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ENDE. ABERMALS.

DINO BAUK

ENDE. ABERMALS.

Roman
 
Aus dem Slowenischen von Sebastian Walcher

Für Maja,
die mir, seit ich in Denis’ Alter war,
vom Beifahrersitz zulächelt, sowie
Urban, Gašper und Uroš,
die ständig, gleichzeitig und durcheinander,
aus dem Rückspiegel auf uns einschwatzen.

 

Sie waren zu sechst, vier Männer und zwei Mädchen mit hellen Haaren. Sie standen, so schien es, jeder für sich auf dem kleinen Hügel, doch Kate erkannte ein Muster. Sie ging an einem der Männer vorüber, in seinen Augen war Leere. Noch ein, zwei Schritte, dann war sie an ihrem Platz.

Da hörte sie Stille. Und begann ein stummes Lied zu singen.

David Albahari, Stummes Lied

INHALT

Umschlag

Titelei

Impressum

Widmung

Stummes Lied

Denis, 1989

Mary

Peter & Goran

Denis, 1994

Mary

Peter & Goran

Denis, 1990

Ende

Abermals

Anmerkungen des Übersetzers

DENIS, 1989

Er mochte neblige Herbsttage, an denen man nur das sieht, was ganz nahe ist. In dieser kleinen Welt mit einem Meter Durchmesser, begrenzt durch Wände kondensierter Feuchtigkeit, in der es keinen Platz für jemand anderen gibt, konnte er so tun, als wäre er allein: auf der Straße, in der Stadt, auf der Welt. Er sieht nur ein oder zwei Schritte weit und seine kleine Welt bewegt sich mit ihm, als begleitete ihn der runde Strahl eines gelben Scheinwerfers über eine dunkle Bühne. Von anderen Menschen, die ihm entgegenkommen, hört er zuallererst nur ihre leisen, gedämpften Schritte, die immer lauter werden, dann schneiden, bloß für einen Moment, schwarze Schatten, die rasch vorüberfallen, durch die Nebelwand. Im Nebel konnte er auch an Bekannten vorübergehen, ohne sie begrüßen oder sich mit ihnen in langweilige Höflichkeitsgespräche über rein gar nichts verwickeln zu müssen. Der Großteil der Leute ging ihm sowieso auf die Nerven. Er war sechzehn: alt genug für Zigaretten, Alkohol und nächtliche Ausflüge, zu jung für richtige Selbstständigkeit. Seinen Alten Rechenschaft abzulegen hatte er schon längst bis dorthinaus. Die Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in der zwölften Etage des zwanzigstöckigen Hochhauses in der Siedlung erschien ihm jeden Tag kleiner. Es war nur in jenen Momenten erträglich, wenn sich niemand zu sehr bewegte, wenn der Alte vor der Glotze döste, die Alte gerade die Küche aufräumte und sich am großen Esstisch eine Zigarette anzündete, während er selbst in seinem kleinen Zimmer mit Kopfhörern am Kassettenrekorder Musik hörte, las oder leise, quasi tonlos, auf der Gitarre Akkorde übte, ohne mit der rechten Hand tatsächlich die stummen Saiten zu schlagen. Ansonsten hatte er die meiste Zeit das Gefühl, in der Wohnung herrsche unerträgliches Gedränge, wenngleich sich dort nur drei Menschen befanden. Als sänke sich die Decke jeden Tag einen Millimeter Richtung Boden und als näherten sich die Wände einander millimeterweise. Ihm drohte die Luft auszugehen, es zog ihn hinaus auf die Straße, in den kalten Abend, die neblige Zuflucht. Mit seinem Alten spielte er, routiniert wie sturmerprobte Schauspieler, Abend für Abend ein bis ins letzte Detail einstudiertes Ritual durch. Nur für sich und die Alte, so sie nicht nachmittags arbeitete, führten sie einen kleinen site-specific-theatre-Einakter auf. Als er schon fast bei der Wohnungstür war, nachdem er bereits seine abgetragene Vietnam-Jacke angezogen, mit einer Hand die schwarze Strickmütze geschnappt und mit der anderen nach der Klinke der Eingangstür gegriffen hatte, meldete sich aus dem Wohnzimmer sein Alter.

Denis! Gde ćeš opet? Wohin willst du schon wieder?

In die Stadt.

Warum zum Teufel treibst du dich jeden Abend in der Stadt herum wie ein Penner? Willst du, dass die Polizei wieder deinen Ausweis überprüft?

Für den Alten machte es keinen bedeutenden Unterschied, ob die Polizei seine Personalien während einer routinemäßigen Kontrolle aufgenommen hatte, oder ob sie ihn beim Einbruch in einen Duty-free-Shop, mit einem Sack voller importierter Zigaretten, Whiskys und Schokoladen aufgegriffen hätten. Irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben, bedeutete eben sich etwas zuschulden kommen zu lassen, wenn schon nichts anderes, dann zumindest zielloses, unnötiges abendliches Umhertreiben, was in der Welt des Respekts vor jeglicher Autorität, in der sein Alter lebte, ein schlechtes Licht warf, mehr auf seine Eltern als auf ihn selbst. Seitdem ihn letztens beim Rundgang durch die Siedlung zwei Polizisten aufgehalten und ausgefragt hatten, wer denn die Wände mit Graffiti beschmiert habe, und dann gewissenhaft seine Daten notiert hatten, war dies für seinen Alten die neueste tägliche Sorge. Jemand (und Denis wusste natürlich genau wer) hatte nämlich auf die weiße Wand, die ein großes rundes Loch mitten auf dem Betonplatz umgab, das den Blick auf die Garagen darunter eröffnete, Fuck off Polska geschrieben. Die Polizisten und offensichtlich auch jener besorgte Bürger, der sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, wahrscheinlich auch die Mehrheit der Erwachsenen in der Siedlung, lasen das mit schwarzem Spray schnell aufgesprühte Graffito als etwas Staatsfeindliches, als Beleidigung, wenngleich es sich in Wahrheit um einen ganz und gar unschuldigen und sinnlosen Slangausdruck handelte, der in dieser Zeit unter den Teenagern der Siedlung in war. Irgendjemand hatte ihn wahrscheinlich eines Abends ganz nebenbei in einer größeren oder kleineren Runde eingeworfen, ein Zweiter und Dritter hatten ihn in einer zweiten und dritten größeren oder kleineren Runde wiederholt und schon war er in allgemeiner Verwendung. Fuck off Polska sagten jetzt praktisch alle Jugendlichen der Siedlung statt dieses langweiligen und simplen Ciao. Das begann Denis den beiden Hütern des Gesetzes natürlich erst gar nicht zu erklären, da es ihn auf gewisse Weise erheiterte, wie schrecklich gefährlich ihnen diese rasch hingekritzelte Aufschrift schien, die der Autor wahrscheinlich schon am nächsten Tag vergessen hatte, nachdem er sie im Schutz der Dunkelheit an die Wand gesprayt hatte. Andererseits hatte er extrem leichtsinnig zu Hause von seinem Gespräch mit den Männern in Blau erzählt, um auch noch mit seinen Eltern die Wut über diese unnötige Belästigung teilen zu können, was ihm bereits im nächsten Moment fürchterlich leid tat, als sein Alter vor Aufregung explodierte und ihn von der Couch im Wohnzimmer in die Küche sprengte.

Von da an erinnerte ihn sein Alter, den vor allem die Sorge plagte, er könnte wegen ihm Schwierigkeiten in der Kaserne bekommen, praktisch vor jedem abendlichen Ausgang, er solle aufpassen, dass sie ihn nicht wieder zufällig irgendwo aufhalten und aufschreiben würden. Er war überzeugt, dass jede dieser Niederschriften in das kleine Notizheft eines gewissenhaften Polizisten für alle Zeit irgendwo tief in den Eingeweiden der staatlichen Administration gespeichert bleibe, und diese könnte, so es sich denn als notwendig erweisen sollte, die Notiz jederzeit zurück ans Tageslicht speien. Ja, die Welt, in der sein Alter lebte, war eine Welt ständiger Überwachung, die jedoch nicht mit Hilfe von Kameras und Mikrofonen der Staatssicherheit vom allgegenwärtigen Auge des Großen Bruders durchgeführt wurde, wovon sein Alter überzeugt war. Es war alles deutlich weniger subtil, eigentlich sogar simpel, dadurch jedoch um einiges wirkungsvoller. Der einzige Überwacher des Lebens von Denis’ Altem und somit auch von Denis’ Leben, war Denis’ Alter.

Ne brini, keine Sorge. Ich gehe zu ’nem Konzert, ich komme mit dem Bus um zwölf.

Er zog die Tür hinter sich zu und sie fiel deutlich lauter ins Schloss, als er es erwartet hatte. Immer, wenn er auf den Lift wartete, ging das Licht im Gang aus, bevor der Fahrstuhl bis ins zwölfte Stockwerk gelangen konnte. Niemals schaltete er es nochmals ein, sodass er durch die Scheibe auf der Metalltür in der Dunkelheit des Schachtes, kurz bevor ihn das Neonlicht des Fahrstuhls erfüllte, seine Reflexion betrachten konnte. Im Keller, unter der Treppe, die zum Schutzraum führte, von dem niemand der Wohnblockbewohner glauben konnte, dass sie dort irgendwann in nächster Zukunft tatsächlich in Angst Zuflucht suchen würden, nahm er Zigaretten und Streichhölzer, die er dort versteckte, öffnete routiniert, mit dem Ellbogen, während er die Zigarette bereits anzündete, die Eingangstür des Blocks und trat mit einer Art Halbkreisschritt ins Freie. Kühle Abendluft, der Smog und billige Kohle diesen charakteristischen Charme von Ljubljana gaben, füllte ihm, zusammen mit dem ersten Zug der Winston, zuerst Nase und Mund und schließlich die Lunge. Dies war für ihn der Duft der Freiheit: ein Quodlibet aus Dämmerung, Kälte, Nebel und Zigarettenrauch. Er war allein auf der Straße, umhüllt von einem dichten Nebelmantel, der ihn vor bekannten und unbekannten Passanten verbarg. Der Weg zur Autobushaltestelle dauerte stets genau eine Zigarettenlänge. An der Haltestelle standen bereits ein großgewachsener, hagerer Bursche mit Brille, ein wenig älter als er, und ein Mädchen. Sicher eine Studentin, dachte Denis. Nur diese verfluchten Studentinnen tragen schwarze Pullis und Mäntel mit Badges, die mitteilen, dass die Dinge ihnen nicht egal sind, dass sie aktiv sind. Ihnen ist die Redefreiheit nicht egal, Delfine sind ihnen nicht egal, tibetische Mönche sind ihnen nicht egal, der Amazonasurwald ist ihnen nicht egal, die Bergleute im Kosovo sind ihnen nicht egal, die chinesischen Studenten sind ihnen nicht egal und Janša ist ihnen nicht egal, der dem Militär irgendwelche Geheimpapiere entwendet und sie dann veröffentlicht haben soll. An den schmalen Typen konnte er sich noch aus der Grundschule erinnern, einer der Punks in Lederjacke, mit Ketten bewaffnet, dünneren und dickeren, immer mit Zigarette im Mund. Denis, der ein paar Jahre jünger war, schienen sie ziemlich bedrohlich, wie Gespenster aus der Unterwelt. Er fürchtete sich gehörig vor ihnen, wenngleich sie sich nie mit ihm beschäftigten. Jetzt, nach seiner Rückkehr vom Militärdienst, ähnelte der Schlaks eher einem vernachlässigten Hippie als einem Punk. Offensichtlich hatte ihn die gute alte JNA, die Jugoslawische Volksarmee, irgendwie kastriert, was Denis und seine Altersgenossen von der Straße bei Heimkehrern vom Wehrdienst auch sonst häufig feststellten. Als sich Denis neben die beiden stellte, erklärte der Typ der Studentin gerade, wie sehr ihn die Punk-Rock-Band Pankrti und ihr Sänger Pero Lovšin enttäuscht hätten, da sie sich wieder für ein Konzert für Janša und die anderen drei zusammengetan hatten. Währenddessen saugte er nervös an der Zigarette, als bemühte er sich, sie auf jeden Fall noch aufzurauchen, bevor der Bus kam.

Hör zu, so laufts nicht, zuerst vertschüssen, einmal noch last pogo, ciao, wir sind weg, und dann, erste Chance, sofort wieder Reunion – quasi hey, wir sind wieder da. Scheiße, kann man nicht bringen.

Es sah nicht so aus, als ob es die Studentin interessierte, was er da erzählte. Vielleicht würde sie das Thema selbst ja reizen, doch der zufällige Gesprächspartner ging ihr mehr als offensichtlich auf die Nerven, daher nickte sie bloß und blickte ziemlich übertrieben die Straße hinunter, ob sich der Bus schon näherte. Sie waren nicht gemeinsam gekommen, der Hippie hatte sie überrumpelt, als sie an der Haltestelle wartete. Eine Bushaltestelle ist wie eine Mausefalle: solange kein Bus kommt, kann man nirgendwohin und wenn gerade in diesem Moment jemand kommt, dem man wirklich nicht zuhören möchte, ihn aber zumindest vom Sehen kennt, dann ist man verdammt. Kein Ausweg. Gefangen. Denis erheiterte der Gedanke, die Studentin würde den Brillenfreak und sein Zutexten nicht mal dann loswerden, wenn der Bus endlich käme, weil sich der Typ garantiert an sie dranhängen und mit seinem Theoretisieren über Pankrti und ihrem weg und wieder back mindestens noch acht Stationen volldröhnen würde, bis zum Bavarski dvor.

Auf der anderen Straßenseite blieb der Autobus stehen, der aus dem Zentrum in die Siedlung fuhr. Es stiegen verträumte Gymnasiasten aus, die Nachmittagsunterricht gehabt hatten, nervöse Mütter mit kleinen Kindern, denen sie im Stadtzentrum Winterschuhe gekauft hatten, entspannte Pensionisten, die in Pärchen ein wenig in der Stadt flanieren waren, sowie ein paar Männer und Frauen mittleren Alters, die von ihren Nachmittagsjobs zurückkehrten. Unter den letzten entdeckte er auch seine Alte. Er winkte ihr nicht zu, rief sie nicht einmal. Ihm war nicht danach.

Der Bus, der ihn, den Hippie und die Studentin ins Zentrum bringen sollte, war leer. Der Hippie und die gelangweilte Studentin setzten sich irgendwo in die Mitte, direkt vor das Gelenk, wo er nach wie vor langweilige Selbstgespräche führte und sie, ihrem Schicksal ergeben, auf die Rettung wartete, die ihr der Ausstieg bringen würde. Denis stellte sich vor, wie sie die Worte des Hippies, die rasch und ohne Unterlass aus seinem Mund sprudelten, in ein Spinnennetz hüllten, das sie festschnürte und würgte und das sie erst zerreißen würde, wenn sie endlich ihr rettendes So, hier steig ich aus, sagen könnte.

Denis nahm immer am Ende des Busses Platz, in der letzten Reihe. So hatte er einen Überblick über das Geschehen. Gerne beobachtete er völlig fremde Leute, die ein- und ausstiegen, versuchte ihre Berufe zu erraten, dachte sich ihre Geschichten aus. Mit einigen hatte er Mitleid, da ihnen das Leben offensichtlich eine Statistenrolle zugedacht hatte, andere wiederum beneidete er, da ihm schien, sie hätten bei der Rollenverteilung mehr Glück gehabt als er, wenngleich er der Meinung war, eine bedeutendere zu spielen als sie. Er glaubte fest daran, dass er nicht unbemerkt durchs Leben gehen werde, obwohl er nicht den blassesten Schimmer hatte, wodurch er sich vom Durchschnitt abheben sollte. Vielleicht würden sie eines Tages mit ihrer Kellerband erfolgreich sein, die ihm, Peter und Goran immer mehr Freizeit nahm, obwohl sie noch viele Probestunden vom ersten Auftritt entfernt waren. Ihm träumte nicht einmal, dass er in ein paar Jahren, wenn er aufgrund des Gedränges gereizt aus der Schlange vor dem Schalter für die Regelung der Staatsbürgerschaft austreten würde, gänzlich unsichtbar werden würde. Und dass man ihn und seinesgleichen noch einige Jahre später Ausgelöschte nennen würde.

Auch am frühen Nachmittag desselben Tages, als er aus der Schule nach Hause gefahren war, war er auf dem gleichen hintersten Sitz des Busses gesessen und hatte die Leute beobachtet, die einstiegen. In das Innere drang durch die großen verdreckten Fenster gleißend die Sonne, die für eine kurze Zeit über Ljubljana herrschte, nachdem sich der Morgennebel aufgelöst hatte und der nachmittägliche sich erst in ein oder zwei Stunden über die Stadt senken würde. Man stieg nur bei der Vordertür in den Bus ein, beim Fahrer, der sich gerade das grüne Wintersakko seiner Uniform auszog und sich langsam, während er durch seine dunkle Brille aufmerksam die Monatskarten der Fahrgäste kontrollierte, die Ärmel seines gestreiften Hemdes aufkrempelte. Da noch nicht die Zeit der Massenwanderung aus dem Zentrum zu den Siedlungen angebrochen war, stiegen nur einige Schüler und Pensionisten ein. Ganz hinten, am Ende, hinter allen Zugestiegenen, erblickte Denis sie. Anfangs bemerkte er sie nicht einmal in der Gruppe von vier uniformierten Jugendlichen. Sie stieg als letzte ein, hinter zwei Burschen und einem Mädchen in weißen Hemden und dunklen Mänteln. Er erkannte sie anhand der schwarzen Schilder auf der Brust.

Pfff, Morons.

Vor Kurzem hatte er sie zum ersten Mal in der Stadt bemerkt. Junge Amerikaner in seinem Alter und ein wenig älter hatten begonnen, ihn ab und an auf dem Schulweg abzufangen, auf den Promenaden im Stadtzentrum, die sie offensichtlich als Hauptjagdgründe auserkoren hatten. Bis dato hatte er bloß männliche Exemplare getroffen. In ihrer Geschniegeltheit erschienen sie ihm komisch, das genaue Gegenteil seiner Vorstellung von Jugendlichen aus dem Heimatland des Rock 'n' Roll. Mit ihren makellosen Scheitel, Bundfaltenhosen und Permanentlächeln lauerten sie auf Passanten und versuchten ihnen in ausgesprochen gutem, wenngleich mit amerikanischem Akzent gefärbtem Slowenisch etwas über die letzten Tage von Jesus Christus zu erklären, oder so ähnlich.

Zuerst schenkte sie dem Fahrer ein Lächeln, während sie ein paar Münzen in die Box vor ihm warf, dann, als sie sich umdrehte und im Bus weiter nach hinten ging, auch den anderen Fahrgästen, inklusive Denis. Er könnte sie, wie viele zuvor auch, nur beobachten, versuchen ihre Geschichte zu erraten, vielleicht für einen Moment ihren Blick erhaschen, ihr sogar zulächeln, um dann nach dem Ausstieg fortzustiefeln, mit einer weiteren angenehmen Miniatur in seiner Sammlung von Momenten, die nicht sofort gelöscht werden, sondern noch einige Zeit über einem schweben und ihm ab und an einen melancholischen Seufzer entlocken. Doch diesmal ging es um eine Mormonin: wahrscheinlich war es schwieriger dem Kontakt mit ihr zu entgehen als ihn herzustellen. Ein kurzer Blick in ihre Richtung, den auch einer der beiden Burschen abfing, genügte, dass die ganze Mormonentruppe zu ihm trat. Wenngleich sie sich nach wie vor im Hintergrund hielt, fing er ihren Blick ein, als bemerkte er die anderen drei überhaupt nicht und reagierte auch nicht auf ihr perfekt eingespieltes Ich bin Brother so und so, das ist Brother so und so. Nur sie interessierte ihn.

So, you must be Sister something?

I am Mary.

Of course, Virgin Mary, what else?

Er hatte das Gefühl, sein kindisches Lachen ärgere sie nicht, sondern erheitere sie eher. Sie belohnte ihn mit einem veränderten, verschmitzteren Lächeln, was ihn zusätzlich ermutigte. Er erhob sich von seinem Sitz, um eine ebenbürtigere Position zum Grüppchen einzunehmen und sich näher an sie, die noch immer hinter ihren beiden Brothers und der Sister stand, heran zu zwängen. Einer der beiden geleckten Schisser versuchte das Gespräch zu führen, doch Denis kommunizierte absichtlich ausschließlich mit ihr, verwandelte somit die anderen drei Mormonen in unnötige Anhängsel, was sie nach einigen Haltestellen auch selbst verstanden und sich langsam in Gespräche untereinander zurückzogen.

Endlich war er im Eins gegen Eins mit diesem verspielten Lächeln, das ihre Neugier verriet und zugleich wie ein reißender Fluss mit Leichtigkeit über seine Ufer trat. Der Klang des Busmotors, verstärkt vom Zischen und Schnaufen der bereits gehörig müden Hydraulik, wickelte ihr Gespräch in einen undurchdringlichen Klangvorhang, der sich an jeder Haltestelle für einen Moment hob und es den anderen Fahrgästen zu Gehör brachte, vor allem aber dem Rest der Mormonenexpedition.

I will let you tell me all about your God, but you have to let me take you to my church first, sagte er während einer dieser Pausen, als der Bus zur Gänze verstummte, weswegen er fragende Blicke einfing, den einer der Brüder Mary schickte. Der Bus fuhr wieder los und die Fortsetzung ihres Gesprächs versank im Lärm, der warnende Blick einer der Brüder begleitete Mary bis zur Haltestelle, an der die Gruppe ausstieg.

Die Studentin äußerte gerade an jener Haltestelle, an der auch Denis mit Mary verabredet war, ihr rettendes Hier steig ich aus. Denis war sich nicht absolut sicher, ob Mary tatsächlich auftauchen würde. Als er sie am frühen Nachmittag eingeladen hatte, sich zu treffen, hatte sie zwar mit unverhohlenem Interesse und stiller Zustimmung reagiert, der sofort ein flüchtiger Blick schlechten Gewissens zu jenem Brother folgte, der sie während des Gesprächs am besorgtesten beobachtet hatte. Wegen dieses kurzen Reality Checks, als sie für einen Moment ihren Blickkontakt unterbrach, fragte sich Denis später, ob sie es ernst gemeint hatte oder nicht.

Der Hippie fuhr samt seinem Schmerz wegen des zu frühen Comebacks der Pankrti weiter ins Stadtzentrum, Denis und die Studentin waren ausgestiegen. Schon auf der letzten Stufe des Busses zündete er sich eine Zigarette an. Während er seine Jacke zuknöpfte, blickte er sich an der Haltestelle um. War sie gekommen? Als er sich, bereits enorm enttäuscht, immer sicherer wurde, dass er offensichtlich allein zum Konzert gehen würde, trat aus der dunkelsten Ecke der Haltestelle, unter einem Baum, der quasi direkt aus dem Asphalt wuchs, Mary in den Schein der Straßenlaterne.

So, where is this church of yours?, führte sie sein Spiel mit der Metapher fort, wenngleich sie genau wusste, wohin sie gingen. Als an diesem Nachmittag ihr Gespräch wieder sicher in den Lärm des Autobusmotors eingetaucht war, hatte ihr Denis einen seiner Walkmankopfhörer ans Ohr gelegt und erklärt, dies sei das Konzert einer Band, das sie wirklich nicht versäumen dürfe. Als sie sich nun von der Bushaltestelle aufmachten, bot er ihr seine Hand an, doch sie nahm sie nicht; beide Hände steckte sie in die Taschen, um sie vor dem Frost zu verstecken, er tat dasselbe. Wenngleich vor der Halle noch immer ziemlich viele Leute standen, hörte es sich an, als habe das Konzert bereits begonnen.

Auf der Treppe vor dem Eingang sah er wieder die Studentin aus dem Bus. Natürlich war sie genau hierher unterwegs gewesen. Die Band hatte wahrscheinlich die meisten Fans gerade unter jenen Studentinnen, denen es nicht egal ist. So ein beeindruckendes Treppenhaus, verziert mit großen Steinsäulen und -skulpturen, das sich zum Saaleingang hin erhob, hatte Mary nicht erwartet; es erinnerte eher an den Eingang in ein Museum oder ein Opernhaus, als an den Schauplatz eines Rockkonzerts. Als Kontrapunkt zum etwas wehmütigen, melancholischen Rock 'n' Roll, der ihnen entgegen waberte, schuf das Treppenhaus das Bild eines düsteren Übergangs zwischen zwei Welten. Sie verlangsamte ihren Schritt als ahnte sie, der Zeiger ihres Kompasses würde, sobald sie ihn benutzte und den Saal betrat, gänzlich die Richtung ändern, die er all die Jahre beharrlich gehalten hatte; Denis musste einen oder zwei Momente oben auf der Treppe warten, bis sie ihr Zaudern überwand und weiter ging. Genau in diesem Moment trug es den Eröffnungs-Riff jenes Liedes zur hohen Decke, das Denis sofort erkannte, die Gitarre heulte auf, als würde ihr der Gitarrist den Hals umdrehen. Let’s go closer to the stage!, rief er, packte Mary bei der Hand und begann sich zwischen wiegenden Körpern hindurchzudrängen. Sie blieben irgendwo in der Mitte stehen, als sie bereits klar die Gestalten auf der Bühne erkennen konnten. Ihr Blick blieb an der Frau am Keyboard hängen.

That is Margita! She was perspective piano player once, but on the way to Russian conservatory, she joined this rock and roll band!, brüllte er ihr ins Ohr.

She has chosen freedom over other people’s expectations!

Er spürte, wie sie die Frau auf der Bühne, vor allem aber ihre Geschichte, die ihr Denis im Telegrammstil ins Ohr gebrüllt hatte, beeindruckte. Nicht einmal für einen Moment löste Mary ihren Blick von ihr. Er bemerkte eine unglaubliche Ähnlichkeit zwischen den beiden.

What ist the song about? Nun brüllte Mary ihm ins Ohr.

Er stellte sich hinter sie. Mit der linken Hand legte er ihre Haare, die unendlich lang durch seine Finger glitten, hinter ihr Ohr, dann nahm er sie an den Händen und übersetzte ihr den Text ins Ohr.

Shine in the eyes is deep and unreal, we are travelling with words and thinking with steps, you and me, you and meeee! Stand by me, stand by me 

Er spürte, wie die Worte, die er ihr ins Ohr schickte, ihren Körper durchschossen und in ihren Fingerspitzen, die sich mit seinen verwoben, nachhallten. Mit dem letzten Takt des Liedes endete auch der Zauber. Sie ließ seine Hände los, drehte sich um, sagte I’m sorry und begann sich durch die Menge zum Ausgang durchzuschlagen. Er ging ihr nach, wenngleich er eigentlich nicht vorhatte sie aufzuhalten. Als sie aus dem Saal trat, lief sie in den Nebel. Im Lauf folgte er ihr ein paar Schritte, dann blieb er stehen, sagte Pizda! und drehte sich zum Saal um. Die geflüchtete Mormonin Mary war alles, was ihn im Moment interessierte, wenngleich die Berliner Mauer bereits in Trümmern war, auf dem Platz des Himmlischen Friedens tote Studenten lagen und der Osten seines Landes bedrohlich bebte.

MARY

Mary drehte noch eine Runde durch die Wohnung und nahm die Leere auf, die er zurückgelassen hatte. Die meisten Dinge waren noch da, er hatte nicht viel mitgenommen: seine Kleidung, recht viele Bücher, CDs und Platten, sonst aber nichts, was offensichtlich fehlen und laut an seinen Weggang erinnern würde. Sie war mit seinem Abschied einverstanden gewesen, hatte viel dazu beigetragen, dennoch hatte sie den Moment der Trennung gefürchtet. Lange war es her, seit sie zuletzt allein gewesen war. War ihr noch vor etwa einem Monat erschienen, dass sie einander ständig im Weg standen, einander die Luft nahmen, sie sich, wenn nicht einer von ihnen diese Abwärtsspirale durchbrechen würde, an die Gurgel gehen würden, fragte sie sich nun, ob sie tatsächlich alles Mögliche versucht hatte und sie nicht vielleicht doch zu rasch das Handtuch geworfen hatten. Als er sich daran gemacht hatte fortzugehen, befüllte er seinen Koffer sorgfältig mit Taschenbuchausgaben von Kerouac, Roth, Auster … Er hatte in den vergangenen Jahren geduldig eine Sammlung aufgebaut, die Bücher ausschließlich in kleinen, beinahe schon eingegangenen Buchhandlungen gesucht. Er hatte bereits alles gelesen, und sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass er die Bücher noch einmal in die Hand nehmen würde. Andererseits hatte er keines der Alben mit Fotos von ihren Reisen mitgenommen. Das schmerzte sie. Als fürchtete er, die Fotografien, auf denen sie beinahe ausnahmslos glücklich waren, könnten seine Entscheidung zu gehen ins Wanken bringen. Die eingefrorenen Momente des Glücks, aufgenommen an unterschiedlichen Ecken der Vereinigten Staaten, blieben nur ihr, um Nostalgie und Zweifel in ihr zu wecken. Bis nach Europa zu kommen war ihnen trotz aller Pläne niemals geglückt. Nicht gemeinsam.

Ihr fiel ein Foto ein, aufgenommen zwei Jahre zuvor auf einer Reise durch Kalifornien. Darauf stehen die beiden umschlungen auf großen dunklen Felsen vor der Golden Gate Bridge. Der junge Surfer im Neoprenanzug, den sie um den Gefallen gebeten hatten, nur einen Moment bevor er ins Meer gewatet war, das vor Wellen schäumte und ganz und gar nicht einladend schien, hatte gerade in jenem Moment den Auslöser gedrückt, als Mary versuchte ihre langen Haare zu bändigen, die der kräftige Wind in der Bucht durcheinanderwirbelte wie Büschel ungemähten Grases. Es war ihr kaum gelungen sie aus dem Gesicht zu wischen, sodass das Objektiv ihr Lächeln einfangen konnte, das seit jeher sowohl Aufmerksamkeit von Männern als auch von Frauen auf sich gezogen hatte. Beim Betrachten dieses Fotos hatte sie in letzter Zeit mehrmals darüber nachgedacht, wie es mit ihrer Beziehung so steil bergab gegangen sein konnte, dass es ihnen nicht gelungen war sie aufzurichten und zu retten, wenngleich beide mit Sicherheit daran geglaubt hatten, sie sei es wert. Diesen windigen Tag in San Francisco hatten sie mit einem Besuch des Viertels Haight-Ashbury fortgesetzt, das Ende der Sechzigerjahre das Herz der Hippiewelt gewesen war. Unter dem dichten Netz verwobener Straßenbahnschienen spazierten sie bergan, vorbei an bunten Fassaden von Reihenhäusern, und versuchten die Reste des Summer of Love einzufangen, die sich nach mehr als vierzig Jahren noch nicht endgültig verflüchtigt hatten. Ein kleines Stückchen hatten sie bei einem Straßengitarristen gefunden, der in schweigender Begleitung eines gealterten, neben dem geöffneten Gitarrenkoffer liegenden afghanischen Windhunds – richtiger Hippiestil – alle erwarteten Hits dieser Ära spielte; in Mary erwachte Nostalgie, obwohl sie zu der Zeit, als diese Hügel durch Massen von Hippies bunt gefärbt waren, noch nicht mal geboren war. Sie blieben gerade so lange bei dem kleinen Straßenkonzert, dass sowohl Janis und ihr Bobby McGee als auch Scott McKenzie mit Blumen in den Haaren an die Reihe kamen, dann machten sie sich, nachdem sie ein paar Münzen in den offenen Koffer geworfen hatten, wofür sie ein lässiges Zwinkern des alten Gitarristen erhielten, auf den Weg in Richtung Hotel. Dort, nach ein paar Bieren in der Hotelbar und einem Joint am Fenster ihres Zimmers, liebten sie sich noch lange in die Nacht, ehe sie erschöpft und verschwitzt von aufeinander folgenden Höhepunkten umarmt einschliefen.

So, I guess this is it, sagte Mary.

Yeah, guess so, sagte er.

Und das war’s, sie schloss die Tür und blieb allein. Vergangenen Monat hatte sie, mit einem gänzlich missglückten Versuch einer Feier, die noch das letzte ins Auge stechende Zeichen des Untergangs ihrer Beziehung war, die Vierzig voll gemacht und heute war offensichtlich der erste Tag der zweiten Halbzeit ihres Lebens. Aus ihrer Tasche nahm sie eine Schachtel Zigaretten, doch schon bei der Berührung merkte sie, dass sie leer war. Mit dem Zeigefinger zog sie einen Kreis in ihrem Inneren, um sich zu überzeigen, stieß dann ein lautes Shit aus, zerknüllte das leere Päckchen und warf es auf den Tisch, auf dem nur ein kleiner Bereich für Mahlzeiten diente. Eine gute Hälfte war nämlich von sorgfältig zusammengelegten Bündeln des New Yorkers