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Patrick Dowling wurde am 30. November 2009 erhängt in einem Waldgebiet gefunden. Die polizeiliche Untersuchung zum Tod des Achtundzwanzigjährigen endete, sowie das Ergebnis der Obduktion bekanntgegeben wurde. Selbstmord. Die Polizei hatte ein paar Nachforschungen angestellt und mit engen Freunden und Verwandten gesprochen, allerdings ohne jedes Ziel vor Augen. Für sie war der Fall bereits erledigt. Dann landete aufgrund gewisser Umstände das Verfahren zur Feststellung der Todesursache auf meinem Schreibtisch, und nachdem ich die Akte einige Zeit studiert hatte, kam ich zu einem gänzlich anderen Schluss. Dowling war ermordet worden.
Meine Rolle als Coroner ist es, Vorfälle wie Patrick Dowlings Tod zu untersuchen. Ich stelle Nachforschungen bei ungewöhnlichen, ungeklärten, gewaltsamen oder unnatürlichen Todesfällen an. Ich frage nach dem Wer, Wann, Wo und Warum. Und dann entscheide ich, was passiert ist. Der Staat braucht eine Erklärung für ungewöhnliche Todesfälle, und die Familien müssen einen Schlussstrich ziehen können.
Nachdem ich also entschieden hatte, dass Dowling nicht von eigener Hand gestorben war, musste ich das Gericht anrufen und es beweisen.
Am Donnerstag, den 3. Juni 2010, um 13.45 Uhr, fing ich mit Jack Matthews an, dem Detective, der die Leiche entdeckt hatte. Wir saßen in meinem Büro – dem »Seufzerzimmer«, wie ich es nenne – im Coroner’s Court von Dublin. Seufzer, weil mein Personal hauptsächlich ebendiese aus meinem Büro hört, wenn ich über meinen Unterlagen brüte. Einen weiteren Namen habe ich für den Gerichtssaal selbst: »Geisterkammer.« Ich besitze eine lebhafte Fantasie.
»Als man Dowling fand, galt er noch nicht einmal seit vierundzwanzig Stunden als vermisst«, sagte ich, als würde ich die Akte gerade zum ersten Mal durchgehen. Ich sah über den Schreibtisch hinweg. Matthews nickte. »Warum die überstürzte Suche? Er war ein erwachsener Mann. Er hätte überall sein können. Mit einem Freund versumpft. In seinem Auto, um einen Kater auszuschlafen. Bei einem Mädchen. Es hätte eine Menge Erklärungen für sein Verschwinden geben können.«
»Dowling war drogensüchtig«, erklärte Matthews. »Und er war der Sohn von Minister Albert Dowling. Er war am Tag zuvor in eine Schlägerei mit einem polizeibekannten Kriminellen verstrickt gewesen. Wir machten uns Sorgen um sein Wohlergehen.«
Matthews war der für die Suche nach Dowling verantwortliche Polizeibeamte gewesen. Signale von Dowlings Handy hatten sein Team in ein abgelegenes Waldstück an der Grenze zwischen Dublin und Wicklow geführt.
Ich drehte mich ein Stück auf meinem Stuhl herum und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischoberfläche. Matthews ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen. Ein breites, unbewegtes Gesicht.
Ich tat so, als würde ich seine Erklärung akzeptieren. »Also deswegen wurden Sie so schnell aktiv.« Ich nahm einen Bissen von meinem Sandwich. Es schmeckte lausig. Die Lektüre der Verpackungsangaben verriet mir überdies, dass die vielen Zusatzstoffe für Ausschlag und für Sodbrennen reichen würden. Ich schob das Sandwich beiseite und schlug eine neue Seite in dem Aktendossier auf. Wieder ließ ich es so aussehen, als wäre ich gerade erst auf die entsprechende Stelle gestoßen. In Wahrheit ging ich das Dossier bereits zum dritten Mal durch, und schon bei der allerersten Lektüre hatte sich eine Reihe von Widersprüchen aufgetan. Verdächtige Hämatome an der Leiche. Dowlings letzte Stunden ließen sich nicht mit den Ergebnissen aus der Toxikologie in Einklang bringen. Eine fast leere Whiskeyflasche im Wagen des Toten, auf der man nicht die Spur eines Fingerabdrucks gefunden hatte. Warum sollte ein Mann, der beschlossen hatte, sich umzubringen, sich noch die Zeit nehmen, eine Whiskeyflasche sauber zu wischen? Also hatte ich weiter über den Unterlagen gebrütet und sie unter forensischen Aspekten auseinandergenommen. Als ausgebildeter Pathologe weiß ich, wie man so etwas methodisch macht. Ich nahm mir die getippte Version des Obduktionsberichts vor und unterstrich ein paar Passagen, mit denen ich besonders unzufrieden war. Am Ende war ich davon überzeugt, dass irgendjemand die Unwahrheit sagte – sei es jemand aus Polizeikreisen, ein Zeuge oder die Familie. Dowling war ermordet worden, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.
Ich trug den toxikologischen Befund laut vor. »Spuren von Kokain, Heroin und Amphetaminen in seinem Blutkreislauf.« Ich runzelte so heftig die Stirn, dass es beinahe wehtat. »Ein ordentlicher Cocktail. Es wundert mich, dass er seine Schnürsenkel noch zubinden konnte, ganz zu schweigen davon, eine Schlinge zu knoten.«
Matthews antwortete mir nicht, sondern rutschte lediglich nervös auf seinem Stuhl hin und her, rieb sich die Nase und kratzte sich am Kinn. Er sah aus, als wünschte er sich tausend Meilen weit weg. Er war ein hochgewachsener Mann Anfang fünfzig mit schütterem Haar und einer Tendenz zum Verlottern. Seine Haut war blass von zu viel Schreibtischarbeit, und er hatte einen beträchtlichen Schmerbauch. Seine Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Sein Anzug war fast so verknittert wie sein Gesicht, über das nun ein Anflug von Unsicherheit huschte.
»Als man ihn entdeckte, lag ein umgekippter Barhocker unter ihm.« Ich hatte einen bewusst monotonen, gelangweilten Tonfall gewählt. »Auf der Sitzfläche prangte der schlammige Abdruck seiner Schuhe. Schlussfolgerung: Er hatte sich die Schlinge um den Hals gelegt, sich auf den Hocker gestellt und ihn dann unter sich weggetreten.« Ich warf Matthews wieder einen raschen Blick zu. »Nur wie zum Teufel hat er all das geschafft?«
Matthews zuckte mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck war düster, seine Augen stumpf. Ich überlegte kurz, ob ihn die Erinnerung an den leblos vor ihm hängenden achtundzwanzigjährigen Dowling noch immer verfolgte. Niemand, der unvermutet auf einen Toten stößt, vergisst diesen Anblick jemals. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Dr. Wilson«, antwortete er. »So haben wir ihn jedenfalls gefunden.«
Er ließ sich nicht in die Karten schauen. Sofern er log, war er tatsächlich ein guter Lügner. Andererseits wusste er vielleicht wirklich nichts. Oder er hielt das Material in Dowlings Akte für plausibel. Dann war er dumm. Oder irregeleitet. Wenn meine schlimmsten Befürchtungen zutrafen, war Matthews sich der Tatsache, dass die Akte voller Unstimmigkeiten steckte, sehr wohl bewusst und stellte sich absichtlich unwissend. Doch ich würde diesen Verdacht nicht äußern. Zunächst wollte ich sehen, ob ich ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Er glaubte, wegen einer Vorbesprechung für das Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache hier zu sein, nicht zu einem Kreuzverhör.
Ich zog mein Sakko aus und hängte es über die Lehne meines Schreibtischstuhls. Dann öffnete ich den obersten Knopf meines Hemds und lockerte die Krawatte. Ohne ein weiteres Wort nahm ich Schriftstücke und Fotos aus der Akte. Matthews verfolgte jede meiner Bewegungen.
Die Polizeifotos des Erhängten breitete ich vor mir auf dem Schreibtisch aus. Man hatte Dowling auf einer Lichtung etwa zehn Meter vom Waldrand entfernt gefunden. Die Bäume standen dort dicht beisammen, die ganze Szenerie wirkte düster und unheimlich. Der Fotograf hatte herabgefallene und zerbrochene Äste eingefangen, die ganze Verwüstung eines noch nicht allzu lange zurückliegenden Sturms. Alles war von Zweigen, totem Laub und Blättern übersät. Rinde schälte sich von den Stämmen dicker Kiefern. BLITZ. Dann die Bilder der Leiche: der Oberkörper, der Kopf auf einem schrecklich abgeknickten Hals. BLITZ. Ein anderer Blickwinkel. Ein lebloses und aufgedunsenes Gesicht. BLITZ. Detailaufnahme des Seils, das in Dowlings Hals schnitt. Dieses Foto hatte auch Dowlings Mund, Nase und Augen erfasst. Ich starrte die Aufnahme an, drehte sie hin und her, als könnte das brutale Bild mir irgendeine Einsicht in die Gedanken des Toten offenbaren. Selbstmord ist ein Akt der Verzweiflung. Die meisten Menschen kämpfen um ihr Leben – bis zum letzten Atemzug kämpfen sie, um zu überleben. Warst du an jenem Tag so zutiefst verzweifelt, Patrick? Oder ist dir etwas anderes zugestoßen? Warst du wirklich allein, wie alle glauben? Oder war jemand bei dir? Hast du dir selbst das Leben genommen? Oder hat dich jemand getötet?
Ich blätterte zu einem anderen Abschnitt der Akte. »Der Obduktionsbericht schließt mit der Annahme, dass Dowling Selbstmord begangen hat. Das ist auch der Standpunkt des Staats im gerichtlichen Verfahren zur Feststellung der Todesursache.«
Matthews nickte wieder.
Ich seufzte laut. Da sind der Staat und ich offenbar nicht derselben Meinung, dachte ich.
»Ich wundere mich dennoch, warum er seinem Leben meilenweit entfernt von zu Hause in diesem Waldstück ein Ende setzte. Die meisten Selbstmörder bleiben auf heimischem Terrain.«
Matthews beugte sich vor. Sein Atem ging schwer und mühsam, und er kniff die Augen zusammen, sodass ich nur noch schmale, misstrauische Schlitze sah. »Irgendetwas stört Sie doch, Dr. Wilson. Was ist es?«
Ich gab ihm keine Antwort. Mich störte eine ganze Menge. Aber ich wollte vorsichtig zu Werke gehen. Die ganze Sache konnte durchaus einige Zeit dauern. Aber ich hatte Zeit. Tote drängeln nicht bei der Untersuchung ihrer Todesursache. Ich legte die Fotos in drei Reihen. Die erste zeigte den Hintergrund und den Wald. Dann sieben Aufnahmen von der herabhängenden Leiche. Die letzte Reihe zeigte einen schmalen Weg, der an Dowlings Fundstelle vorüberführte. Draußen klingelte ein Telefon, hörte auf, klingelte erneut. Es verstummte, ohne dass jemand den Hörer abgenommen hätte.
»Wird dieser Weg häufig benutzt?« Ich war so hungrig, dass ich noch einmal von dem Sandwich abbiss. Zum Teufel mit Ausschlag und Verdauungsstörungen, ich musste schließlich irgendetwas essen.
Matthews inspizierte seinen Handrücken, als hätte er sich Notizen darauf gemacht. »Schwer zu sagen. Es ist nicht gerade ein Volkswanderweg, aber hin und wieder gehen Leute von dort aus in die Berge.« Sein Blick blieb misstrauisch.
»Wohin führt er?«
»Nach rund einer Meile beginnt erst ein offenes Gelände, das dann zu ein paar niedrigeren Hügeln führt. In den Sommermonaten sind dort Crossläufer unterwegs.«
»Aber im November?«
»Lassen Sie es mich so sagen, Dr. Wilson: Dowling hing seit fast vierundzwanzig Stunden dort, als wir seine Leiche fanden, und niemand hatte zuvor irgendetwas gemeldet.«
Ich ging die Waldaufnahmen aufmerksam durch, vorsichtig, um keine Fettflecke darauf zu hinterlassen. Es sah dort nicht allzu einladend aus. Dunkel, feindselig, unheimlich. Ich bezweifelte, dass sich viele Leute im Winter dorthin wagten.
»Mir will die Sache mit dem Ort einfach nicht in den Kopf«, sagte ich. »Ich habe damals in der Zeitung von dem Fall gelesen. Da hieß es, Dowling sei ein Stadtmensch durch und durch gewesen. Wie kam es dann, dass er an einem derart abgelegenen Ort endete?«
Ich erwartete keine Antwort, und ich erhielt auch keine.
»Ich weiß nicht …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht.« Auf der Baustelle nebenan begann ein riesiger Bagger zu arbeiten. Die Fenster vibrierten. Mein Sandwich vertrocknete. Mir war der Appetit vergangen.
Der Fall Dowling war einer von zwanzig, die vor zehn Tagen auf meinem Schreibtisch gelandet waren. Dowling war innerhalb der Grafschaft Dublin ums Leben gekommen, deshalb hätte sich eigentlich der County Coroner Dr. Harold Rafferty um die Feststellung der Todesursache kümmern müssen. Doch Rafferty war einen Monat zuvor auf dem Weg zu seinem Wagen erschossen worden. Augenzeugen zufolge war ein unter einer Kapuze unkenntlicher Schütze ganz ruhig hinter ihn getreten, hatte Raffertys Namen gerufen und ihm, sobald er sich umgedreht hatte, aus kürzester Entfernung ins Gesicht gefeuert. Dann war der Attentäter in aller Seelenruhe zu einem schweren Motorrad geschlendert, das auf den Parkplatz gefahren war, auf den Soziussitz geklettert, und die Maschine war davongerast. Etwa eine Meile entfernt hatte ein vorbeikommender Autofahrer zufällig gesehen, wie der Schütze die Waffe in einen Bach geworfen hatte. Danach wurde er nicht mehr gesehen.
Rafferty war vierundsechzig Jahre alt und kurz vor dem Ruhestand gewesen, seine Arbeit mustergültig, aber nicht unumstritten. Oft hatte er das Beweismaterial der Polizei und kriminaltechnische Berichte infrage gestellt, wenn er geglaubt hatte, dass gepfuscht worden war. Berühmt war er geworden, als er sich einmal anlässlich eines Untersuchungsverfahrens mit der geballten Macht des Militärs angelegt hatte. Ein angeblich aus Versehen abgegebener tödlicher Schuss hatte sich als Mord herausgestellt, nachdem Raffertys bohrende Fragen von der Richterbank ein Netz aus Täuschung und Vertuschung unter hochrangigen Offizieren offengelegt hatte. Von diesem Tag an war er unter Strafverfolgern zwar ein Held, aber in Armeekreisen verhasst gewesen. Dennoch gab es nach wie vor kein ersichtliches Motiv für einen derart kaltschnäuzig und professionell ausgeführten Mord.
Von der Richterschaft bis hin zur Regierung hatte zunächst lähmendes Entsetzen über seine Ermordung geherrscht. Dann hatte man sich beeilt, Raffertys anhängige Verfahren aufzuteilen, damit sie abgeschlossen werden konnten. Ich hatte einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Fälle auf den Schreibtisch bekommen. Doch bis auf Dowling schien es sich um lauter Routinefälle zu handeln. Bei Dowling war ich davon überzeugt, dass er sich nicht selbst getötet hatte. Aber wenn nicht – wie war es dann dazu gekommen, dass er in einem abgelegenen Waldstück an einem Strick gebaumelt hatte? Jemand musste bei ihm gewesen sein. Dowling war nicht allein gestorben. Und irgendjemand versuchte, den wirklichen Sachverhalt zu vertuschen.
»Da ist noch etwas, was mich überrascht hat.« Ich war wie ein Hund, der nicht mehr von seinem Knochen abließ. »Die Eile.«
Matthews konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Er räusperte sich, um davon abzulenken. »Welche Eile?«
Draußen schaltete der Baggermotor in den Leerlauf, und die Fenster hörten auf zu klappern.
»Er verschwand am 29., wurde am 30. entdeckt und binnen vierundzwanzig Stunden obduziert. Zwei Tage später war die Beerdigung.« Ich lehnte mich zurück und sah den Detective an. »Das kommt mir verdammt überstürzt vor.«
»Ich habe im Fall Dowling ermittelt«, sagte Matthews scharf und sah dabei finster drein. »Wir haben ein gutes Dutzend Aussagen aufgenommen, darunter die seiner engsten Freunde. Das Begräbnis hat seine Familie organisiert, nicht ich.«
Ich hob die Hand. »Nachdem der Pathologe auf Selbstmord entschieden hatte, war das also das Ende der Geschichte, richtig?« Ich wies dem Mann einen Ausweg.
»Ja.« Jetzt sah er nicht mehr ganz so finster drein. Er war vom Haken. Mit dem Pathologen würde ich mich später beschäftigen. Es würde ihm schwerfallen, mich von der Richtigkeit der Schlussfolgerung zu überzeugen, zu der er bei der Obduktion gelangt war.
Aus Matthews würde ich nichts Nützliches mehr herausbekommen. Er hatte sich auf die Selbstmordtheorie versteift und ließ sich nicht mehr davon abbringen. Eines Tages würde ich ihn von einer anderen Position aus attackieren.
Ich klappte die Akte zu, legte sie demonstrativ auf einen Stapel weiterer Akten und richtete sie penibel gerade aus, damit sie nicht hinunterrutschte.
»Dann ist das wahrscheinlich das Ende der Geschichte«, log ich. Ich brauchte mehr Zeit. Es würde in diesem Verfahren unter keinen Umständen zu einer Anhörung kommen, ehe meine Zweifel vollends beseitigt wären. Ich schlug meinen Kalender auf. »Ich setze den Termin gleich als ersten am Montag, den 28. Juni, an. Das ist in knapp vier Wochen. Meine Sekretärin soll die Familie benachrichtigen. Wir werden aufgrund der Umstände eine Jury-Entscheidung brauchen. Das bedeutet: mündliche Aussagen sowohl von Ihnen als auch von den Kollegen aus der Forensik. In Ordnung?«
Matthews schien verunsichert. »Können Sie die Verhandlung nicht früher ansetzen? Die Familie will die ganze Sache möglichst schnell hinter sich lassen.«
Ich deutete auf den Stapel. Allesamt Berichte von ungewöhnlichen, seltsamen Todesfällen. »Sehen Sie diese Akten?«, fragte ich ihn. »Jede einzelne steht für einen Mann, eine Frau oder ein Kind. Sie alle sind unter unnatürlichen Umständen ums Leben gekommen. Aus diesem Grund sind sie hier bei mir gelandet. Und egal, welche Stellung sie im Leben innehatten – ob sie reich waren oder die Ärmsten der Armen –, sie haben alle meine Aufmerksamkeit verdient. Sie alle verdienen eine Erklärung dafür, was in den letzten Augenblicken ihres Lebens geschehen ist. Sie alle verdienen es, dass in ihrer Sterbeurkunde die Wahrheit steht.«
Matthews rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Falls der Minister ein Problem wegen dieses Termins haben sollte, sagen Sie ihm, er soll sich bei mir melden. Aber sagen Sie ihm auch, dass ich nicht nachgeben werde. In meinem Verantwortungsbereich warten die Toten der Reihe nach, und niemand überspringt einfach ein paar Plätze in der Schlange. Für Geld und Einfluss gibt es keinen früheren Termin.«
Im Nu war Matthews auf den Beinen. Er konnte es kaum noch abwarten, aus meinem Büro zu kommen. »Schon gut, schon gut. Sagen Sie den Dowlings nur bitte Bescheid. Sie sind ein wenig irritiert wegen dieses Verfahrens.«
Albert Dowling war mir natürlich ein Begriff. Er war das Familienoberhaupt und gehörte der irischen Regierung an. Im Fernsehen wirkte der Sechzigjährige groß und gut aussehend, mit vollem stahlgrauem Haar. Er hatte ein markantes Kinn mit einem Grübchen und schmale, raubvogelartige Augen unter buschigen grauen Brauen, die sich zornig aufzurichten schienen, wenn er über irgendetwas erbost war. Ich kannte ihn nicht persönlich, wusste aber um seinen Ruf als Rüpel, der stets seinen Willen durchzusetzen suchte. Korruptionsgerüchte kursierten über ihn. Ackerland soll als Bauland ausgewiesen werden? Kein Problem, fragen Sie Albert. Er wusste, wie man bei Planungstreffen Stimmen kaufte. Er wusste, welche Ratsmitglieder man schmieren konnte und für wie viel. Er vermochte eine Autobahn durch eine mittelalterliche Begräbnisstätte bauen zu lassen und EU-Gelder in seinen eigenen Wahlbezirk umzuleiten, um vor den Wahlen Stimmen zu fangen. Er war ein Gauner in einer Regierung, die aus lauter Gaunern bestand, doch er ragte hervor. Es interessierte ihn einen feuchten Dreck, was andere von ihm dachten. Er war dreist, unverschämt und furchteinflößend. Doch der Tod seines ältesten Sohns Patrick hatte ihm das Feuer geraubt. So hatten es jedenfalls Leute formuliert, die ihn kannten.
Matthews war bereits an der Tür und auf dem Weg nach draußen.
»Falls es in der Zwischenzeit Probleme geben sollte«, sagte ich, »wissen wir ja, wie wir uns erreichen.«
Er blieb mit einer Hand am Türrahmen stehen. »Was denn für Probleme?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »nur ganz allgemein. Probleme mit der Verfügbarkeit des Pathologen, mit dem Terminplan des Gerichts, mit der Teilnahme von Zeugen …«
Warum war Matthews so nervös? Er sah regelrecht erschrocken aus, als starrte ihn ein Geist hinter meinem Rücken an.
»Landung von Marsbewohnern, Überschwemmungen, Unruhen, Stürme, Pest – was weiß ich. Ich habe nur eine Redewendung benutzt. ›Wenn es Probleme gibt, melden wir uns.‹ Ich wollte damit nicht andeuten, dass es tatsächlich welche geben wird.«
Noch nicht.
Matthews lächelte freudlos. Das beruhigte mich mitnichten. Irgendetwas quälte ihn; seine Miene verriet alles. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem Fall. Er wusste, die Beweislage war schwierig, aber er wollte dabei bleiben und hoffte, dass ich irgendwann aufhörte, Fragen zu stellen, und alles für bare Münze nähme. Doch wenn ich recht hatte, lag Matthews falsch. Und bare Münze war bei mir nicht drin. Ich bin ein spezialisierter Pathologe mit einer ziemlich speziellen Vergangenheit. Ich traue nicht vielen Leuten. Ich traute ihm nicht und auch nicht den Obduktionsbefunden. Tatsächlich glaubte ich in diesem Fall an gar nichts.
Als er gegangen war, zog ich die Akte wieder vom Stapel und schlug sie auf. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte noch fünfunddreißig Minuten bis zum Ende der Mittagspause. Der Hunger trieb mich zum letzten Viertel meines Sandwichs. Minuten später ergoss die Säure sich in meinen Magen, und ich griff zu einer Packung Rennies.
Erneut ging ich die Fotos durch, bis ich ein ganz bestimmtes gefunden hatte. Eines derjenigen, die den Waldhintergrund zeigten. Ich betrachtete es aus verschiedenen Winkeln und drehte es so, dass das Licht darauf fiel. Dann studierte ich es durch ein Vergrößerungsglas. Ein verschwommenes Etwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Doch egal wie lange ich darauf starrte, es blieb ein Schatten. Ein Schatten mit einem roten Auge.