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AUS STEINERS WELT

GEORG REJAM

AUS STEINERS WELT

Roman

Für T. Babsi
Hello Marry Lou

 

 

Abbildung

© Welt-Raum, Michael L. Majer 2015

INHALT

Prolog

Ein ärgerliches Angebot

In zwanzig Minuten um die Welt

Schöne neue rosa Welt

Auf der Suche nach der verlorenen Nacht

Roberto sucht Julie

Warten auf Julie

Die Rückkehr des Management-Professors

Der Mann ohne Entscheidungen

Verwirrungen des Herzens

Große Versprechungen

Der Allerlängste Tag

Es ist Zeit für einen verdammt guten Roman

Im Schatten des Schreibens

Mein Reich, meine kleine Welt

Der große Gelehrte

Eine Weihnachtsgeschichte

Das weite Land der Zukunft

Die unglaubliche Leichtigkeit des Seins

BLUE – The Beginning

Die Vermessung einer Figur

Steiner hinter den Spiegeln

Hunderte Minuten Einsamkeit

Silvester der anderen Art: Teil 1

Silvester der anderen Art: Teil 2

Silvester der anderen Art: Teil 3

Das Ende einer Nicht-Affäre

Vom Winde verdreht

Die Leiden des nicht so jungen Steiner

Der Tod in Neustift

Die helle Seite des Mondes

Das Land der Dreiecke

Lokalwechsel

Kein Scherz

Statt eines Epilogs

PROLOG

Declaration for Freedom, Love and Peace

 

Die drei hier Unterzeichneten wollen ihr Leben lang folgenden Werten treu bleiben, diese mit all ihrer Kraft verteidigen und weitertragen:

 

Lerne dich selbst zu lieben.

 

Respektiere deinen Nächsten wie dich selbst.

 

Kämpfe gegen Gewalt und Ungerechtigkeit.

 

Wir, das Triumvirat Novum, die Dreifaltigkeit des Aufbruchs, die Heilige Allianz der Freiheit, wollen darüber hinaus jeweils einen Roman schreiben, der die Welt verändern soll.

 

Auf daß die Welt eine Bessere werde!

 

Biene
Oskar
Steiner

1978

EIN ÄRGERLICHES ANGEBOT

„Du hast es versprochen …“ Oskar lehnte sich an den Kamin, ein Glas Whisky in der linken Hand.

„Vor hundert Jahren. Das ist längst verjährt“, antwortete Steiner knapp. Ihm war unangenehm heiß in seinem dicken Wintermantel, den er partout nicht hatte ausziehen wollen. Der Hemdkragen kratzte ihn, er war wohl auch eine Spur zu eng geworden. Den obersten Knopf wollte er nicht öffnen, noch nicht. Erst nach dem offiziellen Teil des Abends.

„Aber wir haben es uns geschworen“, ließ Oskar nicht locker.

Steiner verdrehte die Augen, sein Blick schweifte über die Bilder an der Wand. Er konnte sich an kein einziges erinnern. Wieder einmal bewunderte er Oskars Schaffenskraft. „Das war nach zehn Bier und sieben Joints. Aber wie auch immer, ich muss jetzt gehen. Gib mir den Schlüssel und ich kümmere mich um dein Atelier, wie sonst auch.“ Steiner sah demonstrativ auf seine roségoldene Da Vinci Automatic.

„Überleg es dir. Du kannst hier in Ruhe deinen Roman schreiben, bist ungestört. Glaub mir, es wird dir gut tun.“

Steiner zupfte an seinem kurzen Kinnbart. „Ich muss los.“ Er umarmte Oskar hastig, dann verließ er fluchtartig das Atelier und steckte den Schlüssel verärgert in seine rechte Manteltasche. Draußen vor der Tür hielt er inne und sah nach oben. Dicke Flocken fielen zu Boden. Es hatte sich bereits eine solide Schneedecke gebildet. Das war so nicht geplant, murmelte Steiner, und seine Stimmung wurde noch düsterer. Der pulvrige Schnee blieb an seiner schwarzen Anzughose haften. Die besten Voraussetzungen für ein Verkehrschaos. Ein neuerlicher Blick auf seine Uhr. Das wird knapp. Es dauert sicher ewig, bis ein Taxi kommt. Bis zum nächsten Standplatz beim Türkenschanzplatz ist es mir zu weit. Plötzlich hörte er ein Brummen hinter sich, und als er sich umdrehte, bog ein roter Bus der Linie 40A, das Dach mit einer Schneemütze beladen, gerade um die Ecke.

Steiner rutschte auf seinem Sitz hin und her. Blickte alle drei Sekunden auf die Uhr. Es gab keinen Fahrscheinautomaten und der Fahrer hatte seinen 50-Euroschein nicht wechseln können oder es höchstwahrscheinlich gar nicht gewollt. Die Auskunft des Buschauffeurs, er könne ruhig bis zur U-Bahn mitfahren und dort einen Fahrschein kaufen, beruhigte ihn nicht. Er hatte es auch unterlassen dem Fahrer zu erklären, dass sein Ziel mit der Endstation des Busses ident war und er nicht beabsichtigte, mit irgendeiner U-Bahn weiterzufahren. Er fühlte sich nicht wohl dabei, etwas zu tun, was nicht korrekt war. Und das Nicht-Begleichen des Beförderungstarifs, welcher rechtsstaatlich legitimiert festgesetzt worden war, fiel eindeutig in die Kategorie: Nicht o. k. In seiner Position und Öffentlichkeitspräsenz konnte er sich das einfach nicht erlauben. Nicht auszudenken, wenn ein Kontrolleur käme und ihn ein Passagier bei der Diskussion über einen fehlenden Fahrschein beobachten würde. Auch wenn der Fahrer bestätigen könnte, dass er bis zur nächsten U-Bahn dispensiert sei, weil eben kein Wechselgeld parat war. Auch dann, wenn sich alles in Wohlgefallen auflöste, ein negativer Beigeschmack bliebe ja doch zurück. Jedenfalls bestünde das Risiko, jemand könnte darüber berichten, dass sie den Herrn Professor beim Schwarzfahren erwischt hätten. Oder dass der Leiter der Trias-Consulting sich keinen Fahrschein leisten könne. Nein, das wäre ihm höchst unangenehm. Und wenn der Fahrer sogar vergessen hätte, dass er bei ihm einen Fahrschein lösen wollte? Wenn dieser seine Aussage einfach abstreiten würde. Nicht auszudenken. Ein Skandal und eine Schädigung seines Rufes.

Steiner dachte an das Gespräch mit Oskar zurück und Ärger stieg in ihm hoch. Gleich darauf ärgerte er sich, dass er sich ärgerte. Er musste eine Lösung finden. Ein für alle Mal Schluss machen mit dieser abstrusen Erwartungshaltung, die ihn nun schon seit mehr als dreißig Jahren verfolgte. Er würde diesen verdammten Roman nicht schreiben. Keine Zeit. Keine Lust. Er mochte Oskar, er mochte ihn wirklich sehr. Aber vorhin war er ihm ziemlich auf die Nerven gegangen. Nun tat es ihm ein wenig leid, dass er so schroff zu ihm gewesen war. Oskar war wie ein kleiner Bruder für ihn. Er würde seine Sorgen niemals nachvollziehen können. Ihm wäre es komplett egal, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Er würde ganz spontan eine kreative Ausrede erfinden, hätte kein Problem damit, im Rampenlicht zu stehen. Und von wegen Rufschädigung. Für einen Künstler wie ihn waren alle Meldungen gute Meldungen, Hauptsache, man redet, schreibt oder berichtet über ihn. Hauptsache, man ist im Gespräch. Steiner war die Geschichte aus dem vergangenen Jahr noch gut in Erinnerung, als Oskar einen Disput mit der Polizei wegen des Konsums von Marihuana in der Öffentlichkeit gehabt hatte. Es war im Rahmen einer Open-Air-Vernissage und -Lesung über „Nachhaltige Society“ gewesen. Die kleine Provokation, vom Rednerpult aus einem Joint zu huldigen, hatte Oskar sogar eine kurzzeitige Verhaftung eingebracht.

Der Bus berührte den Randstein und hielt in der Station Billrothstraße. Steiner bewunderte den Fahrer insgeheim, wie dieser das Fahrzeug elegant durch den immer stärker werdenden Schneefall steuerte. Und er war froh, dass er seinen fast neuen bei Oskars Atelier stehen gelassen hatte. Mercedes und Winter waren immer noch wie Katz’ und Hund, trotz aller Technik. Dem Busfahrer bereitete es sichtlich Freude, seine Erfahrung und sein Können zur Schau zu stellen. Wie der Kapitän eines Fährschiffs im Mittelmeer dockte er bei den Haltestellen an. Er schlitterte dabei jedes Mal die letzten Zentimeter und touchierte zart den Randstein, bis er den großen roten Dampfer zum Stehen brachte.

Steiner konnte sich einfach nicht auf das Thema des heutigen Abends konzentrieren: Kunst-Projekte, die bewegen. Immer noch bewegte ihn Oskar und ihr ruppiges Gespräch. Steiner schätzte sich selbst als liberalen und weltoffenen Menschen ein, aber Oskars jüngsten Lebenswandel konnte er gar nicht goutieren. In der kurzen Zeit, die er bei ihm verbracht hatte, hatte dieser zwei Joints geraucht und drei Gläser Whiskey geleert. Das war doch nicht normal, befand Steiner. Oskar hatte auch wieder mal Neil Young zitiert: It’s better to burn out, than to fade away. Er hatte Steiner nicht zum ersten Mal erklärt, dass er nicht wegen der Inspiration rauche oder trinke, sondern vielmehr Zerstreuung und die Unterbrechung seines Kreativitätsstromes benötige. Außerdem habe er sich entschieden im Hier und Jetzt zu leben. Da gäbe es keine Verpflichtungen, keine Verantwortung, kein Gestern und kein Morgen, sondern bloß den Moment. Ohne Frau und Kinder sei das natürlich einfach. So hatte nun eben jeder sein Leben. Damals mit Biene, na ja, da waren sie eben alle drei noch sehr jung gewesen. Jung, mit all den naiven Träumen und Hoffnungen. Oskar hatte sich das auf seine Weise erhalten.

Endstation Schottenring. Steiner schob den linken Ärmel seines dunklen Mantels ein wenig zurück und stellte fest, dass er noch sieben Minuten bis zur offiziellen Eröffnung hatte. Es ärgerte ihn, die Busfahrt nicht für die Vorbereitung seiner Rede genutzt zu haben.

IN ZWANZIG MINUTEN UM DIE WELT

Julie sah sich um und bewunderte die hohen, reich verzierten Räume, die Marmorsäulen und die vielen Spiegel. Sie kannte Wien von ihrem Auslandssemester, seither war sie oft mit ihrer Freundin Dany in dieser ehemaligen Kaiserstadt unterwegs gewesen. Meist in Beisln, Studentenlokalen, ab und zu auf Vernissagen. Die Wiener Börse hatte sie jedoch noch nie von innen gesehen. Im Moment war sie aber vor allem nervös, denn in weniger als zwanzig Minuten sollte ihr großer Auftritt stattfinden. Julie blickte in den Spiegel und gefiel sich in dem langen, schwarzen Kleid, das ihr Dany geborgt hatte. Sie hatten fast die selbe Größe und Figur. Ihre Freundin trug ein zum Verwechseln ähnliches Kleid, nur eine Nummer größer. Julie hatte sich erst geweigert, das Kleidungsstück von ihr anzuziehen, nicht weil sie mit getragener Kleidung Probleme gehabt hätte, sondern aus Angst, ihre beste Freundin unnötigerweise zu kompromittieren. Schließlich probierte sie es doch an und betonte, dass es sehr eng sei, sie es aber für einen Abend darin aushalten könne. Noch dazu habe sie gar nicht vor, allzu lange auf dieser Gala zu bleiben. Tatsächlich war ihr Größe sechsunddreißig sogar eine Spur zu weit, zumindest in diesem Schnitt. Aber das hatte sie gut verbergen können. Sie sah Dany von der Seite an, diese signalisierte ihr: Du-siehst-super-aus. Relax! Begleitet von einem aufmunternden Lächeln. Julie musste daran denken, dass ihr Kennenlernen vor einigen Jahren keinesfalls eine harmonische Annäherung gewesen war, sondern vielmehr ein Frontalzusammenstoß.

Es war Julies erste Vorlesung an der Uni Wien gewesen. Worum es genau gegangen war, konnte sie später nicht mehr sagen, irgendwas wie Die Kunst der Jahrhundertwende und die Bedeutung des Jugendstils in dieser Epoche. Jedenfalls ein endlos langer Titel. Sie hatte sich in der Unübersichtlichkeit der Hörsaalbezeichnungen verloren, war zu spät dran gewesen. Als sie die knarrende Tür des Audimax aufdrückte, blieb sie stehen und machte sich ein Bild von der Lage. Die Reihen waren dicht besetzt, einige Studierende saßen auf den Stufen, andere standen an die Wand gelehnt. Schließlich erspähte sie einen freien Platz in der dritten Reihe. Leise ging sie nach vorne und stand neben Dany, die ganz rechts außen saß. „Scusa, könntest du dich bitte verrutschen“, sagte sie mit einem bemühten Lächeln. Später amüsierten sich die beiden noch öfter über diesen ersten Satz in ihrer Freundschaft. Dany war dann ihre damalige Reaktion immer ein wenig peinlich. „Das ist mein Platz, verstehst? Du kannst dich aber gerne daneben setzen. Wie heißt das Zauberwort?“ Julie hatte sie verloren angesehen und gar nichts begriffen. Die beiden sahen einander einige Momente lang an. Für Julie war dies eine gefühlte Ewigkeit. Sie hatte den Eindruck, alle Blicke wären auf sie gerichtet, auf sie allein. Sie fühlte sich total fehl am Platz. In dieser kommunikativen Blockade hatte Dany schließlich „Wos is jetz?“ gezischt. Dann unterbrach der Professor seine Vorlesung, ein älterer Herr mit grauem Schnauzer im Nadelstreif. Höflich, aber bestimmt war dessen Aufforderung, endlich Platz zu nehmen. Julie lief rot an, und Dany machte schließlich Platz. Am Ende der Vorlesung, als Dany eilig dabei war, ihre Sachen zusammenzupacken, entschuldigte sich Julie nochmals für ihr Zuspätkommen. Sie erzählte Dany, dass sie aus Italien komme und sich hier noch nicht so gut auskenne. Das Eis war gebrochen. Dany liebte Italien und freundete sich schnell mit Julie an. Sie führte sie in ihren Freundeskreis ein und stellte sie auch bald ihrer Familie vor. Julie nahm diese Hilfe sehr gern an, und die Freundschaft mit Dany kam ihren Sprachkenntnissen zugute. Als das Semester sich dem Ende zuneigte, drängte Julie ihre neue Freundin zu einem Auslandssemester an ihrer Stamm-Uni in Verona, quasi als kulturelle Revanche. Dany stieg tatsächlich auf den Vorschlag ein, und im übernächsten Semester war es dann so weit. Die Zeit in Italien vertiefte ihre Freundschaft. Seither trafen sie einander einmal im Monat – entweder in Wien oder in Verona. Beide waren Single, hatten ähnliche Forschungsschwerpunkte und Interessen. Julie war sehr glücklich darüber, dass sie bei einem Forschungsprojekt über „Kulturelle Nachhaltigkeit“ mitarbeiten konnte, für das Dany sie vorgeschlagen hatte. Somit waren ihr ein, vielleicht sogar zwei Semester in Wien und ausreichend Zeit für ihre Dissertation sicher. Die Teilnahme an der Preisverleihung für Kunst-Projekte, die bewegen war nur eine von unzähligen Aktionen, die Dany für ihre gemeinsame Wien-Zeit geplant und organisiert hatte. Wobei, genau genommen war Julie, zu Danys Überraschung, von ihrer eigenen Chefin höchstpersönlich eingeladen worden mitzukommen, und zwar angeblich auf Empfehlung des Wiener Künstlers Oskar Lang. Julie hatte ihn erst ein paar Monate zuvor in Mailand bei einer Vernissage kennengelernt.

Nun sah sie Prof. Dr. Robert Steiner nach, wie dieser mit federndem Schritt die Stufen zum Podium hinaufstieg. Julie wusste, dass es gleich nach seiner Keynote mit der Preisverleihung losgehen würde. Die Keynote hatte den Titel: Projekte, eine neuzeitliche Erfindung? Julie hörte erst mit einem Ohr, dann mit beiden und schließlich mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit zu. Sie ließ sich mitreißen und war überrascht. So einen Witz und Spannungsaufbau hatte sie diesem Mann um die Fünfzig mit dem Ziegenbärtchen nicht zugetraut. Er erzählte von Daniel Defoe, den sie als Autor von Robinson Crusoe kannte, der aber auch ein bemerkenswertes, kaum bekanntes Buch mit dem Titel Essays on Project Management verfasst hatte. Er beschreibt darin das ausklingende 17. Jahrhundert als Beginn des Projekte-Macher-Zeitalters. Julie erfuhr einiges über abstruse Erfindungen und riskante Entdeckungsreisen. Über Heinrich, den Seefahrer, der in modernen Worten als Programm-Auftraggeber unzählige Projekte zur Erkundung der Westküste Afrikas initiiert und so den Grundstein für den Seeweg nach Indien gelegt hatte. Professor Steiner schwenkte in seinen Ausführungen schließlich auf Wissenschaft und Kunst um. Er stellte die These auf, dass die Weiterentwicklung der Gesellschaft nur durch Kunst ermöglicht worden sei. Kunst sei seiner Ansicht nach das Bestreben, die gesellschaftliche Wirklichkeit in Form von Projekten zu reflektieren und somit erkennbar und diskutierbar zu machen. Die Projekte mögen durchaus unterschiedlich sein und von Literatur über Bildhauerei bis zu Theater und Malerei reichen. Julie fand sich in seinen Ausführungen wieder, genoss den Witz und die subtilen Anspielungen. Unbewusst tastete sie nach Papier und Bleistift, als müsse sie die Aussagen wie in einer Vorlesung festhalten, um sie dem Strom ihres Vergessens zu entreißen. Sie fingerte nach ihrer kleinen schwarzen Handtasche, um ihr Smartphone herauszuholen und dieses als elektronisches Notizbuch zu verwenden. Doch Dany missverstand ihre Absicht und zischte ihr zu, jetzt keinesfalls zu telefonieren. Julie hielt inne, schüttelte den Kopf und steckte ihr Handy weg. Sie versuchte nun, sich so viel wie möglich zu merken und mit Eselsbrücken zu verankern. Diese fünfzehn Minuten waren für ihre Dissertation wertvoller gewesen als die vergangenen zwei Monate Literaturrecherche.

SCHÖNE NEUE ROSA WELT

– Hallo Biene, kannst du reden? Es ist ein Notfall.

– Klar. Und für dich habe ich immer Zeit. Das weißt du doch. Schieß los. Hast du dir beim Lesen den Zeigefinger verstaucht? Oder in deiner Vorlesung zwei Autoren verwechselt? Nein, ich weiß es: Du bist mit Oskar nach Tibet geflogen und bereust es jetzt. Bist total zugedröhnt und 

– Eh, lass die Scherze. Es ist wirklich ernst. Die Welt hat sich verändert.

– Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Die Welt verändert sich andauernd, und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Wo liegt jetzt das Problem?

Meine Welt ist seit gestern nicht mehr dieselbe.

– Na, das ist ohnehin schon längst fällig gewesen … Lass dir von deiner resoluten Sekretärin einen Kaffee bringen, nein, Assistentin. Das hat sie mir letztens erklärt, als sie dich entschuldigen musste. Unabkömmlich, der Herr Professor.

– Biene, es tut mir wirklich leid, dass ich nicht dabei sein konnte. Wie war deine Buchvorstellung?

– Gut. Habe Raoul dort kennengelernt. Erzähle ich dir ein anderes Mal. Hast du deinen Kaffee?

– Ich habe einen Kaffee vor mir stehen. Selbst gemacht.

– Das klingt allerdings nach einer Tragödie.

– Wie ich deinen Ton liebe – kannst du ein Mal ernst sein? Denn meine Lage ist es wirklich. Ich war gestern auf einer Preisverleihung. Und dann ist SIE aufgetaucht. Aus dem Nichts. Am Beginn habe ich sie gar nicht wirklich wahrgenommen. Blond und zierlich. Ganz große blaue Augen. Jung und unschuldig.

– Wie jung?

– Siebenundzwanzig.

– Zumindest nicht minderjährig … Und du hast sie gleich flachgelegt.

– Bist du verrückt? Nein, wir haben geredet, diskutiert und reflektiert.

– Da wirst du sie aber ganz schön enttäuscht haben.

– Sie ist nicht so eine, wie du denkst. Sie ist ein Engel.

– Ein blondgelockter Engel mit großen blauen Augen und roten Lippen und unschuldigem Augenaufschlag. Männer in deinem Alter stehen auf so niedliche, junge Dinger, bevor sie sich einen Porsche kaufen und sich in die Jeans ihrer Söhne zwängen. Nein, du hast dir ein silbernes Mercedes Cabrio zugelegt, oder? Anyway. Das Einzige, was ich noch nicht kapiere: Wo ist jetzt das Problem?

– Das Problem? Das Problem ist, dass ich nicht zu Hause übernachtet habe und nicht weiß, was ich Verena sagen soll. Und wie es jetzt weitergeht.

– Es geht immer irgendwie weiter, glaube mir. Ich habe da Erfahrung.

Steiner hörte sie am anderen Ende der Leitung laut lachen und nippt nervös an seinem Kaffee. Dann starrte er auf ein kleines Bild auf Oskars Schreibtisch. Die Aufnahme musste aus dem Sommer ’78 sein. Darauf waren sie zu dritt abgebildet. Biene in der Mitte. Ihr langes, blondes Haar bedeckte Oskars und seine Schulter. Auch heute noch war ihr Haar füllig und gelockt, genauso wie damals. Schlank und gestylt war sie auch immer noch. Wer sie nicht kannte, hätte sie dem ersten Eindruck nach als Tussi abgestempelt.

– Dann hast du eben bei einem Freund oder Kollegen übernachtet. Ist das so abwegig? Aber ruf sie bald an, damit sie sich keine Sorgen um dich macht. Frauen sind nun mal so, auch wenn ihr Männer es nicht verdient! Und wo bist du jetzt?

– In Oskars Atelier. Er hat es mir während seiner Tibet-Reise überlassen, zur Pflege, wie immer. Jetzt müsste er schon in Lhasa gelandet sein.

– Na sehr gut, und du nützt die Situation gleich aus. Hast dort mit deinem Engel die Nacht verbracht. Sag mir nur, wie du sie rumgekriegt hast? Das interessiert mich jetzt schon noch, du Draufgänger. Und dann rufst du gleich Verena an. Okay? Du kannst auch gerne sagen, dass du mich wieder mal trösten musstest, weil ich unheimlichen Liebeskummer habe. Was nebenbei bemerkt auch stimmt. Also wie?

– Es war ein Zufall. Wie der ganze Abend. Erst das Treffen mit Oskar. Dann der Schneefall und dass ich das Auto beim Atelier habe stehen lassen. Ich hatte gar keine Lust, länger als nötig auf dieser Preisverleihung zu bleiben. Es war ein spontaner Impuls, dass ich noch auf einen Drink mitgegangen bin und 

– Steiner, nicht die ganze Geschichte. Wie hast du es angestellt, dass ein blonder Engel, der halb so alt ist wie du, mit dir in eine fremde Wohnung geht, um dort Händchen zu halten, nein, entschuldige, zu reden? Es interessiert mich wirklich.

– Stimmt. Wir haben auch ein klein wenig Händchen gehalten.

– Also doch. Ich habe es ja gleich gewusst! Sehr gut. Freut mich für dich. So, nun verrat es mir endlich: Wie hast du das eingefädelt?

– Wir haben uns ein Taxi geteilt, weil wir in dieselbe Richtung mussten. Ich habe dem Taxifahrer beide Adressen gesagt. Und der hat gemeint, das Atelier sei näher als ihre Wohnung. Wenn ich mir das so recht überlege, stimmt das gar nicht. Aber egal. Es war ganz ohne Absicht. Ich wollte den Taxler schon für die ganze Fahrt bezahlen, als ich mich spontan fragen hörte: „Hast du vielleicht noch Lust auf eine Privat-Vernissage von einem guten Freund? Das ist so wie eine Briefmarkensammlung ansehen, nur größer im Format.“ Ich war wirklich sehr überrascht, als sie „Ja“ sagte, und dann standen wir schon in Oskars Atelier. So war das.

– Ich glaube dir alles. Wie romantisch. So, jetzt muss ich aufhören. Das von Fritz erzähle ich dir später.

– Fritz? Kenne ich nicht.

– Mein Liebeskummer. Den hast du noch nicht kennengelernt – und so wie es aussieht, wirst du ihn auch nie kennenlernen. Mach’s gut, du Kinderverführer.

– Du meinst wirklich, ich soll anrufen und sagen, ich war wieder mal dein Seelentröster?

– Claro. Verena wird mich nicht danach fragen. Oder noch besser: Du hast mit Oskar nach der Preisverleihung noch Abschied gefeiert. Und er hat dich nicht gehen lassen.

Ohne auf eine Bestätigung von Steiner zu warten, schob sie gleich noch eine Frage nach.

– Mein Lieber, wie heißt sie eigentlich, deine Flamme? Sag nicht, du hast vergessen, sie nach dem Namen zu fragen.

– Sehr witzig, Biene. Sie heißt Julie.

– Echt romantisch. Ich bin beeindruckt. Ihr Vater heißt nicht zufällig Willi Shakespeare? Egal. Ihr solltet unbedingt mal nach Verona fahren. Die Opernaufführungen sind dort unglaublich schön. Open-Air in der Arena. Wäre das nichts für euch? Ein kleiner romantischer Ausflug?

– Biene, weißt du, es ist wirklich schräg. Julie kommt aus Verona, zumindest ist sie ganz in der Nähe aufgewachsen

– Jetzt glaube ich dir gar nichts mehr. Das ist ja superkitschig. So eine geballte Ladung kommt nicht einmal in meinen Romanen vor. Tschüss, mein lieber Steiner.

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN NACHT

Dany schlürfte ihren Cappuccino und hörte Julie andächtig zu. Die Sonne warf ein sanftes Licht durch das schmale Küchenfenster. Die mächtige Krone des kahlen Nussbaums im Innenhof verwandelte Julies Locken in ein Medusahaupt mit einem Schuss Heiligenschein. Dany musste schmunzeln, konzentrierte sich aber gleich wieder auf die Erzählung ihrer Freundin, die ihr mit überschlagenen Beinen gegenübersaß.

„Es war mehr ein Zufall. Deine Chefin wollte mir schon die ganze Zeit diesen außergewöhnlichen, liebenswürdigen und erfahrenen Menschen, wie sie betonte, vorstellen. Aber immer wieder kam was dazwischen, oder der Herr Professor war gerade nicht greifbar.“

„Ihr ist wohl dein Anhimmeln nicht entgangen, wie du an seinen Lippen gehangen bist, während seiner Ansprache“, kicherte Dany.

„Blödsinn.“ Julie nahm eines der Vanillekipferl und biss kleine Stücke davon ab. „Ich habe dir ja gesagt, dass ich müde war und mir die Schuhe unendlich wehtaten. Nachdem ich mich von dir verabschiedet hatte und gerade meinen Mantel holen wollte, sah ich ihn an einem Tisch stehen und angeregt diskutieren. Ich schnappte nur Dostojewski und Literaturverfilmung auf, kam ins Stolpern, weil ich diese kleine Schwelle übersah, vor der du mich ganz zu Beginn gewarnt hattest … Er sprang auf und wollte mich retten, was ich sehr ritterlich fand, trotzdem war es mir unheimlich peinlich. Ich konnte mich gerade noch fangen, indem ich mich an einem leeren Stehtisch klammerte. Alle Blicke der Gesprächsrunde waren auf mich gerichtet und er stand direkt vor mir. Es hat mich selbst überrascht, dass ich nicht rot geworden bin oder zu stottern begonnen habe, sondern ihn bloß ansah und fragte, wie man denn bewerten könne, ob eine Literaturverfilmung gelungen sei und im Sinne des Autors erfolgreich umgesetzt.“

„Coole Reaktion, meine Liebe. Hab’s echt nicht geglaubt, dass du noch ins El Coyote mitgegangen bist. Aber wirklich ansprechbar wart ihr beiden gestern nicht mehr. Sag bloß, du hast dich wirklich verknallt?“ Dany sah Julie mit großen Augen an. Die Antwort kam ihr einen Deut zu schnell.

„Blödsinn. Sicher nicht … Er ist halt ein interessanter Mann, Mensch eben. Belesen, erfahren, intelligent …“

„Verstehe …“

„Ich wollte mir die Chance einfach nicht entgehen lassen, mit ihm über meine Forschungsfragen, Kunst, Kultur-Projekte und Evaluierungsprobleme zu diskutieren.“

Dany musste grinsen. „Jedenfalls warst du schon sehr poetisch drauf, als ich dich einpacken und mitnehmen wollte.“

„Das nenne ich konsequentes italienisches Früh-Schlafen-Gehen oder so was Ähnliches hast du zu mir gesagt, nicht wahr? Und wie spät war es da?“

„Du hast mir mit Die-Zeit-verflüchtigt-sich-wie-eine-Schneeflocke-in-der-Wüste geantwortet, weißt du noch? Und mir dann bei der Verabschiedung ins Ohr geflüstert, dass du schon zurechtkommen würdest. Da war es kurz nach drei Uhr.“

„Hab ich das wirklich? Ein schönes Bild, wenn auch ein wenig traurig. Nur die Ewigkeit ist eben von Dauer …“

Dany stand auf und umarmte ihre Freundin. „Poesie birgt immer ein wenig Traurigkeit. Für mich auch. Wenn mich etwas berührt, werde ich mir meiner Verletzlichkeit wieder bewusst. Schmerz ist eben ein Teil des Lebens, aber auch die Freude. So, nun aber Schluss damit. Zeig mir endlich dieses Bild, das du erwähnt hast.“

Julie stand auf, die Kaffeetasse in der rechten Hand, mit der linken griff sie sich an die Stirn. „Wir haben sogar Geschwisterschaft getrunken …“

„Was habt ihr?“, fragte Dany und legte den Kopf zur Seite.„Na, Bruderschaft trinken ist ja politisch schon längst nicht mehr korrekt.“ Julies blaue Augen strahlten. „Wie viele Wodka Red Bull es genau waren, weiß ich nicht. Jedenfalls genug, dass ich sogar Boogie mit ihm getanzt habe. Er ist total witzig, musst du wissen. Er hat mich gar nicht zahlen lassen, denn Donnerstag ist in Wien immer Männerzahltag. Hast du das gewusst?“

„Nein. Charmante Einladung. Wo ist das Bild? Sag nicht, du hast es ins Schlafzimmer gehängt.“

Julie stupste Dany mit dem rechten Ellbogen leicht in die Seite. „Komm mit.“

Einen Moment später betrachteten die beiden stumm die geschwungenen Farbkleckse auf schwarzem Hintergrund, die neben Julies Bett an der Wand lehnten.

„Gefällt es dir auch?“, fragte Julie ungeduldig.

„Groß ist es jedenfalls. Willst du es wirklich behalten? Entschuldige, ich muss kurz für kleine Mädchen.“