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Nr. 2723

 

Nur 62 Stunden

 

Die Tefroder stellen ein Ultimatum – Gucky geht in den Einsatz

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Nachruf H. G. Ewers

Kommentar

Leserkontaktseite

Risszeichnung 400-Meter-Raumer der Onryonen

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen – und auf kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.

Doch die Galaxis ist unruhig: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg, auf der anderen Seite ist das Atopische Tribunal in der Milchstraße aktiv. Seine ersten Repräsentanten sind die Onryonen, die die Auslieferung Perry Rhodans und Imperator Bostichs fordern. Die beiden Männer sollen wegen angeblicher Verbrechen vor Gericht gestellt werden.

Ronald Tekener, Stellvertretender Kommandant der United Stars Organisation, versucht Bostich zu beschützen – aber die beiden Unsterblichen geraten an unerbittliche Gegner, und so bleiben einem von ihnen NUR 62 STUNDEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Mausbiber geht auf seine erste Mission mit neuen Fähigkeiten.

Perry Rhodan – Der Unsterbliche steht vor einer schwierigen Entscheidung.

Attilar Leccore – Ein Terraner aus Überzeugung.

Toio Zindher, Lan Meota, Satafar – Die tefrodischen Mutanten wähnen sich der Erfüllung ihrer Aufgabe bereits nahe.

1.

Satafar

 

Er hatte seine Sache gut gemacht. Menschen liefen panisch umher, einige Celistas und USO-Agenten setzten sich gegen die verbliebenen Roboter zur Wehr. Es herrschte herzerfreuendes Chaos.

Niemand achtete auf ihn. Er blickte verschreckt drein und wuselte davon.

Ein Bewaffneter sah ihn, packte ihn, schrie ihm etwas ins Ohr und schleppte ihn weg vom Ort des Geschehens. Er setzte ihn in der Nähe eines Info-Sammelpunkts ab. Satafar dankte ihm mit weinerlicher Stimme und sah zu, wie sein vermeintlicher Retter zum Haus der Celistas zurückeilte.

Er erhielt ein Signal. Es stammte von Toio Zindher. Sie gab ihm zu verstehen, dass sie Bostich gefangen genommen hatte.

Satafar war zufrieden. Er nahm einen winzigen Brocken Gholen zu sich, ließ ihn auf der Zunge zergehen und setzte sich dann wieder in Bewegung. Er hatte noch viel zu tun.

Satafar blickte auf seine Hände. Sie waren rot. Blutrot. Er hatte den Tod seines Freundes Trelast-Pevor gerächt.

Gut so.

2.

Perry Rhodan:

Noch 58 Stunden

 

Eine Spiralgalaxis war über Istanbul erschienen. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sich ins schier Unermessliche vergrößert und war dann wieder vergangen. Wie ein Feuerwerksbild war sie verblasst und hatte grenzenlose Trauer zurückgelassen.

Jemand war gestorben. Jemand, der bereits so lange zugange gewesen war, dass der Tod ihn zu vergessen haben schien. Doch nun hatte es ihn erwischt. Ihn, den vermeintlich Unsterblichen.

 

*

 

Cai Cheung wirkte müde. Die Fassade der aparten und stets auf ihr Äußeres achtenden Frau bröckelte um vier Uhr nachts deutlich. Sie unterdrückte ein Gähnen und sagte: »Ich habe nicht viel Zeit, Perry.«

»Ich weiß.« Rhodan dachte an die vielen düsteren Momente, da er sich in derselben Lage wie die Solare Premier befunden hatte. In einer derartigen Krisensituation waren Hunderte Entscheidungen simultan zu treffen. Berater, politische Schwer- und Leichtgewichte standen im Vorzimmer Schlange, ebenso Bittsteller, Berater und Lobbyisten. Und dann waren da noch die Schakale, die eine Phase der Schwäche ausnutzen und politisches Kleingeld machen wollten. Und alle tarnten sich als besorgte oder wachsame Bürger.

»Die Leute des Liga-Dienstes vor Ort unternehmen alles, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Die Besorgnis in der Istanbuler Bevölkerung ist groß, die Aufregung ebenso. Man hat Angst und fragt sich, was da vor sich gegangen ist.« Cai Cheung blickte immer wieder auf ihre Uhr, ein sündhaft teures Modell aus venusianischer Fertigung, wie Rhodan wusste.

»Wenn ich könnte, würde ich dir einen Teil der Last abnehmen.«

»Wir wissen beide, dass das unmöglich ist. Du bist auf der Flucht und hast offiziell keinerlei Kontakt zu Regierungsbehörden.« Cheung wechselte abrupt das Thema. »Also: Was willst du von mir?«

Rhodan zögerte und sagte dann: »Kooperation. Ein Miteinander aller Beteiligten. Wir müssen ... Verzeihung: Ihr müsst so rasch wie möglich aufklären, wer gestorben ist. Hat es Tekener oder Bostich erwischt? Was ist mit dem oder den Mördern?«

»Selbstverständlich. Wie ich bereits sagte: Der Liga-Dienst ist dran ...«

»Ich würde mich freuen, wenn es zu einer Kooperation mit der USO und den Celistas käme.«

»Die Leute von der United Stars Organisation und Monkey werden laufend informiert, man hat uns die Ankunft weiterer Spezialisten angekündigt. Die Arkoniden können wir allerdings nicht aktiv mitwirken lassen. Kein Terraner würde akzeptieren, dass Angehörige eines fremden Geheimdienstes durch Istanbul laufen, Häuser durchsuchen, Passanten anhalten und so weiter.«

»Ich garantiere dir große diplomatische Schwierigkeiten, wenn du die Arkoniden außen vor stehen lässt. Bostich ist die Integrationsfigur eines riesigen Reichs, das derzeit unangenehme Zeiten durchmacht. Das Arkon-System ist von Feinden besetzt. Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind bedenklich, mancherorts gibt es separatistische Bewegungen, die die Gunst der Stunde nutzen wollen.«

»Das weiß ich alles, aber ...«

»Der Imperator ist womöglich tot, das Herz eines zerbröckelnden Reichs! Chaos droht, das galaktische Ausmaße annehmen könnte. Nicht, dass ich Bostichs Politik gutheißen wollte – aber er ist jener Faktor, der ein sehr labiles Gefüge zusammenhält.«

Cai Cheung starrte ihn an. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr jemand ins Wort fiel. Rhodan schämte sich dafür. Er hielt große Stücke auf die Politikerin. Doch er musste eingreifen, er konnte nicht anders.

»Ich sehe zu, was ich tun kann«, sagte sie unverbindlich.

»Das ist mir zu wenig, Cai!«

»Bei allem Respekt, Perry – aber du gehst zu weit!«

Ein Signal ertönte, ein verdecktes Holo sprang an. Die Nachricht war einzig für Augen und Ohren der Solaren Premier bestimmt. Dass sie ins Innerste des Solaren Hauses durchgeschaltet worden war, sprach für ihre Dringlichkeit.

Cai Cheung entschuldigte sich und wandte sich dem Holo zu. Sie unterhielt sich leise über ein abgeschirmtes Akustikfeld, ihr Gesprächspartner blieb unbekannt.

Cheung gab sich keine weitere Blöße, wie Rhodan feststellte. Der Ärger, den sie eben noch zur Schau gestellt hatte, war verflogen.

Sie zuckte zusammen. Blickte zu Rhodan, konzentrierte sich dann wieder auf das Holobild, setzte an, etwas zu sagen – und ließ es dann bleiben. Sie kappte die Verbindung.

»Gibt es Neuigkeiten zu Tek oder Bostich?« Rhodan fühlte mit einem Mal sein eigenes Herz schlagen, laut und rasch.

»Ja.« Cheung wischte sich über die Augen. »Wir haben eine Botschaft erhalten. Sie wurde durch eine umgearbeitete Robotdrohne unmittelbar hierher gebracht. Es handelt sich um eine Robotdrohne unbekannter Bauart.«

»Und?« Es war die Todesnachricht. Rhodan spürte es, schmeckte es.

Sein Verstand sagte: Lass es Tek sein, der gestorben ist. Ohne den arkonidischen Imperator versinkt die Milchstraße im Chaos.

Sein Herz sagte: Lass es bitte Bostich sein! Ich möchte Ronald nicht verlieren, nicht den Freund. Wir sind bloß noch so wenige ...

Cheung zögerte. »Meine Leute untersuchen die Drohne noch, aber ...«

»Sag schon!« Wieder fuhr er über sie hinweg, wieder behandelte er die Solare Premier respektlos. Doch das scherte ihn nicht. Nicht in einem Moment wie diesem.

»... in ihr liegt ein Zellaktivatorchip«, vollendete Cheung ihren Satz.

 

*

 

Spezialisten hatten die Robotdrohne einer schnellen, dennoch gründlichen Untersuchung unterzogen. Nun lag der Inhalt des etwa 30 Zentimeter langen, krähenförmigen Flugkörpers vor ihnen. Er umfasste eine Schreibfolie, dazu einige Körperrückstände. Haare. Einen Fingernagel. Ein Stück Haut. Ein Wimpernhaar. Und einen Zellaktivator jener Baureihe, wie ES sie als jüngste verteilt hatte.

Rhodan griff nach der Schreibfolie. Er zögerte und blickte die Solare Premier an. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass er die Nachricht als Erster las.

Er strich die Folie glatt, räusperte sich und las: »Der Zellaktivator wurde um 19 Uhr Istanbuler Zeit aus dem Körper des Arkoniden Bostich entnommen. Zusätzliche Beweise dafür, dass wir ihn in unserer Gewalt haben, liegen bei. Dem Imperator bleiben 62 Stunden Zeit, bis der Zellverfall zum Tod führt. Perry Rhodan wird aufgefordert, sich innerhalb dieser Frist dem Atopischen Tribunal zu stellen. Tut er das, wird Bostich den Behörden übergeben, und sein Leben kann gerettet werden.«

Rhodan legte die Nachricht zurück auf den Tisch, Cai Cheung las sie nun ebenfalls.

»Kein Hinweis auf den oder die Absender, keine sonstigen Forderungen oder Drohungen«, sagte sie. »Nichts, was uns weiterhilft.«

»Wir wissen, wer oder was dahintersteckt. Attilar Leccores Bericht ist eindeutig. Tefroder waren hinter Bostich her, ein Mitglied der Gruppe wurde von Tekener erschossen.« Rhodan verschränkte die Hände auf dem Rücken, sodass Cheung ihr Zittern nicht sehen konnte.

»Du glaubst nicht, dass andere Gruppierungen oder Einzelpersonen Bostich in der Hand haben könnten?«

»Nein. Ein Einzelner wäre niemals an den Celistas und an Tekener vorbeigekommen. Auch nicht die Mitglieder einer bestens ausgebildeten Spezialeinheit. Dazu sind lediglich Leute mit ganz besonderen Begabungen fähig. Es handelt sich um eine Gruppe von Psi-Begabten, ein tefrodisches Mutantenkorps gewissermaßen.«

»Das ist bloß eine von mehreren Möglichkeiten.«

Rhodan wollte ihr neuerlich widersprechen. Ihr aus seinem Erfahrungsschatz erzählen und über Ronald Tekener sprechen, der keine Fehler machte. Der sich selbst stets aus den unmöglichsten Situationen befreit hatte ... und der allem Anschein nach diesmal den Kürzeren gezogen hatte.

Stattdessen fragte er: »Was ist mit den DNS-Proben? Wurden sie bereits untersucht?«

»Ja. Sie stammen von Imperator Bostich.«

Er könnte dennoch der Tote sein, der das Erscheinen der Spiralgalaxis über Istanbul verursacht hat! Was, wenn Tek noch lebt und sich in den Händen der Tefroder befindet? Vielleicht wurde Bostich umgebracht, vielleicht blufft man?

»Woran denkst du, Perry?«

»Mir sind einige Dinge bei dieser Sache noch nicht ganz klar. Ich möchte mich beraten. Mit einem Spezialisten.«

»Meine Leute stehen dir jederzeit zur Verfügung.«

Rhodan lächelte knapp. »Ich brauche keinen Verhaltenspsychologen, auch keinen strategischen Berater. Ich habe einen ganz besonderen Vertrauten bei der Hand, der mir bei meinen Fragen sicherlich weiterhelfen kann.«

Sie schwiegen, blickten einander an.

»Frag mich endlich!«, verlangte Rhodan nach einer Weile.

»Na schön.« Cai Cheung atmete tief durch. »Was wirst du tun, Perry? Die Regierung Terras wird dich sicherlich nicht ausliefern. Offiziell stehen wir nicht in Kontakt mit dir.«

»Die Entführer Bostichs sind wohl anderer Meinung. Andernfalls hätten sie dich nicht kontaktiert.«

Cheung ging nicht näher auf seinen Einwand ein. »Die Frage bleibt: Wirst du die Forderungen der Entführer erfüllen und dich dem Atopischen Tribunal stellen?«

Rhodan zögerte. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann, nickte grüßend zum Abschied und verließ das Büro Cai Cheungs.

 

*

 

Rhodan betrat das abgedunkelte Zimmer. Er gab sich Mühe, möglichst leise zu sein. Er wusste um die Empfindlichkeit des Patienten, der sich immer wieder an diesen Ort zurückzog, um an sich zu arbeiten.

»Du bringst schlechte Nachrichten.« Gucky trat in den Schein einer schwach leuchtenden Lampe. Er kniff die Augen angestrengt zusammen. »Nun? Was hat das über Istanbul beobachtete Phänomen zu bedeuten? Ich kann's ja wohl nicht sein, den es erwischt hat.« Er blickte an seinem struppig wirkenden Fell hinab. »Ich fühle mich erfreulicherweise besser, auch wenn's noch nicht so aussieht.«

»Kannst du es in meinen Gedanken lesen?« Rhodan öffnete seine mentale Abschirmung für den Freund.

»Nein. Ich möchte, dass du es mir sagst.«

»Warum?«

»Weil es dann nicht so schmerzhaft ist. Es ist schrecklich, die Trauer eines anderen mitzuempfinden.« Gucky setzte sich an einen Tisch, der auf seine Größe zugeschnitten worden war.

»Na schön.« Rhodan nahm neben ihm Platz. Der Stuhl war absurd klein, er war wie alles im Raum an Gucky angepasst worden. Ihm war, als befände er sich in einem Puppenhaus. »Wir haben keinen endgültigen Beweis«, begann er umständlich, »aber wir vermuten, dass ... dass es Tek erwischt hat.«

»Tek also. Aha. Ronald Tekener. Der Smiler. Der Galaktische Spieler.«

Rhodan betrachtete den Mausbiber und versuchte, in der Miene des Kleinen zu lesen. Warum reagierte er so kühl und distanziert? War dies Ausdruck einer anderen Persönlichkeit, die mit der Entwicklung neuer Psi-Gaben einherging? Veränderte sich Gucky, so, wie sich seine Mutantengaben verändert hatten?

»Bostich wurde allem Anschein nach von einer Gruppe Tefrodern entführt«, fuhr er fort. »Tekener kam bei den Kampfhandlungen offenbar ums Leben.« Hastig fügte er hinzu: »Es gibt noch Hoffnung. Es mag sein, dass man uns täuschen möchte und dass Tek irgendwie entkommen konnte, aber ...«

»... aber du glaubst selbst nicht mehr daran. Tek hat sein Blatt überreizt, genau wie ich. Mich hätte es auch treffen können.«

»Sag so etwas nicht.«

»In Ordnung. Ich sage es nicht mehr.«

Rhodan seufzte. »Mein Kopf ist leer. Ich weiß nicht mehr, was ich denken und glauben soll.«

»Und deshalb kommst du zu mir.«

»Du und Tek – ihr habt miteinander gesprochen, bevor er in den Einsatz gegangen ist, um Bostich zu schützen.«

»Hatte ich also doch recht. Ronald wollte nicht zugeben, dass er für die Sicherheit unseres liebsten Imperators abgestellt worden war.«

»Ja.«

Gucky atmete tief durch. Er tippte eine Ziffernkombination in die Tastatur seines Armbandkoms. Sekunden später kam ein Roboter herangesaust und stellte zwei Teller und eine Terrine auf dem Tisch ab. Ein saurer Geruch breitete sich im Raum aus.

»Mohrrübengeschnetzeltes mit einer flaumig weichen Brokkolipaste, verspricht die Speisekarte«, sagte der Mausbiber. »Allerdings schmeckt das Zeug nach Holz – und noch nicht einmal nach sonderlich gutem Holz. Das Essen hier ist eine Beleidigung meiner Geschmacksnerven.«

Rhodan lächelte freudlos. Er ließ sich von Gucky etwas auf den Teller geben und aß. »Du irrst«, sagte er nach einigen Löffeln. »Ich kenne eine Menge Leute, die noch schlechter kochen. Bully zum Beispiel. Und ein bis zwei Gataser.«

Gucky zeigte seinen Nagezahn, verbarg ihn aber gleich wieder. Gemeinsam aßen sie, in aller Stille. Nur das Klappern des Bestecks und das Schlürfen des Mausbibers waren zu hören.

»Tek ... Ronald also«, wiederholte Gucky, nachdem sie das Mahl beendet hatten.

»Ja.« Seltsam. Plötzlich war Rhodan sich sicher. Es war, als verflögen alle Zweifel mit dem gefüllten Magen. Es gab keine Hoffnung mehr, kein Was-wäre-wenn. Ronald Tekener war tot, und in diesem Moment schwanden all die Namen, die er getragen hatte als Ausweis seiner Fähigkeiten, wurde der Mann auf seinen Kern reduziert. Auf das, was seine Freunde schmerzte.

Ronald Tekener. Ein Wegbegleiter über viele Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende. Ein unangenehmer, kritischer Geist. Ein Mann mit vielen Geheimnissen. Dieser sperrige, unzugängliche Mann, der nur wenig Gesellschaft geduldet und noch weniger Wesen nahe an sich herangelassen hatte. Jemand mit konservativem Hintergrund, der in vielerlei Hinsicht liberale Ideale mit Händen und Füßen verteidigt hatte.

»Dao-Lin-H'ay muss es erfahren«, sagte Gucky.

»Sie ist ein wenig abseits vom Schuss.« Es stimmte, was der Mausbiber sagte. Sie würden versuchen, die Kartanin zu benachrichtigen – und alte Bande wieder enger schmieden müssen. Auch Dao war eine von ihnen, eine Unsterbliche.

»Ich hätte geglaubt, dass du Rons Tod viel schlechter aufnimmst«, gestand Rhodan, nachdem sie den staubtrockenen Mohrrübenkuchen hinuntergewürgt hatten.

»Ich bin völlig leer.« Gucky schüttelte den Kopf. »Ich brauche Zeit. Alles ist so anders, nachdem ich erwacht bin. Manchmal kenne ich mich selbst nicht.« Er legte seine fellbesetzte Rechte auf Perrys Hand. »Aber dich scheint es ganz schön erwischt zu haben.«

»Mir geht's gar nicht gut«, gestand Rhodan. Seine Augen füllten sich mit Tränenflüssigkeit, er konnte kaum etwas sehen. »Ich kann es nicht glauben. Es ist nicht richtig, es ist nicht gerecht!«

»Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, was richtig und was gerecht ist.«

»Ich musste jahrelang um dich bangen, Gucky, während du im Koma lagst. Es gab wenig Hoffnung, manche Ärzte hatten dich bereits abgeschrieben. Und dann bist du erwacht. Als ich davon erfuhr, hätte ich am liebsten ein Freudentänzchen aufgeführt. Ich war ... glücklich. Ein wirklich guter Freund, den ich schon verloren gesehen hatte, war mit einem Mal wieder da. Und kaum habe ich mich aufgehört zu freuen, geschieht das.«

»Das ist etwas völlig Normales. Der Tod ist Teil des Lebens. Nur vergessen wir das manchmal.«

»Ich habe so viele rings um mich sterben sehen. Freunde, Verwandte, nächste Angehörige. Ich fand stets die Kraft, damit fertig zu werden. Weil ich wusste, dass es andere wie mich gibt. Solche, die dasselbe wie ich durchmachen und mit denen ich mich über dieses Thema austauschen kann.«

»Das kannst du auch weiterhin. Ich bin ja noch da. Und Homer ...«

Rhodan lachte bitter. »Jaja. Dazu kommen Michael, Tiff, Atlan, Dao, Tolotos und Monkey ... Entweder sind sie mir entfremdet oder verschollen, oder man macht Jagd auf sie. Manchmal scheint es mir, als wäre jemand gezielt hinter uns her, um uns auszulöschen. Und damit die Erinnerungen an frühere, an andere Zeiten.«

»Womöglich ist es so. Wir sind eine Anomalie. Etwas, das entgegen den Spielregeln weiterexistiert. Vielleicht gibt es eine Art Selbstheilungskraft des Universums. Anti-Unsterblichen-Viren, die zu wirken begonnen haben.«

Sie redeten Unsinn, und sie beide wussten es. Dennoch tat es gut, Erklärungen für das Unerklärliche zu suchen. Es erleichterte den Verlust eines Freundes, zumindest ein klein wenig.

Rhodan fühlte innere Unruhe. Er verlor wertvolle Zeit, während die Stunden des Ultimatums an ihn verstrichen – und Bostichs Lebenszeit ebenso. Der Imperator hatte noch bis siebenundfünfzig Stunden zu leben.

Er musste so rasch wie möglich zu sich selbst zurückfinden, zu Stärke und Selbstsicherheit. Doch zuerst benötigte er Absolution. Die Bestätigung von einem Freund, dass er richtig handelte.

Rhodan unterhielt sich eine Weile mit Gucky und weihte ihn in seine Pläne ein. Der Mausbiber war, was nur die wenigsten Terraner wussten, ein umsichtiges Wesen. Was er im Einsatz so spielerisch und leicht aussehen ließ, bedurfte viel Disziplin sowie mentaler Vorbereitung. Also gingen sie gemeinsam einige Strategien für die nächsten Stunden durch. So lange, bis sie müde waren und das Gespräch abbrachen.

»Ron ist tot«, sagte Gucky.

»Ja. Ron ist tot.« Rhodan beugte sich vor, stützte seinen Kopf gegen den des Mausbibers und weinte.

 

*

 

Rhodans Armbandkom erzwang eine Direktleitung zu Cai Cheungs Büro. Die Solare Premier nahm das Gespräch entgegen. Sie starrte ihn müde an, die Ringe unter ihren Augen waren tiefer und dunkler geworden.

»Gibt's was Neues?«, fragte Rhodan nach einem gemurmelten Gruß.

»Der Zellaktivatorchip und die DNS-Proben stammen hundertprozentig von Bostich, so viel steht mittlerweile fest. Die TLD-Agenten vor Ort haben neue Spuren am Ort der Entführung gefunden, die Celistas arbeiten vorbehaltlos mit unseren Leuten zusammen, die USO-Spezialisten sind eingetroffen. Es sind kleine Fortschritte, die sie machen, aber es ...«

Rhodan blickte auf die Uhr. »Es bleiben noch fünfundfünfzig Stunden, um Bostichs Leben zu retten. Wir benötigen handfeste Resultate und keine kleinen Fortschritte.«

»Wie hast du dich entschieden? Wirst du dich dem Atopischen Tribunal ausliefern?«

»Ich treffe meine Entscheidung, wenn es so weit ist. Mehr als zwei Tage sind eine Menge Zeit. Wir sollten den Spielraum ausnützen, den wir haben ...«

Rhodan brach ab. Cheung sah ihn bitterböse an. Er war wieder einmal zu weit gegangen. Er drängte sie und behandelte sie von oben herab. »Entschuldige, Cai. Das war respektlos von mir.«