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Nr. 2866

 

Die Finale Stadt: Turm

 

Atlan und Julian Tifflor – im Machtzentrum des Atopischen Tribunals

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Perry Rhodan ist von einer Expedition in vergangene Zeiten in die Gegenwart zurückgekehrt. Diese wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Immerhin scheint mit dem ParaFrakt eine Abwehrwaffe gefunden zu sein.

Indessen hat sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz der Atopischen Macht begeben: die Ländereien jenseits der Zeit, über die Thez regiert. Mit Thez selbst oder einem seiner Vögte zu sprechen und dadurch die Milchstraße von der Atopischen Ordo zu befreien, ist Atlans Ziel. Schließlich erreicht er einen wichtigen Knotenpunkt für seine Pläne: DIE FINALE STADT: TURM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan da Gonozal – Der Unsterbliche begegnet Unsterblichen.

Julian Tifflor – Ein Mensch hat die Zeit hinter sich gelassen.

Lua Virtanen und Vogel Ziellos – Die Geniferen erhalten ein atopisches Angebot.

Pamela Bess – Eine Frau mit vielen Facetten lernt Atlan kennen.

Litanei der Finalen Stadt: Turm

(Faszikel Eins)

 

Die Letzte Stadt ist auch

die Stadt der Letzten.

Hier wohne ich;

es gibt kein anderswo.

 

 

1.

Atlan

 

Das Tandem der Kutschentiere wechselte vom Trab in Galopp. Luas Oberkörper drängte gegen meinen, Vogel umfasste beschützend die junge Frau. Es war sehr eng in dem Zweispänner, genau wie der Pensor es gesagt hatte. Aber die Alternative, Vogel und Lua zurückzulassen, war nicht infrage gekommen.

Landschaft wirbelte an uns vorbei. Ödes Sandgebiet wurde zu Steppe wurde zu Savanne wurde zu Dschungel. Irgendwann bog das antiquierte Gefährt auf einen grob asphaltierten Weg ein, der sich kerzengerade dahinzog.

»Wie lange noch?«, fragte ich und deutete auf unser Ziel, einen vertikalen Riss in der Landschaft, hinter dem wir den Turm der Finalen Stadt vermuteten.

»Zeit ist in diesem Umfeld zwar messbar, aber dennoch ein vernachlässigbares Phänomen«, antwortete der riesenhafte Pensor, unser Kutscher. »Deine Frage ergibt keinen Sinn.«

Ich wollte nachbohren, wollte meine Neugierde stillen. Doch mir fehlten – gegenwärtig – die Worte. Ich musste mich erst einmal orientieren und die Gegebenheiten der Reise erfassen.

Der Tilbury, auf dessen Bock wir saßen, war ein Anachronismus. Ein einreihiges Kutschengefährt ohne Dach, mit hölzernem Sitz, schlecht gefedert, mit schlecht ausbalancierten Rädern. Das Tandem an Zugpferden wurde vom Pensor gelenkt, ohne dass Zügel zu erkennen waren. Er schnippte manchmal mit den klobigen Fingern seines Anzugs, daraufhin beschleunigten die Tiere.

»Sie sind sonderbar«, behauptete Lua und kniff die Augen zusammen.

»Es sind Pferde«, sagte ich. »Du kennst sie noch nicht gut genug, aber ...«

»Ich meinte damit, dass sie keine richtigen Tiere sind«, unterbrach mich die junge Frau. »Sie sind biomechanische Hybridwesen. Ich schmecke Technik hinter Haut und Knochen. Sie ist im Inneren der Geschöpfe abgelagert, steuert und treibt sie an.«

Vogel nickte zustimmend, ich akzeptierte Luas Worte. Die beiden waren ausgebildete Geniferen und verstanden Maschinen sowie deren Steuergehirne.

»Eure Gaben sind beeindruckend«, ließ sich der Pensor vernehmen. »Die Erbauer der Hotter haben sich viel Mühe gegeben, die Antriebseinheiten hinter Biomasken zu verbergen. Hüa!«

Diesmal schnalzte er mit der Zunge, die Zugpferde beschleunigten weiter.

Ich reagierte nicht auf seine Worte und beobachtete stattdessen. All die Wunder der Finalen Stadt hatten mich verunsichert. Ich wusste nicht mehr zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Vieles, das wir gesehen und erlebt hatten, war so unwahrscheinlich gewesen, dass ich seit geraumer Zeit darauf verzichtete, über die Realität nachzudenken.

Wir befinden uns am Ende aller Existenzen und aller Zeiten, erinnerte mich der Extrasinn. Oder kurz dahinter. Die Erfahrungen hier sind mit nichts zu vergleichen.

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Illustration: Swen Papenbrock

Der Pensor machte eine Handbewegung, wie ich sie schon öfters bemerkt hatte. Doch diesmal bewirkte er etwas: Die Graslandschaft änderte sich. Hügel, die ich eben noch in weiter Ferne wahrgenommen hatte, rückten deutlich näher.

Hatte ich geschlafen? Hatte sich die Realität verschoben?

Lua stöhnte, ihre Finger zitterten. Sie drängte sich eng an Vogel, der ebenfalls unruhig wirkte. Was immer soeben geschah – es beeinträchtigte die Sinne meiner jungen Begleiter.

Eine weitere Handbewegung des Pensors, eine weitere Änderung der Gegebenheiten. Die Hügel lagen mit einem Mal hinter uns. Die schmalen Räder knirschten über gletscherblauen Schnee einer eintönigen Eislandschaft. Der Atem gefror vor meinem Mund, obwohl der Schutzanzug angenehme 22 Grad Celsius Außentemperatur anzeigte.

»Was machst du?«, fragte ich den Pensor. »Besser gesagt: Wie lässt du diese Ortsveränderungen geschehen?«

»Ich lenke die Hotter so, wie ich ein Richterschiff lenken würde«, gab das riesige Wesen zur Antwort.

»Geht es ein wenig präziser?«

»Nein.«

Ich wollte meinem Ärger über die Einsilbigkeit unseres Kutschers Luft machen, als dieser ergänzte: »Es lässt sich nicht so leicht in Worte fassen, was ich tue. Lass es mich so sagen: Ich injiziere den Zugtieren Bewegungsvermögen.«

Ich dachte über seine Worte nach. »Du steuerst sie also mithilfe deines ... deines Anzugs?« Ich betrachtete den Pensor. Er steckte in einem klobigen Anzug. Immer wieder huschten sonderbare Symbole darüber hinweg. Hieroglyphen vielleicht, die einem uralten Schriftbild entstammten – oder etwas ganz anderes. Wir hatten nie darüber gesprochen, so, wie wir niemals viel miteinander geredet hatten. Es hatte sich nie ... ergeben.

»Falsch. Ich bin in gewisser Weise der Motor der Hotter, so, wie ich auch die Antriebseinheit eines Richterschiffes bin.«

»Ich dachte, du wärst ein lebendiges Wesen?«

»Was ist schon lebendig?«

»Deine Wortklaubereien nerven, Pensor!«

»Du musst akzeptieren, dass du längst nicht alles gesehen und gehört und gelernt hast, Atlan. In der Finalen Stadt ist es notwendig, die Grenzen des Geistes zu überwinden. Nur dann wirst du reüssieren.«

Der Pensor wich aus. War ihm dieses Gespräch unangenehm?

Die Hotter sprangen ein weiteres Mal durch die scheinbare Realität. Das Eis rings um uns verschwand, wir fanden uns in einer Steinwüste wieder. Die Räder holperten und rumpelten über kopfgroße Brocken. Wir wurden mehrmals aus dem Sitz gehoben und hatten Mühe, Halt zu finden.

Ein kranichähnlicher Vogel tauchte zu uns herab. Er breitete seine breiten Flügel aus, schlug mit ihnen und hielt über uns inne.

»Kündige uns an!«, befahl der Pensor.

Der Kranich klapperte mit gelborangefarbenen Schnabelhälften, kreischte dann wie zur Bestätigung und entfernte sich rasch wieder. Ich versuchte, seinen Flug zu verfolgen; doch er verschwand nahe des Horizonts, von einem Augenblick zum nächsten.

»Ich bin das, was man gemeinhin einen Movationsinjektor nennt«, fuhr der Pensor in unserer Unterhaltung fort, als wäre die Begegnung mit dem Kranich niemals geschehen.

»Gemeinhin?« Ich blickte hoch zu dem drei Meter großen Wesen, dessen Gesicht hinter trübem Glas nur vage zu erkennen war. Ich musste dabei meinen Kopf weit in den Nacken legen.

»In Kreisen, in denen ich normalerweise verkehre, weiß man, was mit dem Begriff gemeint ist.«

»Würdest du dein Wissen mit drei unwissenden und unbedeutenden Geschöpfen teilen?«

»Das ist Sarkasmus, nicht wahr?«

»Mag sein.«

»Ich verstehe, dass du unzufrieden mit meinen Antworten bist, Atlan. Aber es gibt Dinge, für die Worte, wie du sie kennst, manchmal nicht ausreichen.«

Er machte eine weitere Handbewegung, wir verließen die Steinwüste. Unter den Hufen der Hotter war nun das Wasser einer flachen Furt. Die Räder wirbelten Feuchtigkeit hoch, die über unsere Anzüge spritzte.

»Ich bin ein Parabegabter.« Der Pensor blickte zu mir herab, jedenfalls nahm ich seine Kopfbewegung so wahr. »Im UHF-Band eurer Kalup-Skala nimmt meine Parakraft einen Frequenzwert von annähernd zwei Petakalup ein. Damit ist es mir möglich, Dinge zu steuern und zu bewegen. So wie dieses wunderbare Fahrzeug.«

Das Wasser machte Staub Platz, den der Wind von rechts über den Tilbury peitschte. Hastig klappte ich das Kopfteil meines Schutzanzugs zu.

»Zwei Petakalup«, hörte ich Vogel Ziellos über Funk murmeln. »Das ist ein unglaublicher Wert.«

»Das Potenzial für sich genommen ist kein Messfaktor für die Fähigkeiten eines Wesens«, widersprach der Pensor, ebenfalls über Funk. »Es kommt auch auf Qualitäten wie Bereitschaft, Hingabe, Konzentrationsvermögen oder passende Selbsteinschätzung an, um seine Kräfte richtig nutzen zu können.«

Ich schwieg und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Jemand, der kraft seines Geistes ein Richterschiff lenken konnte und dabei als ... als Antriebsaggregat diente, war etwas, das in meinem Kopf keinen Platz hatte. Der Pensor hätte mir genauso gut sagen können, dass er kraft seiner Gedanken die Liga Freier Terraner zu organisieren und die internen politischen sowie wirtschaftlichen Abläufe in ihrer Gesamtheit zu lenken vermochte.

Weitere Sprünge geschahen. Ich hatte den Eindruck, dass der Riss vor uns allmählich näher kam. Gut so. Mein Hintern beklagte sich über die Tortur, die unsere holprige Fahrt ihm angedeihen ließ. Auch meine linke Schulter schmerzte. Dort, wo Staub in meinen Körper eingedrungen war, während meiner ersten Auseinandersetzungen mit den Ablegern eines Geschöpfes namens Konglomerierter Bacctou.

»Was kannst und darfst du mir über den Turm sagen?«, fragte ich den Pensor nach einer Weile.

»Stell die richtigen Fragen, ich gebe die richtigen Antworten.«

»Na schön.« Ich sammelte mich und schob meinen Zorn über die meist rätselhaften Worte unseres Kutschers beiseite. »Wie groß ist der Turm? Was haben wir im Inneren zu erwarten?«

»Der Turm der Finalen Stadt hat keine messbare Ausdehnung. Er ist kein Bauwerk in dem Sinne, wie du oder andere biologischen Geschöpfe es verstehen.«

»Er entzieht sich also auch deinem Begriffsvermögen?«

Der Pensor ging kommentarlos über meine Zwischenfrage hinweg. »Der Turm hat diverse raumzeitliche Eigenschaften. Darüber hinaus strebt, veranschaulicht und verinnerlicht er. Es würde Lua, Vogel und dir schwerfallen, eine Orientierung im Inneren zu bewahren. Aber ihr dürft auf ein gewisses Entgegenkommen des Turmes rechnen. Er wird sich euch gegenüber so präsentieren, dass er fassbar wird in Sinneswahrnehmungen und Begriffsvermögen.«

»Ist der Turm also ein denkendes Etwas?«

»Er ist, was er ist. Und er wird sich euch gewissermaßen übersetzen.«

Akzeptiere den Turm als Organismus, der sein Erscheinungsbild den Bedürfnissen seines Nutzers anpasst!, riet mir der Extrasinn.

»Wir werden den Turm also nicht so sehen, wie er eigentlich ist?«, hakte ich beim Pensor nach.

»Doch, natürlich! So, wie eine zweidimensionale Schwarzweiß-Zeichnung ein buntes, dreidimensionales Gebäude zeigt. Allerdings nur ausschnittsweise. In seiner Pracht und Tiefe wird der Turm für deinesgleichen stets unbegreiflich bleiben.«

Der Pensor gab einen klackernden Ton von sich und wedelte erneut mit der Hand. Die beiden Hotter beschleunigten. Sie galoppierten über saftig grünes Weideland dahin, eine durch tief hängende Äste begrenzte Allee entlang, durch eine tiefe Schlucht und über den Rücken eines Gebirgszuges, von dem aus sich eine atemberaubende Aussicht bot.

Der Riss – der Turm! –rückte deutlich erkennbar näher.

Ich fühlte seine Nähe. Er wisperte mir zu und teilte mir mit, dass er mit meinem Eintreten einverstanden war. Es war ein Flüstern, das sich aus vielen Stimmen zusammensetzte. Sie zerfaserten und fanden rasch wieder zusammen, als hätte es eine kurze Unstimmigkeit gegeben, die rasch überwunden worden war.

»Haltet euch fest!«, sagte der Pensor.

Er lachte. Der Pensor war voller Freude und Begeisterung, als er die letzten entscheidenden Handbewegungen machte und wir über einen schmalen Almweg dahinrasten, in eine Dünenlandschaft sprangen, noch zwei oder drei Welten durchquerten, für die mein Vokabular einfach nicht reichte – und wir durch den Riss gelangten. Durch ein gezacktes Etwas, das dem eines Blitzes ähnelte.

Der Übergang geschah so rasch, dass ich keinerlei Erinnerung daran bewahrte. Wir gerieten in das Dahinterliegende. In eine städtische Umgebung.

 

*

 

Bevor ich meine Gedanken sortieren konnte, bäumten sich die Hotter auf. Der Pensor gab einen Befehl, die Tiere stemmten ihre Hufe fest in die Erde.

Ich klammerte mich an schmiedeeisernen Griffen seitlich von mir fest, um nur ja nicht vom Tilbury geworfen zu werden. Die Tiere waren unruhig, ihre Flanken schweißbedeckt. Lua, Vogel und ich wurden nach vorne gedrückt. Wir kamen endgültig zum Halt.

Der hintere Hotter drehte uns seinen Schädel zu. Mit weit aufgerissenen Augen wieherte er und stellte die Ohren steil in die Höhe. Verlor der Pensor etwa die Kontrolle über die beiden Tiere, jetzt, da wir unser Ziel erreicht hatten?

Der Riese gab einen Laut von sich, der womöglich ein vergnügtes Lachen sein sollte. Er stellte sich auf die Beine und beugte sich weit zu dem einen Hotter vor. Die Tritte des Tilbury ächzten unter seinem Gewicht.

Er redete beruhigend auf das hintere Tier ein und brachte es rasch zur Ruhe. Es tänzelte noch einige Male nervös in seinem Geschirr hin und her, bevor es den Kopf beugte und Grasbüschel aus dem Boden zupfte.

»Na also!« Der Pensor setzte sich nieder. »Die Reise dauerte ungewöhnlich lange diesmal. Der Turm benötigte eine Weile, um sich mit euch als Gästen zu arrangieren. Ich hoffe, euch gefällt das Ergebnis seiner Umbauarbeiten?«

Erstmals nahm ich die Umgebung wahr, in der wir gelandet waren.

»Was sind das für sonderbare Gebäude?«, fragte Vogel Ziellos. »Irgendwie kommen sie mir bekannt vor.«

»Sind das Wohntürme der Akonen?«, hakte Lua Virtanen nach. »Ich bin mir sicher, wir haben auf der ATLANC ähnliche Bilder gesehen, aber ...«

»Es sind terranische Gebäude«, unterbrach ich sie verärgert. »Seht ihr denn nicht ...« Ich brach ab und murmelte eine Entschuldigung.

Naturgemäß war ihnen dieser Ort unbekannt. Er war nur noch in den Erinnerungen einiger weniger Lebewesen geborgen. Historiker, die sich auf die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts konzentriert hatten, mochten den riesigen Backsteinbau vor uns kennen – und die wenigen terranischen Unsterblichen.

»Wir befinden uns Ecke Grand Central und 42nd Street in New York City.«

 

*

 

Ich schloss die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Ich verband viele Erinnerungen mit der U-Bahn-Station, in deren Abgang ich blickte, und ich wollte keinesfalls gerade in diesem Augenblick vom Redezwang befallen werden.

»Wir waren bereits in einem ähnlichen Gebäude, nicht wahr?«, fragte Lua zögerlich. »Gemeinsam mit Julian Tifflor. Wir hatten es mit Lichtlachen zu tun und mit riesigen Aquarien, in denen Nicht-Lebewesen trieben, die Konkave Algorithmen darstellten.«

»Richtig. Allerdings war das Gebäude damals fertiggestellt und nicht halbfertig wie, nun, wie jetzt.«

Das Wort jetzt hatte seit unserem Vordringen in die Jenzeitigen Lande keine Bedeutung mehr. Es beschrieb bestenfalls unser Befinden. Wir lebten in einer Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft. Raum und Zeit standen still. Und doch ... Eine Sonne schien vom Himmel. Eben noch hinter Nebelschleiern verborgen, lugte sie nun hervor und ließ ihre Strahlen über die Straßen von New York City tanzen.

Ich stieg vom Tilbury und sah mich genauer um. Wir waren auf einem Grünstreifen gelandet, der in meiner Erinnerung an die 42nd Street keinen Platz fand.

Menschen strömten aus den U-Bahn-Schächten. Ja, Menschen. Sie taten dies mit jener Geschäftigkeit, die ich vom big apple nur zu gut kannte.

Sie hielten großformatige Zeitungen in der Hand, trugen Anzüge oder Kleider, sie grüßten einander durch Lüpfen ihrer Hüte. Die Frauen hatten ihre Haare meist hochgesteckt. Ihre Lederhandtaschen wirkten viel zu groß, die Schuhe hingegen viel zu klein.

Jemand hupte hinter mir, ich sprang zur Seite. Ein Cab fuhr knapp an mir vorbei und rief mir einige wütende Bemerkungen in einem Mischmasch aus Deutsch und Englisch zu. Der Taxifahrer saß in einem gelben Checker Cab, einem Fabrikat, das fast ausschließlich für Taxiunternehmen gebaut worden war.

So hat es ums Jahr 1955 in der Stadt ausgesehen, wisperte mir der Extrasinn zu.

Ein kleiner Lastwagen hielt mit quietschenden Bremsen vor unserem Reisegefährt. Ein Mann schleuderte einen Packen Zeitungen auf den Boden, ein Junge nahm ihn rasch an sich und löste mit viel Routine den Knoten, der ihn zusammenhielt.

Ein kleines Lokal öffnete eben. Der Besitzer schüttete den schmutzigen Inhalt eines Wassereimers über den Gehsteig und drehte dann das Schild seines Ladens auf »Open«. Eine elegante Lady in Pelz nahm ihren Schoßhund hoch und stieg pikiert über die Wasserlache, um sich beim Gemüsehändler an der nächsten Ecke Äpfel in eine Papiertüte stopfen zu lassen.

Der Händler, dessen Dialekt auf italienische Herkunft schließen ließ, vollführte einige Bücklinge, nachdem sie bezahlt hatte. Sobald sie gegangen war, zerrte er einen dürren Lausbuben an seinen Ohren hinter dem Stand hervor, drückte ihm Kleingeld in die Hand und schickte ihn fort, was wiederum die Ehefrau auf den Plan rief. Sie feuerte eine Schimpfkanonade in kaum verständlichem Italienisch auf ihn ab und begleitete diese gestenreich ...

Ich ließ all diese Geschehnisse auf mich einwirken. Lua und Vogel staunten. Sie waren fasziniert von dem bunten Treiben, das sich rings um uns ausbreitete. Vom Gestank der Autos, den so vielen unterschiedlichen Sprachen, der Lebendigkeit der Szenerie.

»Wer ist für all dies hier verantwortlich?«, fragte ich den Pensor, der sich seit Minuten nicht mehr gerührt hatte.

»Das müsstest du längst wissen. New York war die Heimatstadt Julian Tifflors.«

»Tiff wurde 1961 geboren, Jahre, nachdem sich die Stadt so dargeboten hat.«

»Er ist dennoch ein Kind New Yorks. Seine Jugend wurde geprägt durch Filme aus dieser Zeit. Durch die Aufbruchsstimmung, die in ihr herrschte.«

»Nur, bis Perry Rhodan die havarierte AETRON auf dem Mond entdeckte, er mit phantastischen Erkenntnissen zurückkehrte und Terrania City im Staub der Wüste Gobi errichten ließ. Danach verlor New York ein wenig an Bedeutung.«

»Akzeptier die Stadt, wie sie ist.« Der Pensor deutete auf ein Pärchen, das in unsere Richtung kam.

Sie, eine groß gewachsene, schlanke Brünette, trug einen knielangen Rock. Er, etwa gleich groß, in einen eleganten Anzug und Handschuhen gekleidet. Er hielt eine Zeitung unter den Arm geklemmt und unterhielt sich angeregt mit der Frau an seiner Seite.

Er war ein Insektoider.

 

*

 

Der Pensor spannte die beiden Hotter aus und überließ sie samt einem glänzenden Vierteldollar einem jungen Burschen, der intensiv auf einem Zahnstocher herumkaute.

Ich kümmerte mich nicht weiter um die Versorgung der Reittiere. Meine Aufmerksamkeit galt den Wesen auf der Straße. Nun, da ich genauer hinsah, entdeckte ich immer mehr Wesen nichtterranischen Ursprungs. Manche von ihnen wirkten wie Aras, Springer oder Ferronen. Andere waren in ihrem Gehabe und Aussehen völlig fremde Humanoide. Da und dort entdeckte ich Insektoide, Pflanzenwesen, Pilzgeschöpfe, Ornithoiden, Reptiloide. Sie bewegten sich inmitten der Menschenmassen, als wäre dies völlig normal und gehörte in das Stadtbild.

»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Vogel an meiner Seite.

»Es ist, als hätte jemand Tiffs Gedanken genommen, einen Film seiner frühen Jahre zum Leben erwachen lassen und mit späteren Eindrücken seines Daseins gespickt.« Ich wandte mich dem Pensor zu. »Ist es so? Ist dies alles eine Schimäre? Eine Erinnerung?«

»Ich versichere dir, dass diese Stadt real ist, wie auch ihre Bewohner.« Er deutete an mir vorbei, Richtung 42nd Street West.

Ich erinnerte mich: Dort, an der linken Straßenseite, hatte einstmals die New Yorker Bibliothek gestanden, inmitten des Bryant Park, der wiederum von Hochhäusern eingerahmt gewesen war. Nun aber ...

Ich fühlte mich von dem neuen Gebäude wie magisch angezogen und ging die Straße entlang. Lua und Vogel folgten mir, ich hörte ihre unbeholfenen Schritte. Sie fühlten sich hier nicht sonderlich wohl und hatten immer wieder Schwierigkeiten, mit der Ruppigkeit der New Yorker Passanten zurechtzukommen.

Der Park war nicht mehr vorhanden. Stattdessen überwölbte eine große, transparente Kuppelhalle ein Gebäude, das im Stadtbild genauso fremd war wie die Exoten unter den Bewohnern.

»Was ist das?«, fragte Lua. »Es fühlt sich fremdartig an. Falsch und richtig zugleich.«

Ich wandte mich ihr und Vogel zu. Beide wirkten blass und zitterten. Sie spürten gewiss mehr als ich. Für mich war dieses Monument eines, das ich mit den Umtrieben des Atopischen Tribunals in der Milchstraße verband.

»Das ist eine Ordische Stele«, kam mir jemand zuvor, bevor ich Lua antworten konnte. Eine Frau mit einem bezaubernden Lächeln, die neben mich getreten war. »Sie dient der Rechtsprechung im Namen der Atopischen Ordo.«

 

*

 

Sie redete im geschäftsmäßigen Ton einer Fremdenführerin weiter: »Ihr seht die oberen zweihundert Meter des eigentlichen Bauwerks. Es scheint sich bei der Stele um eine dreiseitige Pyramide mit einer Kantenlänge von sechzig Metern zu handeln, auf der oberen Plattform beträgt die Kantenlänge nur noch zwanzig Meter. Ein weiteres Drittel ihres Volumens wurde allerdings unter die Erdoberfläche versenkt. Was bedauerlicherweise einige Umbauarbeiten in der Stadt nach sich zog. Das U-Bahn-Netz wie auch die Versorgungs-Infrastruktur wurden angepasst.«

»Und wem verdanken wir all diese Einsichten?«

»Du möchtest wissen, wer ich bin?« Die Frau lachte ein weiteres Mal, Grübchen zeigten sich nahe der Mundwinkel. »Ich bin Pamela Bess. Eure Planwalterin.«

»Und das bedeutet?«

»Ich werde mich um euch kümmern, bis Julian Zeit findet. Er lässt mitteilen, dass er es bedauert, euch nicht selbst empfangen zu können. Aber er hat zu tun. Jetzt, in der Vergangenheit, aber auch in der Vorderen Vergangenheit. Er ist ein viel beschäftigter, nun ja, Mann.«

Sie wandte sich erneut Lua und Vogel zu und beendete ihre kleine Ansprache. Sie redete vom verborgenen Unterteil der Stele, der einen ovalen Durchschnitt hatte, und vom onryonischen Patronit, aus dem das Bauwerk bestand.

»Dieser mehr als zwei Yards breite Streifen rings um das Gebilde – er besteht aus glatt geschliffenem Rubin.«

»Eine Ordische Stele ist nun mal ein Symbol für Bescheidenheit und Demut«, sagte ich.

»Und Sarkasmus ein Zeichen dafür, dass man das Wesen mancher Dinge nicht erkennt und sich deshalb darüber lustig macht«, sagte sie, ohne mich anzublicken.

Touché!, meinte der Extrasinn. Mir scheint, diese Pamela Bess hat mehr zu bieten als nur ein kesses Lächeln.

»Ich bin weit gereist und nicht auf eine Touristenführung eingestellt«, sagte ich zu ihr. »Vielleicht verstehst du, dass meine gute Laune irgendwann unterwegs verloren gegangen ist?«

»Dann werden wir sie wohl wiederfinden müssen.« Pamela wandte sich mir zu und zwinkerte frech, um dann gleich darauf meine jugendlichen Begleiter an den Schultern zu packen. »Was meint ihr? Sollen wir uns in der Stadt umsehen?«, fragte sie und schob Lua sowie Vogel vorwärts, ohne weiter auf mich zu achten.

Sie wich einem riesenhaften Dreibeiner aus, der uns entgegenkam und sich angeregt mit einer Gruppe Kinder in Schuluniformen unterhielt.

Wie wäre es, wenn du ihr hinterherläufst?, forderte mich der Extrasinn auf. Oder gefällt dir der Anblick ihres Hinterns derart gut, dass du darüber vergessen hast, wie man die eigenen Beine bewegt?

Ich ignorierte ihn und schlenderte Pamela Bess hinterher. Oh ja. Sie passte gut in das graugelbe Kostüm. Und ich war mir sicher, dass ihr ausgeprägter Hüftschwung ausschließlich mir galt.

 

*

 

Wir nahmen die Linie 4 zum Bowling Green und spazierten die letzte Station hinab zum Battery Park in Lower Manhattan. Vieles ähnelte dem Manhattan, wie ich es kannte – aber nicht alles. Da und dort entdeckte ich Gebäudeteile, deren Architektur sich völlig von der der Terraner unterschied. Wolkenkratzer, die ich als wuchtig in Erinnerung hatte, wirkten auf eine sonderbare Art und Weise grazil.

Manche Fahrzeuge ähnelten Gleitern älterer Generationen, auf den Straßen wurde von Jugendlichen Blues'scher Tropfball gespielt. Im Park saßen reptiloide Mütter um ein Feuer, das im Inneren einer Öltonne brannte, während sich ihre Kinder auf einer rostzerfressenen Metallrutsche vergnügten.

»Können wir reden?«, fragte ich Pamela Bess, während wir durch den Battery Park flanierten.

»Ich habe während der letzten Stunde nichts anderes getan.«

Sie hatte Lua und Vogel mit Wissen über die Stadt bombardiert. Die beiden Jugendlichen waren beeindruckt von dieser Metropole, die einstmals die bedeutendste auf Terra gewesen war.

»Du weißt genau, was ich meine.«

Pamela blieb unvermittelt stehen und sah mich prüfend an. Lange.

»Ja, du hast recht. Lass uns die wenigen Schritte hinab zum Ufer gehen und einen Blick übers Wasser werfen. Danach reden wir.«