren langsam eine Wende ab, zum Beispiel durch die Hospizbewegung. Obwohl hier die Sterbebegleitung und nicht die Begleitung von trauernden Angehörigen im Fokus ist, entdecken allmählich immer mehr Hospize die Notwendigkeit des guten Abschiedes und die Trauerbegleitung der Angehörigen.

Viele Menschen, die Nahtod-Erfahrungen hatten, entwickeln eine neue Sichtweise auf das Leben. Sie leben intensiver und dankbarer. Sie bewerten Lebenswichtiges anders als in ihrem ›vorherigen‹ Leben, entsprechend dem Bibelvers: »Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« (Psalm 90,2). Hier ist nicht die Rede von Zweifel oder Verzweiflung. Wenn wir den Tod bejahen und annehmen, bekommen wir eine andere Qualität für unser Leben. Der Augenblick wird wertvoller. Jedes Geschehen, jede Begegnung, jeder Moment bekommt mehr Gewichtung, da die Endlichkeit und die Begrenztheit bewusst einkalkuliert und wahrgenommen wird. Unser Leben wird bereichert. So gesehen bedeuten Verluste zwar immer Schmerz und Verzicht, beides jedoch, Freud und Leid, gehört zum Leben. Sie sind Teil einer Biografie, bekommen aber einen anderen Stellenwert im Leben. Durch die Kraft der Trauer gewinnt das Leben an Sinn und Gemeinschaft. Wer mit der Endlichkeit lebt, hat die biologische Uhr, in allem was ist, akzeptiert. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.

Unsere Gesellschaft tabuisiert das Thema Trauer jedoch häufig und zeigt keine Solidarität mit Trauernden. Man versucht, uns das Trauern abzugewöhnen, und lässt uns in unserer Trauer allein. Das Gefühl ist so negativ besetzt, dass häufig mit Unverständnis reagiert wird, wenn beispielsweise zu sehr geschluchzt wird. Tatsächlich wurde eine Trauergesellschaft ganz unruhig, als eine Witwe sich in der Aussegnungshalle auf den Sarg stürzte und den Namen des Verstorbenen schluchzend schrie. In diesem Moment fingen viele erst richtig an zu weinen. Jeder fühlte sich beklommen und hatte einen Kloß im Hals und alle waren froh, als der Pfarrer weitersprach und die Witwe wieder auf ihren Platz geleitet wurde. Sie handelte aus einer anderen Tradition heraus, die offensichtlich noch Platz für solche Gefühlsausbrüche hatte. Erst allmählich beginnt unsere Gesellschaft zu begreifen, dass das Leben aus mehr besteht als nur aus Oberflächlichkeit, Erfolg und Reichtum. Zum vollen Leben gehört nämlich Trauer. Ohne richtige Trauer ist das Leben in seiner Gesamtheit nicht möglich. Wenn wir uns einmal Zeit nehmen, dann stellen wir fest, dass wir immer schon getrauert haben und trauern. Von der Wiege bis zur Bahre. Der erste Schrei des Menschen ist auch ein Ausdruck der Trauer. Wir werden herausgerissen aus unserer gewohnten und geschützten Umgebung des Mutterleibes. Ohne Trennungsschmerz ist kein eigenes Leben möglich. Dazu gehört die Trauer als Gefühlsreaktion.

Trauer ist also keineswegs eine Krankheit. Schon Sigmund Freud hat dies richtigerweise festgestellt:

Es ist bemerkenswert, dass es uns niemals einfällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten und dem Arzt zur Behandlung zu übergeben, obwohl sie schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich bringt. Wir vertrauen darauf, dass sie nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, dass sich das Ich des Trauernden wieder frei der Welt zuzuwenden vermag, und halten eine Störung derselben so für unzweckmäßig, ja für schädlich!

Sigmund Freud

Angst vor dem Tod und Ignoranz gegenüber einem Leben danach sind der Treibstoff für eine Umweltzerstörung, die unser aller Leben bedroht. Muss es daher nicht zutiefst beunruhigen, dass uns niemand vermittelt, was der Tod wirklich ist und wie man friedlich stirbt, dass niemand von der Hoffnung spricht auf das, was hinter dem Tod steht und daher letztlich auch hinter dem Leben? Was könnte paradoxer sein als die Tatsache, dass junge Menschen in jedem nur erdenklichen Fach hochgebildet sind, außer in diesem einen, das den Schlüssel für den Sinn des Lebens – und möglicherweise sogar für unser aller Überleben – enthält?

Selbst wenn ein Mensch, den wir lieben, im Sterben liegt, können wir häufig nicht helfen, weil wir einfach nicht wissen, wie. Und nach seinem Tod bestärkt uns gewöhnlich kaum jemand darin, uns noch weitergehende Gedanken um die Zukunft und ein eventuelles Fortdauern dieses Menschen zu machen oder gar Mittel und Wege zu suchen, wie wir ihm auch dann noch helfen können. Tatsächlich gibt man sich mit jedem Gedanken in diese Richtung dem Vorwurf der Unvernunft oder der Lächerlichkeit preis.

Nur mit spirituellem Wissen können wir uns dem Tod und Sterben wirklich stellen und ihn tatsächlich verstehen, nur so hat er wirklich Sinn. Der Tod ist ein tiefes Geheimnis, aber zwei Dinge können wir über ihn sagen:

1. Es ist absolut gewiss, dass wir sterben werden, und

2. es ist unsicher, wann oder wie wir sterben werden.

Die einzige Sicherheit, die wir also haben, ist die Unsicherheit bezüglich unserer Todesstunde. Deshalb schieben wir die direkte Auseinandersetzung mit dem Tod auf. Wir sind wie Kinder, die sich beim Versteckspielen die Augen zuhalten und glauben, niemand könne sie sehen.

Auch das macht uns unsicher, da wir keine handelnde und schöpferische Macht besitzen. Und aus dieser Unsicherheit entwickeln wir Angst. Wir haben also Angst vor dem Unbekannten, in das wir gestoßen werden, und auch vor der Veränderung, die dabei passiert, die wir aber nicht einschätzen können. Und: Wir wissen nicht wirklich, wer wir sind. Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer endlosen Reihe von Dingen: von unserem Namen, unserer Biografie, von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten. Auf diese brüchigen und vergänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?

Wir sind eine uns fremde Person, die wir nicht wirklich kennen.

Der morgige Tag oder das nächste Leben – was zuerst kommt, wissen wir nie.

Unser ganzes Dasein ist flüchtig wie Wolken im Herbst; Geburt und Tod der Wesen erscheinen wie Bewegungen im Tanz. Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel, es rauscht vorbei wie ein Sturzbach den Berg hinab.

Buddha

Ein weiterer Grund, weshalb wir so viel Angst haben, ist, dass wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren. Wir wünschen verzweifelt, alles möge so weitergehen wie bisher, und damit dies geschehen kann, müssen wir fest daran glauben, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Aber das ist Selbstbetrug.

Für uns ist Wandel gleichbedeutend mit Verlust und Leiden. Wenn sich Veränderung einstellt, versuchen wir uns so gut wie möglich zu betäuben. Stur und ohne nachzufragen, halten wir an der Annahme fest, dass Dauerhaftigkeit Sicherheit verleihe. Vergänglichkeit hingegen nicht. Tatsächlich aber gleicht Vergänglichkeit bestimmten Leuten, denen wir im Leben manchmal begegnen: Anfangs finden wir sie schwierig und irritierend, aber bei näherer Bekanntschaft sind sie viel freundlicher und angenehmer, als wir es uns je hätten vorstellen können. Und nach einer Weile geht die Beziehung wieder auseinander und gehört der Vergangenheit an.

Dieser Spannungsbogen gleicht allem Leben. Ein Kommen und Gehen.

Da Vergänglichkeit für uns gleichbedeutend ist mit Schmerz, klammern wir uns verzweifelt an die Dinge, obwohl sie sich ständig ändern. Wir haben Angst, loszulassen, wir haben Angst, wirklich zu leben, weil leben lernen loslassen lernen bedeutet. Es liegt eine tragische Komik in unserem krampfhaften Festhalten: Es ist nicht nur vergeblich, sondern es beschert uns genau den Schmerz, den wir um jeden Preis vermeiden wollen.

Sogyal Rinpoche
(Sogyal Rinpoche, in: Das tibetische Buch vom Leben und Sterben © O.W. Barth, ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München 2010)

Dieses Buch soll all denen helfen, die durch Trauer eine der größten Grenzerfahrungen im Leben erfahren. Dieses Buch soll eine Hilfe sein, die Lebensweisheit zuzulassen, anzuerkennen und im Hier und Jetzt leben zu wollen. Es soll helfen, sich auf den Weg zu machen, zu verstehen und in den Lebensfluss zu kommen. Dabei kann sich ›laufend‹ etwas verändern. Und auch wenn dies Wochen oder Monate dauert: Haben Sie Geduld mit sich und Ihrer Situation – das ist das Leben.

Das Licht helfe dir,

Kurs zu halten auf deiner Reise.

Der Wind stärke dir den Rücken.

Der Sonnenschein wärme dein Gesicht,

und der Regen falle sanft auf deine Haare.

Bis wir uns wiedersehen,

halte Gott dich

geborgen in seiner schützenden Hand.

Traditionell aus Irland

ULTREYA!*

Jeden Tag aufstehen,

auf eigenen Beinen stehen.

Jeden Tag im Leben stehen,

das Alte neu bestehen.

Jeden Tag durchstehen,

dem Bösen widerstehen.

Jeden Tag andere ausstehen,

und zu sich selbst stehen.

Jeden Tag verstehen,

dass Gott hinter allem steht.

Jeden Tag aufstehen

zu neuem Leben.

Petrus Ceelen
(Petrus Ceelen, in: Stehen, Anstöße für jeden Tag des Jahres © Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2006)

* Ultreya ist ein Grußwort aus dem Spanischen. Dieses aufmunternde Wort riefen sich Pilger zu, die auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela unterwegs waren, und es bedeutet so viel wie »Vorwärts! Weiter!«.

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Gehen – trauern – wandeln

Die Faszination des Pilgerns heute

Wie kann es sein, dass eine spirituelle Praxis, die in Europa vor etwa tausend Jahren ihre Blütezeit hatte, heute wieder so in Mode ist? Die Motive der mittelalterlichen christlichen Pilger (seltener auch Pilgerinnen) sind relativ gut erforscht. Menschen wollten Anteil am Heiligen haben, deshalb reisten sie – vor allem zu Fuß, wer es sich leisten konnte auch zu Pferd, Kutsche oder Schiff – zu Gräbern heiliger Menschen. Am attraktivsten waren Jerusalem mit dem Grab Jesu und Rom mit den Gräbern von Paulus und Petrus. Im 9. Jahrhundert kam auch Santiago de Compostela dazu. Am nordwestlichen Zipfel Spaniens wurden menschliche Gebeine entdeckt, die man bald dem Apostel Jakobus zuschrieb. Kirchenpolitisch gesehen, war diese Entdeckung weitreichend, denn dadurch konnte man die Kreuzritter zur Sicherung des Weges im Norden Spaniens stationieren und die zahlreichen Pilger dorthin lenken. Strategisch war dies sehr geschickt, da dadurch die Mauren, nordafrikanische Muslime, die den ganzen Rest Spaniens beherrschten, aus diesem Teil der iberischen Halbinsel ferngehalten werden konnten. So war der Jakobsweg wie eine Grenze, um den christlichen Norden vor einer Islamisierung zu schützen.

Das Leben sehr vieler Menschen dieser Zeit war von furchtbarer Angst vor Fegefeuer und Hölle geprägt. Sie hofften, durch gute Werke Sünden wettmachen zu können. Ablass war das Zauberwort – und die Reise an einen durch einen Heiligen geprägten Ort wie Santiago de Compostela versprach Vergebung der Sünden. Selbst Berufspilger soll es gegeben haben, die anstelle und im Auftrag und finanziert durch reiche christliche Sünder nach Santiago gepilgert sind.

Manche Pilger und Pilgerinnen fühlten sich an Gelübde gebunden, beispielsweise war es beliebt, als Ausgleich für göttliche Wohltaten wie Heilungen oder Schutz vor Unglück eine Pilgerreise zu unternehmen.

Auch mancher Verurteilte wurde statt ins Gefängnis auf einen Pilgerweg geschickt. Damit hatte man den Übeltäter aus der Region und billiger war es allzumal.

Es darf außerdem angenommen werden, dass auch Abenteuerlust und der Wunsch nach Tapetenwechsel eine wichtige Motivationen gewesen sein mögen. Denn Urlaub gab es damals nicht und der einfache Bürger im Mittelalter hatte kaum Gelegenheit, seine Heimat und seinen Wirkungskreis zu verlassen. Wenn der Weg zum Markt im nächsten Ort schon eine halbe Weltreise war, wie besonders war es, an das Ende der damals bekannten Welt reisen zu können?

All diese Gründe führten vor etwa tausend Jahren zu einem wahren Pilgerstrom, der zum Teil täglich mehr als tausend Pilgerinnen und Pilger nach Santiago spülte.

Nach diesem binnenchristlichen Blick lohnt es sich zu erkunden, welche Pilgertraditionen in anderen Religionen wichtig sind. Die Hadsch, die Reise nach Mekka, ist für jeden gläubigen Muslim eine Pflicht, die einmal im Leben erfüllt werden muss. Wobei es hier nicht auf die Form der Reise zur Kaaba und an Wirkungsstätten des Propheten Muhammad ankommt, wichtig ist, dass überhaupt dorthin gereist und bestimmte Rituale durchgeführt werden.

Auch am Berg Kailash, der Hindus und Buddhisten heilig ist, sind Rituale wichtig, beispielsweise den Berg siebenmal zu umrunden, indem sich der Pilger niederwirft, aufsteht, ein paar Schritte geht, und sich erneut niederwirft.

Um in der eigenen Tradition zu bleiben: Was ist nun der Unterschied zwischen Pilgern und seiner spezielleren Form in der katholischen Tradition, der Wallfahrt? Wallfahren ist ein gemeinschaftliches und stark ritualisiertes Pilgern. Lieder und Gebete spielen eine große Rolle, oft auch ein großes Kreuz oder eine Monstranz an der Spitze des meist großen Pilgerzuges. Die Wallfahrt ist eine gemeinschaftliche Reise an einen heiligen Ort, der nicht unbedingt ein Grab, sondern auch ein kraftvoller Ort sein kann. Häufig steht ein Ereignis im Hintergrund, was in der Vergangenheit die ganze Dorfgemeinschaft betraf. So ist zum Beispiel die Wallfahrt nach Altötting oder Andechs in Bayern für viele Gemeinden eine jährliche Pflicht, als Dank dafür, vor der im Mittelalter wütenden Pest beschützt worden zu sein.

Das heute oft praktizierte Pilgern – am häufigsten auf den vielen Jakobswegen – ist, selbst wenn es mit einer Gruppe begangen wird, individualisierter geworden. Auch die Rituale, begleitenden Formen und spirituellen Übungen werden von jedem und jeder Einzelnen oder der jeweiligen Gruppe festgelegt. Es gibt wenige Traditionen, die heute noch von den Pilgerinnen und Pilgern gepflegt werden, aber eine davon ist sehr populär: Die Pilger nehmen einen Stein, der für das Schwere im Leben stehen kann, von zu Hause mit, um diesen als äußere Last und als Spiegel für die innere Last schließlich am Cruz Ferro am Jakobsweg oder an einem anderen geeigneten Ort abzulegen.

Diese individualisierte Form des spirituellen Wanderns ist ein wichtiger Punkt, der zur Faszination des Pilgerns beiträgt. So wie wir das Leben im Alltag auch immer individueller gestalten und uns nicht einzwängen lassen möchten, ist es auch auf dem Pilgerweg. »Ich für mich«, heißt es zunächst, »ich bin unterwegs und möchte erst mal keine Kompromisse machen.«

Spannend ist es auch, beim Gepäck kompromisslos zu sein: Alles, was nicht unbedingt nötig ist, bleibt zu Hause. Die Erfahrung, aus einem Haushalt mit einigen Tausend Dingen aufzubrechen und sich auf vielleicht 30 bis 50 Gegenstände zu beschränken, ist oft eine große Befreiung. Vielen wird bewusst: »Eigentlich benötige ich den ganzen Plunder (die Abhängigkeit) doch gar nicht!«

Und das Leben auf dem Pilgerweg ist ja auch überraschend einfach: Es gibt eine klare Richtung, ein Ziel, auf das der Weg ausgerichtet ist. Ohne Ziel, ohne spirituellen Ort, der die Richtung weist, gäbe es keinen Pilgerweg, auch wenn selbstverständlich viele wichtige innere Prozesse und äußere Erfahrungen beim Gehen auf dem Weg geschehen.

AUFBRUCH

Wenn ich jetzt fortgehe, bleibt ein Teil zurück.

Das schmerzt und ich habe kaum die Kraft zu gehen.

Wenn ich jetzt fortgehe, möchte ich am liebsten alles mitnehmen.

Einpacken und festhalten – doch ich weiß, dass dies nicht geht.

Ich lasse mir Zeit mit meinem Aufbruch.

Plötzlich ist sie da, die Unruhe in mir, und die Zeit ist reif.

Aufbruch!

Wenn ich jetzt fortgehe, lasse ich immer etwas zurück.

Mein Leben geht weiter.

Das ist der Lauf der Zeit. Aber dazu brauche ich noch Zeit!

Aufbruch!

Wenn ich jetzt fortgehe, sind meine Gedanken an dich dabei.

Aber ich habe meine Hände frei für Neues.

Begegnung, Sinn und Ziele zu finden. Mich zu finden …

Aufbruch – in mir ist etwas aufgebrochen.

Das, was zerbrochen ist, ist nicht kaputt.

Es wächst etwas Neues hervor und entsteht.

So ist das mit dem Aufbrechen!

Tobias Rilling

e001_IMG_4572_3.tif © contrastwerkstatt

Das Pilgerleben ist einfach, weil der oder die Pilgernde lediglich dafür sorgen muss, einen Platz zum Schlafen, Nahrung und eine Waschgelegenheit für sich und die getragene Wäsche zu finden. Aber das war’s dann auch schon. Keine überfordernde Auswahl, die sonst das Leben prägt. Die tolle Vielfalt an Möglichkeiten, die uns umgibt, ist gleichzeitig auch eine Überforderung, weil sie zum Auswählen zwingt – und zur Übernahme von Verantwortung für die Entscheidung. Die Wahlmöglichkeiten auf dem Pilgerweg sind hingegen begrenzt und werden von ganz einfachen und ursprünglichen Bedürfnissen geleitet. Ein englischer Pilger berichtete von Erfahrungen auf dem Camino Francés, es gäbe dort so viele Herbergen und Bars, dass sein Tag sich auf zwei einfache Entscheidungsfragen reduzieren ließ: »Bleibe ich hier oder gehe ich noch weiter?« und »Trinke ich noch ein Bier oder nicht?«.