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ANATOMIE EINER ABSICHT

ANA BILIĆ

ANATOMIE EINER ABSICHT

Roman

wienkultur

I. Teil

LIDIA

*

Ich beschloss meinen Mann umzubringen. Ja. Zu liquidieren. Von der Erdoberfläche zu entfernen. Auf eine vernünftige und durchdachte Art und Weise: Ich vergifte ihn mit Pilzen. Ja – ausgerechnet so: mit Pilzen. Nein, ich bin ihm nicht böse und es gibt keinen Grund, ihn zu töten. Aber trotzdem töte ich ihn.

Man sagt: Frauen töten kaltblütig, besonnen. – Das ist wahr. Jemanden mit Pilzen zu vergiften, sieht eigentlich nicht wie ein echter Mord aus – es gibt kein Blut, keinen Affekt und keine dramatischen Lügen. Keine großen Emotionen. Beim Vergiften mit Pilzen geht es um Sauberkeit, Disziplin und Ökonomie. Es sieht so aus, als hätte derjenige nur was Schlechtes gegessen und danach – Pech gehabt.

Ich bereite meinem Mann Schirmpilze zum Abendessen zu. Aber das werden natürlich keine Schirmpilze sein, sondern grüne Knollenblätterpilze, die giftigsten Pilze, die in der Umgebung wachsen. Ein Hobby-Pilzsammler kann sich leicht irren – diese zwei Pilzsorten sehen ähnlich aus. Und ich werde mich irren, ich bin eine Hobby-Pilzsammlerin. Und um meine Ahnungslosigkeit nachher bekräftigen zu können, friere ich noch ein Päckchen davon ein. Damit ich später, falls mich jemand fragen würde, antworten kann: „Och Gott, das darf doch nicht wahr sein! Ich habe geglaubt, dass sie essbar sind! Schauen Sie mal, ich habe sogar welche in den Tiefkühlschrank gelegt! …“ Ja, ich werde mich ganz normal verhalten, ganz natürlich, und arglos wie jede brave Hausfrau den Rest der Pilze einfrieren. Die frischen Pilze bereite ich für meinen Mann genau so zu, wie er sie mag – nur mit etwas Salz bestreut im Backofen gebraten. Er war immer begeistert von im Ofen gebratenen Schirmpilzen. Und ich? Ich werde an seinem letzten Mahl nicht teilnehmen. Ich werde Magenschmerzen haben, denn ich habe einen empfindlichen Magen. „Du sorgst dich zu viel um alles, darum tut dir der Magen so oft weh“, sagt er mir immer.

Jedes Mal, wenn ich von einer Wanderung zurück bin, fragt er mich, ob ich ihm seine Pilze mitgebracht hätte. Sogar wenn er weiß, dass ich nur einen kleinen Spaziergang hier in Wien, in den Steinhofgründen, gemacht habe, fragt er mich nach Pilzen. Er macht sich nicht die Mühe, zu behalten, wohin ich gehe und was ich mache – meine Abwesenheit von zuhause verbindet er ausschließlich mit Pilzen. So wie ein Hund einen Denkreflex hat: „Abwesenheit von zuhause – Pilze“. Und er ist von seinem „Pilzrausch“ so besessen, dass er mich zu jeder Jahreszeit, egal ob es Frühling, Sommer oder Herbst ist, fragt, wo denn seine Pilze seien. Schirmpilze wachsen nur im Sommer, aber er ist in seiner Leidenschaft für diesen Umstand völlig blind.

Er wartet auf mich in unserer Wohnung im vierzehnten Bezirk und fragt mich schon an der Tür: „Hast du was gefunden?“ Ich hüte, was mir auf der Zunge liegt – „Nein, aber du bekommst das, was du verdienst“ – und sage nur: „Schau! Ich habe Schneeglöckchen gefunden. Unter dem Schnee …“ Er betrachtet die Schneeglöckchen kurz, ohne sie richtig wahrzunehmen, schüttelt den Kopf und murmelt: „Ach, Lidia …“

Einmal fragte ich ihn, wie er sterben wolle. Er sagte, er wolle leicht und schnell sterben. Natürlich – jeder will leicht und schnell sterben. Jeder möchte gern den eigenen Tod bestellen: schmerzlos, schnell und einfach, bitte am 15. Oktober, denn da wird mein schlechter Tag sein, das habe ich im Horoskop gelesen. Ich möchte auch gern so sterben. Aber ausgerechnet das ist das Ungewisse beim Tod – die Art des Todes. Es bleibt uns nur zu hoffen, günstig zu sterben. Wünschen und hoffen. Und was ist Hoffnung? Hoffnung ist allein Zeichen dafür, dass wir uns mit dem Tod und mit der Reise ins Jenseits nicht abfanden. Hoffnung ist die Satisfaktion für ein verfehltes Leben.

Einmal sagte mein Mann, falls es ihm nicht bestimmt sei, schnell und schmerzfrei zu sterben, solle ich ihm dabei helfen. Wie, fragte ich. Falls er todkrank sein würde, solle ich ihm eine Überdosis verpassen. Ich sagte ihm, das sei strafbar. Er sagte mir, würde ich ihn lieben, würde ich das für ihn tun.

Natürlich würde ich das tun. Ja, das würde ich sicher machen. Aber nicht aus Liebe. Nein, ich liebe ihn nicht. Ich bin ihm gegenüber gleichgültig. Er ist das Wesen, mit dem ich mittlerweile vierzehn Jahre verbracht habe, der Mann, über den ich alles weiß und von dem ich nichts mehr wissen will. Er existiert nicht mehr, weder für mich noch für sich selbst. Er besteht nur. So wie ein Stuhl oder ein Stein besteht. Er braucht jetzt eine andere Lebensform, die derzeitige hat er schon verbraucht. Das ist eine Tatsache, und sie veranlasste mich dazu, ihn zur Rechenschaft zu ziehen: Er war ein anderer Mensch geworden, bevor wir unsere Beziehung ad acta hätten legen können.

Ich hasse meinen Mann nicht. Es gibt viele Gründe, warum ich ihn hassen könnte. Er manipulierte mich mit Schuldgefühlen und Angst, er saugte mir meine Kraft aus und warf mir vor, ich hätte keine Kraft. Er schaffte es, seine Distanz mir gegenüber auszubauen, indem er sich für einen fehlerlosen und unantastbaren Gott ausgab. Ja, dafür könnte ich ihn hassen. Aber ich hasse ihn nicht, weil ich ihn durchschaue. Ich begriff, wie sehr er seine Schwächen zu verbergen suchte. Und das gab mir Kraft, ihn nicht zu hassen. Denn wie kann man einen Schwachen hassen? Nein, man kann ihn nicht hassen, man kann nur Mitgefühl für ihn haben.

Aber ich habe auch kein Mitgefühl für ihn. Nein, das sicher nicht. Ich bekenne mich dazu, dass es für mich keine Rolle spielt, ob sich ein Mensch dessen bewusst ist, was er tut, oder nicht. Diese Tatsache rechtfertigt nichts, und ich rechtfertige mich ebenso wenig. Ich bekenne mich schuldig – ich vergebe demjenigen nicht, der nicht wusste, was er tat.

Früher hasste ich ihn, verabscheute ihn, verachtete ihn, widersprach ihm, ignorierte ihn. Aber das sind banale Gefühle für banale Situationen. Banale Erklärungen. Ich hatte viele Jahre Zeit zum Nachdenken, daraus sollte man klug werden. Nicht banal. Ich will mich nicht mit der Verzeihung beschäftigen, die banale Menschen jemandem gewähren. Wie sieht nämlich die Verzeihung in den Augen eines banalen Menschen aus? Folgendermaßen: „Ich verzeihe dir, weil ich ein guter Mensch bin. Und jetzt, aufgrund meines Verzeihens, musst du dich ändern …“ Und obwohl der andere keine Absicht hat, sich zu ändern – weil er nicht den blassesten Schimmer davon hat, was er verbrochen haben sollte –, ist der Verzeihende fest davon überzeugt, dass seine Mühe belohnt wird: „Früher oder später wirst du dich ändern …“ – So dachte ich früher auch. Ich verzieh meinem Mann alles Mögliche, ich setzte mich über alle seine Spielchen hinweg. Ich dachte: „Du wirst dich ändern. Du wirst es einsehen.“ – Aber er änderte sich nicht, er behauptete sich durch mich und mein Vergeben: Je öfter ich ihm vergab, desto öfter nutzte er es aus.

Ich bin seinetwegen nicht tödlich erkrankt oder seiner Verletzungen wegen verkrüppelt, auch sterbe ich seinetwegen nicht. Nein, solche Folgen haben seine Taten nicht. Er verprügelte mich nicht, er verletzte mich nicht körperlich, er tat mir nichts Offensichtliches an. Es ging nur um Gesprochenes. Gesprochenes mit vernichtender Wirkung. Welches mein Leben fast zerstörte. Ja, man kann mir sagen: „Aber du bist doch erwachsen! Du hast keinen Grund, dich zu beschweren: Ein paar Ungereimtheiten in der Ehe – das ist doch normal. Die meisten Eheleute würden den Partner für viel Ärgeres nicht töten. Sich nicht mal scheiden lassen.“ – Das weiß ich. Ich weiß, dass viele Menschen, auch sehr kultivierte und gebildete Menschen, weit Schlimmeres in der Ehe erdulden. Denn Dulden gehört eben zur Ehe dazu. Ich kenne viele solche Ehen. In einer solchen Ehe glaubt man, nach einer Scheußlichkeit würde es besser werden, ja, es wird schon besser werden, das ist nur vorläufig so, es wird vorbeigehen, es muss vorbeigehen. Und dann kommt eine neue Sauerei, eine neue Widerlichkeit, nein, nein, das habe ich nicht so gemeint, das hast du falsch verstanden, na gut, wenn du willst, ich sage dir, es tut mir leid, ja, für den Frieden in der Familie, ja. Und man lässt sich nicht scheiden, weil so viel in die Ehe investiert wurde. Und die Jahre vergehen, Jahre der „Fehler“ und „Missverständnisse“, sie reihen sich eines an das andere, und zum Schluss, wenn man sich umdreht und zurückblickt, sieht man, dass die Ehe ein stinkender Misthaufen von aufeinandergestapelten „kleinen Ungereimtheiten“ geworden ist. – Aber ich bin nicht wie andere. Und ich will nicht wie andere werden. Mir reichen vierzehn Jahre. Ich will nicht aus meiner Liebesbeziehung frustriert raus und mich weiter allein mit meiner Frustration durchschlagen, für welche er verantwortlich ist. Ich will eine strenge Rechnung. Wie nach dem Tod eines Menschen. Mit dem Unterschied, dass bei uns die Ehe tot ist: Man soll feststellen, was man sich gegenseitig schuldet, wem was gehört, welche Schulden hinterlassen wurden, was wer verdiente, was gerecht ist. Das ist wichtig und auch gesund – damit man ein neues Blatt im Leben aufschlagen kann.

Warum verlasse ich meinen Mann nicht einfach? – Daran hatte ich auch gedacht. Aber das geht jetzt nicht mehr. Nach all den Jahren unseres gemeinsamen Lebens kann ich nicht einfach darüber hinwegschauen, wie er sich benahm. Ich kann unsere Ehejahre nicht vergessen und sagen: „All das hast du eigentlich nur gut gemeint, oder, Schatzilein? … Ach, lass uns von jetzt an Kumpel sein. Ist das nicht super menschlich und lieb?“ Und wenn es dazu kommen würde, dann sollten diese Worte aus seinem Mund kommen, nicht aus meinem. Er sollte mir eine Entschuldigung anbieten, nicht ich ihm. Ja, er sollte mir eine Entschuldigung anbieten, die ich aber sicher nicht annehmen würde. Denn jeder Mensch weiß nur zu genau, was er tut und was er damit bewirkt. Mein Mann ist keine Ausnahme. Und es ist wichtig, dass wir für unsere Taten zur Verantwortung gezogen werden. Ja, früher war ich zu schwach, um ihn zu verlassen – aber jetzt will ich ihn nicht mehr verlassen.

Was ist passiert, dass ich so eine Entscheidung traf? Was brachte das Fass zum Überlaufen?

Der Anlass war Karl.

Unser Freund Karl besuchte uns nach längerer Zeit wieder, und wieder wollte er einen Gefallen von mir. Diesmal ging es darum, dass ich für ihn innerhalb von drei Wochen nichts weniger als einen Gedichtband übersetzen sollte. Weil es dringend sei. – Ich lehnte ab, sagte, ich könne nicht so schnell übersetzen. Aber alle anderen hätten ebenfalls abgelehnt, so Karl, und die Abgabefrist sei schon ausgemacht, er sei in Zeitnot, nur ich könne ihn retten. Ich wiederholte, ich könne es nicht übernehmen. Warum ich so herzlos sei, warum ich ihm nicht helfen wolle, was für ein Mensch ich sei. Darauf lachte ich: Mit Schuldgefühlen solle er es bei jemand anderem versuchen, ich hätte diese Lehre vor langer Zeit abgeschlossen. Er werde dadurch viele Leute enttäuschen, und dabei habe er mich so gelobt. Darauf lachte ich und sagte, er hätte sich mit meinem Namen nicht so leichtsinnig wichtigmachen sollen.

Karl ging beleidigt fort. Er ließ sich leicht beleidigen, aber er setzte sich auch schnell über die Beleidigungen hinweg. Er sagte selbst, dass er leichtsinnig sei, dass er von fremden Empfehlungen und geförderten Projekten lebe. Hinsichtlich der Tatsache, dass er ledig, glatzköpfig, fett und jung ist, ist es auch klar, dass er ehrgeizig sein muss. Eine tödliche Kombination für seine Mitmenschen. Und vermutlich aus diesem Grund – dem Beispiel Karls folgend – fragte mich mein Mann im Scherz, ob er es bei mir mit Schuldgefühlen versuchen könne. Ich zog die Mundwinkel nach oben und sagte, dass er es freilich versuchen könne. Was er von mir wolle? – Er schwieg. Mein lieber Mann schwieg auf einmal. Keine unterschwellige Anmerkung, keine Zweideutigkeit, kein spöttisches Belächeln. Nur ein unsicherer Blick. Ein trauriges, rissiges Lächeln. Nach einer Pause sagte er zu mir: „Lidia, es tut mir leid.“ – „Was tut dir leid?“ – „Dass du so unglücklich bist.“ – „Ja? … Und was machen wir jetzt?“ – Er schaute mich an: „Du weißt doch, dass ich dich liebe. Wenn dich eine Scheidung glücklich machen würde, kann ich darüber nachdenken … obwohl ich dich liebe.“ – „Und du würdest du dich scheiden lassen, obwohl du mich liebst?“ – „Ich will nicht, dass du unglücklich bist.“ – Ich sagte: „Es ist zu spät, Helmut.“ – „Kann ich das nicht mehr zurechtbiegen?“ – „Nein, kannst du nicht.“ – Er schaute mich innig wie ein junger Straßenköter an: „Du bleibst bei mir, oder?“ – Ich schaute ihn unverwandt an und sagte: „Ja.“

So etwas hätte er mich früher nie gefragt. Früher hätte er nie an der Situation gezweifelt. Er hätte unsere Beziehung nie infrage gestellt. Es ist offensichtlich, dass er seine Substanz, sein Wesen, seine Identität verloren hat, all das, wonach er er war: die Selbstsicherheit in Person. Er ist ein anderer geworden und jetzt will er die Sache anders aufrollen. Aber – das geht nicht, bevor die alte Rechnung bezahlt ist. Nein, sicher nicht. Es geht um ein einfaches Geschäft: Wir hatten vor langer Zeit einen Pakt abgeschlossen und jetzt ist der Bilanztag gekommen. Zahltag – würde man sagen. Meinerseits – mit einem Abendessen garniert. Was getan ist, ist getan, daran lässt sich nichts ändern, und man muss das ganze Geschäft mit einer Rechnung abrunden. So gehört sich das eben.

*

War es früher besser? – Nein, früher war es anders. Unsere Beziehung hatte einen anderen Gehalt. Ich liebte ihn, weil er mich in der Überzeugung hielt, ohne ihn nur ein halber Mensch zu sein. Er kannte meine Ängste, machte sie nie zum Gesprächsthema, stellte sie nie infrage und gab mir das Gefühl, dass ich vollkommen war. Vollkommen aber nur, solange ich mit ihm zusammen war.

Er war überglücklich, als ich den ersten Text zur Übersetzung bekam. Ich war mit einem in Prag abgeschlossenen Literaturstudium nach Wien gekommen, hatte keine Beziehungen und keine Bekanntschaften. Er war zwanzig Jahre älter als ich, schon damals ein gefragter Steuerberater, er wollte mir helfen, da er mich liebte. Und so bekam ich mit seiner Hilfe meine erste Übersetzung. Er war hinterher so zufrieden, als ob er selbst die Übersetzung bekommen hätte.

Ich übersetzte einen Text über ein sozialpolitisches Thema. Bei schwierigen Stellen konsultierte ich einen Deutschprofessor in meinem Geburtsort Ostrava, meinen ehemaligen Nachbarn. Im Laufe der Übersetzung zog ich zwei Bücher zum selben Thema zu Rate und bat meinen Mann zum Schluss, dass er meine Übersetzung durchlese. Er fühlte sich geschmeichelt und las die Übersetzung durch. – Danach sagte er mir mit einer kühlen, bedächtigen Stimme: „Du hast die Übersetzung total verfehlt. So ein Deutsch schreibt man in Österreich nicht.“ – „Was?! … Aber das ist ein Sachtext, die Fachsprache.“ – „Nein. Sogar eine Fachübersetzung schreibt man nicht so.“ – „Sondern?“ – „Anders.“ – „Wie anders?“ Er könne es mir zeigen. Und er zeigte es mir – er strich zwei Drittel der Übersetzung durch. Abgesehen von stilistischen Fehlern. Aber das sei nur sein Vorschlag, ich könne die Übersetzung auch ohne seine Vorschläge abgeben.

Ich tat es nicht. Ich berichtigte meine Übersetzung seinen Korrekturen gemäß und gab sie ab. Der Auftraggeber war zufrieden, wunderte sich, dass es meine erste Übersetzung war, weil sie so elegant geschrieben war.

Wenn ich meine erste Übersetzung mit meinen Fehlern abgegeben hätte, hätte ich keine weiteren Übersetzungen mehr bekommen. Das wäre besser gewesen: mir mangelnde Kenntnisse einzugestehen und mich mehr zu bemühen. Oder vielleicht von Übersetzung überhaupt abzusehen.

Aber ich dachte, ich sei ein Glückspilz, einen solchen Menschen an meiner Seite zu haben. Ja, mein Deutsch war mangelhaft, schwerfällig und ungewöhnlich. Das war eine Tatsache, der ich mir bewusst war. Aber ich hatte keinen Mut gehabt, hinter meinem Unwissen zu stehen, keinen Mut, um es zuzugeben, den Kampf zu verlieren, um dann den Mut zu haben, trotz allem weiterzumachen. Ich gab einfach „seine“ Arbeit ab und wurde somit von seiner Meinung, seiner Hilfe und seiner Unterstützung abhängig.

Lange Zeit genoss ich seinen Beistand beim Übersetzen. Wir waren drei Jahre zusammen, als ich mich dagegen auflehnte.

Als ich Adam kennenlernte.

Adam war meine unterdrückte Stimme. Er wusste nicht, was für eine Rolle er in meinem Leben spielte, aber er brauchte es auch nicht zu wissen. Er war zu ehrlich für die Realität, ein Ritter, dem Begriffe wie Loyalität und Opferbereitschaft etwas bedeuteten. Er war der Mann, der seine Bestimmung suchte. Und er dachte, in mir würde er sie finden.

Adam kam in unsere Wohnung als Verwandter von Bernd. Bernd hatte mit meinem Mann studiert, sich für den Staatsdienst entschieden und war seit Jahren im Kulturministerium angestellt. Adam war auch ein Schulfreund seiner viel jüngeren Frau Sophie. Adam war fünf Jahre älter als ich, hatte das Publizistikstudium abgeschlossen und leitete den Slowakischen Kulturverein in Wien.

Er hatte lange, durchsichtige Hände, die im Gespräch mitsprachen, ein warmes Lachen und eine tiefe Stimme. Er bat mich, ein paar historische Texte über Brno zu übersetzen, für eine Monographie. Ich winkte ab, weil ich nicht sicher war, ob ich der Übersetzung gewachsen war. Aber er ignorierte meine Ablehnung, drückte mir die Texte in die Hand und rief mich am nächsten Tag an: Ob ich sie schon durchgelesen hätte? – Als wir uns zum Kaffee trafen, sagte er mir, er hätte die Texte auch einem Freund, Profiübersetzer, geben können, aber das wollte er nicht. Wieso nicht? Er wollte mich wiedersehen, ich hätte eine Ausstrahlung, die er nicht vergessen könne.

Und so begannen unsere Verabredungen.

Wir unterhielten uns stundenlang, meistens über ihn und sein Leben in Österreich, über welches er kurzweilig und scherzhaft erzählte. Ich wollte über mich und mein Leben – das Leben einer jungen Frau aus der Provinz, die reich geheiratet hatte, – nicht viel preisgeben, denn es hörte sich an wie ein schlechtes Klischee. Und über die Liebe zu meinem Mann wollte ich mich mit ihm nicht unterhalten. Adam hatte eine Affäre hinter sich, mit einer verheirateten Frau aus Sankt Pölten, die ihn als Scheidungsgrund benützte. Aber er war ihr nicht böse, er war großzügig mit Gefühlen und im Vergeben, er nahm alles und gab alles ohne Reue. Er führte mich in seinen Verein ein und stellte mich als seine beste Freundin vor. Ich wurde zu Partys seiner Freunde und Bekannten eingeladen. Ich ermunterte auch meinen Mann dazu, mitzukommen, aber er wollte nicht. Ich spürte die fragenden Blicke der Freunde – ob wir, Adam und ich, ein Paar seien. Ich antwortete nicht, ich lächelte nur. Mir gefiel Adams warmherzige Freundschaft, seine Vertrautheit, Offenheit, Leichtigkeit und Gelassenheit. Es gefiel mir, über slowakische Witze zu lachen. Ich mochte es, mich am Gespräch über seine Pläne zu beteiligen, weil ich keine eigenen hatte: Ich lebte in einer großen Wohnung, mein Mann verdiente gut, bei mir war alles durchgeplant. Ich wollte mich einer Täuschung hingeben. Ich brauchte eine Geschichte, in der ich eine andere Person sein konnte. Und ich erlaubte mir, eine solche Täuschung auch zu genießen. Gelegentlich sagte Adam zu mir – scherzhaft, natürlich: „Wann heiraten wir denn, Herzilein?“

Nach einer Weile wollte Adam von mir mehr als nur Freundschaft – das war deutlich zu spüren – er hörte manchmal mitten im Gespräch auf und starrte mich nur an. Ich wollte das nicht wahrhaben. Ich wollte nicht glauben, dass unsere Freundschaft zum Flirt überging. Doch dabei übersah ich etwas Wichtiges. – Mich selbst …

Ja, es gibt immer einen Schritt, den man nicht kontrollieren kann. Einen Schritt, den man sicher nicht will, der aber passiert. – Ich gab Adam einen Kuss. Ich rechtfertigte mich vor mir selbst, lautlos: Keine große Sache, wir sind doch keine Kinder! Aber Adam dachte nicht so. Seine Komplimente wurden inniger und vertrauter. – Ich blieb trotzdem dabei: Einen Kuss und ein paar Liebeskomplimente, das kann eine Freundschaft wohl ertragen …

Und dann passierte es, als wir einmal zu viel tranken.