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Mirjam Indermaur – Dr. Denise Hürlimann | Ich habe einen Knall – Sie auch? Eine Psychotherapie zum Mitlesen | WÖRTERSEH

 
Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2019 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Brigitte Matern, Konstanz
Korrektorat: Lydia Zeller, Zürich
Lektoratsleitung und Koordination: Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Motiv Umschlag: © shutterstock.com
Layout, Satz: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-106-5
E-Book ISBN 978-3-03763-765-4

www.woerterseh.ch

 

Für die, die den Mut zur Psychotherapie noch nicht gefunden haben. Und für die, die sich trauten und erfahren haben, dass es guttut.

 
Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.
 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorinnen

Zu diesem Buch

Prolog

Plötzlich ist alles anders

Die Therapeutin

Völlig aus der Balance

Kontaktaufnahme

Tränen ohne Ende

Psyche und Körper

Tu dir Gutes …

… und nütze deine Ressourcen

»Das kannst du sicher noch besser«

Auf der Suche nach Verhaltensmustern

Sorgen über Sorgen

Routinen sind nützlich und veränderbar

Hoffnungsschimmer am Horizont

Das System Familie

Das verflixte Hochdeutsch

Steine im Rucksack sortieren

Die unverbesserliche Bergsteigerin

Tatsachen akzeptieren, Probleme angehen

Mir geht ein Licht auf

Veränderung zulassen und fokussieren

Auf dem richtigen Weg

DENKANSTOSS
Persönlichkeit und Verhalten

ERKENNTNIS
Auf der Suche nach meinem Ich-Faktor

DENKANSTOSS
Depressive Phasen

ERKENNTNIS
Steuern, bremsen, ignorieren

DENKANSTOSS
Body-Talk – Wenn der Körper spricht

ERKENNTNIS
Mein Knall als Chance

Ein wirklich gutes Gefühl

Ansprüche hinterfragen

Grenzgebiete

Bedürfnisse erkennen

Eine ungewohnte Begegnung

Loslassen lernen

Eine verhängnisvolle Affäre

Absicht und Wirkung harmonisieren

Alles halb so schlimm

Schlafhygiene

Begegnung im Schutzgehege

Die Therapeut-Patient-Beziehung

Abschied auf Raten

Nichts bleibt, wie es war

Ein gut bestelltes Feld

Erfolge würdigen

Epilog

 

Über das Buch

Am Morgen noch hatte Mirjam Indermaur ihren Söhnen einen Vortrag darüber gehalten, dass sich eine Geschirrspülmaschine nicht von allein leert, aber schon ein paar Stunden später verschoben sich ihre Prioritäten radikal. Ihr Mann hatte die Diagnose Krebs erhalten.

Ohnehin bereits seit längerer Zeit mit einer Erschöpfungsdepression belastet, suchte sie sich psychotherapeutische Unterstützung und fand diese bei Denise Hürlimann, wo sie sich vom ersten Moment an aufgehoben fühlte. Nach der Therapie entwickelte Mirjam Indermaur die Idee, ein Buch über den Weg, den die beiden Frauen miteinander gegangen waren, zu schreiben. So ist – im wechselseitigen Erzählen – eine Psychotherapie zum Mitlesen entstanden. Ein Buch, das nicht nur einen tiefen Einblick in die Welt der Psychotherapie gibt, sondern auch hilft, Strategien zum Überleben von schwierigen Zeiten zu entwickeln und sogar das Lachen wiederzufinden.

 

Über die Autorinnen

Mirjam Indermaur
© Olivia Flühler

MIRJAM INDERMAUR, geb. 1967, hat eine Marketingausbildung absolviert und arbeitet seit vielen Jahren im eigenen Betrieb. Zusätzlich hat sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben zum Beruf gemacht und verfasst in einem Textdienst Auftragsarbeiten verschiedenster Art. Ihre stete Lust auf Neues hat sie zu zahlreichen Weiterbildungen im Bereich Schreiben sowie in Social Media geführt. Zudem wird sie dank ihrem Interesse an Psychologie bald ihren Master im Bereich Coaching abschließen. Nach einer Erschöpfungsdepression und der Krebsdiagnose ihres Mannes machte sie eine Psychotherapie. Die Erfahrungen, die sie während der Therapie gewonnen hatte, erschienen ihr so wertvoll, dass sie eines Tages beschloss, sie weiterzugeben. Und dies im Wechsel mit ihrer Therapeutin, der Psychoonkologin Denise Hürlimann. Mirjam Indermaur lebt mit ihrer Familie im Kanton Zürich.

Denise Hürlimann
© Monika Wittwer

DR. PHIL. DENISE HÜRLIMANN, geb. 1971, ist Psychotherapeutin. Ihr Werdegang führte sie über ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, der Psychologie und der Politologie zum Doktorat in Psychologie und zu einem Advanced Master in kognitiver Psychotherapie und Verhaltensmedizin. Als Fachpsychologin für Psychotherapie behandelt sie Patienten mit psychischen Störungen und begleitet deren Angehörige. Ihre Spezialgebiete sind die Verhaltenstherapie, die Notfallpsychologie und die Psychoonkologie. Neben der Arbeit in der eigenen Praxis begleitet sie stationäre Onkologiepatienten und deren Angehörige in Spitälern. Zusätzlich hält sie Referate, unter anderem über Krisenbewältigung, die sich durch hohes Fachwissen und große Einfühlsamkeit auszeichnen. Als ihre ehemalige Patientin Mirjam Indermaur sie anfragte, gemeinsam ein Buch zu schreiben, musste sie nicht lange überlegen, die Idee faszinierte sie. Denise Hürlimann lebt mit ihrer Familie im Kanton Zug.

 

Zu diesem Buch

Denise Hürlimann und ich hatten uns bestimmt zwei Jahre nicht gesehen, als wir uns per Zufall beim Einkaufen begegneten. Zwischen Cornflakes und Konfitüre wechselten wir ein paar Worte, und es fühlte sich an, als wäre seit dem letzten Mal keine Zeit vergangen – mit dem Unterschied, dass ich inzwischen keine Patientin mehr von ihr war. Danach zogen wir beide wieder unserer Wege, doch meine Gedanken liefen plötzlich auf Hochtouren. Schon länger hatte ich da so eine Idee, wusste aber nicht recht, wie ich das anpacken sollte. An jenem Tag aber machte es laut und deutlich klick, und alles stand ganz klar vor meinen Augen: Ich wollte die Erfahrungen weitergeben, die ich in meiner Psychotherapie gesammelt hatte, und anderen Menschen damit Mut machen, selbst psychologischen Rat in Anspruch zu nehmen. Kurzum: Ich wollte zusammen mit meiner ehemaligen Therapeutin ein Buch schreiben.

Beherzt griff ich am nächsten Tag einen Tipp auf, den ich in meiner Therapie gelernt und seither immer wieder erfolgreich angewandt hatte: Ich nahm das Telefon zur Hand und bat Denise Hürlimann ohne Umschweife um ein Treffen – hätte sie keine Zeit, würde sie es schon sagen. Da sie immer sehr beschäftigt war, hatte ich erst einmal mit einem Korb gerechnet. Erstaunlicherweise sagte sie jedoch sofort zu, und so saßen wir uns ein paar Tage später bei einem Kaffee gegenüber. Ich hatte mich auf dieses Treffen gut vorbereitet und sorgfältig sämtliche Argumente zusammengetragen, die helfen konnten, meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Aber noch bevor ich sie alle auf den Tisch gelegt hatte, war Denise Hürlimann begeistert. Wir wurden uns rasch einig, dass wir es zumindest versuchen wollten. Ob dieser Versuch geglückt ist, entscheiden nun Sie.

Immer mehr Menschen leiden unter Depressionen. Allein in der Schweiz soll es jeder Fünfte sein. Wie viele es wirklich sind – auch in unserer Umgebung –, wissen wir nicht, denn oft fehlt der Mut, sich an einen Therapeuten zu wenden oder offen darüber zu sprechen. Die Hürden sind hoch, und auch ich tippte mir erst einmal an die Stirn, als der Arzt mir ein Burn-out bescheinigte. Als mein Mann dann jedoch an Krebs erkrankte, war ich definitiv auf Hilfe angewiesen, denn mein Gefühlswägelchen raste sofort wieder gefährlich auf und ab. Ich hatte das unschätzbare Glück, in Denise Hürlimann nicht nur eine Psychotherapeutin, sondern auch eine versierte Psychoonkologin zu finden, die sich mit den Bedürfnissen von Krebskranken und deren Angehörigen auskannte.

Ich habe viel gelernt in dieser Therapie – über mich, mein Umfeld, das Leben. Und so erzählen Denise Hürlimann und ich hier nun im Wechsel von den Erfahrungen auf der Gefühlsachterbahn und aus der psychotherapeutischen Praxis. Von Höhen und Tiefen, Einbrüchen und Fortschritten, von zermürbenden Herausforderungen und befreienden Erkenntnissen.

Mirjam Indermaur, im Sommer 2019

 

Prolog

Mein Name ist Mirjam, und ich bin vielleicht wie Sie. Sicher aber bin ich wie viele andere Menschen. Mit meiner Größe von einem Meter zweiundsiebzig bin ich Durchschnitt, mein Aussehen ist ebenfalls durchschnittlich, und wahrscheinlich ist selbst mein Leben durchschnittlich. Wenn man mich kennen lernt, sagt man, ich sei offen und interessiert. Das stimmt (meistens). Und es heißt, ich sei eine Powerfrau. Das täuscht (oft).

Als ich vor über zehn Jahren in eine Erschöpfungsdepression glitt, konnte ich es nicht fassen. Ich hatte doch alles, was man sich nur wünschen kann: einen tollen Mann, vife Söhne, ein gutes Einkommen – was gab es da zu klagen? Seither erlebe ich immer wieder Irrfahrten der Gefühle, die mich, die ich eigentlich gern rede, sprachlos machen und alles in Düsternis tauchen.

Zu der Zeit, als ich aufwuchs, galt es als befremdlich, wenn jemand ein psychisches Problem hatte. Man wusste nicht so recht, weshalb jemand dauernd unglücklich oder verwirrt war. Hinter vorgehaltener Hand hieß es dann, diese Person habe einen Knall. Heute bemühen wir uns um politische Korrektheit, und da hat dieser Ausdruck keinen Platz mehr.

Doch die Gesellschaft ist noch immer nicht so weit, Menschen mit psychischen Problemen unvoreingenommen zu begegnen. Deshalb benutze ich diesen Ausdruck bewusst – etwas provozierend, aber durch und durch wohlwollend, ich würde sogar sagen: liebevoll. So einen Knall zu haben, fordert einen ungemein, regt aber auch dazu an, sich selbst besser kennen zu lernen und notwendige Perspektivenwechsel vorzunehmen – sofern man sich dabei helfen lässt.

Ich habe also einen Knall. Sie auch?

 

Plötzlich ist alles anders

Trotz meines oft mangelhaften Erinnerungsvermögens gibt es Momente, die ich jederzeit abrufen kann. Ein solcher Moment ist die Nachbesprechung einer Magenspiegelung meines Mannes. Wir saßen nach der Untersuchung im Wartezimmer und waren uns eigentlich sicher, dass nichts Schlimmes dabei herauskommen würde. Doch dann rief der Arzt uns ins Konsultationszimmer und legte seine Stirn in Falten. Da sei etwas, das da nicht sein sollte, erklärte er. Wie kleinen Kindern zeichnete er uns den Magen auf und platzierte darin einen Klumpen, der dort nichts zu suchen habe. Wie durch ein Rauschen hörte ich, dass man noch nicht genau sagen könne, wie schlimm das sei, und vielleicht sei es auch noch nicht gefährlich. Erinnern kann ich mich nur noch an »schlimm«, »gefährlich« und »Krebs«. Während ich fassungslos dasaß, versuchte mein Mann, Haltung zu bewahren, und stürzte sich auf die Fakten. Er ließ sich alles mehrfach erklären, wobei er – wie er mir später verriet – gar nicht in der Lage war, irgendetwas aufzunehmen. Wir verließen die Arztpraxis mit der Information, dass wir von unserem Hausarzt hören würden und dass dann sehr rasch weitere Untersuchungen nötig würden, bevor man versuchen könne, etwas zu tun. Versuchen? Was sollte das denn heißen?

Unsere Heimfahrt dauerte nur zwanzig Minuten, die sich aber wie viele Stunden anfühlten. Keiner von uns sprach, wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Mein Mann und ich waren seit Teenagertagen zusammen und lebten das, was man als harmonische, glückliche Beziehung bezeichnen würde. Unser Lebensplan war bisher mit Job und Karriere sehr gut aufgegangen, und wir mussten uns nur selten irgendwelchen schwerwiegenderen Problemen stellen. Nach fast fünfundzwanzig Jahren Ehe konnten wir ernsthafte Krisen an einer Hand abzählen. Was uns nun aber begegnete, übertraf alles je Dagewesene bei weitem.

Als wir an jenem 25. Februar 2013 zu Hause ankamen, war alles anders. Noch am Morgen hatten wir unseren Söhnen den immer wiederkehrenden Vortrag darüber gehalten, dass sich eine Geschirrspülmaschine nicht von selbst ausräumt. Am Mittag interessierten uns solche Banalitäten nicht mehr. Wir waren froh, dass die ärztliche Untersuchung so lange gedauert hatte, denn jetzt waren unsere Kinder alle irgendwo unterwegs. Mein Mann war ruhig und wollte für sich sein, was ich gut verstand. Ich wiederum versuchte in gewohnter Manier, lösungsorientiert zu agieren und einfach irgendetwas Sinnvolles zu tun. Aber genau dieser Aktionismus ließ mich das wohl am allerwenigsten Geeignete in Angriff nehmen: Ich setzte mich an den Computer und suchte im Internet nach dem Stichwort »Magenkrebs«. Damit öffnete ich die Büchse der Pandora.

Wie ferngesteuert saß ich vor dem Bildschirm und las Informationen, von denen eine schlimmer war als die andere. In meinem Kopf setzte eine Verweigerungsspirale ein, und es schrie in mir nur noch »Nein, nein, nein!«. Ich war in einen Schock gefallen und schlicht nicht mehr funktionstüchtig. Verzweifelt suchte ich nach einem Hoffnungsschimmer, aber je mehr ich mir diesen herbeiwünschte, desto mehr Hiobsbotschaften fand ich.

Als unsere Söhne nach Hause kamen, trafen sie auf eine in Tränen aufgelöste Mutter und einen schweigsamen Vater. Irgendwie schienen sie zu spüren, dass der Zustand der Mutter besser war als der des Vaters, wahrscheinlich deshalb, weil sie mich auch früher schon weinen sahen. Sie fragten, was los sei, und ich erklärte ihnen, dass ihr Vater Krebs habe und wir nun selbst nicht wüssten, wie es genau weitergehe. Auch sie waren geschockt, gingen damit aber anders um. Unser Jüngster, Emanuel, war mit seinen zehn Jahren noch unschuldig genug, nichts Böses zu ahnen. Er nahm die Information, dass sein Vater krank war, einfach mal zur Kenntnis. Patrik, der bereits eine Lehre machte, nahm mich in den Arm und sagte nichts weiter. Joshua, unser Ältester, wiederum versuchte, mich mit Fakten zur Überlebensrate von Magenkrebspatienten zu beruhigen, und zog sich zurück, um seinerseits mehr Wissen zusammenzutragen.

Obwohl wir alle keinen richtigen Appetit hatten, saßen wir gemeinsam beim Nachtessen und sortierten unsere Gedanken. Innerhalb nur weniger Stunden wechselte unsere Verzweiflung zum Willen, stärker als diese Krankheit zu sein. Mein Mann versuchte, sich seine Ängste nicht anmerken zu lassen und Stärke zu zeigen. Unsere Jungs waren ungewohnt still und vergaßen glatt, sich wie sonst üblich darum zu streiten, wer die Küche aufräumen musste.

Nach einer unruhigen Nacht weckte uns am nächsten Morgen der Anruf unseres Hausarztes. Er hatte bereits die Resultate der Untersuchung bekommen und gleich einen Termin im Spital organisiert. Noch am selben Tag sprachen wir dort bei einem Spezialarzt vor und wurden über die nächsten Schritte informiert. Verschiedenste die Diagnose erhärtende Untersuchungen standen an, und bald war mein Mann so dauerbeschäftigt, dass er kaum Zeit hatte, irgendwelchen Gedanken nachzuhängen.

Für ihn war nun gesorgt. Das Spitalpersonal beschäftigte sich sehr kompetent und effizient mit Behandlungsoptionen und konzentrierte sich völlig auf den Patienten. Aber – und das mag nun ein wenig egoistisch klingen – während ihm Mut zugesprochen wurde, blieben wir als seine Familie eher außen vor. Erschwerend kam hinzu, dass ständig der betreuende Arzt wechselte und es somit schwierig wurde, ein Vertrauensverhältnis zu einem von ihnen aufzubauen.

Mein Mann ist ein einfühlsamer Mensch, spricht aber nur selten über Gefühle. Im Lauf seiner Krankheit gab es nur ganz wenige Momente, in denen er sich mir und unseren Söhnen gegenüber zu seinen Ängsten äußerte. Nach so vielen gemeinsamen Jahren ahnte ich trotzdem, was in ihm vorging, und versicherte ihm, dass wir das zusammen durchstehen würden. Ich wollte mit ihm gemeinsam wütend sein über diese Ungerechtigkeit, ich wollte dem Krebs trotzig begegnen und ihn besiegen. Doch meine Reaktionen auf seine Krankheit entsprachen nicht den seinen. Er war ruhig und gefasst und wollte seine Familie nach Möglichkeit nicht psychisch belasten. Ich wiederum war abwechselnd wütend oder verzweifelt, engagiert oder hoffnungslos. Tatsächlich gab es gerade zu Beginn der Behandlung einige Tage, an denen mein Mann mich trösten musste und nicht ich ihn.

Damals schämte ich mich für die fehlende Stärke. Rückblickend denke ich aber, dass es manchmal ganz gut war, ihm diese Führung zuzugestehen, denn auch vor der Krebsdiagnose war er derjenige gewesen, der die Verantwortung für unser aller Wohlergehen trug. Es frustrierte ihn zwar einerseits, dass er sich in dieser Aufgabe nun geschwächt sah, es motivierte ihn aber andererseits auch, gesund zu werden, um die Aufgabe wieder voll zu übernehmen.

Unser Alltag war ein anderer geworden, unsere Gefühlslage nicht im Lot und unser Verhalten nach außen nicht immer verständlich. Nach den nun folgenden vielen Terminen für die Chemotherapie, bei denen ich meinen Mann immer begleitete, verließ er das Spital jedes Mal zwar körperlich geschwächt, aber psychisch gestärkt. Er zog Kraft aus den medizinischen Informationen, die er erhielt, und ging davon aus, dass ihm ja geholfen wurde und jeder Chemo-Termin ihn der Gesundheit einen Schritt näher brachte.

Bei mir verhielt es sich ganz anders. Plötzlich schmerzte mal der Rücken, mal der Kopf, brach ein Dauerschnupfen aus oder spielte der Magen verrückt: Ich entwickelte verschiedenste Symptome, die sich bei eingehender Untersuchung allerdings als nichtig erwiesen. Jedes meiner medizinischen Probleme ließ ich vorsorglich abklären: Es wäre denkbar unglücklich gewesen, wenn nun auch noch ich gesundheitlich ausfallen würde. Dennoch plagte mich bei jedem neuen Wehwehchen auch das schlechte Gewissen: Wie konnte ich es nur wagen, meinem eigenen Körper derart Beachtung zu schenken, während es meinem Mann so schlecht ging? Und wie konnte ich die Aufmerksamkeit unseres Arztes in Anspruch nehmen, wenn mir doch offensichtlich gar nichts fehlte?