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Buch

Dr. Michael Wilson versteht sich als der Anwalt der Toten. Als Coroner der Stadt Dublin untersucht er unerwartete und merkwürdige Todesfälle und gibt all jenen eine Stimme, die nicht mehr für sich selbst sprechen können.

Als die Akte von Patrick Dowling auf seinem Schreibtisch landet, scheint eigentlich alles klar zu sein: Selbstmord durch Erhängen lautet das Autopsieergebnis des Pathologen. Aber Wilson wird misstrauisch. Ist es wirklich nur ein Zufall, dass der Kollege, der sich vor ihm mit dem Tod des Ministersohns beschäftigte, ermordet wurde? Wilson ahnt, dass etwas nicht stimmt, und beginnt, unliebsame Fragen zu stellen. Fragen, die ihn in Lebensgefahr bringen, denn manche Wahrheiten sollten lieber tief vergraben bleiben …

Autor

Paul Carson, geboren in Belfast, studierte Medizin in Dublin. 1997 erschien sein erster Thriller Das Skalpell, der die Spitze der irischen Bestsellerlisten eroberte. Seine Thriller sind international erfolgreich und werden in zwanzig Sprachen übersetzt. Der Autor lebt mit seiner Familie in Dublin, wo er eine Asthma-Klinik für Kinder betreibt.

Weitere Thriller von Paul Carson sind bei Blanvalet in Vorbereitung.

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PAUL CARSON

LEICHENBITTER

THRILLER

DEUTSCH VON FRED KINZEL

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Die Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel »Inquest« bei Century, an imprint
of The Random House Group Limited, London.

1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2014
im Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright der Originalausgabe © 2013 by Paul Carson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: Johannes Frick unter Verwendung
eines Motivs von plainpicture/Anja Weber-Decker
Redaktion: Leena Flegler
wr · Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-14380-0

www.blanvalet.de

Für Jean, Emily und David

1

Mein Beruf ist der Tod.

Mord, Selbstmord, Tod durch Unfall oder ärztliches Versagen, Verbrennungen, Ertrinken, eine Überdosis, ein Stromschlag, postoperativer Schock, vom Zug überrollt oder vom Bus überfahren – ich kümmere mich um alles. Und um vieles andere mehr.

Ich bin Arzt, aber meine Schützlinge sprechen nicht mit mir. Keiner von ihnen beschwert sich je über Magenkrämpfe, Kopfweh, Halsschmerzen oder Schwindelanfälle. Ich messe nicht ihren Blutdruck, untersuche nicht ihre Haut und Nägel und leuchte ihnen nicht in die Augen. Und doch weiß ich mehr über sie, als sie selbst über sich wussten. Ich weiß mehr, als ihre Angehörigen und Freunde je über sie wussten. Ich weiß, wann und wo sie geboren wurden, wo und wie sie lebten. Und wann und wie sie gestorben sind. Am Tag informiere ich mich über ihr Leben und ihre Lieben, ihre Ehe, Nachkommen, Tätigkeiten und gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Nachts lese ich ihre Autopsieberichte.

Manchmal wache ich morgens auf, und neben meinem Bett liegen Fotos verstreut auf dem Teppich. Brutale, grausame Bilder von Tatorten und Obduktionen. Die sind mir in der Nacht aus der Hand gerutscht, als mich die Müdigkeit überwältigt hat. Manchmal verfolgen mich diese Bilder bis in meine Träume. Wie Geister.

In solchen Nächten schlafe ich nicht gut und werde irgendwann ins Gästezimmer verbannt, weil sich meine Frau Sarah weigert, das Ehebett mit mir zu teilen. Sie findet das Elend, das mit meiner Arbeit einhergeht, zu bedrückend. Nicht dass sie mich nicht lieben würde. Sie sagt, sie liebt mich, und ich glaube ihr. Und ich liebe sie mehr, als ich es in Worte fassen kann. Aber ich habe bedeutsame Pflichten. Mein offizieller Titel ist Dr. Michael Wilson, Coroner der Stadt Dublin.

Mir gehören Dublins Tote.

Ich bin ihre letzte Stimme.

2

Patrick Dowling wurde am 30. November 2009 erhängt in einem Waldgebiet gefunden. Die polizeiliche Untersuchung zum Tod des Achtundzwanzigjährigen endete, sowie das Ergebnis der Obduktion bekanntgegeben wurde. Selbstmord. Die Polizei hatte ein paar Nachforschungen angestellt und mit engen Freunden und Verwandten gesprochen, allerdings ohne jedes Ziel vor Augen. Für sie war der Fall bereits erledigt. Dann landete aufgrund gewisser Umstände das Verfahren zur Feststellung der Todesursache auf meinem Schreibtisch, und nachdem ich die Akte einige Zeit studiert hatte, kam ich zu einem gänzlich anderen Schluss. Dowling war ermordet worden.

Meine Rolle als Coroner ist es, Vorfälle wie Patrick Dowlings Tod zu untersuchen. Ich stelle Nachforschungen bei ungewöhnlichen, ungeklärten, gewaltsamen oder unnatürlichen Todesfällen an. Ich frage nach dem Wer, Wann, Wo und Warum. Und dann entscheide ich, was passiert ist. Der Staat braucht eine Erklärung für ungewöhnliche Todesfälle, und die Familien müssen einen Schlussstrich ziehen können.

Nachdem ich also entschieden hatte, dass Dowling nicht von eigener Hand gestorben war, musste ich das Gericht anrufen und es beweisen.

Am Donnerstag, den 3. Juni 2010, um 13.45 Uhr, fing ich mit Jack Matthews an, dem Detective, der die Leiche entdeckt hatte. Wir saßen in meinem Büro – dem »Seufzerzimmer«, wie ich es nenne – im Coroner’s Court von Dublin. Seufzer, weil mein Personal hauptsächlich ebendiese aus meinem Büro hört, wenn ich über meinen Unterlagen brüte. Einen weiteren Namen habe ich für den Gerichtssaal selbst: »Geisterkammer.« Ich besitze eine lebhafte Fantasie.

»Als man Dowling fand, galt er noch nicht einmal seit vierundzwanzig Stunden als vermisst«, sagte ich, als würde ich die Akte gerade zum ersten Mal durchgehen. Ich sah über den Schreibtisch hinweg. Matthews nickte. »Warum die überstürzte Suche? Er war ein erwachsener Mann. Er hätte überall sein können. Mit einem Freund versumpft. In seinem Auto, um einen Kater auszuschlafen. Bei einem Mädchen. Es hätte eine Menge Erklärungen für sein Verschwinden geben können.«

»Dowling war drogensüchtig«, erklärte Matthews. »Und er war der Sohn von Minister Albert Dowling. Er war am Tag zuvor in eine Schlägerei mit einem polizeibekannten Kriminellen verstrickt gewesen. Wir machten uns Sorgen um sein Wohlergehen.«

Matthews war der für die Suche nach Dowling verantwortliche Polizeibeamte gewesen. Signale von Dowlings Handy hatten sein Team in ein abgelegenes Waldstück an der Grenze zwischen Dublin und Wicklow geführt.

Ich drehte mich ein Stück auf meinem Stuhl herum und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischoberfläche. Matthews ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen. Ein breites, unbewegtes Gesicht.

Ich tat so, als würde ich seine Erklärung akzeptieren. »Also deswegen wurden Sie so schnell aktiv.« Ich nahm einen Bissen von meinem Sandwich. Es schmeckte lausig. Die Lektüre der Verpackungsangaben verriet mir überdies, dass die vielen Zusatzstoffe für Ausschlag und für Sodbrennen reichen würden. Ich schob das Sandwich beiseite und schlug eine neue Seite in dem Aktendossier auf. Wieder ließ ich es so aussehen, als wäre ich gerade erst auf die entsprechende Stelle gestoßen. In Wahrheit ging ich das Dossier bereits zum dritten Mal durch, und schon bei der allerersten Lektüre hatte sich eine Reihe von Widersprüchen aufgetan. Verdächtige Hämatome an der Leiche. Dowlings letzte Stunden ließen sich nicht mit den Ergebnissen aus der Toxikologie in Einklang bringen. Eine fast leere Whiskeyflasche im Wagen des Toten, auf der man nicht die Spur eines Fingerabdrucks gefunden hatte. Warum sollte ein Mann, der beschlossen hatte, sich umzubringen, sich noch die Zeit nehmen, eine Whiskeyflasche sauber zu wischen? Also hatte ich weiter über den Unterlagen gebrütet und sie unter forensischen Aspekten auseinandergenommen. Als ausgebildeter Pathologe weiß ich, wie man so etwas methodisch macht. Ich nahm mir die getippte Version des Obduktionsberichts vor und unterstrich ein paar Passagen, mit denen ich besonders unzufrieden war. Am Ende war ich davon überzeugt, dass irgendjemand die Unwahrheit sagte – sei es jemand aus Polizeikreisen, ein Zeuge oder die Familie. Dowling war ermordet worden, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.

Ich trug den toxikologischen Befund laut vor. »Spuren von Kokain, Heroin und Amphetaminen in seinem Blutkreislauf.« Ich runzelte so heftig die Stirn, dass es beinahe wehtat. »Ein ordentlicher Cocktail. Es wundert mich, dass er seine Schnürsenkel noch zubinden konnte, ganz zu schweigen davon, eine Schlinge zu knoten.«

Matthews antwortete mir nicht, sondern rutschte lediglich nervös auf seinem Stuhl hin und her, rieb sich die Nase und kratzte sich am Kinn. Er sah aus, als wünschte er sich tausend Meilen weit weg. Er war ein hochgewachsener Mann Anfang fünfzig mit schütterem Haar und einer Tendenz zum Verlottern. Seine Haut war blass von zu viel Schreibtischarbeit, und er hatte einen beträchtlichen Schmerbauch. Seine Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Sein Anzug war fast so verknittert wie sein Gesicht, über das nun ein Anflug von Unsicherheit huschte.

»Als man ihn entdeckte, lag ein umgekippter Barhocker unter ihm.« Ich hatte einen bewusst monotonen, gelangweilten Tonfall gewählt. »Auf der Sitzfläche prangte der schlammige Abdruck seiner Schuhe. Schlussfolgerung: Er hatte sich die Schlinge um den Hals gelegt, sich auf den Hocker gestellt und ihn dann unter sich weggetreten.« Ich warf Matthews wieder einen raschen Blick zu. »Nur wie zum Teufel hat er all das geschafft?«

Matthews zuckte mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck war düster, seine Augen stumpf. Ich überlegte kurz, ob ihn die Erinnerung an den leblos vor ihm hängenden achtundzwanzigjährigen Dowling noch immer verfolgte. Niemand, der unvermutet auf einen Toten stößt, vergisst diesen Anblick jemals. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Dr. Wilson«, antwortete er. »So haben wir ihn jedenfalls gefunden.«

Er ließ sich nicht in die Karten schauen. Sofern er log, war er tatsächlich ein guter Lügner. Andererseits wusste er vielleicht wirklich nichts. Oder er hielt das Material in Dowlings Akte für plausibel. Dann war er dumm. Oder irregeleitet. Wenn meine schlimmsten Befürchtungen zutrafen, war Matthews sich der Tatsache, dass die Akte voller Unstimmigkeiten steckte, sehr wohl bewusst und stellte sich absichtlich unwissend. Doch ich würde diesen Verdacht nicht äußern. Zunächst wollte ich sehen, ob ich ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Er glaubte, wegen einer Vorbesprechung für das Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache hier zu sein, nicht zu einem Kreuzverhör.

Ich zog mein Sakko aus und hängte es über die Lehne meines Schreibtischstuhls. Dann öffnete ich den obersten Knopf meines Hemds und lockerte die Krawatte. Ohne ein weiteres Wort nahm ich Schriftstücke und Fotos aus der Akte. Matthews verfolgte jede meiner Bewegungen.

Die Polizeifotos des Erhängten breitete ich vor mir auf dem Schreibtisch aus. Man hatte Dowling auf einer Lichtung etwa zehn Meter vom Waldrand entfernt gefunden. Die Bäume standen dort dicht beisammen, die ganze Szenerie wirkte düster und unheimlich. Der Fotograf hatte herabgefallene und zerbrochene Äste eingefangen, die ganze Verwüstung eines noch nicht allzu lange zurückliegenden Sturms. Alles war von Zweigen, totem Laub und Blättern übersät. Rinde schälte sich von den Stämmen dicker Kiefern. BLITZ. Dann die Bilder der Leiche: der Oberkörper, der Kopf auf einem schrecklich abgeknickten Hals. BLITZ. Ein anderer Blickwinkel. Ein lebloses und aufgedunsenes Gesicht. BLITZ. Detailaufnahme des Seils, das in Dowlings Hals schnitt. Dieses Foto hatte auch Dowlings Mund, Nase und Augen erfasst. Ich starrte die Aufnahme an, drehte sie hin und her, als könnte das brutale Bild mir irgendeine Einsicht in die Gedanken des Toten offenbaren. Selbstmord ist ein Akt der Verzweiflung. Die meisten Menschen kämpfen um ihr Leben – bis zum letzten Atemzug kämpfen sie, um zu überleben. Warst du an jenem Tag so zutiefst verzweifelt, Patrick? Oder ist dir etwas anderes zugestoßen? Warst du wirklich allein, wie alle glauben? Oder war jemand bei dir? Hast du dir selbst das Leben genommen? Oder hat dich jemand getötet?

Ich blätterte zu einem anderen Abschnitt der Akte. »Der Obduktionsbericht schließt mit der Annahme, dass Dowling Selbstmord begangen hat. Das ist auch der Standpunkt des Staats im gerichtlichen Verfahren zur Feststellung der Todesursache.«

Matthews nickte wieder.

Ich seufzte laut. Da sind der Staat und ich offenbar nicht derselben Meinung, dachte ich.

»Ich wundere mich dennoch, warum er seinem Leben meilenweit entfernt von zu Hause in diesem Waldstück ein Ende setzte. Die meisten Selbstmörder bleiben auf heimischem Terrain.«

Matthews beugte sich vor. Sein Atem ging schwer und mühsam, und er kniff die Augen zusammen, sodass ich nur noch schmale, misstrauische Schlitze sah. »Irgendetwas stört Sie doch, Dr. Wilson. Was ist es?«

Ich gab ihm keine Antwort. Mich störte eine ganze Menge. Aber ich wollte vorsichtig zu Werke gehen. Die ganze Sache konnte durchaus einige Zeit dauern. Aber ich hatte Zeit. Tote drängeln nicht bei der Untersuchung ihrer Todesursache. Ich legte die Fotos in drei Reihen. Die erste zeigte den Hintergrund und den Wald. Dann sieben Aufnahmen von der herabhängenden Leiche. Die letzte Reihe zeigte einen schmalen Weg, der an Dowlings Fundstelle vorüberführte. Draußen klingelte ein Telefon, hörte auf, klingelte erneut. Es verstummte, ohne dass jemand den Hörer abgenommen hätte.

»Wird dieser Weg häufig benutzt?« Ich war so hungrig, dass ich noch einmal von dem Sandwich abbiss. Zum Teufel mit Ausschlag und Verdauungsstörungen, ich musste schließlich irgendetwas essen.

Matthews inspizierte seinen Handrücken, als hätte er sich Notizen darauf gemacht. »Schwer zu sagen. Es ist nicht gerade ein Volkswanderweg, aber hin und wieder gehen Leute von dort aus in die Berge.« Sein Blick blieb misstrauisch.

»Wohin führt er?«

»Nach rund einer Meile beginnt erst ein offenes Gelände, das dann zu ein paar niedrigeren Hügeln führt. In den Sommermonaten sind dort Crossläufer unterwegs.«

»Aber im November?«

»Lassen Sie es mich so sagen, Dr. Wilson: Dowling hing seit fast vierundzwanzig Stunden dort, als wir seine Leiche fanden, und niemand hatte zuvor irgendetwas gemeldet.«

Ich ging die Waldaufnahmen aufmerksam durch, vorsichtig, um keine Fettflecke darauf zu hinterlassen. Es sah dort nicht allzu einladend aus. Dunkel, feindselig, unheimlich. Ich bezweifelte, dass sich viele Leute im Winter dorthin wagten.

»Mir will die Sache mit dem Ort einfach nicht in den Kopf«, sagte ich. »Ich habe damals in der Zeitung von dem Fall gelesen. Da hieß es, Dowling sei ein Stadtmensch durch und durch gewesen. Wie kam es dann, dass er an einem derart abgelegenen Ort endete?«

Ich erwartete keine Antwort, und ich erhielt auch keine.

»Ich weiß nicht …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht.« Auf der Baustelle nebenan begann ein riesiger Bagger zu arbeiten. Die Fenster vibrierten. Mein Sandwich vertrocknete. Mir war der Appetit vergangen.

Der Fall Dowling war einer von zwanzig, die vor zehn Tagen auf meinem Schreibtisch gelandet waren. Dowling war innerhalb der Grafschaft Dublin ums Leben gekommen, deshalb hätte sich eigentlich der County Coroner Dr. Harold Rafferty um die Feststellung der Todesursache kümmern müssen. Doch Rafferty war einen Monat zuvor auf dem Weg zu seinem Wagen erschossen worden. Augenzeugen zufolge war ein unter einer Kapuze unkenntlicher Schütze ganz ruhig hinter ihn getreten, hatte Raffertys Namen gerufen und ihm, sobald er sich umgedreht hatte, aus kürzester Entfernung ins Gesicht gefeuert. Dann war der Attentäter in aller Seelenruhe zu einem schweren Motorrad geschlendert, das auf den Parkplatz gefahren war, auf den Soziussitz geklettert, und die Maschine war davongerast. Etwa eine Meile entfernt hatte ein vorbeikommender Autofahrer zufällig gesehen, wie der Schütze die Waffe in einen Bach geworfen hatte. Danach wurde er nicht mehr gesehen.

Rafferty war vierundsechzig Jahre alt und kurz vor dem Ruhestand gewesen, seine Arbeit mustergültig, aber nicht unumstritten. Oft hatte er das Beweismaterial der Polizei und kriminaltechnische Berichte infrage gestellt, wenn er geglaubt hatte, dass gepfuscht worden war. Berühmt war er geworden, als er sich einmal anlässlich eines Untersuchungsverfahrens mit der geballten Macht des Militärs angelegt hatte. Ein angeblich aus Versehen abgegebener tödlicher Schuss hatte sich als Mord herausgestellt, nachdem Raffertys bohrende Fragen von der Richterbank ein Netz aus Täuschung und Vertuschung unter hochrangigen Offizieren offengelegt hatte. Von diesem Tag an war er unter Strafverfolgern zwar ein Held, aber in Armeekreisen verhasst gewesen. Dennoch gab es nach wie vor kein ersichtliches Motiv für einen derart kaltschnäuzig und professionell ausgeführten Mord.

Von der Richterschaft bis hin zur Regierung hatte zunächst lähmendes Entsetzen über seine Ermordung geherrscht. Dann hatte man sich beeilt, Raffertys anhängige Verfahren aufzuteilen, damit sie abgeschlossen werden konnten. Ich hatte einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Fälle auf den Schreibtisch bekommen. Doch bis auf Dowling schien es sich um lauter Routinefälle zu handeln. Bei Dowling war ich davon überzeugt, dass er sich nicht selbst getötet hatte. Aber wenn nicht – wie war es dann dazu gekommen, dass er in einem abgelegenen Waldstück an einem Strick gebaumelt hatte? Jemand musste bei ihm gewesen sein. Dowling war nicht allein gestorben. Und irgendjemand versuchte, den wirklichen Sachverhalt zu vertuschen.

»Da ist noch etwas, was mich überrascht hat.« Ich war wie ein Hund, der nicht mehr von seinem Knochen abließ. »Die Eile.«

Matthews konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Er räusperte sich, um davon abzulenken. »Welche Eile?«

Draußen schaltete der Baggermotor in den Leerlauf, und die Fenster hörten auf zu klappern.

»Er verschwand am 29., wurde am 30. entdeckt und binnen vierundzwanzig Stunden obduziert. Zwei Tage später war die Beerdigung.« Ich lehnte mich zurück und sah den Detective an. »Das kommt mir verdammt überstürzt vor.«

»Ich habe im Fall Dowling ermittelt«, sagte Matthews scharf und sah dabei finster drein. »Wir haben ein gutes Dutzend Aussagen aufgenommen, darunter die seiner engsten Freunde. Das Begräbnis hat seine Familie organisiert, nicht ich.«

Ich hob die Hand. »Nachdem der Pathologe auf Selbstmord entschieden hatte, war das also das Ende der Geschichte, richtig?« Ich wies dem Mann einen Ausweg.

»Ja.« Jetzt sah er nicht mehr ganz so finster drein. Er war vom Haken. Mit dem Pathologen würde ich mich später beschäftigen. Es würde ihm schwerfallen, mich von der Richtigkeit der Schlussfolgerung zu überzeugen, zu der er bei der Obduktion gelangt war.

Aus Matthews würde ich nichts Nützliches mehr herausbekommen. Er hatte sich auf die Selbstmordtheorie versteift und ließ sich nicht mehr davon abbringen. Eines Tages würde ich ihn von einer anderen Position aus attackieren.

Ich klappte die Akte zu, legte sie demonstrativ auf einen Stapel weiterer Akten und richtete sie penibel gerade aus, damit sie nicht hinunterrutschte.

»Dann ist das wahrscheinlich das Ende der Geschichte«, log ich. Ich brauchte mehr Zeit. Es würde in diesem Verfahren unter keinen Umständen zu einer Anhörung kommen, ehe meine Zweifel vollends beseitigt wären. Ich schlug meinen Kalender auf. »Ich setze den Termin gleich als ersten am Montag, den 28. Juni, an. Das ist in knapp vier Wochen. Meine Sekretärin soll die Familie benachrichtigen. Wir werden aufgrund der Umstände eine Jury-Entscheidung brauchen. Das bedeutet: mündliche Aussagen sowohl von Ihnen als auch von den Kollegen aus der Forensik. In Ordnung?«

Matthews schien verunsichert. »Können Sie die Verhandlung nicht früher ansetzen? Die Familie will die ganze Sache möglichst schnell hinter sich lassen.«

Ich deutete auf den Stapel. Allesamt Berichte von ungewöhnlichen, seltsamen Todesfällen. »Sehen Sie diese Akten?«, fragte ich ihn. »Jede einzelne steht für einen Mann, eine Frau oder ein Kind. Sie alle sind unter unnatürlichen Umständen ums Leben gekommen. Aus diesem Grund sind sie hier bei mir gelandet. Und egal, welche Stellung sie im Leben innehatten – ob sie reich waren oder die Ärmsten der Armen –, sie haben alle meine Aufmerksamkeit verdient. Sie alle verdienen eine Erklärung dafür, was in den letzten Augenblicken ihres Lebens geschehen ist. Sie alle verdienen es, dass in ihrer Sterbeurkunde die Wahrheit steht.«

Matthews rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Falls der Minister ein Problem wegen dieses Termins haben sollte, sagen Sie ihm, er soll sich bei mir melden. Aber sagen Sie ihm auch, dass ich nicht nachgeben werde. In meinem Verantwortungsbereich warten die Toten der Reihe nach, und niemand überspringt einfach ein paar Plätze in der Schlange. Für Geld und Einfluss gibt es keinen früheren Termin.«

Im Nu war Matthews auf den Beinen. Er konnte es kaum noch abwarten, aus meinem Büro zu kommen. »Schon gut, schon gut. Sagen Sie den Dowlings nur bitte Bescheid. Sie sind ein wenig irritiert wegen dieses Verfahrens.«

Albert Dowling war mir natürlich ein Begriff. Er war das Familienoberhaupt und gehörte der irischen Regierung an. Im Fernsehen wirkte der Sechzigjährige groß und gut aussehend, mit vollem stahlgrauem Haar. Er hatte ein markantes Kinn mit einem Grübchen und schmale, raubvogelartige Augen unter buschigen grauen Brauen, die sich zornig aufzurichten schienen, wenn er über irgendetwas erbost war. Ich kannte ihn nicht persönlich, wusste aber um seinen Ruf als Rüpel, der stets seinen Willen durchzusetzen suchte. Korruptionsgerüchte kursierten über ihn. Ackerland soll als Bauland ausgewiesen werden? Kein Problem, fragen Sie Albert. Er wusste, wie man bei Planungstreffen Stimmen kaufte. Er wusste, welche Ratsmitglieder man schmieren konnte und für wie viel. Er vermochte eine Autobahn durch eine mittelalterliche Begräbnisstätte bauen zu lassen und EU-Gelder in seinen eigenen Wahlbezirk umzuleiten, um vor den Wahlen Stimmen zu fangen. Er war ein Gauner in einer Regierung, die aus lauter Gaunern bestand, doch er ragte hervor. Es interessierte ihn einen feuchten Dreck, was andere von ihm dachten. Er war dreist, unverschämt und furchteinflößend. Doch der Tod seines ältesten Sohns Patrick hatte ihm das Feuer geraubt. So hatten es jedenfalls Leute formuliert, die ihn kannten.

Matthews war bereits an der Tür und auf dem Weg nach draußen.

»Falls es in der Zwischenzeit Probleme geben sollte«, sagte ich, »wissen wir ja, wie wir uns erreichen.«

Er blieb mit einer Hand am Türrahmen stehen. »Was denn für Probleme?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »nur ganz allgemein. Probleme mit der Verfügbarkeit des Pathologen, mit dem Terminplan des Gerichts, mit der Teilnahme von Zeugen …«

Warum war Matthews so nervös? Er sah regelrecht erschrocken aus, als starrte ihn ein Geist hinter meinem Rücken an.

»Landung von Marsbewohnern, Überschwemmungen, Unruhen, Stürme, Pest – was weiß ich. Ich habe nur eine Redewendung benutzt. ›Wenn es Probleme gibt, melden wir uns.‹ Ich wollte damit nicht andeuten, dass es tatsächlich welche geben wird.«

Noch nicht.

Matthews lächelte freudlos. Das beruhigte mich mitnichten. Irgendetwas quälte ihn; seine Miene verriet alles. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem Fall. Er wusste, die Beweislage war schwierig, aber er wollte dabei bleiben und hoffte, dass ich irgendwann aufhörte, Fragen zu stellen, und alles für bare Münze nähme. Doch wenn ich recht hatte, lag Matthews falsch. Und bare Münze war bei mir nicht drin. Ich bin ein spezialisierter Pathologe mit einer ziemlich speziellen Vergangenheit. Ich traue nicht vielen Leuten. Ich traute ihm nicht und auch nicht den Obduktionsbefunden. Tatsächlich glaubte ich in diesem Fall an gar nichts.

Als er gegangen war, zog ich die Akte wieder vom Stapel und schlug sie auf. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte noch fünfunddreißig Minuten bis zum Ende der Mittagspause. Der Hunger trieb mich zum letzten Viertel meines Sandwichs. Minuten später ergoss die Säure sich in meinen Magen, und ich griff zu einer Packung Rennies.

Erneut ging ich die Fotos durch, bis ich ein ganz bestimmtes gefunden hatte. Eines derjenigen, die den Waldhintergrund zeigten. Ich betrachtete es aus verschiedenen Winkeln und drehte es so, dass das Licht darauf fiel. Dann studierte ich es durch ein Vergrößerungsglas. Ein verschwommenes Etwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Doch egal wie lange ich darauf starrte, es blieb ein Schatten. Ein Schatten mit einem roten Auge.

3

Ich wurde im Februar 2008 Coroner von Dublin, genau zu der Zeit, als dem Keltischen Tiger allmählich das Brüllen verging. Die von billigem Geld, verantwortungslosen Darlehenspraktiken der Banken und Regierungsinkompetenz befeuerte Immobilienblase war angestochen, und die Luft entwich in rasender Geschwindigkeit. In Finanz- und Regierungskreisen läuteten die Alarmglocken. Immobilienmakler gerieten in Panik, ihre Werbeanzeigen wurden schriller oder bekamen gar etwas Verzweifeltes. Bauträger schmolzen auf dem Börsenparkett dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Den Baufirmen gingen die liquiden Mittel so schnell aus, dass sie ihre Subunternehmer nicht mehr bezahlen konnten, die Subunternehmer konnten ihre Arbeiter nicht mehr bezahlen und die Arbeiter nicht länger ihre Bankdarlehen, sodass die Banken hingingen und die Häuser der Arbeiter beschlagnahmten. Überall im Land ließen Geschäfte die Rollläden herunter und nie wieder hinauf. Osteuropäische Einwanderer, die sich bei dem plötzlichen Zusammenbruch die Finger verbrannt hatten, flohen zurück in ihre Heimatländer. Es gab zuhauf Geschichten von Autos, die am Flughafen Dublin stehen gelassen worden waren, mit Hausschlüsseln und Zwangsräumungsbescheiden im Handschuhfach. Die Untergangsstimmung und das Entsetzen waren im ganzen Land geradezu mit Händen greifbar. Dann wurde aus der bedrückten Stimmung Zorn, und der Äther glühte regelrecht vor wütenden Ausbrüchen gegen die Regierung.

Aus heiterem Himmel erhielt ich damals einen Anruf von Damien Johnston, dem Justizminister. Zu jener Zeit arbeitete ich als leitender Pathologe im halogenbeleuchteten Keller des Universitätsklinikums, einer der angesehensten medizinischen Einrichtungen der Stadt. Ich hatte gerade eine Obduktion abgeschlossen und bereitete mich auf die nächste vor.

»Ich suche einen furchtlosen, klar denkenden Coroner, der keine deutlichen Worte scheut«, sagte Johnston, »und man hat mir gesagt, dafür seien Sie genau der Richtige.« Schmeichelei. Nicht unbedingt das beste Mittel, um meine Sympathien zu gewinnen, aber der Posten interessierte mich nichtsdestoweniger. Der Minister lehnte es ab, mich in meinem Büro aufzusuchen, um den Vorschlag zu besprechen. Er gestand, dass er sich in Krankenhäusern unwohl fühlte. Ich ließ ihm seine Schwäche durchgehen. Die Pathologie der Uniklinik war gewiss nicht jedermanns bevorzugter Treffpunkt, besonders wenn Leichen auf Edelstahltischen lagen und auf ihre Obduktion warteten.

»Wieso ich?« Mit der freien Hand fuchtelte ich Anweisungen an meinen Assistenten, einen kleinen, mürrischen Mann mit Haarausfall und einer Haut, die so aschfahl war wie die der Leichen um uns herum. Ich orderte einen neuen Satz Sezierbesteck für den nächsten Kadaver. Frische Skalpelle, frische Sägen. Und eine frische Plastikschürze, einen neuen Augenschutz und neue Latexhandschuhe. Ich sah auf die Uhr. Es war 15.35 Uhr an einem Mittwochnachmittag. Punkt vier würden wir die Leiche öffnen.

»Weil Sie nicht vor schwierigen Entscheidungen zurückschrecken«, sagte Johnston. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, und Sie haben sich viel Respekt in Ihrer Klinik erworben. Und die Eifersucht unter Kollegen ist dort weit verbreitet.«

Das stimmte. Die Uniklinik litt schwer an Dissensen. Fakultätsvorstände bekämpften einander wie Wildkatzen. Die Krebsforschung war zum Exzellenzzentrum erklärt worden, allerdings auf Kosten anderer Bereiche. Die Kardiologen feuerten aus der Deckung heraus auf die Onkologen, die Neurologen lästerten über alle, während die Dermatologen in den Streik traten. Die Klinik bot ein trauriges Bild und geriet ob der herrschenden Unordnung zusehends in Misskredit. Als ich die Pathologie übernahm, forderte ich Änderungen ein, die postwendend neuen Streit auslösten. Als Erstes entließ ich einen Mitarbeiter wegen seiner schlampigen klinischen Praxis. Zehn Tage später bestand ich darauf, dass die dienstälteste Ärztin in den Ruhestand trat, nachdem ich ihr einen Karton leerer Wodkaflaschen, die man in ihrem Spind gefunden hatte, auf den Schreibtisch gekippt hatte. Dann stellte ich in einer Gruppe, die für ihren Rassismus bekannt war, zwei asiatische Pathologen ein.

»Ich bin stolz auf meine Abteilung«, entgegnete ich Minister Johnston. »Das ganze Haus beneidet uns inzwischen. Es herrscht echte Kameradschaft, und die Standards haben sich erheblich verbessert. Alles, was nötig war, war jemand mit gewissen Führungsqualitäten.«

»Oder jemand mit einer Menge Mumm.«

»Vielleicht war ich einfach der richtige Mann zur falschen Zeit am falschen Ort.« Ich spielte meine Rolle herunter. Johnston behandelte mich gönnerhaft, und das mag ich nicht. Das habe ich nicht nötig. Meine Arbeit spricht für sich.

Endlich kam der Minister zur Sache. »Ich möchte, dass Sie der nächste Coroner von Dublin werden. Die Bezahlung ist lausig, die Arbeitsbelastung enorm, und Ihr Büro befindet sich in einem Gebäude, das man schon vor Jahren hätte niederwalzen sollen. Sie werden nicht ausreichend Personal zur Verfügung haben, und ich habe auch kein Geld, Ihnen welches zu verschaffen.« Ich hörte ihn geradezu grinsen. »Es ist also eine sagenhafte Gelegenheit für einen ehrgeizigen Mann wie Sie.«

Ich erwiderte, dass er mich überrascht habe und ich Zeit brauche, um darüber nachzudenken.

»Ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden. Heute ist Mittwoch. Rufen Sie mich bis Freitagnachmittag an.«

Später telefonierte ich eine Stunde lang mit Paul Crossan, dem Coroner, dem ich nachfolgen würde. Er ging nach fast zwanzig Jahren auf dem Posten aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand. Er umriss für mich, worauf es ankam: »Sie sind jetzt Krankenhausarzt«, sagte er. »Sie führen Obduktionen durch, um die Ursache eines Todes festzustellen, um mehr über das Fortschreiten einer Krankheit zu erfahren oder um Ihren Kollegen im Haus verstehen zu helfen, warum ihre Behandlung oder ihr Eingriff nicht erfolgreich war.« Crossans Stimme klang so rau und nach Kieselsteinen, als rauchte er zwei Schachteln Zigaretten am Tag.

»So kann man es ungefähr beschreiben.«

»Als Pathologe wissen Sie nur wenig über die Person, die den von Ihnen sezierten Körper bewohnt hat. Sie sind Wissenschaftler und an dem zuvor gelebten Leben nicht interessiert.«

Ich hörte zu und nickte.

»Doch als Coroner ist es mit Ihrer Objektivität vorbei. Jetzt werden Sie hineingezogen. Jemand anderer wird die Obduktion durchführen und Ihnen die Befunde präsentieren. Sie urteilen über diese ebenso wie über alle anderen Faktoren und legen schließlich die Todesursache fest. Sie werden pausenlos mit dem Tod zu tun haben. Tatsächlich werden Sie zu einem Anwalt der Toten.«

Seine Worte überraschten mich. »Wie meinen Sie das?«

Crossan räusperte sich. »Jedes gerichtliche Verfahren zur Feststellung der Todesursache verlangt nach einer finalen Antwort. In Ihrem Gerichtssaal ist ein Geist anwesend, der verzweifelt zu seinem Recht kommen will. Warum ist er gestorben? Wie ist er gestorben? Wenn Sie Coroner sein möchten, müssen Sie sich fragen, ob Sie die Hand nach diesem Toten ausstrecken und sein plötzliches Dahinscheiden erklären können. Sie müssen zu seiner Stimme werden.«

An beiden Enden der Leitung herrschte Schweigen, während ich die Bedeutung seiner Aussage zu begreifen versuchte.

»Vergessen Sie das nicht, wenn Sie den Job annehmen.«

Er machte erneut eine Pause. Ich fragte mich, was nun kommen würde.

»Sie werden allein den Toten Dublins verpflichtet sein und niemandem sonst. Stellen Sie sich das von Ihnen durchgeführte Verfahren als ihre letzte Berufungsinstanz vor. Nie wieder werden die letzten Stunden des Verstorbenen so sorgfältig untersucht.«

Ich bedankte mich bei ihm und verabschiedete mich. Meine Hand zitterte, als ich den Hörer auflegte. Ich schlief kaum in jener Nacht und wälzte mich unruhig im Bett hin und her. Mein Hirn wurde regelrecht überflutet von der Verantwortung, die diese Position mit sich bringen würde. Am nächsten Morgen vertraute ich mich meiner Frau Sarah an. Ich bin sechsundvierzig, sie ist vier Jahre jünger. Wir sind seit siebzehn Jahren verheiratet, und ich schätze ihr Urteil sehr. Ihr gesunder Menschenverstand ist unübertroffen, sie ist vernünftig und klug und in allen wichtigen Bereichen mit weiblicher Intuition ausgestattet.

Sie hörte mir aufmerksam zu und unterbrach mich nur, wenn sie etwas nicht verstand. Schließlich tat sie ihre Meinung kund. »Du brauchst eine neue Herausforderung«, sagte sie. »Du hast die Pathologie der Uniklinik wieder auf Vordermann gebracht. Was kannst du dort noch erreichen?« Sie drückte mir einen spitzen Kuss auf die Wange und lächelte kess. »Zeit für den nächsten Schritt, Mike Wilson. Es gibt noch höhere Berge zu besteigen.«

Ich rief den Justizminister an, noch ehe seine Frist ablief. »Ich wäre sehr gern der nächste Coroner von Dublin.«

»Guter Mann.« Das war alles, was er sagte.

Binnen weniger Tage traf der Vertrag ein: Bezahlung, Arbeitsbedingungen einschließlich Urlaubsregelung und Pensionsbeiträgen. Ich studierte ihn, legte ihn beiseite und studierte ihn erneut. Trotz der Warnung des Ministers war es ein guter Vertrag. Guter Job, gute Bezahlung, anständige Pensionsansprüche.

Vier Monate später trat ich den Aufstieg zum nächsthöheren Berg meiner Karriere an. Ich dachte, die Herausforderung würde nicht größer sein als bei einem Spaziergang in den Hügeln. Ich sollte mich irren.

4

Ich bat Joan, meine Sekretärin, die Fotos vom Hintergrund des Leichenfundorts vergrößern zu lassen. Das ist nicht ungewöhnlich. Als Coroner bitte ich immer wieder um Vergrößerungen von Fotos, um Todesfälle besser beurteilen zu können. Erst als ich mir die Bilder zu diesem Zweck noch einmal ansah, entdeckte ich, dass zwei fehlten. Auf der Rückseite jeder Aufnahme befanden sich Echtheitsstempel der Polizei, eine fortlaufende Nummer und die Kurzbeschreibung. Bild 1 der Leiche. Bild 2 der Leiche. Bild 1 der Waldlichtung usw. Außerdem gab es eine Liste aller Materialien in der Akte. Zeugenaussagen mit Namen, Adressen, Telefonnummern und Umfang der Zeugenaussagen. Genauso wurde mit allen Unterlagen verfahren, ob sie nun von der Polizei, der Kriminaltechnik oder aus der Toxikologie stammten. Alles wurde einzeln aufgeführt und verzeichnet. Laut dieser Liste hätten sich zwanzig Fotos in Patrick Dowlings Dossier befinden müssen. Ich zählte sie noch einmal und legte jedes einzeln zur Seite, um nicht durcheinanderzukommen. Es waren achtzehn. Zwei fehlten, Nummer 11 und 12. Bei der Überstellung verlorengegangen? Verlegt? Oder gestohlen?

Die Uhr auf meinem Schreibtisch sagte mir, dass mir bis zum ersten Sitzungstermin des Nachmittags noch eine Viertelstunde blieb. Genug Zeit, um mich noch mit einer weiteren Sache zu beschäftigen.

Ich warf die Reste des Sandwichs in einen Abfalleimer. Fast hätte ich ein paar Rennies hinterhergeworfen, damit er kein Sodbrennen bekäme. Dann trank ich einen Schluck kalten Tee und griff zum Telefon. Ich wollte im Büro des County Coroners nachfragen, ob sich die fehlenden Fotos vielleicht noch bei den Unterlagen des verstorbenen Harold Rafferty befanden. Er hatte die Akte Dowling vor mir gehabt. Vielleicht waren sie immer noch dort.

»Andrew Styles hier. Was kann ich für Sie tun, Dr. Wilson?« Styles leitete das Büro des County Coroners. Er arbeitete seit mindestens zehn Jahren dort, und er würde meine Besorgnis verstehen. Ich hatte ihn einmal bei einer Konferenz im Burlington Hotel kennengelernt. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, der ein ständiges Unbehagen verströmte. Als Erstes sprach ich ihm mein Beileid angesichts von Harold Raffertys Tod aus. Ich hatte nach der Ermordung ein offizielles Schreiben an das Büro des County Coroners geschickt, in dem ich meinen Schock, mein Entsetzen und meine Abscheu über die Tat zum Ausdruck gebracht hatte. Ich hatte Raffertys Arbeit und sein Pflichtgefühl gelobt und die Hoffnung geäußert, man möge die Täter der Gerechtigkeit zuführen. Seine Beerdigung war ein großes Ereignis gewesen, zahlreiche Vertreter aus Polizei, Justiz und Verwaltung hatten daran teilgenommen. Sämtliche Coroner, die ich kannte, waren anwesend gewesen, und alle hatten so bekümmert ausgesehen, wie auch ich mich fühlte. Die graue Granitkirche in Rathfarnham war zum Bersten gefüllt gewesen an jenem böigen, für die Jahreszeit ungewöhnlich kalten und feuchten Maimorgen. Düster dreinblickende Trauergäste hatten gedämpfte, beklommene Gespräche geführt und sich dabei ob der steifen Brise die Hände über die Ohren gehalten. Schirme waren umgestülpt worden. Wimperntusche war zerlaufen, da die Augen im Wind und vor Schmerz getränt hatten. Während der Messe waren anklagende Töne von der Kanzel gekommen. Der Priester, der die Messe las, forderte härtere Strafen für Verbrecher und verurteilte das rasche Durchschleusen von Gefangenen in staatlichen Gefängnissen. Die Vertreter der Opposition nickten zustimmend. Die Vertreter der Regierung sahen mehr und mehr wie die Marionetten aus, die sie waren: steif und emotionslos. Raffertys Frau und die beiden erwachsenen Kinder riefen zur Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes auf. Der Polizeichef weigerte sich, mehr zu den Ermittlungen zu sagen, als dass sie »Fortschritte« machten. Niemand glaubte ihm.

Harold Raffertys Begräbnis war ein schwarzer Tag für die Gerichte und Coroner. Für manche Politiker indes war es ein guter Tag. Die Regierung befand sich aufgrund ihrer Handhabung der Wirtschaftskrise bereits in völligem Zerfall. Raffertys Begräbnis dominierte die Schlagzeilen und lenkte die Aufmerksamkeit der Wählerschaft von Finanzthemen hin zur Kriminalität. Der Justizminister bekam den Großteil des Medienzorns ab. Der Finanzminister hingegen verschwand aus dem gleißenden Licht der unliebsamen Publicity. Doch seine Atempause dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Tagen kam ein weiterer Bankenskandal ans Licht, und sein Gesicht kehrte auf die Titelseiten sämtlicher Zeitungen zurück: missmutig und verunsichert, defensiv, nicht greifbar. Er erklärte dieses und jenes und das Gegenteil. Die Wirtschaft wäre gesund. Wir hätten einen Wendepunkt erreicht. Die Exporte schössen in die Höhe. Die Arbeitslosenzahlen stabilisierten sich. Niemand glaubte ihm.

Ich erzählte Styles von den fehlenden Fotos. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Sind Sie noch da, Andrew?«, fragte ich.

»Ja, Dr. Wilson.«

»Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein.« Styles schien daran gelegen zu sein, mich zu beruhigen. »Nicht wirklich. Nichts, was sich nicht klären ließe.«

Was zum Teufel sollte das bedeuten? »Was sich nicht klären ließe?«, wiederholte ich. »Was ließe sich klären?«

»Wir reden von derselben Akte, ja? Die gerichtliche Untersuchung von Patrick Dowlings Tod?«

»Ja.«

»Wenn irgendetwas aus der Akte fehlt, ist es wahrscheinlich bei der Polizei.«

»Bei der Polizei?« Ich konnte meine Überraschung nicht verhehlen.

»Bei dem Team, das den Mord an Dr. Rafferty untersucht. Sie haben über sämtlichen Akten gebrütet, mit denen er sich im letzten halben Jahr vor seiner Ermordung beschäftigt hat. Am Dowling-Fall schienen sie ganz besonders interessiert zu sein.«

Bei mir schrillten die Alarmglocken. Meine Gedanken rasten so schnell wie mein Puls.

Doch plötzlich wurden meine surrenden Antennen abgelenkt. Meine Sekretärin klopfte an und steckte den Kopf herein. »Alles bereit zur Verhandlung«, formte sie mit den Lippen.

Joan war eine attraktive Neunundzwanzigjährige mit außerordentlichem Organisationsgeschick. Eins fünfundsiebzig groß, mit einer Figur wie ein Stundenglas, hatte sie die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte, und einen Schmollmund, der den von Angelina Jolie übertraf. Ihr langes, dunkles Haar frisierte sie je nach Stimmung: geflochten bedeutete rein geschäftlich, über die Schultern fallend wies darauf hin, dass sie auf einen Mann aus war, im Nacken zusammengebunden hieß schamlos flirten. Gerade war es zusammengebunden, aber sie flirtete nicht, sondern sah mich lediglich tadelnd an. Ich streckte fünf Finger in die Höhe. Ich brauche noch ein paar Minuten. Ihr Blick drückte Missbilligung aus. Ich setzte ein starres, falsches Lächeln auf. Die Missbilligung wurde stärker. Ich scheuchte sie mit einer Handbewegung fort.

»Haben Sie eine Ahnung, warum sich die Polizei so für den Fall Dowling interessiert?« Ich ließ es nach einer harmlosen Frage klingen. Fast als wäre ich auf ein bisschen Klatsch aus.

Erneut beunruhigendes Schweigen.

»Andrew?«

»Ich darf Ihnen nichts sagen, Dr. Wilson. Ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet.« Styles klang jetzt verschlossen, ängstlich, gerade so, als hätte er einen Killer im Gerichtsgebäude herumschleichen sehen.

»Oh, tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht in Bedrängnis bringen.« Ich war schon im Begriff, das Gespräch zu beenden, als mir einfiel, warum ich überhaupt angerufen hatte. »Dann sind die Fotos, die ich suche, also beim Ermittlungsteam der Polizei?«

»Ich würde es als Erstes dort versuchen, Dr. Wilson.«

Styles legte so schnell auf, dass mir klar war: Ich hatte ihn aus der Fassung gebracht. Was zum Teufel war hier los? Wieso war die Polizei derart am Fall Dowling interessiert? Waren sie dabei, ihren Standpunkt hinsichtlich seines Todes zu überdenken? Dann begann ein Groschen nach dem anderen zu fallen. County Coroner Harold Rafferty war ein scharfsinniger Mann gewesen, der unbequeme Fragen gestellt hatte. Er war bekannt gewesen für seine Liebe zum Detail. Kaum ein Fehler war seiner sorgfältigen Prüfung entgangen. Er musste in Dowlings Akte dieselben Mängel entdeckt haben wie ich. Und genau wie ich hätte Rafferty die Anhörung zur Todesursache sicher nicht stattfinden lassen, ehe er sich Klarheit über die strittigen Punkte verschafft hatte. Er hätte seine Bedenken zum Ausdruck gebracht. Hatte man ihn etwa deshalb getötet? Hatte Harold Rafferty zu tief in Patrick Dowlings vermeintlichem Selbstmord herumgestochert? Wie ich es gerade tat?

Ich lehnte mich zurück und sah zur Decke empor. Die Geschichte wurde allmählich ungemütlich. Am liebsten hätte ich sofort Detective Jack Matthews angerufen und ihn so lange gelöchert, bis er ins Schwitzen gekommen wäre. Aber dafür hatte ich keine Zeit. Stattdessen bat ich einen Freund bei der Polizei, in Erfahrung zu bringen, wer die Ermittlung im Fall Rafferty leitete, und möglichst schnell ein Treffen mit diesem Mann zu arrangieren. Mein Freund versprach mir eine rasche Antwort.

Ich musste Patrick Dowling fürs Erste vergessen. Ich musste aufhören, weiter herumzustochern. Ich schloss den obersten Knopf meines Hemds, rückte die Krawatte zurecht und zog mein Sakko an. Ich wurde wieder zum Coroner der Stadt Dublin.

Die Toten warteten auf mich.