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Nr. 2852

 

Spaykels Rache

 

Atlan und seine Gefährten unter Zeitdruck – auf der Suche nach einem neuen Leben

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Um die Herrschaft der Atopen zu brechen, hat sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz dieser Macht begeben. Nach einer unglaublichen Reise durch Gefilde, die sich niemand vorzustellen gewagt hätte, erreicht er sein Ziel: die Ländereien von Thez. Er gerät mit Mnemo-Korsaren aneinander, tötet einen von ihnen und wird nun Ziel von SPAYKELS RACHE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der unsterbliche Arkonide macht eine verblüffende Entdeckung.

Spaykel – Der Mnemo-Korsar sucht Rache für seinen Gefährten.

Lothuld – Der Wissenschaftler öffnet Atlan die eine oder andere Tür.

Vogel Ziellos – Der junge Mann versucht den Tod zu überlisten.

»Wie die meisten unserer Sprachen geht auch das Interkosmo sehr schludrig mit dem Phänomen der Zeit und verwandten Themenfeldern um. Das zur Verfügung stehende Vokabular suggeriert, über die Vergangenheit könnten wesentlich exaktere Aussagen getroffen werden als über die Zukunft. Schließlich war sie bereits manifest, und teilweise haben wir sie selbst durchlebt.

Aber das täuscht, werte Hörer! Kein bekanntes technisches oder biologisches Aufzeichnungsmedium, weder ein positronischer Datenspeicher noch ein fotografisches Gedächtnis, vermag Geschehenes wirklich vollständig zu bewahren beziehungsweise wiederzugeben. Ich empfehle daher, analog zum Begriff der ›Vorahnung‹, für die Betrachtung der Vergangenheit das Wort ›Rückahnung‹ zu benutzen [...].

Sich von scheinbaren Gewissheiten zu verabschieden, kann schmerzhaft sein, ich weiß. Aber es ist unabdingbar, wenn ihr wissenschaftliche Forschung betreiben wollt.«

Geoffry Abel Waringer, Einführungsvorlesung

zur Theoretischen Hyperphysik, ca. 412 NGZ

 

 

Prolog

Denk nicht zurück!

 

Erinnerungen sind kostbar.

Viel zu teuer, zu heiß begehrt, als dass es ratsam wäre, sie länger als unbedingt nötig bei sich zu behalten. Wer daran hängt und sie nicht rechtzeitig loslassen kann, macht einen bösen Fehler. Macht sich zur Beute – selbst wenn er eigentlich ein Jäger ist.

Niemand weiß das besser als Spaykel.

Alle Mnemo-Korsaren belauern einander. Permanent. Logisch, das liegt in ihrer Natur.

Was verspricht mehr Gewinn: irgendeinen dahergelaufenen Traumtänzer abzugreifen oder einen professionellen Dieb seiner gehorteten Schätze zu berauben?

Keine Frage. Überhaupt keine Frage!

Deshalb fürchten Mnemo-Korsaren nichts so sehr wie ihresgleichen. Besonders, wenn sie geschwächt sind, verletzt, zerschlagen an Körper und Geist. Und betäubt von den schmerzstillenden Drogen des Medotanks ...

Dröge plätschern Spaykels Gedanken dahin. Er hasst diesen Zustand, diese schläfrige, schlammige Weichheit.

Ihm hilft nicht im Mindesten, dass er zugleich, weiter hinten in seinem Denken, dankbar ist für die Medikamente, die seine Qualen lindern. Zu groß ist die Furcht, er könnte sich davon einlullen lassen.

Er muss Entscheidungen treffen, jetzt, auf der Stelle. Ungeachtet seiner Misere, seiner Trauer um den kongenialen Partner.

Oh ja, Valkuzz war anders. Ihm hat Spaykel vertrauen können.

Valkuzz hätte ihn nie enttäuscht. Niemals hätte Valkuzz auch nur daran gedacht, Spaykel zu betrügen!

Mochte das gemeinsam Erbeutete noch so wertvoll gewesen sein: Valkuzz geriet niemals in Versuchung, sich gegen den Gefährten zu wenden. Auf ihn war stets Verlass, in guten Perioden und erst recht in schlechten.

Gerade deswegen muss Spaykel aufhören, um Valkuzz zu trauern. So weh es tut, in Bereichen weit jenseits des Zugriffs der optimal dosierten Heilmittel – er darf sich nicht länger an das zusammen Erlebte klammern.

Im Gegenteil. Spaykel muss die Erinnerungen loswerden; sie so schnell wie möglich tilgen, abstoßen, hinaus in die graue Anonymität der breiten, ahnungslosen Masse.

Noch dazu unbezahlt. Ha! Welch Hohn, welch Frevel!

Und doch, ihm bleibt keine Wahl. Sonst stürzen sich demnächst andere auf ihn, um seine prekäre Lage auszunutzen; andere, ebenso schamlos wie er. Bereit zu töten, für viel weniger, als er insgesamt anzubieten hat.

Per Gedankenbefehl öffnet Spaykel einen Kanal. Unverschlüsselt, jedem beliebigen legalen oder illegalen Mnemo-Händler zugänglich.

Silber vor die Elstern.

Und er beginnt, sich und sein Gewissen zu erleichtern ...

 

*

 

Sektor Rungenwardt.

In einer, subjektiv empfunden, frühen Epoche. Als Spaykel noch geglaubt hatte, er könnte für immer jung bleiben, bloß weil er sich in einem undefinierbaren Raum jenseits der Zeit bewegte.

Gerüchte waren ihm zugeraunt worden: über eine Geschichtenerzählerin, eine einzigartig wortgewaltige Poetin. Sie überschütte, hieß es, ihre Zuhörer mit ausgefallenen Details. Trotzdem behielte sie immer mehr zurück, als sie preisgäbe.

»Keine Ahnung, wie sie das anstellt«, hatte sein Mentor zugegeben, der greise, ziemlich ranzig miefende Erzkapitän Shvundos. »Einige meiner Schüler vermuten, sie hätte einen psitronischen Algorithmus erfunden, der ihr erlaube, Informationen zu verteilen, die jedoch nur aus Andeutungen bestehen. Während sie durch die begeisterten Reaktionen nur noch mehr Wissen anhäuft.«

»Na, dann sollte man doch ...«

»Auf sie losgehen? Direkt? Das haben schon viele versucht, Kleiner; viele, die wesentlich mehr auf dem Kasten hatten als du.«

»Woran sind sie gescheitert?«

»Denk mal ganz scharf nach. Wenn ich das wüsste, würde ich dann jetzt meinen Atem an dich vergeuden?«

Spaykel nahm den mentalen Nackenhieb hin, verneigte sich und verzog sich in seine Kammer. Lange arbeitete er an einem Plan. Feilte Unsicherheiten weg, gab aufwendige spekulative Berechnungen hinzu.

Schließlich fühlte er sich reif genug, die verwegene Attacke auszuführen. Tatsächlich überwand er fast alle Fallen, egal wie raffiniert sie konstruiert worden waren.

Kurz vor dem Ziel aber kam ihm jemand in die Quere: Psionisch intensiv aufgeladenes Sperrfeuer verlegte ihm den Weg. Er kannte diese Art von sündhaft teurer Barriere theoretisch, aus dem Unterricht, hatte jedoch in der Praxis nie damit zu tun gehabt.

»Wer bist du?«, fragte Spaykel, zu baff für verbale Feinheiten. »Zeig dich!«

»Ich heiße Valkuzz.« Die Stimme blieb körperlos.

»Was hast du vor?«

»Dasselbe wie du.«

»Ach ja? Warum verteidigst du dann, was ich mir aneignen will?«

»Hörst du dir manchmal selber zu bei dem, was du plapperst? Überleg mal, Süßer!«

»Weil du es für dich haben willst.«

»Bravo! Ich bin entzückt. Deinem versprudelten Geist wohnt ja tatsächlich ein Anhauch von Rationalität inne.«

»Red' nicht so geschwollen daher! Wir stehen an derselben Schwelle. Wenn wir gegeneinander kämpfen und uns dabei aufreiben ...«

»Darauf würde ich es allemal ankommen lassen.«

»Ich auch.« Das war nicht gelogen. Er wusste, wie er die Barriere knacken konnte, wenngleich unter hohem Risiko.

»Also?«

»Also wäre es klüger, wir teilen uns die Eroberung, und erst danach raufen wir um die Prise.«

»Hm.« Die fremde Stimme klang amüsiert, hochmütig, aber auch besonnen. »Lass mich dein Angebot kurz überdenken.«

»Nein. Jetzt oder nie! Feind oder ...«

»Einverstanden«, sagte der andere. »Freund.«

Er desaktivierte sowohl das Sperrfeuer als auch sein Unsichtbarkeitsfeld und erschien leibhaftig, ein junger Mnemo-Korsar, fast ein Spiegelbild des damaligen Spaykel. Lässig entfaltete er den muskulösen, doppelt abgeknickten Arm zu voller Länge und bot die Hand mit den dünnen, extrem schlanken Fingern dar. »Schlag ein, Bruder!«

So war Valkuzz.

So war er gewesen. Und geblieben, über all die Epochen: geradeheraus, schnörkellos, ehrlich bis fast zur Selbstaufgabe.

Spaykel, dem von seinen Lehrern, allen voran Shvundos, Argwohn alles und jedem gegenüber eingedrillt worden war, fühlte sich entwaffnet und gab– überrumpelt – diesem Gefühl nach. Er ergriff die Hand und erwiderte den unerwartet festen Druck.

Seite an Seite drangen sie weiter vor.

Nachdem sie die letzten Hindernisse beseitigt, die Geschichtenerzählerin besiegt und deren Erinnerungen ausgeweidet hatten, sagte Valkuzz während ihrer hastigen Absetzbewegung: »Weißt du, wir müssen uns nicht um das Beutegut streiten. Es ist sogar vernünftiger, wenn wir es einfach halbieren.«

»Wie?«

»Einer teilt, der andere wählt. Simpelste Methode. Das nächste Mal von mir aus andersrum, aber das ändert genau nichts.«

»Äh ... ja, klar.«

Valkuzz strich Spaykel, als sei nichts dabei, über den Hüftbogen. Ganz leicht. Zart. Zärtlich.

Spaykel zuckte zurück.

»Angst?«, fragte Valkuzz.

»Immer.«

»Muss nicht sein. Muss nun wirklich nicht mehr sein. Unsereins kann auch zwischendurch mal zur Ruhe kommen.«

Die kaum mehr erträgliche Anspannung löste sich auf in zuerst verschwörerisches Gekicher, hernach haltlos brüllendes Lachen. Kumpelhaft droschen sie aufeinander ein, bis sich keiner mehr auf den Beinen halten konnte.

Von da an waren sie unzertrennlich gewesen.

 

*

 

Es bricht Spaykel fast das Herz, diese Erinnerung für immer verströmen zu lassen.

Aber er muss sie aufgeben. Muss sie opfern, wie Valkuzz sich für ihn geopfert hat.

Spaykel wälzt sich hin und her im Medotank. Sein Körper krampft sich zusammen, weniger wegen der körperlichen Schmerzen denn aus Seelenpein.

Valkuzz' letzte Heldentat ... Gerade jene Szene hat sich in Spaykels Gedächtnis eingebrannt.

Wie der Kamerad, der Freund, der Lebensgefährte und Mordbruder, umgekommen ist beim Versuch, Spaykel zu retten. Wie er verbrannte, Valkuzz, der Einzigartige, Unersetzliche; und zwar rückstandslos, unwiederbringlich, selbst in der Veste Tau.

Tod eines Mnemo-Korsaren: Spaykel kennt mehr als genug Konkurrenten, die ihn skrupellos umbringen würden, bekämen sie diese Erinnerung exklusiv.

Deshalb muss er sie trivialisieren, zerreißen, muss die Bruchstücke willkürlich in die Weite verstreuen und zugleich bei sich selbst das Original löschen. Nur auf diese Weise ist er, in seinem gegenwärtigen Zustand, vor Nachstellungen sicher.

Einen positiven Nebeneffekt wenigstens hat das doppelte Opfer: Die Empfänger der einzelnen Teile, darunter andere Mnemo-Korsaren, werden statt auf ihn Jagd auf den Täter machen. Auf Valkuzz' Mörder.

Atlan.

Diesen Namen wird Spaykel nicht vergessen, genauso wenig wie die Vorgeschichte, die zum Tod seines Partners geführt hat. Sie ist zwar spannend, aber bei Weitem nicht so spektakulär, dass er sie nicht relativ gefahrlos bewahren könnte.

Er hat keine große Sorge, dass er sich damit der Möglichkeit beraubt, selbst Rache verüben zu können. Atlan und dessen Begleiter haben sich als gerissen und kampfkräftig erwiesen.

Sonst wäre es nie so weit gekommen. Sonst wäre Valkuzz noch am Leben.

Die ihn auf dem Gewissen haben, werden sich diverser Angriffe aller Wahrscheinlichkeit nach erwehren. Aber im Idealfall werden sie dadurch auf dem Weg zu ihrem Ziel so weit verlangsamt, dass Spaykel sich inzwischen regenerieren kann.

Er weiß, wohin sie wollen: zum Sektor Noi-Noion und dort zur Marionettenmeisterin Sinsiri Queebudh. Der Famulus, den Valkuzz und er in kluger Voraussicht platziert haben, hat diese Vermutung mittlerweile bestätigt.

Bis die Schurken Noi-Noion erreicht und Queebudh gefunden haben, kann viel passieren. Der Weg ist weit und voller Tücken.

Immer noch leidet Spaykel, sehnt sich nach Valkuzz, und zwar umso mehr, je weiter seine konkreten Erinnerungen sich ausdünnen und verblassen.

Aber er verspürt auch einen Anflug neuer Zuversicht. Er entwickelt einen Plan.

Spaykel wird seine Rache nehmen, sobald er dazu in der Lage ist. Und die Art, wie er sie nimmt, soll ihn und den Ermordeten in der Veste Tau unsterblich machen, auf einzigartige Weise unvergesslich.

Ja. Er wird Atlan zur Strecke bringen, schwört Spaykel beim Nichts, das ihm heilig ist.

Das ist er sich und Valkuzz schuldig.

1.

Unsichere Gesellen

 

»Notfalls«, sagte Atlan, »senk den Blick und achte einfach nur auf deine Füße. Setz einen Schritt nach dem anderen. Links, rechts. So kommen wir weiter. Nur so.«

Vogel Ziellos hörte den Rat, trotz des beständigen, unrhythmisch an- und abschwellenden Rauschens seines Kopfgefieders. Er bemühte sich sehr, ihn zu befolgen.

Da war sein linker Fuß, da sein rechter. Und es ging voran, zweifelsohne.

Aber die Sohlen der Stiefel traten, trafen weich und zugleich unnachgiebig fest auf ein Medium, das er mangels anderer Begrifflichkeiten als »hölzernes Licht« empfand. Das war kein auch nur ansatzweise vertrauter Untergrund, sondern die Interpretation einer Wirklichkeit, die sein Verstand nicht besser zu begreifen vermochte.

Mit Licht allein hätte er sich einigermaßen ausgekannt. Er konnte Polarisationsrichtungen sehen, zumindest im Groben.

Dies jedoch, das war viel zu fein in sich verwirkt, als dass er sich an irgendetwas daran hätte sinnlich festhalten können. Seine Wahrnehmung änderte sich, je nachdem, wie er sie fokussierte.

Helligkeit bestand nicht, wenn man die Augen zusammenkniff, aus winzigen Hobelspänen, oder?

An diesem Ort schon.

Alles erschien Vogel wie aus farblos glühendem, glosendem, laut knatterndem Holz gebaut. Funken stoben um ihn herum. Scheinbar entzündeten sie seinen Flaum, ohne ihn jedoch wirklich zu versengen. Hochgradig irritierend waren sie gleichwohl.

»Nicht trödeln, Leute!«, rief Atlan. »Weiter!«

Leicht gesagt. Wohin?

Vogel Ziellos schaffte es nicht, der Versuchung zu widerstehen, nach vorne zu schauen. Sogleich traf ihn das Panorama wie ein Nackenschlag.

Der trügerische, bräunlich leuchtende, mit Astlöchern durchsetzte Boden wölbte sich auf, bis in unendliche Fernen. Aus der Dachluke der schlichten Blockhütte, die sie eben durchquerten, erwuchs eine bizarre Architektur: übereinandergestapelte Hochhäuser aus Lichtholz, die sich gen Himmel reckten, als mächtige Türme, und sich in kurzer Ferne zu Spiralen verknoteten.

Deren Ausläufer stießen sogleich wieder herab. Auf die Veranda der Hütte, die natürlich keine Hütte war, sondern ...

Was dann? Und warum?

»Vogel! Was habe ich gesagt?«, schalt ihn Atlan. »Einen Fuß vor den anderen! Ist das wirklich so schwer?«

Ja, so schwer war es, und noch viel schwerer.

 

*

 

Dass sie unter Zeitdruck standen, wusste Vogel Ziellos. Obwohl sie sich an einem Ort jenseits von Raum und Zeit aufhielten.

Offenbar gab es trotzdem gewisse pseudokonstante Faktoren. Wie etwa, dass jegliche Wiederbelebungsversuche nach einer Sextadim-Frist von 62 Standard-Stunden zum Scheitern verurteilt waren.

Innerhalb dieser Zeitspanne konnte die ÜBSEF-Konstante – also das Bewusstsein einer Person – aus der Reststrahlung des Leichnams rekonstruiert werden. Weil die hoch komplexe, transkosmokratische Raumzeit-Membran, welche die Veste Tau vom Brei des Umfelds abschirmte, diese ÜBSEF-Impulse nach innen reflektierte.

Warum genau zweiundsechzig Stunden?, fragte sich Vogel, beileibe nicht zum ersten Mal. Und keine Minute länger?

Exakt gleich lange kam ein Zellaktivatorträger maximal ohne das Gerät aus, das quasi seine biologische Uhr anhielt und ihm somit eine spezielle Art von relativer Unsterblichkeit verlieh.

Handelte es sich um eine zufällige Übereinstimmung? Das musste schon ein ganz enormer Zufall sein. Und daran glaubte er nicht.

Wie auch immer.

Der leblose Körper von Lua Virtanen, seiner einen, einzigen, auf ewig unerfüllbaren Liebe, lag festgezurrt auf dem Rücken der Dhyadon Qadarou Vadhyrd. Der Peregrinologe Lothuld, der sich ihnen aus nach wie vor nicht gänzlich nachvollziehbaren Gründen angeschlossen hatte, bezifferte den Zeitaufwand zur Überwindung der Distanz bis zum Sektor Noi-Noion mit 33 bis 38 Stunden.

Es verblieb also, da Atlan bereits 14 Stunden damit verschwendet hatte, Vogel aus der Gefangenschaft des Korsaren-Nests zu retten, nur ein geringes Zeitpolster.

Vierzehn Stunden, dachte Vogel Ziellos. Die hätte ich gerne hergeschenkt. Für Lua.

»Hör auf zu träumen!« Atlan stieß ihn an, ziemlich hart. »Ich brauche dich, und wir beide brauchen Lua. Geh weiter!«

Klar. Immer weiter.

Einen hölzernen Schritt vor den anderen. Links, rechts, links, rechts ...

 

*

 

Da ihn die Umgebung allzu sehr verwirrte, er aber auch nicht immer die eigenen Füße angaffen wollte, musterte Vogel verstohlen seine Begleiter.

Mit Atlan da Gonozal war momentan nicht gut Kirschlikör schlürfen. Der Kommandant des Richterschiffes, in dem Vogel geboren worden und aufgewachsen war, erweckte einen mürrischen, durch und durch gestressten Eindruck.

Wer würde ihm daraus einen Vorwurf machen? Vogel ganz sicher nicht.

Zweifellos erfüllte Atlan ähnliche Ungeduld angesichts der unerbittlich verstreichenden Frist. Und die Beschaffenheit dieses überaus seltsamen Ortes zehrte gewiss ebenfalls an den Nerven des Arkoniden – obwohl er ungleich mehr Wunder und Schrecken des Universums geschaut hatte als Vogel und Lua zusammen.

Die Sektoren, durch die sie sich bisher bewegt hatten, erschienen zugleich futuristisch und altertümlich. Die Veste Tau war weniger Planet oder sonstiges Raumobjekt, Generationenschiff oder Stadt denn ein einziges, gigantisches Kunstwerk.

Gestaltet von Bildhauern und Architekten, die offenbar leidenschaftlich an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn entlangtänzelten ...

Manche ausgedehnten Plätze bildeten, verblüffend glaubwürdig, freie Natur nach. Sie wurden von künstlichen Firmamenten überwölbt, die nicht bloß wie ein nächtliches Himmelszelt aussahen. Vogel hatte gelernt, dass sie, obwohl sie eigentlich keine messbare Dicke aufwiesen, eine Tiefe von mehreren Dutzend Lichtjahren hatten.

Falls man hineinfliegen würde; was man wahrscheinlich besser nicht tun sollte.

Er hütete sich, erneut den Blick emporzurichten. Stattdessen schielte Vogel aus dem Augenwinkel zu Lothuld hinüber.

Gerade stopfte der annähernd humanoide, hinfällig wirkende Mann im Gehen wieder einmal undefinierbare, schleimige Brocken in sich hinein; mit seinem dritten Arm, der Brustextremität, die er »Nährbein« nannte. Atlans offen geäußerter Mutmaßung, dass er dabei ständig psychotrope Substanzen zu sich nahm, hatte Lothuld zumindest nicht widersprochen.

Auf dem Kopf trug er ein haarfeines Technogespinst, das direkt mit seinem Gehirn verbunden war und ihm rasche Analysemöglichkeiten eröffnete. Allerdings sei es ein wenig altersgeschädigt und gäbe nicht immer zuverlässige Ratschläge.

Lothuld hatte unterwegs erklärt, dass er der »Bruderschaft der Peregrinologen« angehöre, die sich der Erforschung vorübergehender, ungewöhnlicher Phänomene widme. Hin und wieder, also in Abständen von Jahrtausenden, käme es in der Veste Tau zu Vorstößen aus anderen Existenzsphären.

Die meisten dieser Vorstöße würden von Automatismen der Veste abgewehrt. Andere seien zu kurzfristig, um von der »normalen« Bevölkerung – was immer das an diesem Ort heißen mochte – bemerkt zu werden. Peregrinologen wie Lothuld kümmerten sich um diese Ereignisse, identifizierten, sichteten, bewerteten sie.

»Und dann?«, hatte Atlan gefragt.

»Was dann?«, war die zugleich amüsiert und verständnislos klingende Antwort gewesen. »Wann denn dann?«

Mehr hatte Lothuld sich nicht entlocken lassen. Rückte man ihm argumentativ auf die Pelle, versteckte er sich unter dem Deckmantel seiner Schrulligkeit.