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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Pantheon-Ausgabe
Vorwort zur deutschen Ausgabe
EINLEITUNG - Zu einem neuen Verständnis zentraler Aspekte des Holocaust
TEIL I - Antisemitismus in Deutschland: Der Drang zur Ausschaltung
KAPITEL 1 - Eine neue Sichtweise des Antisemitismus: Ein Rahmen für die Analyse
Schlußfolgerung
KAPITEL 2 - Die Entwicklung des eliminatorischen Antisemitismus im modernen Deutschland
KAPITEL 3 - Der eliminatorische Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit
TEIL II - Das eliminatorische Programm und seine Institutionen
KAPITEL 4 - Wesen und Entwicklung des nationalsozialistischen Angriffs auf die Juden
KAPITEL 5 - Die Maschinerie der Vernichtung: Agenten und Mechanismen
TEIL III - Polizeibataillone: Deutsche Normalbürger als willige Mörder
KAPITEL 6 - Polizeibataillone: Handlanger des Völkermords
KAPITEL 7 - Polizeibataillon 101: Die Taten der Männer
KAPITEL 8 - Polizeibataillon 101: Die Motive der Täter
KAPITEL 9 - Polizeibataillone: Leben, Morde, Motive
TEIL IV - Jüdische »Arbeit« bedeutet Vernichtung
KAPITEL 10 - Ursprünge und Muster jüdischer »Arbeit« während der NS-Zeit
KAPITEL 11 - Das Leben in den »Arbeits«lagern
KAPITEL 12 - Arbeit und Tod
TEIL V - Todesmärsche: Bis zum bitteren Ende
KAPITEL 13 - Der tödliche Weg
KAPITEL 14 - Marschieren – wohin und wozu?
TEIL VI - Eliminatorischer Antisemitismus, gewöhnliche Deutsche, willige Vollstrecker
KAPITEL 15 - Das Handeln der Täter: Die konkurrierenden Erklärungsansätze
KAPITEL 16 - Der eliminatorische Antisemitismus: Das Motiv für den Völkermord
EPILOG - Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland
ANHANG 1 - Bemerkung zur Methode
ANHANG 2 - Schema der in Deutschland vorherrschenden Auffassungen von Juden, Geisteskranken und Slawen
Dank
Pseudonyme
Abkürzungen
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Anhang 1
Bibliographie
Archive
Unveröffentlichte Manuskripte, Habilitationsschriften, Dissertationen
Nachschlagewerke
Gedruckte Quellen
Monographien und Sammelbände
Artikel
Register
Abbildungsverzeichnis
Copyright

Dank

Den Großteil meines Quellenstudiums habe ich bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg betrieben. Über ein Jahr war ich dort, und die Staatsanwälte wie die anderen ständigen Mitarbeiter haben während dieser Zeit alles in ihren Kräften Stehende getan, um mir die Arbeit zu erleichtern und mir das Gefühl zu geben, ein willkommener Gast zu sein. Dafür, daß ich meine Arbeit in einem fremden Land zu einem so heiklen Thema in einer Atmosphäre der Gastfreundschaft erledigen durfte, möchte ich ihnen danken. Insbesondere gilt mein Dank Alfred Streim, der als Leiter der Zentralen Stelle den Geist prägt, aus dem eine so kooperative Atmosphäre hervorgeht, sowie Willi Dreßen, der mir mit seinem Wissen großzügig half. Viele Mitarbeiter, vor allem Herta Doms, Herr Fritschle und Ute Böhler halfen mir geduldig und engagiert beim Aufspüren der Quellen und gewährten mir eben jene Unterstützung, die man für derartige Forschungen braucht. Bettina Birn und Volker Rieß, die an eigenen Projekten arbeiteten, halfen mir während meiner Anwesenheit mit ihren freundschaftlichen und wertvollen Ratschlägen.

Auch Eberhard Jäckel möchte ich für seine Unterstützung während der Zeit danken, die ich in Stuttgart verbrachte. Helge Grabitz von der Staatsanwaltschaft Hamburg, Oberstaatsanwalt Hofmann von der Staatsanwaltschaft Hof, Hermann Weiß vom Institut für Zeitgeschichte in München, Genya Markon und Sharon Muller vom Photoarchiv des United States Holocaust Memorial Museum haben mir mit großer Freundlichkeit geholfen, wofür ich ihnen danken möchte.

Meine Forschungsarbeit wurde durch Stipendien des Fulbright-Programms, der Krupp-Stiftung und des Minda de Gunzburg Center for European Studies an der Harvard University und deren Program for the Study of Germany and Europe unterstützt. Die Whiting Foundation, die Littauer Foundation und das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles leisteten ebenfalls finanzielle Hilfe. All diesen Institutionen schulde ich Dank.

Ich danke besonders den Menschen, die gemeinsam das Center for European Studies bilden; eine angenehmere geistige Heimat wird man kaum finden. Viele seiner Mitglieder verdienen meinen Dank für die Freundschaft und Hilfe, die sie mir gewährt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Stanley Hoffmann, Guido Goldman und Abby Collins, die mir das Gefühl gegeben haben, am Center willkommen zu sein.

Stanley Hoffmann, Peter Hall und Sidney Verba haben die Dissertation betreut, aus der Hitlers willige Vollstrecker hervorgegangen ist, und mit ihrer Ermutigung zu dieser Arbeit beigetragen. Sie gewährten mir Führung und Spielraum in der für mich genau richtigen Mischung. Ihre menschliche Wärme und Freundlichkeit sowie ihre geistige Kraft ließen sie für mich, den Jüngeren, zum Vorbild werden. Besonderen Dank verdienen Richard Breitman, Saul Friedländer, Mustafa Emirbayer und Paul Pierson für ihre hilfreichen Kommentare zum Manuskript; dieser Dank gilt auch Norma Goldhagen, meiner Mutter. Doch welche Hilfe, Unterstützung und Kritik ich auch immer bekommen habe, die Verantwortung für den Inhalt des Buches liegt allein bei mir.

Ich danke ebenfalls allen Mitarbeitern des Verlags Alfred A. Knopf, meinem amerikanischen Verlag, insbesondere Stephanie Koven, Barbara de Wilde, Max Franke, Amy Robbins, Mark Stein und Brooke Zimmer, die bei der Fertigstellung des Buchs halfen; ich habe gern mit ihnen zusammengearbeitet. Besonders dankbar bin ich Carol Janeway, die mit Einfallsreichtum, Engagement und guter Laune alles getan hat, was ein Autor sich von seiner Lektorin erhoffen kann, und ich danke Simon Schama, der die Verbindung hergestellt hat. Seit dem Erscheinen der englischen Ausgabe sind meine Bewunderung für Carol und meine Achtung vor ihr noch gewachsen. Sie ist eine brillante Verlegerin, deren außergewöhnliche Fähigkeiten und eiserner Wille sich mit einer seltenen Menschlichkeit und Warmherzigkeit verbinden. Ich werde ihr ein Leben lang dankbar sein.

Carol sei auch dafür gedankt, daß sie weltweit erstklassige Verlage für die Veröffentlichung des Buches gewinnen konnte, vor allem den Siedler-Verlag in Deutschland. Ich habe gern mit den Mitarbeitern dort zusammengearbeitet. Besonders möchte ich Klaus Kochmann für die Übersetzung danken, ebenso Klaus Binder, Jens Hacke, Brigitte Kochmann, Bernd Leineweber, Jürgen Scheunemann und Lisa Straßberger für ihre Beiträge zur Fertigstellung der deutschen Ausgabe. Andrea Böltken hat die Übersetzung durchgesehen und das Projekt betreut. Sie hat mit ihrer beispielhaften, unermüdlichen Arbeit, ihrem sicheren Urteil und ihrem feinen Sprachgefühl dafür gesorgt, daß die deutsche Ausgabe den englischen Text wortgetreu wiedergibt. Vor allem aber möchte ich meiner Dankbarkeit und Wertschätzung für Frank Trümper Ausdruck verleihen, dem Cheflektor des Siedler-Verlages. Seiner Integrität und seinem intellektuellen und moralischen Engagement für das Buch während all der Monate ist es zu verdanken, daß die Vorbereitung der deutschen Ausgabe so reibungslos vonstatten ging. Für seine Klarsicht, seine Aufrichtigkeit und das Vertrauen, das er weckt, werde ich ihm immer dankbar sein.

Den größten Dank aber verdient mein Vater Erich Goldhagen, ein Mann von bemerkenswerter Intelligenz und Menschlichkeit. Die ständigen bereichernden Gespräche mit ihm, seine scharfsinnigen Einsichten, die er oft in Form lockerer Bemerkungen äußerte, der Maßstab, den er setzte, und sein Vorbild an intellektueller Nüchternheit und Redlichkeit haben mir geholfen, meine Möglichkeiten so gut ich konnte auszuschöpfen. Mein Verständnis vom Nationalsozialismus und vom Holocaust ist von ihm beeinflußt, und sein einzigartiges Wissen und seine Kenntnisse über die Menschen und die Ereignisse dieser schwer begreiflichen Epoche haben mir den Zugang zu dieser Epoche erleichtert. Während meiner Forschungen und während des Schreibens war er mir stets ein Gesprächspartner. Aus diesen und aus anderen Gründen möchte ich ihm dieses Buch widmen.

ANHANG 1

Bemerkung zur Methode

So wie es notwendig war, den allgemeinen theoretischen Rahmen dieser Untersuchungen darzulegen, so müssen auch einige methodische Überlegungen erläutert werden, die mich bei dieser Studie geleitet haben.

Weil das, was wir über die Täter wissen, so begrenzt ist, weil wir andererseits bei dem umfangreichen Untersuchungsgegenstand des Holocaust nur selektiv vorgehen können, behandelt dieses Buch nur einige der Mordinstitutionen. Es bietet keine umfassende Darstellung des Holocaust. Die näher betrachteten Fälle wurden nicht aus darstellungstechnischen Erwägungen oder wegen ihrer Beispielhaftigkeit ausgewählt, sondern weil sie geeignet schienen, bestimmte Antworten zu liefern und Hypothesen zu überprüfen. Die Absicht dieses Buches ist es, in erster Linie eine Erklärung und Theorie des Holocaust zu liefern. Beschreibung und Erzählung wurden diesem Zweck untergeordnet. Beide dienen nur dazu, die Taten und ihre Schauplätze zu charakterisieren.

Die Hypothese, von der ich bei Beginn der empirischen Forschungen annahm, daß sie sich am ehesten bestätigen ließe, lautete: Es waren die Vorstellungen und Bilder von den Juden, die die Täter zu ihren Taten, zur Mitwirkung an der mörderischen Verfolgung der Juden motiviert haben; weil es diese Bilder und Vorstellungen gab, mußten die verschiedenen deutschen Institutionen sich den bereits vorhandenen Antisemitismus nur nutzbar machen, sobald Hitler den Befehl zur Vernichtung erteilte. Darum entschloß ich mich, Institutionen und spezifische Fälle zu untersuchen, bei denen sich Einfluß und Triebkraft des Antisemitismus besonders gut herausarbeiten lassen. Wäre die Ausgangshypothese falsch gewesen, hätten die ausgewählten Fallbeispiele sie klar widerlegen müssen. Außerdem sind die drei Mordinstitutionen, für die ich mich entschieden habe – die Polizeibataillone, die »Arbeits«lager und die Todesmärsche –, von der Forschung bislang vernachlässigt worden.

Und noch ein Gesichtspunkt bestimmte die Auswahl der Fälle und Stichproben. Das vorliegende Buch ist beides: eine Studie über die Täter des Holocaust – als Personen und als Gruppe – und über das nationalsozialistische Deutschland, über die ganz gewöhnlichen Deutschen damals und ihre herrschende politische Kultur. Die Untersuchung der genannten Institutionen soll einen doppelten analytischen Zweck erfüllen: Einerseits geht es darum, die Motivationen der Täter in diesen Institutionen herauszuarbeiten, andererseits wollte ich, von diesen Tätern ausgehend, Aufschluß sowohl über die Gruppe der Täter als auch über die Deutschen insgesamt gewinnen. Die methodischen Überlegungen gelten also für die Täter und die Deutschen gleichermaßen.

Meine Untersuchung unterwirft die konkurrierenden Hypothesen der vorliegenden Literatur einer empirischen Überprüfung, gestützt auf eine Vielzahl von Fällen und unter gelegentlicher Berücksichtigung vergleichenden Materials über nichtdeutsche Akteure und andere Völkermorde. Der Ausgangspunkt sind meine eigenen Forschungen über zahlreiche verschiedene Einheiten und Institutionen, die am Holocaustbeteiligt waren: mehr als 35 Polizeibataillone, die an Mordeinsätzen mitgewirkt haben; alle achtzehn Einsatzgruppen, die die Erschießungskommandos für die Ausrottung der sowjetischen Juden stellten; verschiedene Ghettos und Konzentrationslager; Auschwitz und andere Vernichtungslager; schließlich ein Dutzend Todesmärsche, die in den letzten Kriegstagen stattfanden.1 Selbst wenn die empirischen Kapitel sich nur mit einigen der Polizeibataillone, »Arbeits«-lager und Todesmärsche beschäftigen, greife ich in meinen Schlußfolgerungen auf einen breiteren Kenntnisstand zurück. Die Kapitel des Teils IV, die Schlußfolgerungen aus den Fallstudien, beziehen sich auf weitere Quellen. Allerdings habe ich darauf geachtet, mich nicht zu sehr in andere Fälle zu vertiefen, um der Versuchung zu widerstehen, aus einer schließlich beliebigen Vielzahl von Fällen besonders geeignetes Material herauszusuchen. Um die Täter in vergleichender Perspektive betrachten zu können, habe ich Männer (und Frauen) untersucht, die in verschiedenen Institutionen unterschiedliche Aufgaben erfüllten. Hätte ich mich auf eine Institution beschränkt, wäre dies nicht möglich gewesen.2

Die Einheiten, mit denen ich mich am intensivsten beschäftigt habe, weisen einige gemeinsame Charakteristika auf. Ich konnte zeigen, und das erscheint mir das Wesentlichste, daß ihre Angehörigen von der Möglichkeit wußten, sich von den Morden freistellen zu lassen. Solange man den Zwang zu töten nicht ausschließen konnte, konnte man auch die Wirksamkeit anderer Motive schwer beurteilen. Bewußt habe ich mich auf Einheiten konzentriert, die wiederholt an Mordeinsätzen teilnahmen, deren Angehörige direkt mit den Opfern konfrontiert waren und die über eine längere Zeit hinweg an jenen unvorstellbar grausigen Szenen teilhatten, bei denen Blut spritzte und Knochen und Hirnmasse umherflogen. Die Taten dieser professionellen Mörder stellen größere Anforderungen an Erklärungsversuche als die Handlungen jener, die nur gelegentlich bei solchen Aktionen mitmachten. Unter den Einheiten, die diese Kriterien erfüllten, suchte ich mir vor allem jene heraus, die sich aus Männern zusammensetzten, von denen man aufgrund ihrer Herkunft am wenigsten erwartet hätte, daß sie zu bereitwilligen Vollstreckern würden. Darum die Konzentration auf die Polizeibataillone, deren Angehörige meist »gewöhnliche Deutsche« waren. Denn die Handlungen dieser Menschen sind sehr viel schwerer zu erklären als die von entschlossenen Gefolgsleuten Hitlers. Die Tatbereitschaft der gewöhnlichen Deutschen stellt den Erklärungsansatz auf die härteste Probe: Wenn er deren Taten begreiflich machen kann, dann gilt er wohl auch für die Handlungen der begeisterten Hitler-Anhänger.

Einige Polizeibataillone erfüllen die genannten Kriterien. Abgesehen von zwei in jüngster Zeit veröffentlichten Büchern3 sind überraschenderweise ausgerechnet diese Einheiten in Untersuchungen zum Völkermord der Nationalsozialisten kaum beachtet worden. Als ich mit meinen Forschungen begann – und das war vor dem Erscheinen jener neueren Veröffentlichungen –, war auch mir die Reichweite ihrer Handlungen und daher ihre Bedeutung für das Verständnis der deutschen Gesellschaft und Politik in der NS-Zeit nicht bewußt. Viele Polizeibataillone setzten sich aus Männern zusammen, die eher zufällig in diese Einheiten eingezogen worden waren; die weder eine besondere weltanschauliche Schulung durchlaufen hatten noch besonders militärisch geprägt waren; die oft schon älter waren – Mitte Dreißig – und Familie hatten und sich insofern von den leicht zu beeinflussenden Achtzehnjährigen, die vom Militär eigentlich bevorzugt wurden, unterschieden. Hinzu kommt, daß diese Einheiten nicht aufgrund eines Plans, sondern eher zufällig zu den Mordeinsätzen stießen. Wenn das Regime so verfuhr, ist man wohl davon ausgegangen, daß sich jeder Deutsche zum Massenmörder eigne. (Darüber wird in Teil II genauer berichtet.)

Auch die Untersuchung der »Arbeits«lager sollte die Arbeitshypothese auf die härteste Probe stellen. Hier ging es um Institutionen, deren Verfahrensweisen und Organisationsformen eigentlich von Gesichtspunkten ökonomischer Rationalität hätten bestimmt sein müssen und nicht von ideologischen Einflüssen – in diesem Fall dem Antisemitismus. Wenn sich aber herausstellt, daß sich die Funktionsweise der »Arbeits«lager nur unter der Voraussetzung erklären läßt, daß die verantwortlichen Deutschen Antisemiten waren, dann ist dies ein beweiskräftiger Beleg dafür, daß der Antisemitismus den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Täter und ihrer Taten bietet. Hätte sich die Arbeitshypothese bei der Institution des »Arbeits«-lagers nicht bestätigt, hätte ich sie aufgeben, modifizieren oder durch andere ergänzen müssen. Die Lager, die ich am genauesten untersucht habe, befanden sich in der Gegend um Lublin und wurden in einer relativ späten Periode des Holocaust eingerichtet, als die Deutschen Juden in Polen nur deshalb nicht umbrachten, weil man ihre Arbeitskraft ausbeuten konnte. Betrachtet man den Zeitpunkt und die Umstände, müßte man annehmen, daß die »Arbeits«lager tatsächlich die Arbeit zum Ziel hatten. Das war nicht der Fall, so daß gerade hier sichtbar wird, in welchem Maße der Antisemitismus fähig war, das Interesse an einer rationalen Organisation der Arbeit zu untergraben.

Die Todesmärsche von 1945 dagegen erlauben unter anderem, die Handlungen der Täter zu einem Zeitpunkt zu untersuchen, da sie ganz nach ihrem eigenen Gutdünken handeln konnten, weil sie bei Kriegsende, als das Reich sich auflöste, im Grunde keiner Kontrolle mehr unterlagen; außerdem hätte den Tätern in den Sinn kommen müssen, daß sie sich in Gefahr brachten, indem sie weiterhin Juden quälten und töteten. Schließlich stand Deutschland unmittelbar vor Niederlage, Besetzung und Bestrafung durch die Siegermächte. Bei den Todesmärschen konnten die Täter eigentlich autonom, also ihren eigenen Motiven folgend handeln, so daß sich an diesem Beispiel der Grad ihrer Begeisterung für den Massenmord am deutlichsten ablesen läßt. Daß sie nicht aufhörten, Juden zu töten und ihnen Leid zuzufügen, zeigt, mit welchem Eifer sie die Massenmorde durchführten. Auch hier hätte man zunächst das entgegengesetzte Verhalten erwartet. Das war die Herausforderung an meine These. Die Tatsache, daß die Täter weitermachten wie zuvor, bestätigt jedoch meine Arbeitshypothese, sie seien durch ihren Antisemitismus, durch ihre Überzeugung, der Mord an den Juden sei eine gerechte Sache, motiviert worden.

Ausgewählt habe ich also jedesmal andere »kritische Fälle«, Fallbeispiele und Institutionen, von denen am ehesten zu erwarten war, daß sie meine Hypothese scheitern ließen. Wenn sie aber gerade hier Bestätigung findet, verleiht dies meinem Ansatz größere Plausibilität. 4 Ein weiterer Vorteil dieser Methode besteht darin, daß sich in den ausgewählten Institutionen jeweils bestimmte Faktoren isolieren lassen, die das Handeln der Täter ebenfalls hätten erklären können.

Ich habe die Untersuchung bestimmter Institutionen und ihres Personals einer wissenschaftliche Erhebung über Täter aus vielen Institutionen vorgezogen; nur um die Herkunft der Täter zu klären, habe ich solche breitangelegten Erhebungen zu Rate gezogen. Ich bin davon ausgegangen, daß die Täter und ihre Taten unverständlich bleiben, wenn man sie aus ihren institutionellen Zusammenhängen herauslöst. Es hat wenig Sinn, sie als Individuen und unabhängig von ihren unmittelbaren sozialen Bindungen zu betrachten. Man muß die Einheiten untersuchen, in denen sie operierten, wenn man etwas über die Eigenart ihres Lebens erfahren und ihre Gefühle besser verstehen will. Zum einen unterschieden sich die Mordinstitutionen als Typus – als Polizeibataillone, Einsatzkommandos, Lager verschiedener Art und Todesmärsche – voneinander, aber auch die Institutionen selbst waren nicht immer und überall gleich. Löst man Einzelpersonen aus diesen Institutionen heraus, betrachtet also abstrakte »Tätergruppen«, dann blendet man mit der jeweiligen institutionellen Umgebung auch die institutionellen, materiellen und sozialpsychologischen Begleitumstände des Holocaust aus.

Ein zweiter Grund, sich mit Einheiten als Ganzes zu befassen, ist der, daß man über die Taten der einzelnen meist zuwenig weiß, als daß man von ihnen ausgehend verallgemeinern darf. Über den Gesamtcharakter und die Handlungsmuster einer Mordinstitution kann man eine ganze Menge herausfinden, ähnlich zuverlässige Kenntnisse über die Täter als Individuen wird man in der Mehrheit der Fälle nicht gewinnen können. Die Täter, über die wir viel wissen, bilden eine nichtrepräsentative Gruppe; es sind diejenigen, gegen die die Justizbehörden der Bundesrepublik Ermittlungen durchführten. Meist hatten sie Befehlsgewalt oder waren durch besondere Brutalität aufgefallen. Natürlich sind die Handlungsweisen dieser Menschen und ihre Hintergründe aufschlußreich, und was wir über sie wissen, ist in meine Studie eingeflossen; da diese Täter aber keine repräsentative Gruppe sind, lassen sich von diesen Fällen ausgehend die allgemeinen empirischen und theoretischen Fragen dieses Buches nicht beantworten.

Welche Tatbeispiele für die einzelnen Mordinstitutionen ausgewählt wurden, hängt ebenfalls von den erwähnten Kriterien und vom zugänglichen Quellenmaterial ab. Die ungleichmäßige Quellenlage ist ein Problem, auf das man bei der Untersuchung der Täter und ihrer Motive immer wieder stößt. Es existieren kaum zeitgenössische Dokumente, aus denen die Handlungen der Täter hinreichend detailliert hervorgehen, und auch sonst gibt es kaum Anhaltspunkte und Hinweise auf ihre Motivationen. Und zu einigen Mordinstitutionen, auch zu einigen der hier erörterten Fälle, liegen überhaupt keine zeitgenössischen Dokumente vor. Der Großteil des von mir herangezogenen Materials stammt darum aus Gerichtsakten und Ermittlungen zu NS-Verbrechen durch die Justiz der Bundesrepublik und ist in den entsprechenden Gerichtsarchiven zu finden. Die Ermittlungen sind eine wesentliche, unverzichtbare und oft auch die einzige Quelle für Recherchen über die Täter. Dennoch wurden sie bislang kaum in dem Maße berücksichtigt, das man eigentlich erwarten dürfte. Sie enthalten die relevanten Dokumente, die gefunden und gesichert werden konnten, und, was wichtiger ist, intensive Verhöre der Täter und auch der Opfer und Zeugen, die überlebt haben.5 Aus vielen dieser Protokolle und Zeugenaussagen läßt sich das Leben in einer Mordinstitution und die Geschichte ihrer Angehörigen bis in die Einzelheiten rekonstruieren. Weil es häufig mehrere Zeugen zu einzelnen Ereignissen gibt, manchmal auch welche, die beispielsweise eine Exekution aus unterschiedlicher Entfernung zum Hinrichtungsgraben verfolgt haben, besteht die Möglichkeit, die Aussagen zu vergleichen und quellenkritisch zu beleuchten. Dies führt oft zu Verifikation und Klarheit, manchmal aber auch zu Widersprüchen, die nur durch Interpretation gelöst werden können.6 Wenn unlösbare Widersprüche auftauchen, insbesondere hinsichtlich der Zahl von Juden, die die Deutschen bei einem bestimmten Einsatz deportiert oder getötet haben, dann sind diese im allgemeinen für analytische Zwecke nicht von erheblicher Bedeutung.7

Die umfangreichen Zeugenaussagen der Nachkriegszeit sind aufschlußreich, zugleich aber auch problematische Quellen. Einerseits fällt es jedem schwer, sich korrekt an Ereignisse zu erinnern, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegen,8 andererseits haben die Täter Gründe, etwas zu verschweigen oder zu verheimlichen, sich um Antworten zu drücken und zu lügen. In jeder dieser Aussagen gibt es Auslassungen, Halbwahrheiten und Lügen. Man darf nicht vergessen, daß es um Aussagen geht, die vor Strafverfolgungsbehörden, im Zusammenhang mit polizeilichen oder gerichtlichen Ermittlungen, gemacht wurden, und daß sie Verbrechen galten, die in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und in der ganzen Welt zu den größten Untaten der menschlichen Geschichte gezählt werden. Viele Täter hatten vor ihrer Vernehmung zwei oder drei Jahrzehnte lang versucht, durch Verschweigen oder Ausflüchte den Grad ihrer Verwicklung in den Völkermord zu verleugnen. Selbst wenn sie nicht vollständig verbergen konnten, daß sie bei Mordeinsätzen physisch zugegen waren, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach in Abrede gestellt haben, daß sie auch mit ganzer Seele, daß sie mit Willen, innerer Beteiligung und moralischer Zustimmung dabei waren. Andernfalls hätten sie ihrer Familie, ihren heranwachsenden Kindern und der nun gar nicht mehr einverstandenen Gesellschaft erklären müssen: »Ich war ein Mörder und bin – oder war – stolz darauf.« Nach Jahren gewohnheitsmäßiger Verdrängung und Leugnung standen diese Täter nun vor den Untersuchungsbehörden und wurden mit Taten konfrontiert, die aus ihren Alltagsgesprächen schon lange verbannt waren. Kann es da verwundern, daß sie den Ermittlern nicht bereitwillig erklärten, sie seien Mörder gewesen und hätten ihre Taten mit innerer Zustimmung verübt, vielleicht sogar Genugtuung dabei empfunden? Woher wollten sie wissen, daß man sie für ihre Verbrechen nicht verantwortlich machen würde? Kurzum: Gründe, zu lügen und abzustreiten, daß sie zu den größten Verbrechern der Geschichte zählten, gab es genug. Und es ist leicht zu zeigen, daß die Täter, ob wortreich oder durch Auslassungen, schamlos logen, um ihre körperliche und mentale Beteiligung an den Morden zu vertuschen. Darum ist es aus methodischen Erwägungen notwendig, alle apologetischen Aussagen zu ignorieren, wenn sie nicht durch andere Quellen bestätigt werden.9

Würde man sich, um die Taten der Deutschen zu erklären oder auch nur Ereignisse dieser Zeit zu beschreiben, auf solche Aussagen stützen, dann wäre das etwa so, als wollte man eine Geschichte der Kriminalität in Amerika allein aus den Aussagen von Verbrechern vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht rekonstruieren. Die meisten Verdächtigen werden den Tatvorwurf bestreiten und behaupten, sie seien zu Unrecht angeklagt worden. Auf keinen Fall werden sie freiwillig Informationen über andere kriminelle Handlungen liefern, an denen sie beteiligt waren und die den Behörden noch nicht bekannt sind. Und wo es ihnen nicht gelingt, ihre Tatbeteiligung plausibel zu widerlegen, werden sie doch Mittel und Wege finden, die Verantwortung für ihre Verbrechen auf andere abzuwälzen. In den Verhören oder vor der Presse werden sie leidenschaftlich versichern, die Verbrechen zu verabscheuen, die sie trotz solcher nachträglichen Beteuerungen begangen haben. Vor den Behörden wie vor der ganzen Gesellschaft lügen Kriminelle, was ihre Handlungen und Motivationen betrifft. Selbst nach der Beweisführung und Verurteilung, wenn die Geschworenen keinen Zweifel mehr an der Schuld einer Person haben können, beteuern Verbrecher noch immer ihre Unschuld. Warum sollten wir da annehmen, daß jene, die an einem der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit beteiligt waren, ehrlicher sein und sich selbst beschuldigen würden?

Wer die Selbstrechtfertigungen der Täter akzeptiert, ohne sie an anderen Belegen zu überprüfen, wird leicht auf Irrwege geraten und nur schwer zurück zur Wahrheit finden. Sollten solche Aussagen aber doch einmal der Wahrheit entsprechen, fänden sich sicherlich auch andere, bestätigende Beweise. Allerdings geschieht das fast nie. Hätten die Täter die Tötungen tatsächlich abgelehnt, hätten sie tatsächlich an solchen Mordeinsätzen nicht teilnehmen wollen, hätten ihnen, wie in den Kapiteln über die Täter dargelegt, viele Möglichkeiten offengestanden, dies auch zum Ausdruck zu bringen – durch die Weigerung zu töten, durch Artikulation von Ablehnung und Widerstand, symbolisch oder in Gesprächen mit Kameraden10 – ohne daß sie sich damit wirklich in Gefahr gebracht hätten.11

ANHANG 2

Schema der in Deutschland vorherrschenden Auffassungen von Juden, Geisteskranken und Slawen

Ursache der Eigenschaften

  1. Juden: Rasse/Biologie
  2. Geisteskranke: Biologie
  3. Slawen: Rasse/Biologie

Wesentliche Eigenschaften

  1. Juden: Übel/Bedrohung
  2. Geisteskranke: Krankheit
  3. Slawen: Minderwertigkeit

Grad an Bösartigkeit und Gefährlichkeit

  1. Juden: unberechenbar und außerordentlich
  2. Geisteskranke: chronisch, wirken wie ein Geschwür und etwas schwächend
  3. Slawen: potentiell groß, aber beherrschbar

Unterstellte Motivation und Verantwortlichkeit

  1. Juden: wollen Deutschland zerstören und sind verantwortlich für ihre eigene Böswilligkeit
  2. Geisteskranke: unglückliche Opfer, keine böswilligen Motive, keine Verantwortlichkeit für ihren Zustand oder für die Bedrohung, die sie für die biologische Gesundheit Deutschlands darstellen
  3. Slawen: keine bösen Absichten, für ihre Minderwertigkeit nicht verantwortlich

Metaphorische und logische Konsequenzen

  1. Juden: »ausschalten«, auf Dauer nur durch Mord möglich
  2. Geisteskranke: ausrotten oder unter Quarantäne stellen
  3. Slawen: »helotisieren«, also »unterjochen« und, soweit dies nützlich ist, dezimieren

Institutionelle Unterstützung für das jeweilige Bild

  1. Juden: Staat – intensives und ständiges Sperrfeuer; Kirche – Unterstützung der Überzeugungen, bietet kein Gegenbild; Schulen – ähnlich wie Staat; Wehrmacht – ebenso
  2. Geisteskranke: Staat – nicht ganz so direkte, dennoch ständige und intensive Verbreitung biologistischer Auffassungen, kein Verbot von Gegenbildern; Kirche – direkte Opposition zu den nationalsozialistischen Vorstellungen; Schule – neigt zur Unterstützung der nationalsozialistischen Auffassungen; Wehrmacht – keine Stellungnahme
  3. Slawen: Staat – ständige Verbreitung von Auffassungen über deren »Untermenschentum«, jedoch seltener und weniger intensiv, herabsetzend und bösartig als gegenüber den Juden; Kirchen – relativ schweigsam zu dieser Thematik, gepredigt wird eine universell gültige Moral (von der die Juden allerdings ausgeschlossen sind), Slawen werden als Christen betrachtet; Schulen – ähnlich wie der Staat; Wehrmacht – tendenzielle Übereinstimmung mit dem Staat, jedoch abweichende Ansichten bei allen Dienstgraden

Grad an Verbreitung dieser Vorstellungen

(Zwei Dimensionen: Breite/Tiefe)

  1. Juden: nahezu allgemein/tief
  2. Geisteskranke: auf bestimmte Gruppen beschränkt/dort allerdings tief
  3. Slawen: weit verbreitet/unterschiedlich tief, im allgemeinen weniger verwurzelt als das Bild »des Juden«

Sinnlich vermittelte Abwehr

  1. Juden: verletzen den Sinn für Ordnung und Rechtschaffenheit
  2. Geisteskranke: verletzen den Sinn für Ordnung, aber nicht den für Rechtschaffenheit
  3. Slawen: Verletzen weder den einen noch den anderen, wenn man sie dort läßt, wo sie hingehören, gelten als Arbeitstiere; sind kein moralischer Fluch

Ethische Haltung

  1. Juden: keine menschlichen Wesen, stehen jenseits von Moral und Sitte
  2. Geisteskranke: zwiespältig – der moralisch verankerte Schutz des Lebens ist außer Kraft gesetzt, aber sie werden ohne Grausamkeit behandelt und ohne ihnen unnötiges Leid zuzufügen
  3. Slawen: uneinheitlich; Anwendung einer nicht ganz strengen Form der traditionellen Moral, die oft auch völlig mißachtet wird

Das Zusammenwirken von Vorstellungen, traditionellen Moralauffassungen und dem Grad an Verbreitung in der Gesellschaft

  1. Juden: traditionelle Moral gilt für sie nicht; die Natur der Juden verbietet deren Anwendung; die Vorstellungen von den Juden sind weit verbreitet, fast universell akzeptiert
  2. Geisteskranke: biologistisch-genetische Vorstellungen sind nicht sehr weit verbreitet, darum gilt die traditionelle Moral hier noch weitgehend; werden auch, im Unterschied zu den Juden, nicht als moralisch schuldig betrachtet
  3. Slawen: Vorstellung von ihrer rassischen Minderwertigkeit weit verbreitet; dennoch kann die traditionelle Moral noch gelten, wenn auch oft abgeschwächt; die Vorstellungen von den Slawen haben keine zentrale Bedeutung, daher gibt es keine dringliche »Slawenfrage«

Ergebnis

  1. Juden: Genozid; gegen die Opposition einer kleinen Minderheit, die meist ethische oder ästhetische Gründe anführte (weil sie sich auf eine »überlebte« und »nicht anwendbare« traditionelle Moral berief); kein Problem, bereitwillige und pflichtbesessene Mörder zu finden
  2. Geisteskranke: »Euthanasie«programm; offiziell eingestellt wegen heftiger Opposition; eine engagierte Gruppe ideologisch gleichgeschalteter Mediziner ist zur Durchführung des Mordprogramms bereit
  3. Slawen: uneinheitliche Politik, kein Völkermord, aber brutale Niederschlagung jeglichen Widerstands; geringere Begeisterung der Mörder für ihre Tätigkeit; das Bild von Angehörigen der verschiedenen slawischen Völker hängt von den jeweiligen politischen Rücksichten ab, keine tiefverwurzelten Vorstellungen, vor allem keine Verteufelung der Slawen, denen auch keine bösen Absichten unterstellt werden; galten als riesiges Reservoir von Arbeitskräften; Millionen werden als Zwangsarbeiter eingesetzt

EPILOG

Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland

Diese Untersuchung über den Holocaust mißt den Vorstellungen und Bildern der Täter entscheidende Bedeutung zu. Im Gegensatz zu Marx’ bekanntem Diktum geht sie davon aus, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt, und kommt zu dem Ergebnis, daß die vom eliminatorischen Antisemitismus bestimmte politische Kultur Deutschlands, deren Entwicklung der Erklärung bedarf und sich auch erklären läßt, die NS-Führung ebenso wie die gewöhnlichen Deutschen zur Verfolgung und Vernichtung der Juden bewog. Darum muß diese Kultur als Hauptursache und Haupttriebkraft des Holocaust angesehen werden. Diese These mag den einen wenig plausibel, den anderen fast als selbstverständlich erscheinen. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß im Mittelpunkt des Weltbildes außerordentlich vieler ganz gewöhnlicher Deutscher Auffassungen standen, wie sie von Hitler in Mein Kampf artikuliert worden waren. Das entsprechende Material ist seit Jahren für jeden zugänglich, der sich mit dem Deutschland der dreißiger Jahre beschäftigt. Aber weil diese Vorstellungswelt uns so lächerlich erscheint, ja an Phantasmagorien von Verrückten erinnert, war die banale Wahrheit, daß diese Vorstellungen Gemeingut des deutschen Volkes waren, für viele nur schwer zu akzeptieren, vor allem, wenn man die Welt aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes betrachtet oder die Konsequenzen dieser Wahrheit zu beunruhigend findet.

Während der NS-Zeit lebten in Deutschland Menschen, die von Vorstellungen beherrscht waren, die sehr viele von ihnen bereitwillig und bedenkenlos zu Massenmördern und Folterknechten werden ließen. Die nähere Beschäftigung mit den Tätern, insbesondere mit denen in den Polizeibataillonen, die einen repräsentativen Querschnitt durch die deutsche männliche Bevölkerung darstellten, zwingt uns zu dieser Schlußfolgerung. Ein ganz gewöhnlicher Bürger jenes Deutschland zu sein, das sich dem Nationalsozialismus überantwortet hatte, bedeutete auch, einer politischen Kultur des Todes anzugehören. Daß diese politische Kultur ihre Angehörigen zu so bereitwilligen Mördern machte, legt wiederum nahe, daß es sich hier um eine Gesellschaft handelte, die grundlegende und folgenreiche Wandlungen durchgemacht hatte, vor allem, was ihre kognitiven Modelle und die Moralvorstellungen betraf. Die Untersuchung über die Täter gewährt uns einen vollkommen neuen Blick auf die deutsche Gesellschaft, so daß wir wesentliche Merkmale dieser Gesellschaft völlig neu begreifen müssen. Außerdem ergibt sich aus dieser Studie, daß die Nationalsozialisten die gründlichsten Revolutionäre der Moderne waren und daß sie Deutschland während ihrer kurzen Herrschaft radikal und gründlich umwälzten – eine »Revolution«, wie sie in der Geschichte der westlichen Zivilisation noch nicht vorgekommen ist. Es war vor allem eine kognitiv-moralische Revolution, die Prozesse umkehrte, die Europa jahrhundertelang geformt hatten. Weil die Vollstrecker des Holocaust ganz gewöhnliche Deutsche und repräsentativ für die Bevölkerung waren, handelt dieses Buch ganz generell von Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus und davor, von seinen Menschen und seiner Kultur.1

Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland hatte wie jede Umwälzung zwei grundlegende, miteinander verkoppelte Stoßrichtungen: Sie war destruktiv und in dieser Hinsicht gegen die Zivilisation gerichtet; sie war gleichzeitig konstruktiv und in dieser Hinsicht ein einzigartiger Versuch, einen neuen Menschen, eine neue Gesellschaft und eine neue, vom Nationalsozialismus bestimmte Ordnung in Europa hervorzubringen. Außergewöhnlich war diese Revolution auch darin, daß sie im Innern – trotz aller Unterdrückung der politischen Linken in den ersten Jahren – ohne massiven Zwang und Gewalt durchgesetzt wurde. Sie war in erster Linie eine Transformation des Bewußtseins: Den Deutschen wurde ein neues Ethos eingepflanzt. Und im großen und ganzen war es auch eine friedliche Revolution, die das deutsche Volk vor allem innenpolitisch zustimmend verfolgte und mittrug.

Im Innern war diese Revolution von Konsens bestimmt; nach außen und in bezug auf alle, die aus dem neuen Deutschland und dem neuen Europa ausgeschlossen werden sollten, war sie die brutalste und barbarischste der modernen abendländischen Geschichte. Viele Millionen von Menschen bestimmte sie zu Unterwerfung, Versklavung und Ausrottung. Das Wesen dieser Revolution offenbart sich an der Institution, die Deutschland während der NS-Periode versinnbildlichte: am Lager. Hier zeigt sich, wie sie einerseits den geistigen und moralischen Kern des deutschen Volkes umformte und wie sie andererseits, in den Worten Himmlers, die »menschliche Substanz« der Nichtdeutschen zerstörte.

 

Das Lager ist nicht nur die paradigmatische Institution für die Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung aller designierten »Feinde«, für das hemmungslos inszenierte Herrenmenschentum und für die Zurichtung der Feinde zu »Untermenschen«. Diese Züge des Lagers sind in Kapitel 5 bereits erörtert worden. Darüber hinaus aber war es eine revolutionäre Institution, mit der die Deutschen die Ziele verwirklichten, die sie als radikale Umwälzung verstanden.

Revolutioniert wurden Empfindungsvermögen und Verhaltensweisen . Im Lagersystem, diesem Universum ungehemmter Triebregungen und Grausamkeiten, konnte die neue Moral des Nationalsozialismus zum Ausdruck kommen, und sie war in ihren wesentlichen Zügen die Antithese zur christlichen Moral und zum Humanismus der Aufklärung – »diese falschen und ungesunden Menschheitsideale«, wie Göring sie nannte.2

Durch seine Praxis negierte das Lagersystem Christentum und Aufklärung, die von der moralischen Gleichheit aller Menschen ausgingen. In der deutschen nationalsozialistischen Weltordnung hatten bestimmte Menschen aus biologischen Gründen den Tod verdient; andere waren prädestiniert für die Rolle der Sklaven, und auch sie konnten getötet werden, wenn die Deutschen sie für überflüssig erachteten. Das Lager war definiert durch ein System der Über- und Unterordnung, durch Herren und Sklaven. In Theorie und Praxis verhöhnte es die christlichen Werte der Nächstenliebe, des Mitleidens und des Mitgefühls mit den Unterdrückten und ersetzte sie durch den Haß auf andere.

Leiden und Folter waren daher in der deutschen Lagerwelt weder zufällige Ereignisse noch Regelverletzungen, sondern im Gegenteil von zentraler normativer Bedeutung. Der Anblick eines leidenden oder erschlagenen Juden oder auch mißhandelter Russen oder Polen erregte kein Mitgefühl und sollte es nach den moralischen Regeln des Lagers auch nicht. Ein solcher Anblick war willkommen, die nationalsozialistische deutsche Moral verlangte Härte; und man war zufrieden, etwas für die Vision eines neuen Deutschland und eines von Deutschland beherrschten Europa getan zu haben, zu dessen Neugestaltung auch Zerstörung gehörte.

Das Ideal, an dem sich das Verhalten gegen die verhaßtesten Insassen der Lagerwelt, die Juden, orientierte, war das einer Welt unbegrenzten Leidens, das zu deren Tod führen sollte. Das Leben eines Juden durfte nur die Hölle auf Erden sein, ununterbrochene Qual, unendliche Schmerzen, ohne Trost und Beistand. Noch einmal: Das war eine tiefgreifende, radikale Umwälzung des Empfindungsvermögens in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa. So brutal war diese Revolutionierung der Gefühlswelt, daß Chaim Kaplan schon Ende 1939 davon tief beeindruckt war – also bevor das eigentliche Vernichtungsprogramm angelaufen war:

»Die schrecklichen Verfolgungen des Mittelalters sind nichts angesichts der furchtbaren Leiden, die die Nazis über uns bringen. In primitiven Zeiten waren auch die Methoden der Peiniger primitiv. Die Unterdrücker kannten im Mittelalter nur zwei Möglichkeiten: das Leben oder den Tod. Solange ein Mensch am Leben war, selbst wenn es sich um einen Juden handelte, ließen sie ihn leben. Er hatte auch die Möglichkeit, sich das Leben durch Taufe oder Auswanderung zu retten. Die NS-Inquisitionen sind anders. Sie nehmen einem Juden das Leben, indem sie ihm mit Hilfe ›gesetzlicher‹ Beschränkungen und grausamer Verordnungen, mit Hilfe so sadistischer Folterungen, die publik zu machen selbst ein mittelalterlicher Tyrann sich geschämt haben würde, den Lebensunterhalt entziehen. Es gehörte zum Konzept jener Generation, einen Sünder zu verbrennen, doch man pflegte einen Menschen nicht deshalb zu quälen, weil er nach den Ansichten des Henkers ›in Sünde‹ geboren war.«3

Der Rückfall in die Barbarei, die Logik des modernen deutschen Antisemitismus und der Gebrauch, den die NS-Führung davon machte, gestaltete sich so, daß Kaplan und vermutlich auch viele andere Juden wahrscheinlich lieber unter einem umnachteten mittelalterlichen Tyrannen gelebt hätten als in diesem »deutschen«, von der Institution des Lagers geprägten zwanzigsten Jahrhundert.

Das zweite Ziel, für das die Deutschen das Lager einsetzten, war die Umwälzung der Gesellschaft, und zwar auf eine Art und Weise, die die Grundlagen der europäischen Zivilisation verleugnete. Die Nationalsozialisten wollten mit ihrer in Deutschland begonnenen Revolution das soziale Gefüge Europas nach ihren rassenbiologischen Grundsätzen erneuern. Zu diesem Zweck sollten Millionen von Menschen, die ihren rassistischen Wahnvorstellungen zufolge als gefährlich oder entbehrlich galten, umgebracht werden, damit so der Anteil der »höheren Rassen« an der Bevölkerung Europas vergrößert, die menschliche Rasse biologisch »verbessert« und schließlich die vermeintliche Gefahr verringert würde, die den »höheren Rassen« von den zahlenmäßig überlegenen »niederen« Rassen drohte. Das Ethos dieses ungeheuren, gleichzeitig aufbauenden und zerstörerischen Unternehmens hat Himmler, einer der engagiertesten Führer dieser Revolution, immer wieder benannt: »Ob die anderen Völker in Wohlfahrt leben, ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen.«4 Osteuropa sollte zu einer deutschen Kolonie werden, bevölkert von deutschen Siedlern und slawischen Arbeitssklaven. 5

Die Lagerwelt war revolutionär, weil die Deutschen sie als Hauptinstrument zur Umgestaltung der europäischen Gesellschaften und Bevölkerungen einsetzten. Die Lagerwelt und das System der deutschen Gesellschaft, durch das sie geschaffen wurde, sollten von Prinzipien geleitet werden, die die Grundsätze, die bis dahin die öffentliche Moral und – trotz zahlreicher Ausnahmen – das Verhalten der deutschen und der anderen europäischen Gesellschaften bestimmt hatten, auf den Kopf stellten. Diese neue Welt hätte das Ende der abendländischen Zivilisation bedeutet, symbolisiert auch durch die Zerstörung des Christentums.6 Das Lagersystem war überdies revolutionär, weil es als Mikrokosmos jene neue Welt vorwegnahm, gleichsam als Modell der gesellschaftlichen Ordnung, die einem großen Teil Europas aufgezwungen werden sollte; als Modell jener Moral, die zur Grundlage einer europäischen Gesellschaft werden sollte. Tatsächlich war das ständig wachsende Lagersystem die Keimzelle des neuen germanischen Europa, das im wesentlichen ein riesiges Konzentrationslager geworden wäre, mit dem deutschen Volk als Aufseher und den übrigen europäischen Völkern – mit Ausnahme der »rassisch« privilegierten – als Leichen, Arbeitssklaven und Häftlingen.

Als sich Hans Frank, der deutsche Generalgouverneur in Polen, im Herbst 1940 über sein Herrschaftsgebiet in Polen äußerte, entwarf er zugleich seine Konzeption eines zukünftigen Europa: »Wir denken hier imperial im größten Stil aller Zeiten. Dem Imperialismus, wie wir ihn entwickeln, ist kein Vergleich gegönnt mit jenen kläglichen Versuchen, die frühere schwache Regierungen von Deutschland in Afrika unternommen haben.« Der Führer habe, so belehrt Frank seine Zuhörer, ausdrücklich erklärt, Polen sei dazu »berufen, das Arbeitsreservoir im großen Sinne zu sein. Wir haben hier lediglich ein gigantisches Arbeitslager, wo alles, was Macht und Selbständigkeit bedeutet, in den Händen der Deutschen ist.« Kein Pole solle höhere Bildung erhalten dürfen. »Kein Pole soll über den Rang eines Werkmeisters hinauskommen.« Aus Hitlers und Franks Sicht sollte der polnische Staat nie wieder auferstehen. Statt dessen sollten die Polen der Herrenrasse auf Dauer »unterworfen« werden. Wie das Lagermodell auf Polen zu übertragen, nach welchem Ethos also zu regieren sei, das entwickelte Frank nicht etwa im geheimen, sondern anläßlich zweier Reden ganz offen vor Abteilungsleitern seiner Verwaltung.7

Das Lagersystem war ein charakteristischer Grundzug der deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit, und diese fand im Lager ihr Sinnbild. Das ist die herausragende Einrichtung, durch die sich Deutschland wesentlich von den anderen europäischen Staaten unterschied; vor allem durch das Lagersystem erhielt die deutsche Gesellschaft

In der Lagerwelt mußten die Opfer das System aus erster Hand kennenlernen. Ihr Leiden lehrt uns, gleichsam aus zweiter Hand, das Wesen NS-Deutschlands: Das Lagersystem offenbart nicht nur den Charakter des Nationalsozialismus, sondern das wahre Gesicht des damaligen Deutschland. Die Vorstellung, Deutschland sei während der nationalsozialistischen Ära eine »gewöhnliche«, »normale« Gesellschaft gewesen, der das Unglück widerfuhr, ruchlosen und üblen Herrschern in die Hände zu fallen, die die Institutionen des modernen gesellschaftlichen Lebens mißbrauchten und Menschen zu Taten trieben, die sie verabscheuten, ist grundfalsch. Denn die damalige deutsche Gesellschaft unterschied sich in den wesentlichen Aspekten fundamental von unseren heutigen Gesellschaften. Sie orientierte sich an einer anderen Ontologie und einem völlig anderen Weltbild, hier lebten Menschen, deren Grundauffassung vom sozialen Leben nach unseren Maßstäben nicht »normal« war. Daß beispielsweise die bestimmenden Züge eines Menschen sich aus dessen Rasse ergäben und daß die Welt in unterschiedliche Rassen eingeteilt sei, galt in der deutschen Gesellschaft der NS-Zeit als selbstverständlich; zumindest war diese Auffassung außerordentlich weit verbreitet. Es war außerdem eine allgemein akzeptierte Norm, daß die Welt entsprechend dieser unwandelbaren Hierarchie von Rassen neu organisiert werden müsse. Die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen den Rassen hatte im kognitiven Modell dieser Gesellschaft keinen Platz. Statt dessen war man der Ansicht, daß die Rassen in einem unerbittlichen Kampf ums Dasein sich gegenseitig bekämpften; ein Kampf, der nur durch den Sieg der einen und den Untergang der anderen entschieden werden könne. Das Leben im Lager war der Beweis, mit welcher Radikalität und Bereitwilligkeit gewöhnliche Deutsche ihre rassistischen destruktiven Vorstellungen und Werte, die offizielle und inoffizielle Ideologie des Landes, durchsetzten. Das Lager – auch insofern kennzeichnende und tatsächlich zentrale Institution – war Ausbildungsstätte für den gewöhnlichen deutschen »Herrenmenschen« und enthüllte dessen Wesen. Mit dem Lager ist Himmlers Vorstellung von »Kultur« weitgehend zur »Kultur« Deutschlands geworden.

Die sich ständig erweiternde Lagerwelt war der Ort, an dem wesentliche Aspekte der nationalsozialistischen Revolution unverstellt deutlich wurden. Die Massenmorde der Deutschen, ihre Wiedereinführung der Sklaverei auf dem europäischen Kontinent, die Erteilung des »Freibriefs«, »Untermenschen« nach Belieben zu behandeln – all dies findet sich in den Lagern, und deshalb ist das Lager nicht nur Sinnbild des nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch Paradigma des Tausendjährigen Reiches. Das Lager offenbart das Wesen Deutschlands, das sich dem Nationalsozialismus ausgeliefert hatte – so wie die Morde und die Barbarei der Täter die Bereitschaft ganz gewöhnlicher Deutscher offenbaren, Deutschland und das deutsche Volk vor seinem vermeintlich gefährlichsten Feind zu retten: DEM JUDEN.