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Nr. 3082

 

Ein kalkuliertes Risiko

 

Fünf Flotten belauern sich beim Sternenrad – Krieger und Spione streiten für Arkon

 

Kai Hirdt

 

 

 

PERRY RHODAN KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: SYKE

1. TARTS

2. THORA

3. SYKE

4. TARTS

5. SYKE

6. FLAON

7. THORA

8. SYKE

9. TARTS

10. Beim Weißen Schirm

11. TRANPAR

12. Beim Weißen Schirm

13. THORA

14. Im Sternenrad

15. TARTS

Epilog: Rudyn

Nachruf auf Konrad Schaef

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten, konnte er diese durchreisen und erreichte ein Zwillingsuniversum, das mit seinem heimischen das sogenannte Dyoversum bildet. In jener Hälfte des Dyoversums findet er tatsächlich Terra wieder – und viele Sonnen und Planeten, die er kennt. Die Staubfürsten erweisen sich schließlich sogar als Verbündete – zumindest für den Moment, und eine Rückkehr der Erde rückt endlich in greifbare Nähe.

In der Milchstraße dreht sich dagegen alles um die Bleisphäre, die das Arkonsystem umgibt: Cairaner, Ladhonen, Naats und Arkoniden versuchen, sie für sich zu vereinnahmen. Atlan ersinnt einen Plan und wagt EIN KALKULIERTES RISIKO ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Cheyen Ho – Die Kommandantin der SYKE beobachtet das Sternenrad.

Markul agh Fermi – Der Stellvertreter des Mascanten muss sich beweisen und geht ein hohes Risiko ein.

Atlan – Der Mascant erteilt dramatische Befehle.

Reginald Bull – Der Resident schickt Verstärkung zur Bleisphäre.

Prolog

SYKE

 

Die Beleuchtung in der Zentrale der SYKE glomm nur noch. Das schummrige Licht – höchstens 40 Prozent der normalen Stärke – machte Cheyen Ho latent aggressiv. Immerhin war das trübe Licht eine ständige, unausweichliche Erinnerung daran, wie es um das Schiff stand, jede Minute, jeden Tag.

Das Schlimmste war allerdings wohl vorbei – was aber nicht bedeutete, dass es besser wurde. Nur komplizierter. Das Auftauchen des Sternenrads hatte die raum-zeitliche Struktur rund um das ehemalige Arkonsystem gehörig erschüttert. Vor zweieinhalb Tagen war das weiße Monstrum erschienen: eine leuchtende Scheibe, 100 Millionen Kilometer dick, eine Milliarde Kilometer im Durchmesser. Im Inneren war Platz genug für ein ganzes Sonnensystem. Die Flucht- und Trutzburg der Cairaner, sagten die, die es immer besser wussten.

Ein Gebilde dieses Ausmaßes ließ sich nicht ohne Nebenwirkungen quer durch das Universum versetzen. Kurz nach dem Erscheinen des Rads hatte eine gewaltige Schockwelle die SYKE getroffen, genau wie alle anderen Einheiten, die im näheren Umkreis Stellung bezogen hatten – mehr als 50.000 Schiffe aus mindestens vier unterschiedlichen Fraktionen. Arkoniden, Naats, Ladhonen und Posbis hatten einander dort kampfbereit belauert.

Sie lauerten immer noch, aber mit ihrer Kampfbereitschaft sah es wohl nicht besser aus als bei der SYKE-Besatzung. Sämtliche Hypertechnik war in Mitleidenschaft gezogen. Am ersten Tag war sie sogar nahezu komplett ausgefallen gewesen: Funk, Ortung, aktive und passive Waffensysteme und Energieerzeugung. Das war schlimm gewesen, aber mittlerweile schwankte die Verfügbarkeit der Technik enorm – niemand wusste, wie lange etwas funktionierte und mit welchem Wirkungsgrad. Und inwieweit dieser Umstand die Auslaugung von Hyperkristallen betraf ... Cheyen Ho wollte gar nicht so genau darüber nachdenken, was für ein Rattenschwanz an Folgen denkbar war. Falls die SYKE dieses ganze Szenario überstand.

Im Grunde war Hos Schiff ein Teilzeitwrack, das sich auf seine Notfallenergiespeicher verlassen musste. In einer Gefechtssituation würden diese binnen kürzester Zeit aufgebraucht sein, falls die Schutzschirme denn die Gnade hatten, nicht im entscheidenden Moment auszufallen.

Wir bekommen das hin, behaupteten die Techniker, aber einen genauen Zeithorizont konnten sie nicht angeben. Es existierte eben kein Präzedenzfall für ihre gegenwärtige Situation.

Das Schummerlicht half beim Energiesparen, wenn auch eher im symbolischen Bereich. Aber im Ernstfall mochte genau jenes Quäntchen die Rettung bedeuten.

Ho selbst blieb nichts übrig, als die Daumen zu drücken, dass die Energiegewinnung bald wieder ansprang und die Maschinen an Bord reibungslos funktionierten. Die Ingenieure, Techniker und Spezialisten arbeiteten rund um die Uhr daran, alle Funktionen wieder in Gang zu bringen.

»Jawoll!«, rief Tomasz Miri wie aufs Stichwort. Der Leutnant war der stellvertretende Leiter von Funk und Ortung. Er kümmerte sich darum, wieder verlässliche Informationen aus den Sensoren der SYKE zu generieren.

»Lass uns an deiner Freude teilhaben!«, ordnete Ho an.

Miri grinste sie selbstzufrieden an. »Die aktuelle Konfiguration bringt endlich Ergebnisse, die mit der normaloptischen Beobachtung übereinstimmen.«

Das war eine gute Nachricht. Die Hyperortung arbeitete im erträglichen Bereich – qualitativ wie quantitativ. Korrekte Daten lieferte sie leider nicht unbedingt: Was die Ortung ergab und was die normaloptische Beobachtung korrelierte nicht immer. Die Besatzung der SYKE konnte einige Schiffe im System direkt optisch beobachten, nämlich jene, die sich zwischen ihrer eigenen Position und dem monströsen Sternenrad befanden. Im Idealfall vollführten die winzigen schwarzen Punkte vor dieser weiß strahlenden Leinwand exakt die Manöver, die Miri in der Hyperortung gesehen hatte – nur eben mit der Verzögerung, die das Licht von ihrer Position bis zur SYKE benötigte.

In der Praxis funktionierte das leider bislang überhaupt nicht. Wann änderte sich das?

»Ich präsentiere: die Hyperortungsergebnisse!« Leutnant Miri zeigte beim Lächeln so blendende Zähne, dass sie dem Sternenrad Konkurrenz machten. »Und nun die normaloptischen Beobachtungen.«

Zwei Holos erschienen, eines mit roten, eines mit gelben Punkten, und schoben sich in der Luft übereinander. Sie waren völlig deckungsgleich.

»Und jetzt ...« Miri aktivierte eine Funktion, und die Punkte setzten sich in Bewegung. Rot und Gelb zogen Spuren durch die Luft, die bis auf winzige Abweichungen exakt aufeinanderlagen.

Am Anfang zumindest. Dann trennten sich die ersten Punkte voneinander.

»Was ...?« Miri laborierte hektisch an seinem Pult. Das Grinsen war verflogen.

Er bekam die Abweichung nicht in den Griff. Die per Hyperortung gemessenen und die optisch beobachteten Schiffspositionen entfernten sich immer weiter voneinander. Mit einem unwirschen Handwinken desaktivierte er das Holo.

Ho seufzte und wandte sich an Miris direkten Vorgesetzten, Leutnant Anders Krupcke. »Und wie sieht es bei dir aus?«

Krupcke als Chef der Abteilung Funk und Ortung kümmerte sich darum, die überlichtschnelle Kommunikation wieder in Gang zu bringen. Er hatte den Auftritt seines jüngeren Kollegen mit steinerner Miene und einer hochgezogenen Augenbraue verfolgt.

»Können wieder funken«, sagte er ungerührt. »Wollte nur mit der Meldung warten, bis das da vorbei ist.« Er gestikulierte dorthin, wo eben noch Miris Lichtshow falsche Hoffnungen geweckt hatte.

Ho weitete überrascht die Augen. »Wie das?«

»Unzuverlässige Verbindung, beschränkte Reichweite.« Redseligkeit konnte man Krupcke nicht vorwerfen. »Keine hundert Lichtjahre. Aber wir haben ein anderes terranisches Schiff außerhalb von M Dreizehn aufgetan. Sie leiten unsere Sendung als Relais weiter. Ist nicht doll, funktioniert aber halbwegs.«

»Ich will eine Verbindung nach Rudyn!«, forderte Ho.

Krupcke zuckte mit den Achseln. »Sollte klappen.«

 

*

 

Ho saß aufrecht am Schreibtisch ihres Arbeitsraums neben der Zentrale. Das Holo-Emblem der Solaren Residenz baute sich vor ihr auf, flackerte, verschwand und erschien wieder. Dann tauchte das Gesicht von Reginald Bull auf, Resident der Liga Freier Galaktiker – der Mann, dessen Befehle schuld daran waren, dass ihr Schiff von einem Unglück ins nächste flog.

»Oberstleutnant Ho!« Er wirkte gleichermaßen erleichtert wie übernächtigt. »Endlich! Was ist los bei euch?«

»Du weißt vermutlich, dass das Sternenrad der Cairaner bei der Bleisphäre eingetroffen ist?«

»Ja, und das ist auch alles, was ich weiß. Zweieinhalb Tage, und niemand vor Ort hat es für nötig gehalten, mich mit Details zu versorgen.«

Ho fragte sich, ob es das war, was dem Residenten schlaflose Nächte bereitete – oder das Schicksal des Ilts Gucky, mit dem Bull über Jahrtausende befreundet gewesen war. Mit Guckys sinnlosem Tod hatte ihre Pechsträhne begonnen.

»Es liegt weniger am mangelnden Willen«, sagte sie nicht minder müde, »als vielmehr am Vermögen. Das Sternenrad ist mit einer gewaltigen Hyperschockwelle bei uns aufgetaucht. So gut wie sämtliche wichtigen Systeme waren ausgefallen und sind teilweise schwer beschädigt. Wir haben keine zuverlässige Energiegewinnung und verbrauchen gerade unsere Energiereserven, die Ortung ist hinüber, und der Funk ...«

Sie musste den Satz nicht zu Ende bringen. Bull nickte. »Das erklärt die miese Verbindung. Die Gesamtlage?«

»Alle Schiffe vor Ort sind betroffen. Arkoniden, Naats, Ladhonen, Posbis, auch die THORA und ihre Begleitschiffe. Alle arbeiten fieberhaft daran, wieder verteidigungsfähig zu werden, bevor die anderen Konfliktparteien wieder angriffsfähig sind.«

»Wobei Angriff und Verteidigung hier große Schnittmengen aufweisen dürften«, sagte Bull und zog eine Grimasse. »Fünfzigtausend wehrlos driftende Raumschiffe, mitten im Krieg um Thantur-Lok? Wann geht denn endlich wieder die Saat der Vernunft in der Galaxis auf?«

»Vierundfünzigtausend«, korrigierte Ho, die Bulls philosophische Anwandlungen ignorierte. »Die Situation ist explosiv. Kommt eine Partei deutlich schneller als die anderen wieder auf die Beine, gibt es ein Massaker.«

»Was ist mit Atlan auf der THORA?«, fragte Bull.

»Kein Kontakt bislang«, bedauerte Ho. »Je größer das Schiff, desto mehr Technik kann ausfallen.«

Bull zog einen Mundwinkel schief. »Wie wäre es, wenn du mir zur Abwechslung mal gute Nachrichten brächtest?«

Ho versteifte sich. Machte der Resident etwa sie für die Situation verantwortlich?

Doch Bull winkte nur ab und schüttelte den Kopf. »Entschuldige. Ein verunglückter Scherz. Ich hatte schon bessere Tage.« Er sah sie müde an. »Seit wann hast du nicht mehr geschlafen?«

Ho musste nachdenken. »Etwa sechsunddreißig Stunden. Die Reparaturen nehmen uns voll in Anspruch, neben ein paar anderen logistischen Problemen.«

Eines davon hörte auf den Namen Klowka, stand im Rang eines Korporals und hatte kein Gefühl für Prioritäten.

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Illustration: Swen Papenbrock

»Wenn die Kommandantin umkippt, hilft das eurer Einsatzfähigkeit wenig. Im Anschluss an unser Gespräch isst du was und legst dich hin, okay?«

Missmutig blickte Ho zu dem Tisch, an dem ihr nicht angerührtes Mittagessen stand: ein gewaltiger Trog Salat. Aus Energiegründen war die Fleischsynthetisierung auf Eis gelegt, stattdessen gab es Grünzeug aus Vorräten und hydroponischen Anlagen. Seit zweieinhalb Tagen war eine vegetarische Zwangsdiät verordnet, was ihr als Halbertruserin gehörig gegen den Strich ging.

Wenigstens war die Lebensmittelkühlung kein Problem. In einem der irrsinnigeren Momente seit der Havarie hatte jener unselige Korporal Klowka ihr aufgelöst vorgerechnet, dass sie in wenigen Tagen verhungern würden, falls sie die Energie zur Temperaturregulierung der Vorratsräume einsparten.

Der Chefkoch hatte ihn ausgelacht und vorgeschlagen, die verderbliche Ware in einen zum All hin offenen Hangar zu bringen. Der Eisbergsalat, nahe beim absoluten Nullpunkt gelagert, trug seinen Namen seitdem völlig zu Recht.

»Zu Befehl«, sagte sie missmutig.

»Was ist mit dem Sternenrad selbst?«, fragte Bull. »Neue Erkenntnisse?«

Damit hatte er zielsicher einen weiteren wunden Punkt getroffen. »Ortung ins Sternenrad hinein ist nicht möglich«, erklärte sie. »Wir wissen nicht, ob der Weiße Schirm das verhindert oder ob es an unseren gestörten Geräten liegt. Aber vor zweieinhalb Tagen ist ein Einsatzteam eingedrungen. Zwei Leibwächter des Thantur-Barons mit einem Spezialroboter und zweien meiner Besatzungsmitglieder.«

Bull nickte. »Und du machst dir Sorgen.«

»Zweieinhalb Tage ohne jedes Lebenszeichen? In der Tat halte ich da Sorgen für durchaus angemessen.«

»Es ist nicht besonders lange für einen Undercover-Risikoeinsatz«, gab der Resident zu bedenken. »Aber ich verstehe dich natürlich. Was hast du vor?«

»Ich überlege, eine zweite Gruppe hinterherzuschicken«, antwortete Ho. »Allerdings wissen wir nicht, wie wir den Schirm durchdringen sollen. Das erste Team hat sich mit einem havarierten Schiff eingeschleust, das die Cairaner ins Innere geschleppt haben. Diese Möglichkeit haben wir nicht noch einmal.«

»Hm«, machte Bull. Und noch einmal: »Hm. Ich weiß, wer vielleicht helfen kann. Es dauert ein paar Tage, aber du bekommst Verstärkung von mir. Sonst noch etwas?«

Ho schüttelte den Kopf. »Wir versuchen zu überleben und schneller einsatzbereit zu sein als die anderen.«

»Klingt nach einem guten Plan«, sagte Bull. »Würde ich weiterverfolgen.«

»Wann hast du eigentlich das letzte Mal geschlafen?«, fragte Ho in einem plötzlichen Anfall von Wagemut.

»Weiß ich nicht.« Bulls Züge verhärteten sich. »Auf jeden Fall war da Gucky noch am Leben.« Er schüttelte den Kopf, und der Ausdruck von Hass und Trauer verflog so schnell, wie er gekommen war. »War es das für den Augenblick, Oberstleutnant?«

»Für den Augenblick ja, Resident«, sagte sie förmlich. Sie spürte: Sie hatte eine Grenze überschritten, von der sie sich besser ferngehalten hätte. »Ich melde mich, sobald es neue Entwicklungen gibt.«

»Mach das.« Bull war mit seinen Gedanken schon ganz woanders. »Mach das.«

Ohne Abschiedsworte beendete er die Verbindung.

Ihr Magen knurrte erschreckend laut. Lustlos wandte sie sich ihrem Salat zu und befolgte des Residenten Befehl.

1.

TARTS

Fünf Tage später

 

Ortungsbilder. Damit hatte alles angefangen.

Warum hatte Markul agh Fermi als Kommandeur des XIV. Grenzsicherungsverbands nicht einfach nur seine Tagesbefehle befolgt? Stattdessen hatte er unbedingt die militärischen Ortungsbilder rund um Thantur-Lok studieren und analysieren müssen. So hatte er die verdächtigen Flottenbewegungen der Naats frühzeitig entdeckt, was direkt zu seinem zweiten Fehler geführt hatte: Er hatte den Mund aufgemacht, um vor der drohenden Gefahr zu warnen.

Das hatte eine ganze Kaskade unheilvoller Entwicklungen ausgelöst. Er war von seinem besten Freund verraten worden, in Gefangenschaft der Naats geraten, und schließlich hatte der arkonidische Umstürzler Jarak da Nardonn ihn töten wollen.

Positive Aspekte gab es allerdings auch: Er war er vom mittleren in den Hochadel aufgestiegen, hatte einen gewaltigen Sprung auf der militärischen Karriereleiter gemacht und war an all den Offizieren aus den alteingesessenen, reichen und mächtigen Khasurnen vorbeigezogen. Er war nun De-Keon'athor, Dreisonnenträger, der zweitmächtigste Mann der gesamten arkonidischen Flotte.

Beschweren wollte er sich also nicht. Aber hätten die Naats ihn einfach in ihrer Zelle behalten, wäre Markul agh Fermis Leben zumindest sehr viel einfacher gewesen. Stattdessen war er verantwortlich für den Schutz der Bleisphäre – jenes eigenartigen Raumphänomens, welches das Arkonsystem, die Heimat seines Volkes, unerreichbar vom Normalraum abtrennte. Ihm unterstanden 28.000 Einheiten aus der Heimatflotte der vereinigten Baronien sowie diverser Grenzsicherungsverbände. Damit sollte er die Flotten der Invasoren in ihre Grenzen weisen – gut 13.000 Naatschiffe und etwa 11.000 Ladhonenraumer.

Aufseiten der Arkoniden waren zudem 1200 Raumer der Posbis einsatzbereit, sodass die Verteidiger der Baronien insgesamt mehr Kampfkraft aufgebracht hatten. Prinzipiell stand ihm also eine lösbare Aufgabe bevor.

Und dann war das Sternenrad der Cairaner gekommen.

Der weiß leuchtende Kringel von der Größe eines ganzen Sonnensystems hatte durch die Schockwelle seines Auftauchens sämtliche Schiffe, Angreifer wie Verteidiger, mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt. Eine Woche später waren zumindest auf arkonidischer Seite viele Einheiten wieder einsatzfähig. Bei den Ladhonen und Naats sah es wahrscheinlich nicht anders aus.

Trotzdem rührte sich niemand – was in agh Fermis Augen nur vernünftig war, solange niemand wusste, auf welcher Seite die Cairaner in den Konflikt eingreifen würden und wozu das Sternenrad in der Lage war.

Diesem stillschweigenden Konsens hatten sich alle Kommandeure im Umkreis mehrerer Lichttage angeschlossen. Alle – bis auf Atlan da Gonozal, Mascant der Vereinigten Sternenbaronien, Oberbefehlshaber sämtlicher arkonidischer Flotten und die einzige Person außer Kristallbaron Larsav da Ariga, die agh Fermi noch Befehle erteilen konnte.

Und so saß Markul agh Fermi wieder einmal in seinem Arbeitsraum als Verbandskommandeur und analysierte Ortungsbilder.

Das Türsignal erklang. Agh Fermi rieb die überanstrengten Augen und rief »Herein!«

Das Schott fuhr auf. Im Eingang stand Mava da Valgathan, die Kommandantin der TARTS. Sie führte Atlans Flaggschiff – genauer gesagt: agh Fermis Flaggschiff, solange Atlan sich auf der terranischen Einheit THORA aufhielt – nüchtern und effizient, ohne Allüren.

Agh Fermi wusste das zu schätzen. Viele arkonidische Offiziere in exponierter Stellung nahmen sich zu wichtig. Da Valgathan tat das nicht, und wenn sich jemand in ihrer Gegenwart aufplusterte, gelang es ihr oft mit nur einem Halbsatz, jenen auf ein gesundes Maß an Selbstwertgefühl zurückzustutzen.

Das hieß aber auch, dass da Valgathan ihn nicht ohne guten Grund stören würde. Er ahnte, welche Nachricht sie zu überbringen hatte. Und er wollte sie nicht hören.

»Welch Kunde bringst du, Heydrengotha?«, fragte er entsprechend matt.

Sie ging auf sein Zitat aus den klassischen Heroensagen nicht einmal ein. »Unsere Flotte meldet volle Einsatzbereitschaft.«

Agh Fermi nickte. »Danke für die Information.«

Er wartete, doch wie befürchtet ging da Valgathan nicht einfach wieder. »Alle Einheiten«, insistierte sie stattdessen. Sie stand da und erwartete einen Befehl von ihm.

Einen Befehl, den er partout nicht geben wollte. »Vielen Dank«, wiederholte er.

Sie sah in das Ortungsholo über seinem Arbeitstisch. Er desaktivierte es.

»Hast du eigentlich etwas gegen mich persönlich?«, fragte sie unbekümmert. »Oder sprichst du nur deshalb nicht mit mir, weil ein anderer Kommandant auf einem anderen Schiff dich hintergangen hat?«

Das war ein unerwarteter Schlag. »Du weißt davon?«

»Ich weiß, dass du den Kommandanten deines früheren Flaggschiffs im vierzehnten Grenzsicherungsverband hast verhaften lassen, als der Verband hierhin verlegt wurde. Zu deinen Gunsten möchte ich annehmen, dass es einen guten Grund dafür gab.«

»Gut, du hast gewonnen. Wenn du es unbedingt wissen willst ...« Er bot ihr einen Platz an. Bald würde Atlan ohnehin herausfinden, was er tat – oder eben nicht tat. Wenn da Valgathan ihn meldete, war die ganze Farce eben einen halben Tag früher zu Ende. Und es war ganz sicher nicht schlecht, seine Bedenken mit einem erfahrenen Kommandanten zu besprechen. Vielleicht konnte sie ihm einen Weg aufzeigen, wo er nur verschlossene Türen sah.

»Atlan«, erklärte er, »hat mir per Kurier einen Befehl zukommen lassen, als der Funk noch ausgefallen war. Sobald ein ausreichend starker Kampfverband einsatzbereit ist, sollen wir einen Angriff gegen das Sternenrad beginnen. Wir sollen die Eigenschaften des Weißen Schirms prüfen und nach Möglichkeit eine Methode finden, um ihn zu durchbrechen.«

»Weiß ich«, gab da Valgathan zurück.

»Woher?«, fragte agh Fermi. »Das ist streng geheim!«

»Flottenklatsch«, gab sie leichthin zurück. »Du wärst erstaunt, was Offiziere aus den alten, großen Adelshäusern alles erzählen, um als wichtig und gut informiert zu gelten.«

Da hatte agh Fermi ein Thema, um das er sich als De-Keon'athor einmal kümmern konnte, falls er die nächsten Tage überlebte. »Man kann selbstverständlich diskutieren«, fuhr er fort, »wann ein Kampfverband ›ausreichend stark‹ ist. Aber sobald die gesamte Flotte einsatzbereit ist, wäre das müßig. Wir müssten eigentlich losschlagen.«

»Und das willst du nicht.« Da Valgathan sagte es nicht als Vorwurf, nur als nüchterne Feststellung.

Er aktivierte das Holo wieder, das er bei ihrem Eintreten so eingehend betrachtet hatte. »Der Weiße Schirm blockt so gut wie jeden Ortungsversuch. Wir können von außen nur ein paar Schatten wahrnehmen, wenn größere Objekte sich direkt in der Nähe des Schirms bewegen. Aus diesen rudimentären Erkenntnissen können wir folgern, dass sich weitere Kampfschiffe im Inneren des Rads befinden. Aber wir haben nicht einmal den Anflug einer Ahnung, wie viele es sind.«

Da Valgathan nickte nachdenklich. »Die paar Hundert Cairanerschiffe außerhalb des Sternenrads könnten uns nicht aufhalten. Aber du hast Angst vor dem, was sie dort drinnen verbergen.«

»Ich habe Angst, dass wir Erfolg haben, den Schirm zum Zusammenbruch bringen und dahinter etwas finden, das mindestens eine Nummer zu groß für uns ist«, gab agh Fermi zu. »Ich verstehe nicht, warum ein erfahrener Stratege wie Atlan dieses Risiko eingehen will.«

Da Valgathan antwortete nicht darauf. Sie stand auf und lockerte ihre Nackenmuskeln. »Ich werde noch einmal Statusmeldungen von all unseren Schiffen anfordern und prüfen, ob die letzte Meldung wirklich korrekt war. Das wird sicher einen halben Tag dauern. Vorher ist es, glaube ich, nicht ratsam, sich auf Händel mit den Cairanern einzulassen.«

Agh Fermi lächelte dankbar. Er hatte zwar immer noch keine Ahnung, wie er mit seinem Problem umgehen sollte. Aber nun hatte er einen halben Tag mehr, um darüber zu grübeln.

An der Tür blieb da Valgathan stehen und wandte sich ihm wieder zu. »Überleg nicht zu lange«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gehört. »Atlan ist nicht dein einziges Problem. Es gibt eine Menge Offiziere aus den großen Khasurnen, die nicht einverstanden sind mit deiner Beförderung. Sie halten dich für einen Emporkömmling und Günstling des Barons. Es kursieren die irrsten Geschichten, wie du an deinen Posten gekommen bist, und eine Menge Leute wollen dich lieber heute als morgen wieder entfernen. Bislang haben sie nichts gegen dich in der Hand. Aber wenn du als Zauderer giltst und außerdem Befehle des Mascanten ignorierst ...«

Damit sagte sie ihm nichts, womit agh Fermi nicht bereits gerechnet hatte. Allerdings hatte er gehofft, es würde länger dauern, bevor das Intrigenspiel Fahrt aufnahm. Seiner Ansicht nach hätte man damit warten können, bis die akute äußere Bedrohung für die Baronien abgewendet war. Offensichtlich war er ziemlich naiv für seinen Rang.

»Woher weißt du das alles?«, fragte er.

Sie zwinkerte. »Auch ich gehöre zu einem alten Khasurn. Wie gesagt, sie suchen belastendes Material – und da ich nun einmal auf demselben Schiff diene, war es naheliegend, mich zu fragen.«

Er grinste zum ersten Mal seit langer Zeit. Es war gut, Mava da Valgathan an seiner Seite zu wissen. »Vielen ...«

Eine Alarmsirene riss ihm die Dankesworte von den Lippen.

 

*

 

Sie stürzten in die Zentrale der TARTS, Mava da Valgathan zwei Schritte vor agh Fermi.

»Ladhonen auf Angriffskurs«, begrüßte sie eine routinierte Meldung.