image

Image

Image

Image

Inhalt

Raus aus der Komfortzone

Auf zu neuen Ufern (Polen und Kaliningrad)

Go north (Baltikum)

Perspektivwechsel (Südfinnland und St. Petersburg)

Jetzt erst recht (Auf dem Weg nach Törehamn)

Zwei Sommermärchen und ein glücklicher Einsiedler (Schweden)

Unterwegs als Kanalratte (Götakanal und Vänernsee)

Längsseitssaison (Skagerrak und Oslo)

Dänemark und die Ankunft

Was bleibt? (Heimatgewässer und Epilog)

Für Mama und Papa

Raus aus der Komfortzone!

Image

28. März bis 15. April, 385 Seemeilen

Aus dem Logbuch:

4. Juli 2014, Haparanda I 48. Seetag, 1800 Seemeilen

Der neue Tag beginnt mal wieder mit pottdickem Nebel. Hält bis zum Nachmittag an. Zum Ausgleich zieht komischerweise gleichzeitig auch Wind auf und so segle ich nach Norden. Selbst als der Nebel aufklart, bleibt es hier oben einsam. Nur zwei Frachter ziehen an diesem Tag in der Ferne vorbei.

Am Abend bekomme ich dann die ersten Nordschären zu Gesicht und im Abendrot geht es nach Haparanda. Trotzdem bleibt es taghell – davon habe ich jahrelang geträumt. Der Hafen ist eigentlich nichts Besonderes und hat trotzdem eine einmalige Aura. Das Klubhaus, ein »Tempel« der Ostseesegler, fasziniert mich besonders.

Glücklich, mein weitestes Ziel heil erreicht zu haben, lasse ich den Tag auf der Hafenmole ausklingen. Es ist zwei Uhr morgens und die Sonne geht schon wieder auf. Von nun an geht es heimwärts. Auch ein komisches Gefühl…

4. September 2014, Väderöarna I 91. Seetag, 3004 Seemeilen

Man stelle sich vor, man macht an einem Tag die 3000 Seemeilen voll. Und am gleichen Tag findet man auch noch den schönsten Hafen der ganzen Ostsee. Wenn dann auch noch den ganzen Tag über perfektes Segelsommerwetter herrscht, geht es wirklich nicht besser. Dieser Tag hatte einfach alles.

Im Gegensatz dazu sah ich mich zehn Monate zuvor zu dieser Zeit von Jurabüchern umgeben in einer Bibliothek hocken oder in einem Büro festgenagelt. Stattdessen saß ich nun an einem der schönsten Punkte der Ostsee auf sonnengewärmten Felsen und genoss mein Leben. Aber mal von Anfang an.

Mich stört nur der Alltagscharakter meines Lebens, ohne Abenteuer, ohne richtige Spannung.

Es ist Dezember 2013, und schon seit Wochen geistert die Idee in meinem Kopf herum, den nächsten Sommer nur zu segeln. Den Plan, einmal einen ganzen Sommer auf See zu verbringen, habe ich schon lange, und doch passt das im Moment so überhaupt nicht: Mein Studium neigt sich dem Ende zu, und es gäbe deutlich Wichtigeres zu tun. Bei meinen Studienfreunden dreht sich so gut wie alles um Bewerbungen, Examen, Jobangebote, Aufbaustudiengänge und Doktorandenplätze, und auch ich sollte mich eher um diese Dinge kümmern. Aber irgendwie fehlt mir nach fünf Jahren Jurastudium die Motivation. Darüber hinaus fühle ich mich von der Vielzahl der Möglichkeiten auch ein bisschen erschlagen. Schon nach dem Abitur standen mir schier unermesslich breit gestreute Möglichkeiten offen, jedoch hat mein Leben im Verlauf des Studiums dann einen klar geregelten Ablauf erhalten: Jeden Tag in Hamburg-Wandsbek in die U-Bahn steigen, in der Uni bis spät abends in der Bibliothek oder in Seminarräumen sitzen, die Semesterferien mit Praktika und Nebenjobs verbringen, ein paar Wochen Urlaub im Jahr und am Wochenende nette Abende mit Freunden oder kleine Segeltrips auf der Schlei. Selbst die Kneipenabende mit Freunden sind irgendwie Routine. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich führe ein tolles Leben! Ich darf in einer wunderbaren Stadt wohnen, an einer renommierten Uni studieren, habe interessante Jobs und gute Karriereaussichten, Freunde und Familie und mit dem Segeln ein Vollzeithobby. Mich stört nur der Alltagscharakter meines Lebens, ohne Abenteuer, ohne richtige Spannung. Ist das ein Problem meiner Generation? Wohl eher nicht, denn schon Carruthers, ein aufstrebender Londoner Büroangestellter, Segler und der Held aus Das Rätsel der Sandbank, meinem Lieblingsjugendbuch, wünschte sich vor 100 Jahren am Anfang des Buchs nichts sehnlicher, als dem Londoner Alltag zu entkommen. Warum mach ich das dann nicht einfach auch?

Nach dem Abitur, das ich mit 18 gemacht habe, dachte ich noch: »Jetzt entdecke ich mal die Welt!« Tatsächlich ging es dann aber mit nur wenigen Wochen Pause gleich in die Großstadt zum Jurastudium, das ich bisher ohne große Pausen konsequent durchgezogen habe. Damit habe ich einen Lebenslauf, wie ihn sich Personaler heutzutage angeblich wünschen. Und es hat mir ja auch irgendwie Spaß gemacht, immer vorn mit dabei zu sein. Mein Plan für die nächsten fünf bis zehn Jahre schien klar: Uni abschließen, Geld verdienen, möglichst rasch und erfolgreich Karriere in einer großen, internationalen Anwaltskanzlei machen – das Übliche eben. Nicht weil ich dazu gezwungen worden wäre, aber irgendwie ist der Wunsch danach doch gesellschaftlicher Standard und »en vogue«. Nur das Weltentdecken blieb dabei irgendwo auf der Strecke. Ein modernes Studium gibt einem – Bologna sei Dank – leider nicht mehr allzu viele Möglichkeiten, seine eigenen Ideen mit einzubringen. Und nun rücken das Berufsleben und die angedachte Karriere mit großen Schritten immer näher und damit sicherlich noch mehr Alltag. Wann also soll ich noch die Welt entdecken?

Solche Gedanken sind sicherlich vielen Mittzwanzigern nicht fremd, aber wie viele andere habe ich meine Zukunftsbedenken oft einfach beiseitegeschoben. Das sollte sich nun durch ein Segelboot ändern, und zwar eines, mit dem man buchstäblich nicht mehr vorn dabei sein kann. Schon seit mehreren Jahren habe ich die NONSUCH, eine Sirius 26. Sie ist für mich mindestens der schönste Kleinkreuzer der Welt, leider vermutlich aber auch der langsamste. Aber so kann ich bis zum Ziel wenigstens länger segeln.

Es ist vielleicht ungewöhnlich für mein Alter, aber dieses Boot ist mein wichtigstes Hobby. Ich komme von der Küste, segle seit Kindesbeinen, und irgendwann musste einfach ein eigenes Schiff her. Wo andere in meinem Alter vielleicht für ein Auto gespart haben, sollte es bei mir ein eigenes Boot sein. Die Sommerwochenenden verbrachte ich immer lieber auf dem Wasser als in den Hamburger Kneipen, und auch im Winter habe ich viele Stunden Pinsel und Schleifklotz in der Hand gehabt. Oder ich saß am Schreibtisch, um das Ganze auch bezahlen zu können. Für mich gibt es kein schöneres Hobby. Das Entdecken verschlafener Dörfer und Buchten, das Grillen beim Ankern mit Kumpels am Strand, die sportliche Komponente und die vielen anderen einzigartigen Momente, die einem das Segeln schenkt, lassen jede durchzechte lustige Studentennacht dagegen verblassen. Auch wenn diese in so manchem Hafen zum »jugendlichen« Fahrtensegeln dazugehören. Und wann immer ich Freunde zum Segeln eingeladen habe, habe ich begeisterte Neusegler gewonnen. Nachwuchs für das Fahrtensegeln? Das war an Bord der NONSUCH noch nie ein Problem.

Image

Ein ganz normaler Winterlagernachmittag. Aber eben nur fast …

Und nun sollte dieses kleine, dicke Schiff nicht nur die mitlaufenden Segler auf der Schlei, sondern letztlich auch meinen Alltag und meinen geradlinigen Lebenslauf ausbremsen.

Das letzte Wochenende war wieder nett, aber doch dermaßen normal und gewöhnlich. Ein feuchtfröhlicher Samstagabend, ein durchgearbeiteter Sonntag in der Unibibliothek. Am Samstagvormittag habe ich jedoch die NONSUCH im Winterlager besucht. Das ist mit den zahlreichen aufgebockten Booten eigentlich ein trister Ort, aber mich hat dort wieder diese Abenteuerlust gepackt. Ich lasse die vergangene Saison Revue passieren, schraube ein wenig am Boot und »fachsimple« nebenbei mit meinem Hallennachbar Stefan herum, was aber eigentlich nur der Arbeitsvermeidung dient. Ein ganz normaler Winterlagernachmittag also, an dem im Grunde genommen nicht viel passiert ist. Nur ist das Gefühl, dass ich mich gerade an keinem Ort der Welt so wohl fühle wie an Bord, noch ausgeprägter als sonst.

Am Montag geht es dann wieder an die Arbeit, wo ich in einer Fachzeitschrift etwas über den gut ausgebildeten Nachwuchs lese, für den alles möglich ist. Und ich komme ins Grübeln, folge nicht den Gedanken des Artikels, sondern biege ab. Wenn für mich wirklich alles möglich ist, zählt dann nicht auch das Segeln dazu? Die Idee einer größeren Reise habe ich ja schon lange. Aber das passt im Moment eigentlich so gar nicht. Auf der anderen Seite habe ich das Geld für eine solche Reise schon seit einer Weile zusammengespart. Und am Boot wären auch nur einige kleine Anpassungen nötig …

Den Rest des Vormittags verbringe ich gedanklich schon irgendwo zwischen Skagen und Russland, und beim Mittagessen stelle ich die Idee einigen Freunden schon etwas provozierend als festen Plan vor: »Bevor es hier weitergeht, gehe ich ein halbes Jahr segeln. Ich möchte etwas erleben, meine Gedanken ordnen, das Leben noch einmal in vollen Zügen genießen.« Ihre Reaktion überrascht mich, denn anders als erwartet bekomme ich kaum Gegenwind, eher die Daumen hoch für den Mut, das so zu machen. Offenbar bin ich mit meiner Sehnsucht nicht allein.

Natürlich habe ich am Anfang einige Zweifel, ob dieser Weg wirklich der richtige ist oder eher nur ein bequemer Ausweg. Aber egal. Ein Mal ausbrechen. Einen Traum nicht bis zu Rente verschieben, sondern jetzt leben.

»Bevor es hier weitergeht, gehe ich ein halbes Jahr segeln. Ich möchte etwas erleben, meine Gedanken ordnen, das Leben noch einmal in vollen Zügen genießen.«

Nur wenige Wochen später ist aus der Idee ein Vorhaben geworden. Selbst meine Eltern konnte ich überzeugen, und so beginnt das Jahr 2014 nicht in der Unibibliothek in Hamburg, von der ich mich nach dem Entschluss zum Aussteigen überraschend schnell lösen konnte, sondern im Winterlager in Cuxhaven. Die nächsten Wochen verbringe ich zwischen Lacktöpfen, Seekarten, Revierführern und Ausrüsterkatalogen. Mit dem Paketboten bin ich bald per du, und der Yachthöker im Ort setzt das breiteste Grinsen auf, sobald ich seinen Laden nur betrete.

Image

»Perfekte« Bedingungen zum Start.

Image

Verpflegungsstopp in Rendsburg in voller Montur. Man weiß ja nie …

Image

Alte Schleuse Kiel.

Nur schlafe ich im Moment so schlecht. Ich liege oft bis in die Morgenstunden wach, jedoch nicht voller Sorgen. Vielmehr sind es Träume und Fantasien über ein halbes Jahr an Bord meiner NONSUCH, die mich vom Schlafen abhalten. Noch lässt mich mein bisheriger Alltag also nicht ganz los. Der Gedanke, was sich bis zu meiner Rückkehr wohl alles verändert haben wird, treibt mich um.

Die ganze Vorbereitung ist aber auch etwas seltsam, denn obwohl eine ungewöhnliche Weichenstellung hinter mir liegt und eine große Reise vor mir, laufen die Winterarbeiten und das Aufriggen wie immer ab. Ganz ist der »Alltag« also noch nicht vorbei. Auch die Fehler dabei sind die gleichen dämlichen wie in jedem Jahr. Hat eigentlich schon mal jemand ein Einleinenreff auf Anhieb ohne Fehler eingefädelt? Alles fühlt sich so normal an. Das ändert sich erst, als ich noch am Tag des Einkranens übers Schiff gehe, die im Winter »übersehenen« Stellen prüfe und mir im Kopf sage, dass diese dann im nächsten Winter dran sind. Das ist generell schon ein blöder Gedanke, wenn das Boot noch nicht mal zwei Stunden wieder im Wasser ist, doch dieses Mal ertappte ich mich beim Grinsen. Was bis zum nächsten Winter wohl alles passiert sein wird? Noch kann ich nicht ahnen, wie viel sich bis dahin verändert haben soll.

Vor der Ankunft kommt aber die Abfahrt. Ich will diesen besonderen Sommer voll auskosten, und so soll es bereits am 28. März losgehen.

Die letzten Tage waren wirklich anstrengend, aber nun ist alles fertig. Das Schiff glänzt (noch), alles funktioniert (momentan), die Cuxhavener Supermärkte sind restlos leergekauft, und wenn jetzt noch eine Möwe aufs Boot macht, säuft der Kahn wegen Überladung ab – alles ganz wie bei Carruthers vor 100 Jahren. Irgendwas werde ich wahrscheinlich trotzdem vergessen haben. Üblicherweise fällt mir das Ganze dann spätestens einen halben Tag später im Nord-Ostsee-Kanal ein. Vorzugsweise sind das bei mir übrigens Ladegeräte.

Märztypisch ist es kalt, windig, feucht und grau, als meine Familie mir hinterherwinkt. Dann geht es raus aus der Marina, durch die Klappbrücke und den Vorhafen und auf die Elbe. Nun spüre ich zum ersten Mal Aufregung und so ein seltsames Gefühl von Aufbruch. Leider spielt das Wetter nicht wirklich mit. Es ist unfassbare 4 °C kalt, bewölkt und der Ostwind wirft immer wieder eisiges Elbewasser über das Cockpit. Mir ist das aber gerade völlig egal. Ich will endlich losfahren. Wohl jeder Segler kennt dieses Gefühl, dass man am Anfang des Jahres nach dem Winterlager egal bei welchem Wetter raus will. Gegen Ende der Saison ist man dann satt und wird ruhiger.

Ein guter Freund begleitet mich die ersten Seemeilen über die Elbe und durch den Kanal. Und spätestens in Brunsbüttel, an der Eingangsschleuse, ist alle Aufregung verflogen. Im Gegenteil, alles fühlt sich auf einmal so bekannt und vertraut an. Mein Sommerliegeplatz ist in Kappeln an der Schlei, und so mache ich die Kanaltour mindestens zweimal im Jahr. Die Landschaft, die kindischen Männerwitze und das traditionelle Abendessen in einem schottisch-amerikanischen Burgerrestaurant in Rendsburg in voller Montur, also in Ölzeug und sicherheitshalber mit Rettungsweste, fühlen sich genau wie immer an.

In Kiel begrüßt uns dann die Ostsee zunächst mit dickem Nebel. Das ist eigentlich nicht erwähnenswert, doch noch ahne ich nicht, dass dieser Nebel in den kommenden sechs Monaten zu meinem ständigen Begleiter werden wird. Den Leuchtturm von Schleimünde entdecke ich erst, als wir bereits fast zwischen den Molenköpfen stehen. Da denke ich mir noch, dass ich auf so etwas in der nächsten Zeit gut verzichten könnte.

Image

»Das freie Meer befreit den Geist.« J.W. Goethe

In Kappeln verbringe ich noch einige Tage mit letzten Reparaturen an Bord. Es hat nicht mal bis Brunsbüttel gedauert, bis die ersten Teile kaputt gegangen sind. Doch das erste Mal komme ich auch zur Ruhe, freue mich über die Tage an Bord und beginne, das Arbeitsleben auch gefühlsmäßig hinter mir zu lassen. Als Wetter und Boot dann endlich mitspielen, geht es nach einigen Tagen, mittlerweile allein, weiter. Schon nachmittags mache ich mich auf den Weg nach Schleimünde. Von hier möchte ich spätabends zu einer Nachtfahrt nach Wismar aufbrechen. Denn ich habe mir überlegt, möglichst schnell aus meinem angestammten Revier zu verschwinden, um die Zeit gut zu nutzen. Was wäre da wohl besser geeignet als der südlichste Punkt der Ostsee, um gleich ein wenig in Stimmung zu kommen.

In Schleimünde verbringe ich einen wunderschönen Abend, bevor es um Mitternacht losgeht. Ich bin aufgeregt, denn das wird die erste Nachtfahrt seit Ewigkeiten sein. Die NONSUCH und ich verstehen uns aber schnell wieder prächtig. Wir gleiten durch die Dunkelheit, der Wind weht schwach, aber wenigstens raumschots, und der Himmel ist sternenklar. Viel besser kann man doch eigentlich gar nicht starten. Das AIS scheint auch zu funktionieren. Ich habe vor der Reise in ein sendendes Modell investiert. So haben mich jetzt alle größeren Schiffe in der Nähe ständig mit Kurs und Geschwindigkeit auf dem Schirm. Die Tatsache, dass mir in dieser Nacht selbst in der sonst so geschäftigen Kieler Bucht alle Frachter ausweichen, scheint mich in dieser Entscheidung zu bestätigen. Irgendwo muss ich ihre Bahn ja durchqueren, und wenn man sichtbar ist, kommt auch jeder seiner Ausweichpflicht nach. Selbst ein U-Boot fährt schön einen Schlenker um mich herum.

Image

Nebel mit wenigen Schiffslängen Sichtweite sollte in den nächsten Monaten zu meinem ständigen Begleiter werden. Unangenehm, denn irgendwann hört und sieht man ständig andere Schiffe, die aber gar nicht da sind. Eine Herausforderung für den Geist.

Image

Den Hafen von Schleimünde habe ich komplett für mich allein. In der Hochsaison undenkbar.

Als schließlich die Sonne aufgeht, bin ich kurz vorm Fehmarnsund. Die erste Nacht liegt hinter, die Lübecker Bucht vor mir. Ich bin zwar noch nicht weit gekommen, aber trotzdem fühlt es sich gut an, aufgebrochen zu sein. Während der Wind dann einschläft und ich motoren muss, begleiten mich die ersten Schweinswale. Die Sonne vertreibt die Kälte der Nacht, die Stereoanlage brüllt, könnte es mir besser gehen?

Nach 18 Stunden mache ich schließlich in Wismar fest. Damit habe ich den südlichsten Punkt der Ostsee auf 53°53,6′N erreicht. Nicht mal Świnoujscie liegt südlicher. Als erster Gast des Jahres liege ich sogar umsonst. Die Stadt ist eigentlich auch wirklich ganz nett, doch habe ich eine gewisse Unruhe in mir. Woran das liegt, wird mir erst am nächsten Morgen im Supermarkt klar: Ich habe mir für diese Reise keine Ziele gesetzt, sondern möchte nur ein halbes Jahr segeln. Meinetwegen auch 20-mal rund Rügen. Nun stört es mich aber, dass ich noch in Deutschland bin. Das fällt mir beim Einkaufen auf, denn das freundliche »Hej« einer dänischen Kassiererin fühlt sich einfach deutlich mehr nach Urlaub an als das »Hier nicht mehr anstellen, ich hab Middach« im Rewe in Wismar. Also schnell weiter.

Ich muss dann zwar in Kauf nehmen, dass die nächsten Seemeilen nur motorend zu schaffen sind, aber Reisende soll man bekanntlich ja nicht aufhalten – und sich selbst schon gar nicht. Oder steckt hinter der Jagd nach Seemeilen vielleicht doch noch ein wenig der Leistungsgedanke aus Uni und Job? Ich versuche, mich davon ein wenig frei zu machen und meine Zeit auf See einfach zu genießen.

Bei Sonne, Flaute und Motorfahrt vergeht der Tag ohnehin rasend schnell. Obwohl ich ein ganzes Schapp voller Bücher dabeihabe (darunter übrigens kein einziges Jurabuch), schaffe ich bis Kühlungsborn nur die neue Ausgabe der Yacht. »Verdammt, ich muss wohl mehr Zeit auf See verbringen«, geht mir durch den Kopf, als ich zielsicher das Hafenrestaurant ansteuere.

Denn der Aufbruch will schließlich gefeiert werden. Während ich dann da so sitze und aufs Meer schaue, frage ich mich, warum ich eigentlich in Kühlungsborn eingelaufen bin. Drei Bissen später steht der Entschluss fest, nach dem Essen einfach weiterzufahren. Ich will nach Bornholm.

Mein Liegeplatznachbar guckt etwas merkwürdig, als ich nach nicht mal zwei Stunden im Hafen abends wieder auslaufe – schließlich ist erst Anfang April –, aber der Sonnenuntergang gleich nach der Hafenausfahrt vertreibt die letzten Zweifel. Es ist noch immer windstill, aber so kann ich mich wenigstens auf eine ruhige Nacht einstellen. Endlich komme ich zum Lesen und verschlinge bis zum Sonnenaufgang im Licht meiner Stirnlampe ein ganzes Buch.

Als sich der Morgennebel verzieht, bin ich bereits nördlich von Rügen. Die Sonne scheint, es weht mittlerweile ein leichter Wind und rings um mich ist nur Wasser. Kein Land, kein anderes Schiff, nicht mal eine Wolke ist zu sehen. Nur die NONSUCH und ich. Was für ein immer wieder magischer Moment, in dem der ganze Horizont nur mir gehört! Den will ich feiern, und zwar mit einem Kaiserfrühstück inklusive Rührei und einer dröhnenden Stereoanlage. Das mag für manchen Puristen ein Graus sein, aber für mich gehört die richtige Musik zum Segeln einfach dazu. Möglichweise ist das eine Altersfrage, mich jedenfalls hat Musik diesen ganzen Sommer hindurch begleitet. Noch heute denke ich bei bestimmten Liedern an gewisse Momente meiner Reise. Und in Momenten wie diesem kann die Musik gar nicht laut genug sein, vor allem wenn der Titel auch noch »Can’t get better than this« heißt.

Musik an Bord

Oft genießt man beim Segeln nur die Stille oder das plätschernde Wasser. Genauso gehört für mich aber manchmal auch die passende Musik dazu. Diese kann den Aufenthalt in der schönsten Ankerbucht untermalen oder in schwierigen Situationen neuen Mut geben. Ich bin mir sogar sicher, dass die richtige Musik an einem perfekten Segeltag das Boot gefühlt noch schneller machen kann. Gerade beim Segeln passt situationsabhängig immer andere Musik, genauso wie Geschmäcker auch verschieden sind.

Hier folgt nun eine kleine Playlist, die bei mir an schönen, ruhigen Sommertagen auf See läuft. Stellt euch einfach vor, ihr segelt mit gemütlichen drei bis vier Beaufort über die offene See, das Boot macht gute fünf Knoten, die Sonne scheint, kaum Welle und die Getränke sind kalt. Das könnte dazu laufen:

1. Can’t Get Better Than This

Parachute Youth

2. Something happened on the Way to Heaven

Phil Collins

3. Set me free (Empty Rooms)

Jam & Spoon feat. Rea Garvey

4. Save Tonight

Eagle-Eye Cherry

5. Summerbreeze

Baiser

6. Pumpin Blood

NoNoNo

7. Something Good Can Work

Two Door Cinema Club

8. Voyage Voyage

Robert Miles & Patricia Kaas

9. Moving On Up

M People

10. Rather Be

Clean Bandit feat. Jess Glynne

Alternativ geht auch einfach das gesamte »Postcard from Skagen«-Album!

Image

»Jetzt wird’s psychologisch, meine Herren.« Kein Spruch passt bei Nebel besser.

Doch irgendwer im Himmel scheint mein Dauergrinsen nicht zu mögen, denn am Nachmittag zieht innerhalb von Sekunden Nebel auf, und zwar einer mit nur etwa 50 Meter Sicht. Mit einem Mal ist meine gute Laune verflogen. Bis Bornholm sind es noch 25 Seemeilen, und mit Ausnahme des kurzen Stopps in Kühlungsborn bin ich seit 24 Stunden unterwegs. Und nun das! Zusätzlich zum Nebel wird es wieder unvorstellbar kalt und feucht. Natürlich könnte man jetzt verwundert fragen, ob so ein bisschen Nebel schon ausreicht, mir die Laune zu verderben. Aber wenn man 31 Seemeilen vom nächsten Land entfernt ist, aufkommender Starkwind angesagt wurde und man bereits 24 Stunden wach ist, dann reicht das definitiv. Dazu kommt, dass Bornholms zahlreiche Fischer nun mal gern auf dem Meer unterwegs sind und sicherlich nicht alle AIS haben. Der Gedanke, dass jede Sekunde einer von denen nur wenige Meter vor mir auftauchen kann, sodass sich eine Kollision praktisch nicht mehr vermeiden lässt, zerrt gewaltig an meinen Nerven. Und doch ist die Anspannung eher psychologischer denn tatsächlicher Natur, da die reale Chance, selbst knapp unter der Küste über den Haufen gefahren zu werden, eher gering ist. Trotzdem bin ich mit der Zeit mehr als nur unruhig. Ich denke schon daran, in Bornholm einfach ein »Zu verkaufen«-Schild an die NONSUCH zu nageln und die nächste Fähre nach Haus zu nehmen.

Am Anfang ist der Nebel gar nicht mal so schlimm, aber mit der Zeit werde ich fast verrückt. Immer öfter höre ich Geräusche oder meine, im Dunst einen Umriss auftauchen zu sehen. Wie sagte schon der Kommandant in Das Boot? »Jetzt wird’s psychologisch, meine Herren.« Kein Spruch passt bei Nebel besser. Meine Gedanken schweifen Richtung Uni ab, und ich frage mich, wie oft man sich wohl mehr Stress als nötig macht. Wie oft hat mich schon allein der Gedanke an eine mögliche schlechte Leistung oder einen Fehler halb in den Wahnsinn getrieben. Zu Hause kann ich dann wenigstens fliehen und mich in Freizeitaktivitäten stürzen. Hier aber kann ich nicht weg. Ich muss mich irgendwie durch diese Finsternis kämpfen. Eine andere Möglichkeit gibt es hier draußen auf See einfach nicht. Ich nehme mir vor, diese Gedanken nicht zu vergessen, sondern mit nach Hause zu nehmen. Und tatsächlich, als ich fast ein Jahr später frustriert an einer schwierigen Recherche sitze, hilft mir diese Erinnerung, etwas Licht ins Dunkel zu bringen und den Biss nicht zu verlieren. Aufgeben kommt nicht infrage. Der Nebel hält dann tatsächlich bis zur »Sonneninsel« Bornholm, wie der Touristikslogan so schön lautet. Pustekuchen, ich bin froh, dass ich die Mole von Rønne aus nunmehr 200 Meter Entfernung überhaupt erkennen kann. 30 Stunden auf See plus zwei Stunden Pause in Kühlungsborn, sieben Stunden Anspannung und Ausguck im Nebel. Ich bin fix und fertig. Für ein Stegbier reicht es gerade noch, das Abendessen fällt allerdings aus. Todmüde sinke ich in die Koje.

Image

Einige Nachtfahrten ermöglichen mir, gerade zu Beginn meiner Reise große Distanzen hinter mich zu bringen.

Image

Die Festungsinsel Christiansø. Das erste kleine Paradies ist erreicht.

Über Nacht ist der angesagte Starkwind tatsächlich aufgezogen. Bei mir schaut die Welt nach einem großen Frühstück aber schon wieder anders aus, und ich verkneife es mir, das »Zu verkaufen«-Schild am Bugkorb aufzuhängen. Den Tag über lecke ich meine Wunden und erkunde Bornholm, das zu dieser Jahreszeit noch menschenleer ist. Im Hafen bin ich der Einzige, selbst der Bezahlautomat ist noch außer Betrieb. Obwohl Bornholm für deutsche Segler ein Traumziel ist, kommt bei mir noch immer keine richtige Begeisterung auf. Vielleicht ist Dänemark einfach noch nicht weit genug weg?

Auch im Hauptort der Insel, Rønne, ist nicht wirklich viel los, und so nutze ich die Ruhe, um mir nach dem Starkwind die Erbseninseln östlich von Bornholm mal genauer anzusehen. Die müssten am Anfang der Saison doch wesentlich schöner sein als in der Hauptsaison. Und tatsächlich, Christiansø soll zu einem ersten kleinen Paradies für mich werden. Sie ist die größte der sogenannten Ertholmene, der Erbseninseln, einer kleinen Felsengruppe mitten in der Ostsee. Christiansø wurde im 17. Jahrhundert zu einer Festungsinsel ausgebaut, und sämtliche Mauern, Batterien und Gebäude sind bis heute erhalten. Die ganze Insel steht unter Denkmalschutz, sodass man sich hier wie vor einigen Hundert Jahren fühlt. Obwohl der militärische Wert der Insel heute gegen null tendiert, untersteht sie nach wie vor dem dänischen Verteidigungsministerium, und alle arbeitenden Bewohner, ob Handwerker, Fischer, Postbote oder Gastwirt, stehen im Dienst der Königin.